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Fünf Minuten nach Schluß der Oper war der Graf zu Hause und rief Ali, von dem er sich seine Pistolen bringen ließ, dann prüfte er die Waffen mit einer für einen Mann, der sein Leben ein wenig Pulver und Blei anvertraut, sehr natürlichen Sorgfalt.
Er war eben im Begriff, die Waffe in die Hand zu nehmen und sich den Zielpunkt auf einem kleinen Plättchen von Eisenblech, das ihm als Scheibe diente, zu wählen, als die Tür seines Kabinetts sich öffnete und Baptistin eintrat.
Doch ehe dieser ein Wort gesprochen hatte, erblickte der Graf durch die offengebliebene Tür eine verschleierte Frau, die Baptistin gefolgt war und im Halbschatten des anstoßenden Zimmers stand.
Sie gewahrte den Grafen, eine Pistole in der Hand, sie sah zwei Degen auf dem Tische und stürzte herein.
Baptistin befragte seinen Herrn mit dem Blicke. Der Graf machte ein Zeichen, Baptistin entfernte sich und schloß die Tür hinter sich.
Wer sind Sie, gnädige Frau? fragte der Graf.
Die Unbekannte schaute umher, um sich zu versichern, daß sie allein war, verneigte sich, als wollte sie niederknien, faltete die Hände und rief mit einem Tone der Verzweiflung: Edmond! Sie werden meinen Sohn nicht töten!
Der Graf machte einen Schritt rückwärts, stieß einen schwachen Schrei aus, ließ seine Waffe fallen und erwiderte: Welchen Namen haben Sie da ausgesprochen, Frau von Morcerf?
Den Ihrigen, rief sie, ihren Schleier zurückschlagend, den ich allein nicht vergessen habe. Edmond, nicht Frau von Morcerf kommt zu Ihnen, sondern Mercedes.
Mercedes ist tot, gnädige Frau, sagte Monte Christo, und ich kenne niemand dieses Namens mehr.
Mercedes lebt, mein Herr, und Mercedes erinnert sich, denn sie allein hat Sie erkannt, als sie Ihr Antlitz erblickte, und sogar ohne Sie zu sehen, Edmond, schon am Tone Ihrer Stimme, und seit dieser Zeit folgt sie Ihnen Schritt für Schritt, sie überwacht Sie, sie fürchtet Sie, und sie hatte nicht nötig, die Hand zu suchen, von der der Schlag ausging, der Herrn von Morcerf niederwarf.
Fernand wollen Sie sagen, versetzte Monte Christo mit bitterer Ironie; da wir uns der Namen wieder erinnern, so wollen wir diesen nicht vergessen.
Monte Christo sprach den Namen Fernand mit einem solchen Tone des Hasses aus, daß Mercedes fühlte, wie ein Schauer des Schreckens ihren Leib durchlief.
Sehen Sie, Edmond, daß ich mich nicht getäuscht habe, rief sie, und daß ich recht hatte, Ihnen zu sagen: Schonen Sie meinen Sohn!
Und wer sagt Ihnen, daß ich gegen Ihren Sohn aufgebracht bin?
Mein Gott! niemand; aber eine Mutter ist mit dem doppelten Gesichte begabt. Ich habe alles erraten, ich bin ihm in die Oper gefolgt und habe, in einer Loge verborgen, alles gesehen.
Wenn Sie alles gesehen haben, so haben Sie auch gesehen, daß mich Fernands Sohn öffentlich beleidigte, sagte Monte Christo mit furchtbarer Ruhe.
Hören Sie. Mein Sohn hat Sie auch erraten; er schreibt Ihnen die Unglücksfälle zu, die seinen Vater treffen.
Gnädige Frau, Sie verwechseln die Sache; es sind nicht Unglücksfälle, es ist eine Strafe. Nicht ich bin es, der Herrn von Morcerf schlägt, es ist die Vorsehung, die ihn bestraft.
Und warum treten Sie an die Stelle der Vorsehung? rief Mercedes. Warum erinnern Sie sich, wenn sie vergißt? Was ist Ihnen, Edmond, an Janina und seinem Wesir gelegen? Welches Unrecht hat Ihnen Fernand Mondego dadurch zugefügt, daß er Ali Tependelini verraten?
Das geht auch nur den fränkischen Kapitän und Wasilikis Tochter an. Sie haben recht, was kümmert's mich? Und wenn ich geschworen habe, mich zu rächen, so ist es weder an dem fränkischen Kapitän, noch an dem Grafen von Morcerf, sondern an dem Fischer Fernand, dem Gatten der Katalonierin Mercedes.
