Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

An einem späten Augustabend des Jahres 1810 hielt vor dem Gasthof »Zum Prinzen Carl« auf dem Geißbuckel in Amorbach eine Mietkutsche, der ein junger Herr entstieg. Der Gast wäre zu dieser Zeit trotz seines nicht gerade alltäglichen Aussehens wohl kaum so freundlich empfangen worden, wenn ihm nicht eine Empfehlung durch den berühmten Musiker Abt Vogler vorausgeeilt wäre, der zwar in Darmstadt lebte, in der sonnigen Residenz des Fürsten zu Leiningen aber schon oft Gastkonzerte auf der berühmten Orgel der Abteikirche gegeben hatte. So war denn der kleine dicke Wirt selber herausgekommen, um sich nach dem Befinden des Herrn von Weber zu erkundigen und nach seinen besonderen Wünschen zu fragen.

Der Angeredete bat, ihm ein einfaches Mahl zu richten, eine gute Suppe und ein paar Spiegeleier mit gedörrtem Fleisch vielleicht und einen Schoppen Wein dazu, der nicht so schwer zu sein brauche; auch dem Kutscher, der unterdessen das Pferd auszuspannen begonnen hatte, möge man vor dem Schlafengehen eine kräftige Mahlzeit bereiten; denn sie seien aus Aschaffenburg gekommen, und die sauren Weißfische, die sie im Gasthof »Zum Karpfen« verspeist hätten, wären kein rechtes Essen gewesen, obwohl man im »Karpfen« sonst sehr gut aufgehoben sei; es hätte also schon seine Richtigkeit mit dem Wort, daß man Freitags nicht reisen solle.

Der Wirt ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, auf seine vorzügliche Forellenfischerei hinzuweisen und seine täglich frischen, fetten Karpfen zu empfehlen. Der Reisende hatte schon unterwegs gehört, daß es den Bauern um Amorbach und Miltenberg nicht nur um die Kartoffeln und die Kappusköpfe ging, sie trieben auch Fischzucht, die sich lohnte und verstanden es, kostbaren Wein zu keltern.

Eine Viertelstunde später saß Carl Maria von Weber in der geräumigen Wirtsstube und überzeugte sich bei einem guten Tropfen davon, daß man ihm die Gegend und ihre Bewohner nicht zu viel gelobt hatte. Die Unbequemlichkeiten der Reise waren schnell vergessen, obgleich die Kutsche wiederholt gezwungen gewesen war, holprige Nebenwege zu benutzen, weil die eigentliche Fahrstraße ausgebessert wurde. Die Ochsengespanne der Bauern krochen noch genau so behäbig durch die tief gefurchten Ackerwege wie zur Zeit der alten Merowinger. Der Landgraf, der um das Jahr 1700 den Weg von Amorbach zur Frankfurter Messe mit einem Hirschgespann in drei Stunden zurücklegte, hatte also keine Schule gemacht. Dafür herrschte jetzt ein besseres Einverständnis zwischen den Franken und Hessen als zur Zeit der Tourniere, bei denen die erhitzten Nachbarn einmal Ernst gemacht und zwei Dutzend Ritter auf dem Platz gelassen hatten.

Der Wirt »Zum Prinzen Carl« tat dem interessierten Gast auf alle Fragen bereitwillig Bescheid. Dabei betrachtete er ihn mit wachsender Neugierde, ohne sich entschließen zu können, nach seinem Beruf und dem Zweck seiner Reise zu fragen; das alles würde er schon noch erfahren, da der Gast mindestens eine Woche zu bleiben gedachte. Eine besonders gute Figur machte der junge Herr von Weber eigentlich nicht; seine Gestalt war schmal und gedrückt, doch gewann die Erscheinung, wenn man den länglichen, edelgeformten Kopf mit der hohen, breiten Stirn betrachtete, unter der die dunkelblauen Augen wie zwei beschattete Sonnen leuchteten. Die Linien um den scharf geschnittenen Mund nahmen zuweilen einen sarkastischen Ausdruck an, der die vornehme Geistigkeit des Gesichts beredter machte, als die an kluge Zurückhaltung gewöhnte Zunge es vermochte.

