Alexander Dumas
Ange Pitou. Band 1
Alexander Dumas

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Ueber den Einfluß, den auf das Leben eines Menschen ein Barbarismus und sieben Solöcismen haben können.

Pitou befand sich also außerhalb der Schule. Einer von seinen Armen hing an der Seite herab, der andere hielt seine Truhe auf dem Kopfe im Gleichgewicht, sein Ohr surrte noch von den wütenden Ausbrüchen des Abbés Fortier, und so ging er nach dem Pleux mit einer Sammlung des Geistes, die nichts anderes war, als die auf den höchsten Grad gestiegene Bestürzung.

Endlich machte sich eine Idee Licht in seinem Geiste, und drei Worte, die seinen ganzen Gedanken enthielten, entschlüpften seinen Lippen:

Jesus! meine Tante!

In der That, was würde Mademoiselle Angélique Pitou über den Umsturz aller ihrer Hoffnungen sagen?

Was aus den Betrachtungen von Ange Pitou hervorging und was von seinen Lippen den kläglichen Ausruf springen gemacht hatte, war, daß Ange Pitou begriff, die Unzufriedenheit werde bei der alten Jungfer groß sein, wenn sie die unselige Kunde erfahre. Er kannte aber aus Erfahrung das Resultat einer Unzufriedenheit von Mademoiselle Angélique. Nur mußten diesmal, da die Ursache der Unzufriedenheit sich zu einer unberechenbaren Macht erhob, die Resultate eine unberechenbare Summe erreichen.

Er hatte beinahe eine Viertelstunde gebraucht, um den Weg, der vom großen Thore des Abbés Fortier zum Eingang der Straße in Pleux führte, zurückzulegen, und das war doch nur ungefähr dreihundert Schritte von einander entfernt.

In diesem Augenblick schlug die Glocke der Kirche ein Uhr.

Er bemerkte nun, daß ihn seine letzte Unterredung mit dem Abbé und die Langsamkeit, mit der er den Weg zurückgelegt, um sechszig Minuten verspätet hatten, und daß demnach seit dreißig Minuten die unerstreckbare Frist abgelaufen war, nach der man bei der Tante Angélique nicht mehr zu Mittag aß.

Dies war in der That der heilsame Zügel, den die alte Jungfer zugleich den Schularresten und den tollen Leidenschaften ihres Neffen angelegt hatte; dabei ersparte sie, ein Jahr in das andere gerechnet, ungefähr sechszig Mittagsmahle an dem armen Jungen.

Doch diesmal war es nicht das magere Mittagessen der Tante, was den saumseligen Schüler beunruhigte: so karg auch das Frühstück gewesen, Pitou hatte ein zu volles Herz, um zu bemerken, sein Magen sei leer.

Es giebt eine furchtbare, dem Schüler, ein so großer Wicht er auch sein mag, wohlbekannte Qual; das ist der unrechtmäßige Aufenthalt in irgend einem abgelegenen Winkel nach einer Austreibung aus der Schule; es ist der entschiedene und gezwungene Urlaub, den er zu benützen genötigt ist, während seine Mitschüler, die Mappe und die Bücher unter dem Arm, vorüberziehen, um zur täglichen Arbeit zu gehen. Diese verhaßte Schule nimmt eine wünschenswerte Gestalt an. Der Schüler beschäftigt sich ernstlich mit der großen Angelegenheit der Aufgaben und Uebersetzungen, mit der er sich nie beschäftigt hat, und die dort während seiner Abwesenheit verhandelt wird. Es findet eine große Ähnlichkeit zwischen diesem von seinem Lehrer weggeschickten Schüler und dem wegen seiner Gottlosigkeit Exkommunizierten statt, der nicht mehr das Recht hat, in die Kirche zurückzukehren, während er vor Verlangen, eine Messe zu hören, brennt.

Darum dünkte dem armen Pitou, je näher er zu dem Hause seiner Tante kam, desto schrecklicher der Aufenthalt in diesem Hause. Darum stellte er sich zum ersten Male in seinem Leben vor, die Schule sei ein irdisches Paradies, aus dem ihn der Abbé Fortier als ein Würgengel mit seiner Geißel in Form eines flammenden Schwertes vertrieben habe.

