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Frau Martha Tobias war nach fast einjähriger Abwesenheit vor wenigen Stunden nach Berlin zurückgekehrt. Ihre Verwandten, Freunde und Bekannten hatte sie bei der Abreise mit der Meldung überrascht, daß sie eine Reise um die Welt zu machen gedenke.

Während ihrer Abwesenheit hatte sie es nicht der Mühe wert gehalten, diesen Glauben zu erschüttern. In Wahrheit hatte sich die Weltreise, die Frau Tobias im Frühjahr angetreten hatte, nicht weiter als über die Schweiz, Paris, die Riviera und Venedig erstreckt. Die letzte Station war Meran gewesen. Von dort aus war sie heute um Ende April in Berlin wiedereingetroffen. Nach durchfahrener Nacht hatte sie ein paar Stunden Ruhe dringend nötig gehabt.

Schon um den späten Vormittag aber war sie völlig ausgeschlafen und klingelte in ihrer stets etwas ungestümen Art nach ihrer Kammerjungfer. Sie rief nach der neuen Matinee, die ihr von Paris aus nachgeschickt worden war, und beauftragte Selma, sofort bei ihrem Schwager anklingeln zu lassen und Fräulein Leni zu ihr zu bitten.

Selma, eine ältliche, durch den anstrengenden Dienst bei Frau Tobias stark mitgenommene Person, machte eine müde, abwehrende Bewegung. »Nicht nötig, gnädige Frau. Fräulein Schellbach waren schon zweimal hier, nach gnädiger Frau zu fragen, und wollten um ein Uhr wiederkommen.«

Draußen schlug die Klingel an. »Das wird das Fräulein schon sein.«

»Um so besser.« Frau Martha schlüpfte in ihre modernen kleinen Lackschuhe und ließ sich die neue fliederfarbene Pariser Matinee umgeben. »Schnell die Schokolade in den Salon. Und dann packen Sie gleich aus, was ich für meine Nichte mitgebracht habe, die Pariser Sachen und den kleinen Schmuck aus Nizza.«

Die Tür wurde aufgerissen. In ihrem Rahmen erschien Leni Schellbach. Mit stürmischen Freudenbezeugungen eilte sie auf die Tante zu und warf sich in ihre Arme. »Gottlob, daß du wieder da bist, Tantchen. Es war zum Sterben langweilig ohne dich!«

Frau Martha lächelte geschmeichelt und küßte ihre Nichte auf beide Wangen. »Du siehst aber gar nicht danach aus, Mädchen, als ob du dich gelangweilt hättest. Blühend und strahlend. Nur ein bissel zu dick wirst du mir!«

»Die Mama will nicht, daß ich mich einschnüre,« sagte Leni und zog einen Mund, »und Papa spricht ihr natürlich alles nach.«

Frau Martha machte ein amüsiertes Gesicht. »Nun, dem werden wir schon abhelfen, kleines Schaf. Zuerst aber wollen wir mal frühstücken, dabei erzählst du mir deine Erlebnisse –«

»Du die deinen, Tante – die werden bei weitem interessanter sein – wenn du mich doch mitgenommen hättest!«

»Was war zu machen, Kind, wenn dein Vater durchaus nicht wollte! Du weißt, es hätte mir viel Spaß gemacht, dir die Welt zu zeigen!«

»Hast du wirklich eine Reise um die Welt gemacht?«

»Pappenstiel! Ich werde mir solche Unbequemlichkeit aufladen! Aber was ich sah und erlebte, habe ich genossen! Es war eine herrliche Zeit! Übrigens brauchst du niemandem zu erzählen, daß ich nur die Schweiz, Frankreich und ein Stückchen der italienischen Küste besucht habe.«

Sie waren inzwischen aus Martha Tobias' üppig eingerichtetem Schlafzimmer in das Eßzimmer gelangt und hatten sich an dem Frühstückstisch niedergelassen. Während Frau Martha die Schokolade in die Tassen goß, sagte sie, ihre hübsche, in der Tat ein wenig zu voll gewordene Nichte ansehend: »Ich habe dir auch einen Gruß mitgebracht, Leni. Rate mal von wem?«

»Von wem? Wer soll mich grüßen lassen? Ich kenne niemanden draußen in der Welt.«

»Na, na!«

Leni wurde dunkelrot und sah der Tante mit unsicher fragenden Augen ins Gesicht. »Warst du – ?«

»Aber natürlich! Ich habe in der Sache nie Partei ergriffen. Da mein Mann nicht mehr lebt, der es mir sicherlich verboten hätte, weshalb sollte ich deine Mutter nicht aufsuchen? Sie läßt dich grüßen, Leni, und wollte natürlich viel von dir hören –«

Leni rückte ein wenig verlegen auf ihrem Stuhl. »Ist sie noch in Paris?«

»Freilich, ja, und es scheint ihr sehr gut zu gehen. Sie ist noch immer eine schöne Frau, nur viel zu stark geworden. Du mußt beizeiten trachten, Leni, daß du ihr das nicht auch nachmachst, denn du gleichst ihr auf ein Haar.«

Leni lächelte geschmeichelt. »Hast du ihren Mann auch gesehen?«

»Herrn Lemans, natürlich. – Er ist ein gut beschäftigter und gut bezahlter Journalist. Übrigens unter uns, Leni –« Frau Martha legte ihrer Nichte die elegante, über und über mit Ringen bedeckte Hand auf den Arm. »Ich glaube, der Mann heißt eigentlich Lehmann.«

Leni lachte laut auf.