Mit ungezwungener Natürlichkeit hatte Weber sichs auf der Bank neben dem riesigen Kachelofen, der die Gaststube nach Odenwälder Stilart zierte, bequem gemacht. Die Hosen der Stammgäste hatten den bevorzugten Platz so blank gescheuert, daß eine Fliege Hals und Bein darauf brechen konnte. An der Wand prunkte ein Backensessel mit geschnitzter Lehne; um den Tisch herum standen einfachere Stühle mit durchbrochener Rückwand und gedrechselten Füßen, die mittels eines Zapfens in das Sitzbrett eingelassen waren. Solche Stühle spielten bei den Auseinandersetzungen der jungen Bauern eine große Rolle, wenn die gegeneinander geltend gemachten Gründe nicht überzeugen wollten. Ein Stuhlbein war bald ausgerissen und wirkte schneller als lange Reden. Das war durchaus ehrenhaft, selbst die hohe Politik griff ja zu dieser Methode, wenn die Parteien sich über die brennenden Fragen im Parlament nicht zu einigen vermochten.

Zur Ehre des »Prinzen Carl« muß gesagt werden, daß er als bestes Haus am Ort von solchen Schlägereien wenig wußte. Die jüngeren Leute verkehrten lieber im »Hecht«, im »Badischen Hof« und im »Löwen«, wo sie sich schon ein wenig freier geben und auch einmal austoben konnten, wenn es unbedingt nötig geworden war. Die Zeit der Flegeljahre hat ja immer ihre eigenen Gesetze gehabt. Die altere Generation hielt es in selbstgefälliger Überheblichkeit mit Ulrich von Hutten, der gesagt haben sollte, jeder Franke sei ein Edelmann. In Wirklichkeit gab es auch im Odenwald Hitzköpfe, denen jeder, der sie kannte, aus dem Wege bog, zumal am Sonntag, wenn es gleich nach der Kirche zum Frühschoppen ging und nachmittags weiter gebechert wurde, aber auch am Samstagabend, wenn die Wirte die Gewichte von der Uhr nahmen, damit den Glücklichen keine Stunde schlage. An der Wand neben dem Schanktisch hing das Kerbholz für die Gäste, bei denen Durst und Geldsack nicht im richtigen Verhältnis zu einander standen. Es wurden zwar keine Kerbe mehr eingeritzt, sondern die Maßkrüge, Mostschoppen, Handkäse und Schweinsknöchel nach Art der alten Keilschrift mit Holzkohle angemerkt. Nur Eingeweihte konnten solche Runen entziffern. Weber besah das sonderbare Kontobuch mit fragender Miene, bis man ihm die rätselhaften Zeichen erklärte.

Als der Wirt schließlich dem Gast die Treppe hinaufleuchtete, juckte ihn doch die Neugierde; er mußte seiner Frau, wenn sie aufwachte, wenigstens sagen können, was der neue Gast in Amorbach eigentlich wollte.

»Der Herr hat wohl Geschäfte bei Hof?« hauchte er leise.

»Geschäfte? – Nein.«

»Verzeihung«, flüsterte der Wirt, der sich nunmehr verbeugte, als stünde der Fürst höchstselbst vor ihm.