Oh! rief die Gräfin, welch eine furchtbare Rache für einen Fehler, den ein Mißgeschick mich begehen ließ! Denn die Schuldige bin ich, Edmond, und wenn Sie sich an jemand zu rächen haben, so ist es an mir, weil es mir an Kraft gebrach, gegen Ihre Abwesenheit und meine Einsamkeit zu kämpfen.
Doch warum war ich abwesend, warum waren Sie einsam? – Weil Sie im Gefängnis saßen.
Und warum wurde ich verhaftet, warum saß ich im Gefängnis? – Ich weiß es nicht.
Ja, Sie wissen es nicht, gnädige Frau, wenigstens hoffe ich dies. Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich wurde verhaftet, ich war Gefangener, weil unter der Laube der Reserve, am Vorabend des Tages, an dem ich Sie heiraten sollte, ein Mensch namens Danglars einen Brief geschrieben hatte, den der Fischer Fernand selbst auf die Post zu bringen übernahm.
Monte Christo ging an einen Sekretär, zog eine Schublade auf, aus der er ein vergilbtes Papier nahm und legte dieses Papier vor Mercedes' Augen. Es war der Brief von Danglars an den Staatsanwalt.
Mercedes las voll Schrecken die Denunziation.
Oh! mein Gott, rief sie, mit der Hand über ihre von Schweiß befeuchtete Stirn fahrend; dieser Brief . . .
Ich habe ihn um 200 000 Franken gekauft, und das war noch wohlfeil, da er mir heute gestattet, mich in Ihren Augen von jeder Schuld freizusprechen.
Und der Erfolg dieses Briefes?
Sie wissen, war meine Verhaftung; doch Sie wissen nicht, wie lange diese Haft gedauert hat; Sie wissen nicht, daß ich vierzehn Jahre, eine Viertelstunde von Ihnen entfernt, in einem Kerker des Kastells If geschmachtet habe. Sie wissen nicht, daß ich jeden Tag in diesen vierzehn Jahren das Gelübde der Rache erneuert habe, das ich am ersten Tage aussprach, und ich wußte nicht einmal, daß Sie Fernand, meinen Denunzianten, geheiratet hatten, und daß mein Vater gestorben, vor Hunger gestorben war!
Gerechter Gott! rief Mercedes wankend.
Aber ich habe dies erfahren, als ich das Gefängnis nach vierzehn Jahren wieder verließ, und darum habe ich geschworen, mich an Fernand zu rächen, und ich räche mich.
Und Sie wissen gewiß, daß Fernand dies getan hat?
Bei meiner Seele. Übrigens ist das nicht schlechter, als wenn man als Franzose durch Adoption zu den Engländern übergeht, als Spanier von Geburt gegen die Spanier kämpft und in Alis Solde Ali verrät und ermordet. Was war im Vergleich dazu der Brief, den Sie gelesen? Ein schlauer Kniff, den die Frau, die diesen Menschen heiratet, ich gestehe und begreife dies, verzeihen muß, den aber der Geliebte, der sie heiraten sollte, nicht vergißt. Wohl! die Franzosen haben sich nicht an dem Verräter gerächt, die Spanier haben den Verräter nicht erschossen, in seinem Grabe liegend, hat Ali den Verräter unbestraft gelassen; doch ich, verraten, ermordet, ebenfalls in ein Grab geworfen, bin aus diesem Grabe durch Gottes Gnade hervorgegangen und bin es Gott schuldig, daß ich mich räche; er schickt mich zu diesem Zwecke hierher, und hier bin ich.
Die arme Frau ließ ihren Kopf und ihre Hände sinken; ihre Beine bogen sich unter ihr, und sie fiel auf die Knie.
Verzeihen Sie mir, Edmond, sagte sie, verzeihen Sie, meinetwegen, denn ich liebe Sie noch!
Die Würde der Gattin zügelte den Ausdruck ihrer Worte. Ihre Stirn neigte sich, daß sie beinahe den Boden berührte. Der Graf eilte auf sie zu und hob sie auf. Auf einem Stuhle sitzend, konnte sie nur durch ihre Tränen sein männliches Gesicht betrachten, auf dem Schmerz und Haß abermals drohend sich ausprägten.