»Er hat ganz die Manieren eines deutschen Parvenüs, scheint aber ein geschickter, ja ganz geriebener Kerl zu sein. Ich bin übrigens froh, daß ich diesen Lemans endlich mal zu Gesicht bekommen habe. Ich begreife es jetzt, daß mein Mann, von seinem Standpunkte aus, über den Tausch seiner Schwester nicht sehr erbaut sein konnte. Dein Vater und Lemans-Lehmann – das ist ein kleiner Unterschied! Trotzdem Papa Schellbach und ich keine besonderen Freunde sind, der Gerechtigkeit die Ehre! – Und nun erzähle mal, Kind, wie es dir ergangen ist?«

Das Mädchen seufzte gelangweilt auf. »Sozusagen gar nicht, Tante. Der Winter nach dem Trauerjahr war beinahe ebenso öde wie der vorhergegangene. Ich habe immer nur daran gedacht, wenn ich bei dir sein könnte, in der schönen, herrlichen Welt!«

»Du wirst sie auch noch zu sehen bekommen, kleines Schaf.«

Leni zuckte die Achseln. »Möchte wissen mit wem! Mit Papa und Mama vielleicht?!«

»Nein, aber mit deinem zukünftigen Gatten«, sagte Frau Martha trocken. »Wie ist es denn, Leni, hat das Herzchen noch gar nicht gesprochen?«

Ein lautes Lachen antwortete der Fragerin. »Für wen möcht' ich wissen! Für Frenzen oder Wittorp vielleicht?«

»Der Baumeister ist ein schöner Mensch!«

»Ich kannte ihn schon, als ich noch im Flügelkleide in die Mädchenschule ging. So was kann mich nicht interessieren.«

»Bist du gar nicht ausgegangen?«

»O doch, ab und zu mit den Eltern; aber du weißt, Mama mag Gesellschaften nicht, und da beschränkt Papa das Ausgehen auf das äußerste. Er meint, es sei noch Zeit genug für mich –«

»Den Jahren nach freilich – sonst –,« Frau Martha streifte das blühende Mädchen mit einem prüfenden Blick – »es wäre ganz gut, wenn du dich früh verheiratetest, Mädel. Wie alt bist du eigentlich?«

»Im Herbst achtzehn, Tante.«

»Na also, da wollen wir zwei den künftigen Winter schon genießen. Ich werde mal ein vernünftiges Wort mit Frau Kamilla sprechen. Wie stehst du dich eigentlich mit ihr, Leni, seit du ein erwachsenes Mädchen bist?«

»Nicht schlecht, Tante. Seitdem sie sich die Gouvernante abgewöhnt hat, habe ich sie eigentlich ganz gern. Die stille Vornehmheit ist zwar manchmal ein bißchen langweilig, aber sie kleidet sie gut.«

»Eine merkwürdige Frau. Ich kenne sie ja eigentlich kaum; aber jedesmal, wenn ich sie sehe, überkommt mich der Eindruck, daß irgend etwas Geheimnisvolles sie umschwebt, das noch niemand ergründet hat.«

»Du wirst ja ganz romantisch, Tante«, lachte Leni.

»Nachwehen von Venedig«, ironisierte Frau Martha.

»Und Walter, was ist's mit ihm? Du schriebst mir, er sei wieder in Berlin.«

»Walter studiert auf Mord. Wahrscheinlich hat er in Heidelberg gesumpft, aber Papa meint, nein. Ich glaube, er hat die geheime Absicht, nächstes Jahr schon seinen Doktor zu machen.«

»Wohnt er bei euch?«

»Denke nur, solch ein Kamel! Anstatt sich zu freuen, daß er als Student seine eigene Bude haben kann, hockt er bei Muttern im wahren Sinne des Worts. Von der Freundschaft machst du dir keinen Begriff, Tante. Ich existiere kaum mehr für Walter. Na wenn schon! Mit seiner Gelehrsamkeit, seiner Pathologie und Psychologie und all seinen anderen ›gien‹ ist er mir längst zu stumpfsinnig geworden.«

Frau Martha wollte gerade noch eine Frage nach ihrem Schwager tun, als es an der Tür klopfte.

Auf ihr »herein« erschien Selma, in der einen Hand zwei große Kartons, in der anderen ein kostbares Blumengebinde. Das Mädchen stellte die Kartons auf einen Stuhl neben der Tür ab und brachte Frau Tobias die Blumen, Maréchal-Nielrosen und Reseda, mit einer Karte an den Frühstückstisch. »Eine schöne Empfehlung von Herrn Cortino, und er läßt sich erkundigen, ob gnädige Frau glücklich angekommen wären und wann er seine Aufwartung machen dürfe?« Frau Tobias hatte ihrer Jungfer das Bukett abgenommen, das Leni mit lauter Bewunderung betrachtete.

»Sagen Sie, ich lasse bestens danken, Selma, und ich würde mich freuen, Herrn Cortino einen dieser Nachmittage zwischen fünf und sechs bei mir zu sehen. Sind das die Pariser Kartons?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Lassen Sie sie ruhig stehen, ich öffne sie selbst. Und das Etui?«

Selma zog ein längliches Lederetui aus der Tasche und händigte es ihrer Dame ein.

»Schön – ich brauche einstweilen nichts. Ja doch, legen Sie mir die lila Straßentoilette zurecht, dazu den grauen Hut und die graue Federboa. Ich will nachher mit meiner Nichte ausfahren. – Du bleibst doch den Tag über bei mir?«

Leni machte ein unschlüssiges Gesicht.