So langsam er indessen ging, und obgleich Pitou von zehn zu zehn Schritten Stationen machte, die immer länger wurden, je mehr er sich dem Schreckensorte näherte, er mußte nichtsdestoweniger zur Schwelle des so sehr gefürchteten Hauses kommen. Pitou erreichte also die Schwelle, indem er seine Schuhe schleppte und maschinenmäßig seine Hand auf der Naht seiner Hose rieb.

Ah! ich bin sehr krank, Tante Angélique, sagte er, um jedem Spott oder jedem Vorwurf zuvorzukommen, und vielleicht auch, um es zu versuchen, das arme Kind beklagen zu machen.

Gut, erwiderte Mademoiselle Angélique, ich kenne diese Krankheit, und man würde sie leicht heilen, wenn man den Zeiger der Pendeluhr um anderthalb Stunden zurückrückte.

Oh mein Gott, nein! rief Pitou bitter, denn ich habe keinen Hunger.

Die Tante Pitou war erstaunt und beinahe unruhig; eine Krankheit beunruhigt gleich sehr die guten Mütter und die Stiefmütter; die guten Mütter wegen der Gefahr, welche die Krankheit herbeiführt, die Stiefmütter wegen des Nachteils, den sie der Börse zufügt.

Nun, was hast du denn, laß hören? fragte die alte Jungfer.

Bei diesen Worten, die indessen ohne eine sehr zärtliche Sympathie ausgesprochen wurden, zerfloß Ange Pitou in Thränen, und es ist nicht zu leugnen, die Grimasse, die er von der Klage zu den Thränen übergehend machte, gehörte zu den häßlichsten und unangenehmsten Grimassen, die man sehen kann.

Oh! meine gute Tante, es ist mir ein sehr großes Unglück begegnet, sagte er.

Welches? fragte die alte Jungfer.

Der Herr Abbé hat mich weggeschickt, rief Ange Pitou in ein ungeheures Schluchzen ausbrechend.

Weggeschickt? wiederholte die Tante, als ob sie ihn nicht recht verstanden hätte.

Ja, meine Tante.

Von wo?

Von der Schule.

Hier verdoppelte sich das Schluchzen von Pitou.

Von der Schule? Also keine Prüfungen, keine Stipendien, kein Seminar mehr?

Das Schluchzen von Pitou verwandelte sich in ein Geheule. Mademoiselle Angélique schaute ihn an, als hätte sie in der Tiefe des Herzens ihres Neffens den Grund seiner Ausweisung lesen wollen.

Wetten wir, daß du wieder hinter die Schule gegangen bist? sagte sie; wetten wir, daß du abermals beim Pachthof des Vaters Billot herumgestrichen bist? Pfui! ein zukünftiger Pfarrer!

Ange schüttelte den Kopf.

Du lügst! rief die alte Jungfer, deren Zorn in demselben Maße zunahm, in dem sie die Gewißheit erlangte, daß die Lage der Dinge ernst war; du lügst! noch am letzten Sonntag hat man dich in der Seufzerallee mit der Billotte gesehen.

Mademoiselle Angélique log; doch zu jeder Zeit haben sich die Frömmlerinnen für berechtigt geglaubt, zu lügen, kraft des jesuitischen Axioms: Es ist erlaubt, das Falsche vorzugeben, um das Wahre zu erfahren.

Man hat mich nicht in der Seufzerallee gesehen, erwiderte Ange; das ist unmöglich, denn wir sind bei der Orangerie gegangen!

Ah! Unglücklicher! du siehst wohl, daß du mit ihr warst.

Aber, meine Tante, entgegnete Ange errötend, es handelt sich hier durchaus nicht um Jungfer Billot.

Ja, nenne sie Jungfer, um dein Spiel zu verbergen. Unreiner! Aber ich werde den Beichtvater von diesem Zieraffen benachrichtigen.

Aber, meine Tante, ich schwöre Ihnen, daß Jungfer Billot kein Zieraffe ist.