»Ich möchte ein paar Tage Ruhe haben. Das ewige Gezänk mit Musikern und Opernsängern hat mich krank gemacht.«

»Gehorsamster Diener; ja – Ruhe braucht der gelehrte Mensch; Euer Gnaden sind wohl auch Kompositeur, wie seine Hochwürden, der Herr Abt Vogler, der Euer Gnaden hierher empfohlen hat.«

»Und der morgen um die Mittagszeit aus Darmstadt eintreffen wird.«

»Seine Hochwürden hat sich schon avisiert, Herr Baron, das Gasthaus »Zum Prinzen Carl« ist stolz, zwei so große Herren unter seinem Dach beherbergen zu dürfen.«

»Bitte nicht ›Baron‹; ich diene der Kunst … Der Künstler muß sich der Titel und Orden entschlagen. Wenn die Kunst ihn nicht erhöht, nützt ihm kein Adelsbrief und keine Referenz.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden; es gibt in Deutschland, wie der Herr Abt mir versichert hat, viel Kompositeure, aber nur wenige, die wirklich etwas können.«

»Mag sein; ich stehe erst am Anfang meiner Laufbahn und habe noch Zeit; aber jetzt bin ich müde und möchte schlafen.«

»Ich wünsche Euer Gnaden recht wohl und recht lange zu ruhen … Für den Hausdiener ist ein Klingelzug da. Gute Nacht, Euer Gnaden!«

»Gute Nacht!«

Der Schlaf wollte nicht kommen. Schon während der Fahrt hatte Weber ein paarmal Schmerzen im rechten Kiefer gespürt; die Beschwerden waren dann verschwunden und nur noch als ein dumpfes Gefühl im Schädel bemerkbar geblieben. Jetzt begann hinter der Stirn ein heftiger Schmerz, in den Schläfen hämmerte es Sturm. Er sprang aus dem Bett und durchwühlte seinen Koffer nach den rettenden Pillen, die er für solche Fälle immer mit sich führte; aber er fand die Schachtel nicht. Der Versuch, die Schmerzen mit einem nassen kalten Tuch zu lindern, erwies sich ebenfalls als verfehlt, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als den Hausdiener zu wecken und zur Apotheke zu schicken. Er zog an der Klingel, als stände das Haus in Flammen. Der Diener war bald zur Stelle, machte aber ein langes Gesicht, als er seinen Auftrag erfuhr. Gegen zwei Uhr nachts den Apotheker wecken, um ein Pulver gegen Kopfschmerzen zu holen, das ging über das Fassungsvermögen des jungen Bayern. Er erlaubte sich zu fragen, ob er nicht besser den Bader rufen solle; der habe immer ein paar hungrige Blutegel an der Leine, und ein Schröpfkopf im Genick sei auch »ebbs Güts«. Diesen Ausdruck hatte er als dauernde Erinnerung an seine Straßburger Zeit stets zur Hand, wenn es nötig war, die ganz besondere Güte seines Mittels zu betonen.

»Tu er, wie ich ihm sage«, rief Weber erregt, drückte dem Hausdiener noch einen Silbergroschen in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. Das Metall wirkte Wunder; denn der Mann bekam plötzlich Beine und schwor im Laufen, bald wieder zurück zu sein.

Gleich darauf wurde die Klingel der Abteiapotheke so heftig in Bewegung gesetzt, daß der Nachtwächter, den die Runde eben über den Marktplatz führte, wie angewurzelt neben der Mariensäule stehen blieb, das Kreuz schlug und einen Schluck Kirschwasser aus der Feldflasche nahm. So früh am Morgen hatte noch nie jemand nach dem Herrn Apotheker verlangt. In Amorbach herrschte Ordnung. Selbst die Kranken pflegten sich nach den allgemeinen Vorschriften zu richten, anstatt die Mitbürger unnötig aus dem Schlaf zu wecken. Am drei Uhr morgens? – Das war einfach noch nicht dagewesen.