»Natürlich. Wir fahren einen Augenblick in der Linkstraße vor; ich eise dich los.«

Selma war aus dem Zimmer gegangen. Leni hielt die Karte des Blumenspenders in der Hand. »Luigi Cortino, wer ist das, Tante Martha?«

»Ein italienischer Komponist. Ich habe ihn in Paris kennengelernt mit einer ganzen Menge anderer Künstler, Maler und Bildhauer, auch Österreicher und Deutsche waren dabei, aus Wien und München. Cortino hält sich zwei Monate hier auf. Er möchte seine Oper hier anbringen und hofft durch die italienische Botschaft auf eine Audienz beim Kaiser.«

Während der letzten Worte war Frau Martha aufgestanden und machte sich daran, Leni den Rücken wendend, die umfangreichen Kartonnagen aufzuschnüren. Aus der einen entnahm sie einen lichtblauen seidenen Unterrock, reich mit Spitzen und Volants verziert, aus der anderen eine weiße Bluse aus Crêpe de Chine und eine zweite aus zartem, duftigem Tüllstoff mit eingewebten Rosenknospen.

Dann rief sie Leni herbei, die inzwischen den Rest ihrer Schokolade ausgetrunken und dabei nicht ohne Neid das kostbare Blumengebinde und die Karte mit dem interessanten Namen bestaunt hatte. »Hier, mein Küken, mein Mitbringsel aus Paris, und hier –« Frau Tobias griff in ihre Tasche und zog das längliche Lederetui heraus, das Selma ihr zuvor eingehändigt hatte, – »ein kleiner Schmuck aus Nizza. Trage alles in Gesundheit und froher Laune und laß dir das schöne Leben, das man nur einmal lebt, durch Walters und Frau Kamillas graue Moral nicht verderben!«

Leni stand starr vor Freude und Überraschung. Dann fiel sie ihrer Tante mit einem Jubelschrei um den Hals und tanzte mit ihren Schätzen wie eine kleine Wilde im Zimmer umher. – –

*

Milla war für heut mit ihren häuslichen Beschäftigungen zu Ende. Je weniger Neigung sie dafür hatte, je weniger angeborenes Geschick, um so mehr bemühte sie sich, dem, was sie für ihre Pflicht hielt, nachzukommen. Aber sie war jedesmal herzlich froh, wenn sie diese häuslichen Arbeiten, deren Monotonie sie anwiderte und traurig machte, hinter sich hatte. Auch heute zog sie sich nach erledigter Pflicht, wie zumeist, wenn nichts Störendes dazwischen kam, für die letzte Stunde vor Tisch zum Lesen in ihr kleines Zimmer zurück.

Walter, der den Lesestoff für sie aussuchte und ihr nebst Büchern fast alles, auch an Blättern, Revuen und Broschüren brachte, was ihm selbst lieb oder interessant geworden war, hatte erst gestern wieder einen ganzen Stoß von Büchern und Zeitschriften für sie hingelegt.

Milla griff zuerst nach einem Kunstheft, an dem sie besonderen Geschmack gewonnen hatte. Sie hatte während des Trauerjahres ihre kleinen Malkünste unter der Leitung einer jungen Lehrerin wiederaufgenommen, und so unbedeutend ihre Leistungen waren, und so übertrieben gering sie von ihr selbst eingeschätzt wurden, hatten sie ihr doch den Sinn für die bildenden Künste rege gemacht und nach und nach gereift. Da sie bei ihrer Stieftochter wenig Interesse für ernste Kunst fand, hatte sie mit der jungen Malerin, öfters auch mit ihrem Mann oder Walter, regelmäßig Kunstsammlungen und Museen zu besuchen angefangen. So war es natürlich, daß Besprechungen und Artikel über Sammlungen und Ausstellungen hier und anderswo mehr und mehr ihre Anteilnahme gewannen. Auch heut schlug Milla die neue Revue mit Interesse auf und blätterte darin, bis sie die Rubrik gefunden hatte, die sie stets zuerst zu lesen pflegte, den internationalen Kunstbericht aus der ganzen zivilisierten Welt.

Sie hatte mit dem Berliner angefangen und in dem Bericht Kritiken über Bilder und plastische Kunstwerke gefunden, die sie fast alle von Augenschein, mindestens aber aus Abbildungen kannte. Kopenhagen, London, Amsterdam folgten – zum Schluß waren ein paar moderne Pariser Ausstellungen ausführlich gewürdigt. Wie es schien von einem gewissenhaften Kritiker, der die Dinge gründlich nahm und sie ernsthaft und unpersönlich zur Sprache brachte. Er schrieb heut über die Berliner Sezession, den Wiener Hagenbund und die Darmstädter. Zuletzt kam eine kleine Münchener Spezialschule, die »Freie Vereinigung«, an die Reihe. Ein paar Namen, von denen Milla bisher nichts gehört, machten den Anfang; dann stand, seit dem Tage, da sie nach dem Tode ihres Vaters einen kurzen Brief von ihm empfangen hatte, zum erstenmal wieder der Name Lorenz Buchberg vor ihren Augen.

Einen Augenblick legte sie die Revue aus der Hand, entschlossen, nicht zu lesen, was über Lorenz Buchberg geschrieben stand. Dann machte sie sich klar, daß diese Schwäche, ja Feigheit, durchaus zu überwinden sei. Sie hatte nichts mehr mit dem Namen gemein; aber sie konnte ihn nicht aus der Welt schaffen und mußte den Mut finden, ihm unbeirrt ins Auge zu sehen, ihm und seinem Träger, falls er jemals ihren Weg wieder kreuzen sollte. So nahm Kamilla das Heft wieder auf und las:

»Lorenz Buchberg hat zwei Bilder ausgestellt. ›Dame in Schwarz‹, das Porträt der Frau B., einer bekannten Dame der Münchener Gesellschaft, und eine Straßenszene ›Fastnacht‹ betitelt. Um es kurz zu machen – Buchberg hat nicht gehalten, was er uns vor ein paar Jahren versprochen hat. Während er zuerst den Anlauf zu einer durchaus gesunden malerischen Sprache nahm, die, unabhängig von fremden Einflüssen, in einem frischen, fröhlichen Ton zu uns redete, ist er seit kurzem in eine aufdringliche Manier verfallen, die verstimmend wirkt und nicht wie seine ersten Anläufe vergessen macht, daß er sich Linien und Farben noch vollständig durch Natureindrücke vorschreiben läßt und dadurch im Studienhaften stecken geblieben ist. Man vergleiche nur Buchbergs erstes Porträt der bekannten Frau B., die so etwas wie seine Egeria zu sein scheint, mit dieser ›Dame in Schwarz‹, und man wird zu der betrübenden Erkenntnis kommen, daß Buchbergs Talent auf Wege geraten ist, auf denen der Kunstfreund ihn ungern wandeln sieht und ihm ein energisches Halt zurufen möchte. Auch der Fastnachtsszene, die nicht unlebendig wirkt, haften die Fehler des Porträts an. Abgesehen davon, daß auch ihr die seelische Wärme völlig abgeht und durch eine phrasenhafte Manier ersetzt werden soll, fehlt ihr die innere Geschlossenheit. Vielleicht, daß Buchberg wenigstens zu ihr erst einmal den richtigen Weg findet! Wenn nicht aus sich selbst heraus, so durch das Studium der Alten, die so souverän die Wirklichkeit in die Form des Bildes zwangen.«

Schwerer Gedanken voll schob Kamilla das Heft beiseite. Ein leiser Seufzer hob ihre Brust. Wenn sie den Verlorenen als Sieger auf seiner Laufbahn gesehen hätte, es wäre um vieles leichter gewesen, über die bittre Wahrheit fortzukommen, daß er sie seiner freiheitheischenden Kunst geopfert hatte. Auch daß sie sich am Ende feige aus seinem Leben geschlichen, es einem blinden Zufall überlassen hatte, über sein und ihr Los zu entscheiden, hätte sie eher verwunden.

Da waren sie wieder die Bedenken und Selbstvorwürfe, die ihr das Leben vergifteten, die Gespenster aus den grauen Winkeln der Grauen Gasse, die die Ruhe ihrer Tage, den Schlaf ihrer Nächte störten. Sie hätte nicht fortgehen, nicht vor Lorenz nach Hammerfest fliehen sollen, als er durch den Tod der Mutter gerufen, heimkam! An seiner Seite hätte sie stehen müssen, trotz allem, in so schwerer Stunde! Was waren Briefe, geschriebene Worte! Was bedeutete es ihrer langen Liebe, dem Glück, das sie sich geschenkt hatten, gegenüber, wenn Briefe ausblieben oder kühl erschienen! Hand in Hand, Auge in Auge hätte sie erforschen müssen, ob er noch Liebe für sie empfand, ob sein neues Dasein Trennung oder die nahe Vereinigung, wie er sie damals beim Abschied unten am Seeufer von ihr gefordert hatte, erheischte!

Nicht, ob er sie aus ihrer Selbstverbannung rief oder nicht rief, ob er zu ihr nach Hammerfest kam oder nicht kam, hätte das Entscheidende sein dürfen, das sie freimachte, Schellbach die Hand zu reichen. Schon um dieses besten, uneigennützigsten Mannes halber hätte es zuvor ganz klar werden müssen zwischen Lorenz und ihr. Keine ungelöste Frage, nichts Halbes, Verschwommenes durfte zwischen ihr und dem Gatten stehen.

Was bewies es denn, daß Lorenz sie an dem Begräbnistage seiner Mutter nicht heimgerufen, daß er nicht zu ihr gekommen war? Es ließ auch andere Deutungen zu, als daß er sie nicht mehr liebte! Kränkung, Unversöhnlichkeit darüber, daß sie ihn in der schweren Stunde verlassen, ein drängender Trieb, eine Notwendigkeit an die Arbeit zurückzukommen! Es war ihre Schuld, daß Unausgelöstes zwischen ihnen geblieben war, das sein Leben vielleicht mit ebendenselben dunkeln Schatten umwob wie das ihre.

Kamilla nahm das Heft noch einmal zur Hand. Aufmerksam las sie Wort um Wort. Ob diese Frau B., die der Kritiker Buchbergs Egeria nannte, an ihre Stelle getreten war, seine Vertraute, sein künstlerisches Gewissen, seine Freundin, seine Geliebte vielleicht war, treulich ihm zur Seite in Kampf und Sieg und – Niederlage? Milla schüttelte traurig den Kopf. Nach dem, was sie heut gelesen hatte, war diese Frau ihm die richtige Kameradin doch wohl nicht. Was konnte sie ihm gegeben haben, wenn die warme Beseelung in seiner Kunst nachgelassen hatte, wenn anstatt der frischen, fröhlichen, gesunden Natur Manier und Phrase getreten waren? Hatte er selbst sich so herabgewürdigt? War er sich selbst kein strenger, gewissenhafter Richter? Empfand er nicht, daß er auf Abwege geraten war? Dünkte er sich hoch und erhaben über das Urteil der anderen? War er es in der Tat, trotz der scheinbar sachlichen Beurteilung, die sie in Händen hielt, hatte er ein Recht es zu sein, ein Recht, auf den Pfaden sonnigen Glücks zu wandeln? Warf kein Vorwurf, keine Gewissenspein Schatten auf seinen Weg, wie auf den ihren?

War Lorenz etwa auch einem anderen Wesen verbunden – wer wollte es sagen, vielleicht dennoch dieser Frau – und lag es auf ihm wie auf ihr, wie eine schwere Last, daß ein trüber Rest zwischen ihnen geblieben war, den keine reine Harmonie ausgelöst hatte? Stand auch er mit einem Verschweigen, das der Lüge gleich kam, an der Seite eines ihm in Liebe ergebenen Menschen? Schwieg auch er aus einer Aberfülle an Scheu, zu kränken, zu verletzen? Rang auch er wie sie Tag um Tag mit sich, wo seine Pflicht lag, im Schweigen oder Sichvertrauen? War nirgend eine Antwort auf alle diese schweren Fragen? Nirgend ein Ja oder Nein? Half ihr nichts aus diesem Chaos der Gedanken und Empfindungen, das ihr immer aufs neue die Ruhe und Harmonie des Daseins störte, sich zwischen sie und den Gatten drängte, nichts Frohes, Lichtes aufkommen ließ?