Ah, du verteidigst sie, während du der Entschuldigung bedarfst. Gut, ihr versteht euch immer besser. Oh! mein Gott, wie weit kommt es noch! . . . Kinder von sechszehn Jahren!

Meine Tante, ganz im Gegenteil, ich verstehe mich nicht mit Katharine, Katharine jagt mich immer fort.

Siehst du, wie du dich verhaspelst! nun nennst du sie Katharine kurzweg. Ja, sie jagt dich fort, die Heuchlerin, wenn man sie beobachtet.

Ah! sagte Pitou plötzlich erleuchtet zu sich selbst, ah! daran hatte ich nicht gedacht.

Siehst du! rief die alte Jungfer, den naiven Ausdruck ihres Neffen benützend, um ihn der Genossenschaft der Billotte zu überweisen; aber nur zu, ich will das alles ins Reine bringen. Herr Fortier ist ihr Beichtvater; ich werde ihn bitten, dich einsperren zu lassen und auf vierzehn Tage auf Wasser und Brot zu setzen, und was Mademoiselle Katharine betrifft, wenn sie das Kloster braucht, um ihre Leidenschaft für dich zu mäßigen, wohl! so soll sie es kosten, wir schicken sie nach Saint-Rémy.

Die alte Jungfer sprach ihr letztes Wort mit einer Autorität und einer Ueberzeugung von ihrer Macht, daß Pitou bebte.

Meine gute Tante, sagte er die Hände faltend. Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, Jungfer Billot habe irgend eine Schuld an meinem Unglück.

Die Unkeuschheit ist die Mutter aller Laster, unterbrach ihn salbungsreich Mademoiselle Angélique.

Meine Tante, ich wiederhole Ihnen, der Herr Abbé hat mich nicht weggeschickt, weil ich unkeusch bin, sondern er hat mich weggeschickt, weil ich zu viel Barbarismen, vermischt mit Solöcismen, die mir auch von Zeit zu Zeit entschlüpfen, machte, und die mir, wie er sagt, alle Aussicht benehmen, das Stipendium des Seminars zu erhalten.

Wie, alle Aussicht? also wirst du das Stipendium nicht erhalten, also wirst du nicht Pfarrer werden, also werde ich nicht deine Haushälterin sein?

Mein Gott! nein, meine Tante.

Und, was wirst du denn werden? fragte die alte Jungfer ganz bestürzt.

Ich weiß es nicht. Pitou schlug die Augen ganz wehmütig zum Himmel auf. Was es der Vorsehung aus mir zu machen gefällt, fügte er bei.

Der Vorsehung? Ah! ich sehe, was es ist, rief Mademoiselle Angélique, man hat ihm etwas in den Kopf gesetzt, man hat ihm von den neuen Ideen gesprochen, man hat ihm Grundsätze der Philosophie eingeprägt.

Das kann es nicht sein, meine Tante, da man nur in die Philosophie eintreten darf, nachdem man seine Rhetorik gemacht hat, während ich nie meine dritte zu übersteigen imstande gewesen bin.

Bah! bah! ich spreche nicht von dieser Philosophie, ich spreche von der Philosophie der unglücklichen Philosophen; ich spreche von der Philosophie des Herrn Arouet, ich spreche von der Philosophie des Herrn Jean Jacques, von der Philosophie der Herrn Diderot, der die Nonne gemacht hat.

Mademoiselle Angélique bekreuzte sich.

Die Nonne? fragte Pitou; was ist das, meine Tante.

Du hast sie gelesen. Unglücklicher.

Meine Tante, ich schwöre Ihnen, nein.

Darum willst du nichts von der Kirche.

Meine Tante, Sie täuschen sich, die Kirche will nichts von mir.

Dieser Bursche ist entschieden eine Schlange. Ich glaube, er widerspricht.

Nein, meine Tante, ich antworte nur.

Oh! er ist verloren, rief Mademoiselle Angélique mit allen Zeichen der tiefsten Niedergeschlagenheit, während sie in ihren Lieblingslehnstuhl sank.