Nach geraumer Zeit wurde das Fenster im zweiten Stockwerk geöffnet, und der Apotheker erschien, um unwillig nach dem Grund der Störung zu fragen. Hörte er recht? – Ein Pulver für einen Fremden, der im Gasthof »Zum Prinzen Carl« abgestiegen sei und nicht schlafen könne? Dafür werde er selber aus dem Bett getrommelt? »Himmisakra«, donnerte es auf den Diener herab, »er ist wohl narrisch, he?«

»Narrisch is er net, aber Kopfweh hot er.«

»Wer hat Kopfweh?«

»Dem Herrn Professor sein Kopf.«

»Ein feiner Professor, der unseroans in aller Herrgottsfrüh herausschellt, wegen solch einem Dreck.«

»Aus Dreck san ma all'zamm … Aber der Herr Professor mecht noch a weng Zeit und Ruh ham, bevor daß man eam begraben tät.«

Der Apotheker Schwarzmann war sonst ein liebenswürdiger Herr von vornehmen Manieren; aber er liebte den Reitsport und brauchte seine Nachtruhe, besonders wenn er noch nachmittags bis beinahe Frankfurt über Land geritten war. Also wurde nicht lange gefackelt:

»Am drei Uhr früh ein Pulver, weil einer net schlofen kann. Dös wär grad recht! Oan Apotheker ist auch ein Mensch!« Dann flog das Fenster zu.

Das Rathaus zwinkerte mit seinen Butzenscheiben zur Abteiapotheke hinüber, als habe es seinen Spaß an dem nächtlichen Spuk, der bis zum Morgenkaffee ganz sicher phantastische Formen annehmen und den dienstbeflissenen Hausknecht zum mindesten in den leibhaftigen Gottseibeiuns verwandeln würde. Wer wollte wissen, was der Teufel wieder im Schilde führte. Vielleicht hatte er es diesmal auf den weißen Porzellantopf mit dem Totenschädel abgesehen gehabt, um die ganze Stadt umzubringen. Es war noch gar nicht lange her, seitdem die Fische im Seegarten von geheimnisvoller Hand vergiftet worden waren. Um die gleiche Zeit war der Galgen am Beuchener Berg mit Blut angestrichen gewesen. Da hatte auch der Teufel seine Hand im Spiel gehabt … »O Jesses, o mei!« Es war doch zu schön, schon beim Morgenkaffee zum Milchweck eine gruselige Geschichte zu hören. In der Zeitung stand so etwas nie. Man täte besser, sie abzubestellen …

Der Arme im Gasthaus war außer sich. Das hatte er von seiner Ungeduld. Warum mußte er die Wagenfahrt von Aschaffenburg nach Amorbach in einer offenen Kutsche unternehmen. Zu seinem Glück hatte der Wirt die Unterhaltung zwischen Weber und dem zurückkehrenden Diener gehört; er bot dem Gast ein Mittel aus seiner Hausapotheke an, das die Schmerzen linderte und Weber endlich schlafen ließ.

Die Sonne stand schon ziemlich hoch, als die Gardinen des Gastzimmers sich teilten, um den Blick auf die rückwärts liegenden Straßen freizugeben. Bezaubernd war das Bild gerade nicht. Die Gehöfte, die nach der Schmiedgasse führten, sahen ihren Stolz in hohen Düngerhaufen. Hier war das Dorado der ABC-Schützen, die auf ihrem Schulwege auf die dampfenden Mistberge kletterten, um dem Landwirtschaftsminister ihren Tribut zu entrichten. Dazwischen liefen auch vierbeinige Ferkel auf der Straße herum; aber sie waren in der Minderzahl, da die Amorbacher vom Zweikindersystem der Franzosen nichts wissen wollten.

*

Nach dem Frühstück nahm Carl Maria v. Weber Hut und Stock, um das Städtchen, von dem ihm sein Lehrer und Freund Vogler soviel vorgeschwärmt hatte, näher kennen zu lernen. Er schlenderte zum Marktplatz hinüber. Der Platz war sauber gefegt und zeigte noch die Spuren der breiten Reiserbesen. Seitdem der Leininger das Schloß bezogen hatte, sah alles wie gewaschen aus. Die Frauen wetteiferten miteinander, um der Fürstin zu gefallen. Selbst das Gras zwischen den Steinen wurde entfernt, sobald es sich zeigte. Das Vieh durfte den Platz nicht mehr betreten und mußte durch die Nebenstraßen geführt werden. Als die Bauern aus der Umgegend nach dieser Neuordnung zum ersten Mal in das Städtchen kamen, um ihre Einkäufe zu besorgen, staunten sie nicht wenig über das veränderte Bild.