Das Heft entsank ihren Händen! Müde lehnte sie das schöne bleiche Gesicht gegen die Polster. Sollte der Kampf gegen sich selbst niemals ein Ende nehmen?

*

Als Schellbach den alten Klosterbau von Mangold Prätorius erworben, hatte er, trotzdem er gewissenhaft alle einschlägigen Verhältnisse, die Faktoren, die für und wider ein so ausgedehntes Neuunternehmen sprachen, erwogen hatte, an einen so raschen und glänzenden Aufschwung der elektrischen Fabrik abseits von Berlin nicht geglaubt. Oft staunte er selbst über die von Monat zu Monat zunehmende Leistungsfähigkeit der Fabrik, deren Reingewinn schon jetzt sein Berliner Werk überholt hatte. Er hatte auf den Erfolg dieser, mit großen Kosten verbundenen Neuschöpfung mit Jahren gerechnet, jetzt fiel er ihm schon nach einem verhältnismäßig kurzen Betrieb in den Schoß und versprach bei der glücklichen Konjunktur elektrischer Fabrikate einen noch größeren, ja unter Umständen einen erstaunlichen Aufschwung.

Von Zeit zu Zeit fuhr Schellbach hinaus, sich an der Arbeitsfreudigkeit seiner Leute zu erfrischen, sich bis ins kleinste Detail Rechenschaft ablegen zu lassen.

Walter, der mit raschen Schritten auf den Doktor lossteuerte, fand selten Zeit, ihn zu begleiten. Milka hatte seit dem Begräbnis ihres Vaters nie mehr den Wunsch geäußert, die Graue Gasse wiederzusehen.

Vergebens wartete Lene Petersen von einemmal zum anderen auf den Besuch der noch immer mit gleicher Wärme angebeteten Frau. Die kleine, unermüdlich tätige Person, die den Honoratioren des Städtchens bei ihren festlichen Veranstaltungen nach wie vor unentbehrlich war, bewohnte auf Schellbachs Wunsch die Prätoriussche Wohnung im alten Mittelbau, die sie, um Mangold Prätorius' Pflege und Wirtschaftsführung zu übernehmen, gerade im Begriff gewesen war zu beziehen, als man die sterblichen Reste des Alten in das Haus seiner Väter gebracht hatte. Jedesmal wenn Schellbach allein herauskam, machte Lene Petersen ein enttäuschtes Gesicht und kramte still Blumen und Kuchen beiseite, die sie für Millas Empfang schon im Vorplatz aufgestellt hatte.

Heut, an einem warmen Sommermorgen im August, rechnete die kleine Tafeldeckerin wieder einmal ganz bestimmt darauf, daß Milla ihren Mann, der sich für den Tag angesagt hatte, begleiten würde. Sie hatte nicht nur den Vorplatz und die kleine, schmuck gehaltene Wohnung, nein, auch das Plätzchen unter dem Kirschenbaum im Klostergärtchen festlich hergerichtet.

Es war gerade Mittagspause in der Fabrik, als der Berliner Zug eintraf. Gemächlich konnte Lene vor dem schweren Fabriktor zwischen den beiden weißen Steinbildern auf ihre Gäste warten. Sie kniff die kleinen Augen ein, um die Graue Gasse bis zu ihrem Anstieg zu den Anlagen hinauf nach Möglichkeit zu übersehen. Angestrengt blickte sie durch den grauen Dunst, den Staub und Hitze zwischen der engen Häuserzeile woben. Sie harrte auf zwei Gestalten, die in froher Eile auf das prächtige Gebäude lossteuern sollten, auf das Lene Petersen stolz war wie heute die ganze Stadt, die Alten nicht ausgenommen, die es zuerst mit Murren und Knurren entstehen gesehen.

Endlich wurde auf dem schmalen Fahrdamm etwas Bewegliches sichtbar. Fester kniff die kleine Alte die Augen ein und schlürfte mit ihrem nachschleppenden Fuß ein Stückchen von dem Fabriktor fort, weiter in die Graue Gasse hinauf. Da sie alsbald erkannte, daß wieder nur einer kam, der neue Herr des umgeschaffenen Klosterbaues, zerdrückte sie eine Träne in den müdegeblickten Augen. Dann zog sie sich langsam zurück und wartete auf den Herrn.

Er kam heiter und freundlich wie immer, wenn er sein stolzes Werk mit Augen sah.

Lene Petersen gewann es heut nicht über sich, ihm ein heiteres Gesicht zu zeigen.

Da griff er nach einer ihrer unwahrscheinlich großen Hände, nahm sie zwischen die seinen und sagte mitleidig: »Ich kann's Ihnen nicht verdenken, liebes Fräulein Petersen, daß Sie wieder einmal gründlich enttäuscht sind, mich allein zu sehen, aber Sie werden begreifen, ich kann meine Frau nicht zwingen, mich zu begleiten, wenn sie nicht selbst das Bedürfnis danach empfindet.«

Lene murmelte Unverständliches.

Schellbach legte der Kleinen die Hand auf die schiefe Schulter. »Sie läßt Sie vielmals grüßen, und ich bin überzeugt, im Herbst kommt sie einmal heraus, und ich selbst werde ihr Zureden, daß es auf ein paar Tage geschieht.«

Das Gesicht der Petersen hellte sich auf.