Die Gefahr war groß. Die Tante Angélique faßte einen äußersten Entschluß: sie erhob sich, als ob eine Feder sie auf ihre Beine geschnellt hätte, und lief zum Abbé Fortier, um sich Erklärungen von ihm zu erbitten, und besonders, um einen letzten Versuch bei ihm zu wagen.

Pitou folgte mit den Augen seiner Tante bis auf die Schwelle der Türe; dann, als sie verschwunden war, trat er ebenfalls auf diese Schwelle und sah sie mit einer Geschwindigkeit, von der er keinen Begriff hatte, nach der Rue de Soissons gehen. Von da an blieb ihm kein Zweifel mehr über die Absichten von Mademoiselle Angélique, und er war überzeugt, sie begebe sich zu seinem Lehrer.

Das bedeutete wenigstens eine Viertelstunde Ruhe. Pitou beschloß, diese Viertelstunde, die ihm die Vorsehung bewilligte, zu benützen. Er raffte die Ueberreste des Mittagsmahles seiner Tante zusammen, um seine Eidechsen zu füttern; er haschte ein paar Fliegen für seine Ameisen und seine Frösche; dann öffnete er nach und nach den Brotkasten und den Schrank, und sorgte für seine eigene Sättigung, denn mit der Einsamkeit war bei ihm der Appetit wiedergekehrt.

Als er alle seine Anordnungen getroffen hatte, lauerte er an der Thüre, um nicht bei der Rückkehr seiner zweiten Mutter überrascht zu werden.

Mademoiselle Angélique betitelte sich die zweite Mutter von Pitou.

Während er so lauerte, kam eine hübsche junge Person am Ende des Pleux, dem Gäßchen folgend, das von der Rue de Soissons nach der Rue de l'Ormet führt, vorüber. Sie saß auf dem Kreuz eines mit zwei Körben beladenen Pferdes, wovon der eine mit Hühnern, der andere mit Tauben gefüllt war; das war Katharine. Als sie Pitou auf der Schwelle seiner Tante erblickte, hielt sie an.

Pitou errötete seiner Gewohnheit gemäß; dann verharrte er mit aufgesperrtem Mund und schaute, d. h. bewunderte, denn die Billotte war für ihn der höchste Ausdruck menschlicher Schönheit.

Das junge Mädchen warf einen Blick in die Straße, grüßte Pitou durch ein leichtes Nicken mit dem Kopf und zog ihres Weges.

Pitou erwiderte den Gruß, bebend vor Behagen.

Diese kleine Scene dauerte gerade lange genug, daß der große Schüler, ganz seiner Betrachtung hingegeben und beständig nach dem Platze schauend, wo Katharine gewesen war, seine Tante nicht gewahrte, die vom Abbé Fortier zurückkam und ihn plötzlich, erbleichend vor Zorn, bei der Hand faßte.

Durch diese elektrische Erschütterung, die bei ihm immer das Berühren von Mademoiselle Angélique verursachte, unversehens aus seinem schönen Traume aufgeweckt, wandte sich Ange um, richtete seine Augen vom zornigen Gesicht seiner Tante auf seine eigene Hand und sah sich zu seinem Schrecken mit einer ungeheuren Hälfte von einer Semmel versehen, auf der, zu freigebig aufgestrichen, zwei Lagen frische Butter und darüber weißer Käse erschienen.

Mademoiselle Angélique stieß einen Schrei der Wut und Pitou einen Seufzer der Angst aus. Angélique hob ihren gekrümmten Finger auf, Pitou neigte das Haupt: Angélique bemächtigte sich eines Besenstiels, der nur zu nahe bei ihr stand, Pitou ließ seine Semmel fallen und lief ohne weitere Erklärung davon.

Diese zwei Herzen hatten sich verstanden, sie hatten begriffen, daß fortan nichts mehr unter ihnen bestehen könne.

Mademoiselle Angélique ging hinein und schloß die Thüre doppelt. Pitou, den das Knirschen des Schlosses wie eine Fortsetzung des Sturmes erschreckte, verdoppelte seine Geschwindigkeit.

Aus dieser Scene ging eine Wirkung hervor, die Mademoiselle Angélique entfernt nicht vorhersah, und die Pitou sicherlich ebenso wenig erwartete.

 


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