Die meisten Armen wohnten am alten Graben. Hier herrschte noch immer viel Not, obgleich die offene Hand des Fürsten manche Träne trocknete. Der Arzt und der Pfarrer wußten am besten um die Sorgen, die sich in die dumpfen Wohnungen dieses Stadtteils verkrochen. Der Wirt »Zum Prinzen Carl« konnte seinem wißbegierigen Gast mit allerlei Nachrichten aus der Vergangenheit Amorbachs dienen. So erfuhr Weber manches. Bedürftige Bewohner erhielten lange Zeit ihre nahrhaften Suppen im Kloster. Auf diese Weise wurden viele Frauen verwöhnt, so daß die Männer, die heiraten wollten, sich die Braut lieber aus den umliegenden Dörfern holten. Besonders die Schneeberger Mädchen standen wegen ihres Fleißes hoch im Kurs. Als das Kloster in Amorbach seine Pforten schließen mußte, blieb den Frauen nichts anderes übrig, als ihre Mahlzeiten selber zu bereiten. Das geschah dann oft mit Widerwillen, weil es Geld und Arbeit kostete. Erschütternde Bilder gab es, wenn die Mütter mit ihren frierenden Kindern auf dem Arm oder am Saum des Rockes vor dem Hause des Steuereinnehmers Kette standen, ihre Spargroschen aber nicht ganz reichen wollten. Seit dem Jahre 1803 war das besser geworden: der fürstliche Beamte hatte Weisung, den Armen die fehlenden Beträge zu stunden und wenn nötig ganz zu erlassen.

Was andere Fremde kaum beachteten, drückte auf Weber wie eine schwere Last; er dachte über alles nach, als er in das Viertel der Armen kam. Am Ende der Mudgasse lenkte das Geschrei eines Kindes seine Aufmerksamkeit auf ein kleines Haus. Gleich darauf trat ein junges Mädchen heraus; es mochte sechzehn oder siebzehn Jahre zählen; seine zarten Wangen wurden von dem Glanz tiefblauer Augen überstrahlt; die freie Stirn schien unter dem schwarzen gescheitelten Haar noch heller zu wirken; so feingeschwungene Lippen gab es nur auf den Bildern alter Meister. Wie kam dieses Wesen, das wie eine Frankenfürstin daherschritt, in diese Umgebung der Armut und des Schmutzes? Weber versuchte, ihr unauffällig zu folgen. Sie bog in die Straße ein, die zur Pfarrkirche führte. Dort verschwand sie, ohne sich umzusehen, in der offenen Kirchentür.

Eine heilige Scheu hielt Weber zurück. Vielleicht beugte die Sorge um die kranke Mutter des Mädchens Knie vor dem Altar; er hätte sich wie ein Verbrecher gefühlt, wenn auch nur seine Gedanken ihre reinen Züge betrübt und wohl gar den Mund gesucht hätten, während ihre Lippen ein leises Gebet sprachen. Die Erinnerung an seine eigene Mutter faßte leise seine Hand; er wandte sich zum Gehen, wenn es auch in der Hoffnung geschah, der märchenhaften Erscheinung noch einmal zu begegnen.

Als Weber mittags ins Gasthaus zurückkehrte, erfuhr er von der vergnügten Wirtin, daß der nächtliche Überfall auf die Abteiapotheke der Gegenstand allgemeiner Erörterung im Städtchen sei. Ganz Amorbach war im Banne der alten Zettelbas, die fünfzig Jahre vorher vom Rhein her zugezogen war und seitdem zum eisernen Bestand des Ortes gehörte. Sie war die gefährlichste Konkurrenz des »Boten«, denn sie hatte ihre angeborene Zungenfertigkeit in so fleißiger Übung entwickelt, daß die Stadt Miltenberg, die eifersüchtige Nebenbuhlerin am Main, der friedlicheren Schwester an der Mud wenigstens diesen Vorrang lassen mußte.