»Wir wollen in einer Woche etwa eine Reise antreten. Ich denke, sie wird Milla guttun. Sie kennt so wenig von der Welt! Endlich einmal möchte ich mich ganz freimachen für sie, und kann es auch«, fügte er mit einem stolzen, freudigen Blick auf das prächtig in den blauen Sommerhimmel ragende Haus hinzu. »Unterwegs wird sie, so hoffe ich zuversichtlich, Frische und Erholung finden und all das Trübe verwinden, was sich für sie mit der Grauen Gasse verknüpft.«

Lene Petersen sah mit einem fragenden, unsicheren Blick zu Schellbach auf. Was konnte er meinen? Dachte er nur an Mangold Prätorius und an die Zeit der Sorgen und Entbehrungen, oder dachte er auch an den, den Milla verloren hatte und der von Rechts wegen längst vergessen sein sollte!?

Schellbach aber schüttelte zuversichtlich den Kopf. »Ich glaube, Sie dürfen sich darauf verlassen, beste Petersen. Und nun lassen Sie mich's nicht entgelten, daß ich ohne meine Milla kam, und lassen Sie mir etwas von dem zugute kommen, was Sie zweifellos für meine Frau in Bereitschaft hielten. Die Fahrt war heiß und staubig – oder –« er sah sie lachend an – »ist es Ihnen lieber, ich gehe in den Löwen, Petersen?«

Die Kleine fühlte sich an ihrem empfindlichsten Punkt getroffen. Lene Petersen freiwillig jemand in den Löwen gehen lassen! Das hätte das Ende ihrer Tage bedeutet. Sie war davongelaufen, ohne daß Schellbach die kleine, trotz aller Gebrechen noch immer unermüdlich bewegliche Gestalt hatte verschwinden sehen.

Er nahm den Hut vom Kopf, strich über die heiße Stirn und trat dann auf die andere Seite der Grauen Gasse hinüber, den Bau zu mustern.

Jedesmal, wenn er ihn wiedersah, fiel ihm aufs neue auf, was Frenzen da an genialer Anpassungsfähigkeit geleistet hatte, wie viel mehr als gemeinhin ›glücklich‹ er der Aufgabe gerecht geworden war, das Neue mit dem Alten, das Notwendige, für den Zweck des Hauses Gebotene, mit dem absolut Schönen zu verbinden. Schellbach war Ästhetiker genug, um diese Schönheit zu empfinden und sich ihrer immer wieder aufs neue zu freuen, neue Pläne und Hoffnungen an ihr festzuankern.

An das Eigenhaus, mit dem er weit draußen im grünen Westen Berlins Milla überraschen wollte, durfte niemand anders als Frenzen und seine Leute Hand anlegen. – Ein frohes Leuchten ging über Schellbachs Gesicht, wenn er an dies neue Heim dachte, das er Millas Jugend und Schönheit, all ihren besonderen individuellen Wünschen zu bereiten im Begriff stand: Ein Haus voll Schönheit und gediegenem Komfort, mitten in weitem Gartenland, von Bäumen umrauscht, von Blumen umduftet, ein Heim, das auch die letzten Schatten verschwinden machen sollte, die aus der Vergangenheit immer wieder sich aufzurichten schienen und ihr den Tag verdüsterten.

Niemand als Walter und Frenzen wußten um Schellbachs Geheimnis, freuten sich mit ihm auf Millas Freude. –

Die Sonne, die in der Grauen Gasse stets nur ein flüchtiger Gast war, schickte sich an, ihre letzten Strahlen über die Stirnseite des Hauses zu werfen. Sie spielte auf den schmalen, anmutig aufstrebenden Pfeilern und dem sie verbindenden Maßwerk, die die Mauer geschlossener erscheinen ließen und es verhinderten, daß die für den Betrieb notwendige Fensterzahl als breite Glasfläche unschön die Fassade zerriß. Sie spielte auf dem schlanken Getürm, auf einem der weißen Steinbilder zur Seite des schweren Portals.

Gerade hob Schellbach den Blick zu ihnen auf. Das zur rechten, der Sieg der Kaufleute wider die Raubritter lag schon in tiefem Schatten, während den Triumph der Wissenschaft ein warmer, rotglänzender Strahl traf, der Millas Antlitz und Gestalt zu blühendem, strahlendem Leben weckte. Wie von einer Gloriole der Freude, starken, warm pulsierenden Lebens umwoben, stand der schlanke Leib, stand das schöne zarte Gesicht gegen den weißen Marmor, leuchtete strahlend hervor aus der Menge der sie umgebenden Gestalten, wie ein Freude und Leben kündendes Fanal.

Über Schellbachs Antlitz ging ein Leuchten. Wie eine Verheißung stieg es von dem Bilde her zu ihm herab. Mit felsensicherer Zuversicht empfand er, daß seine Liebe, der Sonne gleich, allmächtig genug sei, das geliebte Weib mit einer Gloriole der Freude, mit warmem, stark pulsierendem Leben zu erfüllen. – –

*

Die Reise durch Tirol, die Schweiz und ein Stückchen von Oberitalien hatte auf Milla nicht ganz den von Schellbach erhofften Einfluß geübt. Wenn die starke Alpenluft auch ihre Gesundheit gekräftigt, ihr Aussehen frischer und blühender gemacht hatte, so war sie doch nur um ein geringes froher und lebensfreudiger zurückgekommen. Und auch dies Geringe, das die Größe der Alpennatur in ihr ausgelöst hatte, schien in der täglichen Gewohnheit des Alltagslebens wieder verloren zu gehen. Auch Walter war enttäuscht, als er die kleine Mama wiedersah. Auch er hatte sich ein anderes Bild von der Heimkehrenden gemacht.