Daß ich das verfluchte Geschlecht nicht niedertrete! murmelte er, daß ich Gott ungehorsam werde, der mich zu seiner Bestrafung wiedererweckt hat, unmöglich, gnädige Frau, es kann nicht sein!
Edmond, sagte die arme Mutter, alle Mittel versuchend; mein Gott! wenn ich Sie Edmond nenne, warum nennen Sie mich nicht Mercedes?
Mercedes! wiederholte Monte Christo, Mercedes! ja wohl! Sie haben recht, es ist noch süß für mich, diesen Namen auszusprechen, und zum erstenmale seit langer Zeit klingt er so klar von meinen Lippen. Oh! Mercedes, ich habe Ihren Namen mit den Seufzern der Schwermut, mit dem Stöhnen des Schmerzes, mit dem Röcheln der Verzweiflung ausgesprochen; ich habe ihn ausgesprochen, von der Kälte zu Eis erstarrt, auf dem Stroh meines Kerkers kauernd; ich habe ihn ausgesprochen, verzehrt von der Hitze und mich auf den Platten meines Gefängnisses wälzend. Mercedes, ich muß mich rächen, denn vierzehn Jahre lang habe ich gelitten, vierzehn Jahre lang habe ich geweint, geflucht, nun muß ich mich rächen, Mercedes!
Rächen Sie sich, Edmond, rief die arme Mutter, aber rächen Sie sich an den Schuldigen, rächen Sie sich an mir, rächen Sie sich nicht an meinem Sohne!
Es steht geschrieben im heiligen Buche, antwortete Monte Christo, die Sünden der Eltern sollen auf ihre Kinder zurückfallen bis in das dritte und vierte Glied. Da Gott diese seine eigenen Worte seinem Propheten diktiert hat, warum sollte ich besser sein als Gott?
Weil Gott vor den Menschen die Zeit und die Ewigkeit hat.
Monte Christo stieß ein Stöhnen aus.
Edmond! fuhr Mercedes, die Arme gegen den Grafen ausstreckend, fort, seitdem ich Sie kenne, habe ich Ihren Namen angebetet, Ihr Andenken geehrt, Edmond! Oh, zwingen Sie mich nicht, dieses edle Bild zu trüben, das unablässig in dem Spiegel meines Herzens widerstrahlte. Edmond, wenn Sie alle Gebete kennen würden, die ich für Sie an Gott richtete, solange ich hoffte, Sie wären noch am Leben, und seitdem ich Sie für tot hielt! Ja für tot, man sagte, Sie hätten fliehen wollen, Sie wären in das Leichentuch eines Toten geschlüpft, und sodann vom Kastell herab in das Meer geschleudert worden; der Schrei, den Sie, auf den Felsen zerschellend, ausgestoßen, habe Ihre verwegene Tat und zugleich Ihren Tod verkündet. Wohl! Edmond, ich schwöre Ihnen bei dem Haupte des Sohnes, für den ich zu Ihnen flehe, Edmond, zehn Jahre lang sah ich jede Nacht Menschen, die etwas auf einem Felsen schaukelten; zehn Jahre lang hörte ich einen furchtbaren Schrei, der mich eisig erschauern ließ, so daß ich erwachte. Und auch ich, Edmond, oh! glauben Sie mir, auch ich, so sehr ich schuldig war, habe viel gelitten!
Haben Sie gefühlt, wie Ihr Vater während Ihrer Abwesenheit verhungert ist? rief Monte Christo, haben Sie die Frau, die Sie liebten, dem Nebenbuhler die Hand reichen sehen, während Sie in der Tiefe des Abgrundes röchelten?
Nein, doch ich habe den, welchen ich liebte, bereit gesehen, der Mörder meines Sohnes zu werden!
Mercedes sprach diese Worte mit einem so mächtigen Schmerz, mit einem so verzweiflungsvollen Ausdruck, daß sich der Brust des Grafen ein schmerzliches Schluchzen entriß. Der Löwe war bezähmt, der Rächer war besiegt.
Was verlangen Sie von mir? sagte er; daß Ihr Sohn lebe? Wohl! er wird leben! . . .
Mercedes stieß einen Schrei aus, der zwei Tränen unter den Augenlidern des Grafen hervorquellen ließ; doch sie verschwanden sofort wieder, denn ohne Zweifel hatte Gott einen Engel geschickt, um sie zu sammeln, da sie viel kostbarer waren in den Augen des Herrn, als die kostbarsten Perlen.