Ein paar Bürger, von dem Ratsältesten geführt, waren höchstselbst erschienen, um sich bei dem Wirt nach dem Urheber der unglaublichen Geschichte zu erkundigen: sie hatten gehofft, den jungen Mann persönlich in Augenschein nehmen zu können.

Die Wirtin hatte dem Gast soeben die Suppe serviert, als die Tür heftig geöffnet wurde. Mit einem freundlichen »Grüß Gott, Herr Forstkondukteur!« rückte sie dem Eingetretenen einen Stuhl zurecht und fragte nach seinem Begehr. Der mit sichtlicher Nervosität bestellte Schoppen Apfelwein war gleich zur Stelle; das eigentliche Interesse des Forstmannes galt aber dem Fremden, der mit prüfenden Blicken aufs Korn genommen wurde, was Weber indessen nicht hinderte, sich die Suppe vorzüglich schmecken zu lassen. Die Neugierde des Beamten erhielt erst eine andere Richtung, als draußen der Peitschengruß des Postkutschers laut wurde. Die Wirtin eilte ans Fenster, kreuzte die Hände über der Brust und jubelte: »Seine Hochwürden, der Herr Abt …«

Noch ehe Weber Messer und Gabel beiseite gelegt und sich erhoben hatte, erschien auf der Schwelle ein kleiner rundlicher Herr, der die Wirtin mit herzlicher Freude begrüßte, ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Er legte seinen Reisemantel ab und stand nun da in sauberem Frack und schwarzen Seidenhosen, die Strümpfe rot, die Schuhe gelbbeschnallt. Seine Brust war mit einem großen strahlenden Stern geschmückt, der ihn nicht hinderte, seinen Freund Weber herzlich in die Arme zu schließen.

Bald war auch für Abt Vogler das Essen aufgetragen. Die Unterhaltung drehte sich gleich so leidenschaftlich um die Kunst, daß der Forstmann nicht auf seine Rechnung kam und sich mit einer stummen Verbeugung empfahl. Weber wußte, warum er seinen väterlichen Freund verehrte: Abt Vogler war nicht nur ein tüchtiger Kompositionslehrer, der ihn immer wieder vor die Bilder der großen Meister führte; er sicherte seinen Studien auch eine zuverlässige technische Grundlage. Vogler hatte die ungewöhnliche Begabung Webers erkannt und sonnte sich in der Hoffnung, seiner Ruhmeskrone durch diesen Schüler einen neuen leuchtenden Edelstein zu gewinnen.