Er selbst steckte tiefer denn je in der Arbeit, aber trotzdem war er frisch und guter Dinge. Er hatte die Universitätsferien bei Frau Hegemann in der Waldmühle verbracht und dort in Einsamkeit und Stille ein erkleckliches Stück Examensvorbereitung geleistet.

Leni, die den Sommer über mit Martha Tobias auf Reisen gewesen war, kam ziemlich gleichzeitig mit den Eltern um Ende September nach Berlin zurück. Sie wußte nicht genug von der Eleganz und dem Schick in Karlsbad, von der interessanten Gesellschaft in Sankt Moriz zu erzählen. Das war Leben, Bewegung, Freude gewesen! Und nun würde es in Berlin, so weit als irgend tunlich, so fortgehen. Das hatte Tante Martha ihr versprochen, und Tante Martha hielt Wort.

Frau Tobias wollte diesen Winter in Berlin bleiben und ihr elegantes, so lange verschlossenes Haus der Berliner Gesellschaft wieder öffnen, dazu vor allem auch hineinziehen, was sie in den letzten Jahren auf internationalen Weltplätzen und in Paris kennen gelernt hatte. Die nicht ständig in Berlin angesiedelten Berühmtheiten würden bei gelegentlichen Besuchen in der Kaiserstadt eine besondere Anziehung für ihre Salons bedeuten. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß Luigi Cortini noch immer auf die Audienz beim Kaiser wartete, und die Angelegenheiten seiner Oper noch um keinen Schritt weitergerückt waren, als im April bei Martha Tobias' Heimkehr von Meran. Cortini mit seinem Anhang, einer Anzahl in Berlin ansässiger italienischer Künstler, würde den clou ihrer Gesellschaftsabende bilden. Auch die Sängerinnen und Sänger, die für die Aufführung seiner Oper ins Auge gefaßt waren, würden sich ihm zweifellos gefällig erweisen und Bruchstücke seines Werkes in ihren Salons zu Gehör bringen. Dazu kam, daß von den Malern und Bildhauern, die Frau Tobias im vorigen Jahr in Paris kennengelernt hatte, dieser oder jener zweifellos zu der internationalen Ausstellung eintreffen würde, die für Wintersanfang im Künstlerhause geplant war.

So ließ sich alles aufs beste an, und Frau Martha durfte es ohne Lampenfieber riskieren, die Karten zu ihrem ersten Abend Anfang November zu verschicken.

Auch die Schellbachs waren geladen – in corpore. Milla und Walter lehnten, wie Martha es nicht anders erwartet hatte, mit höflichen Worten ab. Ihr Schwager sagte zu, Leni zu begleiten.

Frau Martha hätte ihm diese Höflichkeit gern geschenkt. Sie hatte mit Leni einen Coup vor, und es erschien ihr nicht durchaus notwendig, daß Schellbach ihr von vornherein dabei in die Karten guckte. Der junge Bankier, den sie für Leni ins Auge gefaßt hatte – eine Karlsbader Bekanntschaft, die übrigens eifriger ihr selbst als ihrer Nichte den Hof gemacht – würde ihren Projekten sicherlich rascher geneigt sein, wenn der Schwiegervater in spe nicht gleich in Person auf der Bildfläche erschiene.

Am Tage des Festes selbst wurden Frau Martha zwei angenehme Überraschungen auf telegraphischem Wege zuteil: Schellbach telegraphierte aus Magdeburg, wohin er plötzlich zu einer Aufsichtsratssitzung berufen worden war, daß er erst spät in der Nacht zurückkommen könne, zu spät selbst, um Leni noch abzuholen. Das zweite Telegramm kam aus Köln und kündete ihr die Ankunft eines Mitgliedes der Pariser Künstlervereinigung für den Abend an. Hoffentlich würde den jungen Künstler als modernen Menschen und mit der besondern souveränen Würdigung seiner selbst, die Frau Tobias an ihm kannte, die Fracklosigkeit nicht genieren, mit der er in die geladene Gesellschaft hineinplatzte.

Nach Lenis Stimmung am nächsten Morgen zu urteilen, mußte das Fest überaus großartig, ja glänzend gewesen sein.

Sie saß, es war an einem Sonntag nach dem etwas verspäteten Frühstück, bei den Eltern in Millas kleinem Zimmer, rieb die noch immer schlaftrunkenen Augen und erzählte von Luigi Cortini und wie gut sie sich mit ihren paar italienischen Brocken mit ihm verständigt habe, von dem jungen italienischen Botschaftssekretär, der in seiner Gesellschaft gewesen, von den Abschnitten aus seiner neuen Oper, die er den Herrschaften vom Opernhaus selbst begleitet habe und die einen kolossalen Erfolg gehabt, so daß jedermann es für ausgeschlossen hielte, was Cortinis Neider behaupteten, daß die Oper hier nicht zur Aufführung gelangen würde. Leni erzählte von den Toiletten, die die Damen vom Theater getragen, und von einer eifersüchtigen Schriftstellersfrau, die ihren Gatten zum Gaudium der Gesellschaft den ganzen Abend über belauert habe.

Den jungen Bankier, den Tante Martha ihr zum Tischherrn gegeben, erwähnte Leni nur flüchtig. Dann machte sie eine kleine Pause in ihrer bisher sehr lebhaften Schilderung und sagte dann plötzlich, eine leichte Verlegenheit nur schwer bemeisternd: »Übrigens habe ich euch einen Gruß zu bestellen, besonders dir, Mama, von einem Münchener Maler, der jetzt in Paris lebt, und den Tante Martha dort kennengelernt hat – einem Herrn Lorenz Buchberg.«

Milla war ebenso blaß geworden, als Leni bei dem Nennen des Namens errötet war.