Oh! rief sie, die Hand des Grafen ergreifend und an ihre Lippen drückend, oh! Dank, Dank, Edmond! Nun bist du so, wie ich dich immer geträumt, wie ich dich geliebt habe. Oh! nun kann ich es dir sagen.
Um so eher, erwiderte Monte Christo, als der arme Edmond nicht mehr viel Zeit haben wird, von Ihnen geliebt zu werden. Der Tod kehrt in das Grab, das Gespenst kehrt in die Nacht zurück.
Was sagen Sie, Edmond? – Ich sage, da Sie es befehlen, Mercedes, so muß ich sterben.
Sterben! Und wer sagt dies? Wer spricht vom Sterben? Woher kommen Ihnen diese Todesgedanken?
Sie können nicht annehmen, daß ich, öffentlich, im Angesicht eines ganzen Saales, in Gegenwart der Freunde Ihres Sohnes herausgefordert und beleidigt, noch länger leben mag. Was ich nach Ihnen am meisten auf der Welt geliebt, Mercedes, das bin ich, das heißt, meine Würde, das heißt diese Kraft, durch die ich über andere Menschen erhaben war; diese Kraft war mein Leben; Sie brechen sie, und ich sterbe.
Doch der Zweikampf wird nicht stattfinden, Edmond, da Sie verzeihen.
Er wird stattfinden, sagte feierlich Monte Christo, nur wird statt des Blutes Ihres Sohnes meines fließen.
Mercedes stieß einen gewaltigen Schrei aus und stürzte auf Monte Christo zu, doch plötzlich hielt sie an und sagte: Edmond, es ist ein Gott über uns, da Sie leben, da ich Sie wiedergesehen, und ich baue auf ihn aus der Tiefe meines Herzens. Indem ich auf seine Hilfe hoffe, verlasse ich mich auf Ihr Wort. Sie haben gesagt, mein Sohn werde leben; nicht wahr, er wird leben?
Ja, er wird leben, sagte Monte Christo, erstaunt, daß Mercedes seine eigene Aufopferung ohne weiteren Protest angenommen hatte.
Mercedes reichte dem Grafen die Hand und sagte, während ihre Augen sich mit Tränen befeuchteten: Edmond, wie schön ist es von Ihnen, wie groß ist das, was Sie soeben getan, wie erhaben ist es, mit einer Frau Mitleid zu haben, die kaum mit einem Schimmer von Hoffnung vor Sie trat! Ach! ich bin mehr durch den Kummer als durch die Jahre alt geworden und kann meinen Edmond nicht einmal mehr durch einen Blick an jene Mercedes erinnern, die er nicht müde wurde anzuschauen. Oh! glauben Sie nur, Edmond, ich habe Ihnen gesagt, daß auch ich gelitten; ich wiederhole Ihnen, es ist sehr traurig, sein Leben hingehen zu sehen, ohne sich einer einzigen Freude zu erinnern, ohne eine einzige Hoffnung zu bewahren. Aber ich wiederhole Ihnen auch, Edmond, es ist groß, es ist schön, es ist erhaben, zu verzeihen, wie Sie es getan haben!
Mercedes schaute noch einmal den Grafen mit einer Miene an, die zugleich ihr Erstaunen, ihre Bewunderung und ihre Dankbarkeit ausdrückte. Dann sagte sie innig:
Edmond, ich habe Ihnen nur noch ein Wort zu sagen. Sie werden sehen, daß, wenn meine Stirn erbleicht ist, wenn meine Augen erloschen sind, wenn Mercedes in ihren Zügen sich selbst nicht mehr gleicht, Sie werden sehen, daß das Herz immer noch das gleiche Gefühl hegt! Leben Sie wohl, Edmond; ich habe vom Himmel nichts mehr zu verlangen! . . . Ich habe Sie wiedergesehen, und so groß und edel gesehen wie einst. Gott befohlen, Edmond . . . und Dank!
Doch der Graf antwortete nicht.
Mercedes öffnete die Tür des Kabinetts und war verschwunden, ehe er aus der tiefen, schmerzlichen Träumerei erwachte, in die ihn die plötzliche Verrückung seines Rache- und Lebenszieles versenkt hatte.
Es schlug ein Uhr im Invalidenhause, als der Graf von Monte Christo bei dem Geräusch des Wagens, der Frau von Morcerf fortführte, den Kopf erhob.
Ich Wahnsinniger, sagte er, daß ich mir nicht an dem Tage, wo ich mich zu rächen beschloß, das Herz ausgerissen habe!