Nach dem Mahl ging es zur Abteikirche, deren romanische Westtürme sich seit dem 12. Jahrhundert über die Dächer der Stadt erheben. Vogler wurde nie müde, die herrliche Fassade des um 1750 errichteten Barockbaus mit seiner rhythmisch gegliederten Treppe, den Muschelnischen und Statuen sowie die Rokokowunder des Innern zu betrachten. Dann standen die beiden Männer eine Weile vor der Darstellung des von musizierenden Engeln umringten Königs David, um nun erst zur Empore mit der Orgel Die Orgel der Abteikirche in Amorbach wurde in den Jahren 1776-1782 von den berühmten Orgelbauern Gebr. Stumm aus Rhaunen-Sulzbach (in der Pfalz) als ihr größtes und klangschönstes Werk erbaut. Die ursprüngliche Disposition, die ganz dem Klangideal des Barockzeitalters entsprach, erfuhr in der Zeit der Spätromantik eine Änderung. Auf Anregung des Landesamtes für Denkmalspflege in München ließ Fürst Emich zu Leiningen das Werk 1934-36 nach den Plänen des Orgelsachberaters Johannes Mehl von der Firma Steinmeyer & Strebel in Nürnberg-Öttingen im alten Stile klanglich wiederherstellen und erweitern. hinaufzuklettern, der Voglers ganze Liebe galt und auf der er immer ein paar Stunden verbrachte, so oft er nach Amorbach kam. Es gab denn auch nur wenige Kirchenmusiker, die in den drei Manualen des herrlichen Barockwerks und der Vieltönigkeit seiner Pedalbässe so zuhause waren wie Vogler, der dem Charakter jedes einzelnen Registers mit überlegener Sicherheit gerecht wurde, so daß neben den weniger gebräuchlichen Stimmen des zweiten Manuals, wie Rohrflaut, Claron, Cromorne und Dulcian auch das Echowerk mit Glockenspiel und Gämsenhorn, Klingend Cimbel und Flageolett, Krummhornbaß, Singend Regal und andere Märchenstimmen zu wunderbaren Ausdrucksmitteln der Tonkunst wurden. Daß der Darmstädter Kompositeur die Wirkung seines Spiels oft im äußerlichen Effekt suchte, war bei der Klangschönheit des Instruments nicht verwunderlich; doch wurde die Ehrfurcht, die der junge Weber für seinen Lehrer hegte, dadurch nicht verkleinert, wenn er auch nicht zu den Schmeichlern gehörte, die Voglers Oper »Samori« über Beethovens »Fidelio« stellten. Es gab für Weber Stunden, in denen Voglers Freude an tonmalerischer Pracht in dem Schüler eine um so tiefere Sehnsucht nach ungeschnörkelter Natürlichkeit und volksliedhafter Innigkeit des Ausdrucks weckte.

Als der bestellte Küster erschien, um die großen Lungen des Instruments in Bewegung zu setzen, kletterte Vogler auf die Orgelbank. Er begann mit einem bewegten Thema von Jan Pieter Sweelingk, dem er eine Reihe farbiger Variationen von J. G. Walter folgen ließ, die dem Schmuck der Kanzel und Altäre, dem Rankenwerk des Chorgestühls und dem Prunk des schmiedeeisernen Gitters glichen, in dem der graziöse Formensinn des Rokoko seine höchste Vollendung feiert. Dann baute Vogler eine Bachsche Fuge auf, ohne ein einziges Register zu schonen; es war, als wollte er die Toten wecken, die im Chor der Kirche ruhten. Der alte Reinhard vom Geißbuckel, der die Schreinerarbeiten am Orgelgehäuse besorgt hatte, kam mit seinen achtzig Jahren am Stock herbeigehinkt. Er hatte schon viele gute Spieler gehört, so wie der Vogler war noch keiner über die Tasten geraten. Die mächtigen Pfeifenbündel, die das Gehäuse der Orgel flankieren, zitterten unter der Wucht der klingenden Stimmen und Glocken, daß die Posaunenengel, die das schiefe Gebälk krönten, aus dem Staunen nicht herauskommen wollten.

Carl Maria war ganz der Erde entrückt. Zum ersten Mal griff die Tonkunst tiefer in seine Seele. Wenn er ihr sonst begegnete, war es im Verein von Menschen gewesen, denen die Musik nur einen Ohrenschmaus bedeuten mochte. Unter den Zuhörern waren Gecken, die um den Puder in ihren Perücken bangten, wenn sie den Hut lüften mußten und Damen mit nackten Armen und Busen, die neidisch auf die Reize der andern waren. Das alles hatte Weber hinweggezogen von den hehren Türmen, die am Dome der Kunst ragten und die Webers Auge ganz für sich verlangten. Er sah durch das hohe Kirchenfenster die Wellenlinien der Berge, die das Tal umschlossen. Die letzten weißen Wolken wichen lichtem Blau. Auch dort war das Reine, wie in dieser Kunst. Dort sah er das Antlitz Gottes in der Natur; hier war die Stimme des Ewigen hörbar geworden.