Schellbach, der so zwischen Frau und Tochter saß, daß er keiner von ihnen ins Gesicht sehen konnte, sagte mit heiterer Unbefangenheit: »Lorenz Buchberg! Welch ein wunderliches Zusammentreffen! Immer wieder sieht man, wie klein die Welt ist. Hat er dir nicht erzählt, Leni, daß er ein Jugendfreund von Mama ist, oberhalb der Grauen Gasse aufgewachsen?«

Leni schüttelte den Kopf. »Nein, Papa, davon hat er mir nichts erzählt. Er hat mir nur gesagt, daß er die Mama aus ihrer Heimat her kenne und auch dich kennengelernt habe, beim erstenmal, als du unten in der Grauen Gasse bei Herrn Prätorius gespeist habest.«

»Ganz recht«, sagte Schellbach in einem lebhaft freudigen Ton. »An dem Tage, an dem ich dich kennen lernte, Milla.« Liebevoll blickte er sich nach seiner Frau um.

Milla hatte die erste starke Bewegung überwunden. In ihrer Haltung, in ihrem Ausdruck lag nichts Ungewöhnliches mehr.

Schellbach hatte sie oft so gesehen, still und mit innerlich abgewandtem Blick. Nur ein wenig erstaunt war er, daß sie so wenig Freude bezeigte, von dem alten Jugendbekannten zu hören, und es ging ihm wie ein Stich durchs Herz, daß sie etwa wieder in jene krankhafte Apathie zurückfallen könne, die ihn während des ersten Jahres ihrer Ehe so schmerzlich beängstigt hatte. Er mußte sie herausreißen, in jedem Fall. »Hast du Herrn Buchberg nicht aufgefordert, uns zu besuchen, Leni?« fragte er lebhaft.

Leni wurde, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, wiederum rot und verlegen. »Nein, Papa, aber er sagte so etwas, als ob er Besuch machen wollte.«

»Nun also, das wird er hoffentlich bald tun, und die Mama wird sich mit dem alten Freunde ausplaudern. Nicht wahr, Milla?«

»O gewiß, gern, Max.« Sie sagte es, ohne zu stocken. Gewaltsam hatte sie sich zusammengerafft, sich an den Augenblick erinnert, da sie in der Revue seinen Namen gefunden hatte und den Versuch gemacht, das Buch feige beiseite zu legen, da sie sich gesagt hatte, daß diese Feigheit durchaus zu überwinden sei, daß sie nichts mehr mit dem Namen gemein habe, daß sie ihn aber auch nicht aus der Welt schaffen könne und den Mut finden müsse, ihm unbeirrt ins Auge zu sehen, ihm und seinem Träger, falls er jemals ihren Weg kreuzen sollte.

Damals freilich hatte sie den Augenblick fern geglaubt, hatte wohl gehofft, daß der Augenblick niemals kommen würde. Jetzt war er da, greifbar nahe gerückt! Sie vermochte nicht, ihn aufzuhalten, aber sie konnte es auch nicht hindern, daß ihre Seele zusammenschauerte in Furcht und Bangen.

Ihr Mann und Leni hatten inzwischen fortgesprochen. Sie sprachen noch immer von Lorenz Buchberg, Leni ernsthafter als Milla je gehört, von Porträten und Genrebildern, die er in München, Wien und Paris ausgestellt, von einer Ausstellung, die er hier veranstalten wolle, von Bildnissen aus der Berliner Gesellschaft, die in Aussicht genommen waren.

»Also Lorenz Buchberg scheint so eine Art Berühmtheit geworden zu sein?« hörte Milla jetzt ihren Mann fragen.

»Eine Art?« Leni verzog ein wenig verächtlich den Mund, »eine unserer ersten Berühmtheiten«, sagte sie mit großer Bestimmtheit. »Tante Martha sagt so und Luigi Cortini, der die Welt kennt und ihre bedeutenden Männer, hat es bestätigt und hinzugefügt, daß Buchberg kolossales Geld verdiene.«

»Na, na,« meinte Schellbach skeptisch, »das steht auf einem anderen Brett; aber wenn er sich einen Namen gemacht hat, das würde mich freuen! Auch dich, Milla, nicht wahr? Von Jugendfreundschaften bleibt ja doch immer so ein bißchen warme Teilnahme übrig und soll es auch. Buchberg soll sich nur bald sehen lassen und uns selbst erzählen, wie weit er es gebracht hat.«

»Ich werd's ihm heute sagen«, fuhr Leni heraus.

Schellbach sah seine Tochter etwas erstaunt an.

Bei seinem fragenden, verwunderten Blick, in dem ihr ein plötzlich aufgetauchtes Hemmnis ihrer Pläne und Wünsche zu liegen schien, ereiferte sich Leni sofort und sagte mit leidenschaftlicher Bestimmtheit: »Tante Martha hat für heut abend eine Loge im Zirkus bestellt – sie hat mich geladen – und Herrn Moritz, den jungen Bankier, wir haben ihn in Karlsbad kennen gelernt, und Herrn Buchberg –«

Schellbach unterbrach seine Tochter. »Schon gut. Ein bißchen viel Vergnügen auf einmal – aber da es nun mal abgemacht ist –«

»Ja, Papa«, sagte Leni und stand auf. Und sehr kurz gegen Milla gewendet: »Ich will mich jetzt umziehen gehen, Mama.«

Ein wenig trotzig, den hübschen Kopf keck aufgeworfen, ging sie aus dem Zimmer. Schellbach sah ihr nicht ohne Verstimmung nach. Es ging ihm durch den Sinn, daß Leni eben wieder einmal das getreue Abbild ihrer Mutter gewesen war. Dann wandte er sich mit dankbarer Zärtlichkeit zu Milla um und küßte ihr die feine, müde Hand.

* * *

 


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