Als Vogler die Register zurückgeschoben hatte, reichte Weber seinem Lehrer beide Hände. Er war lange nicht zu bewegen, den Platz auf der Spielbank einzunehmen. Ganz langsam fand er wieder zu sich selbst. Er ließ die Hände über die Tasten gleiten, als streichle er ein liebes Wesen; dann senkten sich die Finger der linken Hand, und die Töne eines Fagotts erhoben sich leise über das Manual. Aus dumpfer Schwermut stieg es empor zur Inbrunst einer jubelnden Flöte. Zu den Stimmen des Waldhorns gesellten sich Cello, Viola alta und heller Geigenton. Als schritte ein Priester durch die Klosterallee dem Treppenaufgang der Abteikirche zu, bauten sich die Töne in wohlgeordneten Stufen über- und nebeneinander, bis alles in die vollen Akkorde einer brausenden Symphonie einströmte. Die Baumstämme schienen, von den wuchtigen Bässen erschreckt, in Marschkolonne vom Wolkmann herab zu stampfen, um aus dem schattigen Waldesdickicht heraus in den sonnigen Seegarten zu gelangen, wo die Fische sprangen und die Vögel sich ihre Kadenzen und Triller zuwarfen, als wollten sie die Pracht der Blumen übertrumpfen, die den satten Rasen in allen Farben funkeln ließ. Dann glätteten sich die Wogen des Spiels; die Stimme des Celesta schwebte wie ein Engel durch das weite Schiff der Kirche, und Weber flüsterte, als bete er, geheimnisvolle Worte zu einer leisen frommen Melodie …

Fast zu gleicher Zeit war ein Mädchen durch die Seitentür in das Schiff der Kirche getreten und hatte auf einer Bank Platz genommen. Sie faltete die Hände und lauschte in Andacht und Demut dem Orgelspiel. Weber selbst fühlte sich von den Tönen auf unsichtbaren Flügeln in Höhen emporgetragen, unter denen alles Irdische versank. Alles, was in seinem Innern an Schönheit keimte, breitete sich sehnsüchtig dem Ewigen entgegen, daß er mit immer neuen göttlichen Einfällen in die Tasten und Register fuhr, bis ein Te Deum hoheitsvoll sich türmte. Draußen hatten die Fußgänger ihre Aufträge vergessen; sie standen wie gebannt und setzten ihren Weg erst zögernd fort, als das Spiel nach einem himmelanstürmenden Credo verstummt war.

Vogler umarmte Weber und küßte seine Wangen. Der Schüler hatte seinen Lehrer übertroffen; der ältere war dem andern durch seine blendende Technik überlegen, der junge aber hatte, ohne die formale Schönheit zu mißachten, der Stimme des Herzens allein gelauscht und war damit vor seinen Gott getreten.

Als Weber von der Empore herabstieg, sah er im Gang das Mädchen aus der Armengasse. Er ging auf sie zu. Vor der schwarzen Marmortafel über dem Grab des Abts Engelbert Kirnbacher trafen sie zusammen. Er streckte ihr schweigend die Hände entgegen. Sie sah zu ihm auf:

»Gott lohne Ihnen diese Stunde!«

Als Weber seinen Arm um ihre Schultern legte, schaute sie ihn groß an, wie Kinder tun, wenn sie nicht alles verstehen. Da sah er, daß Tränen in ihren Augen waren. Er sagte: »Hier ist Gott Zeuge dessen, was geschieht; warum willst du traurig sein?«

Statt einer Antwort kniete sie nieder und barg ihr Gesicht in den Schutz des Betstuhls.

Carl Maria wartete, bis sie sich wieder erhob. Dann gingen sie schweigend hinaus in die Kalte Gasse. Ein kühler Wind strich trotz der frühen Abendstunde von den Bergen her über das Tal der Mud.

Gleich neben der Kirchentür machte das Mädchen halt: »Ich muß nun heim«, sagte es, »die Mutter wartet.«

»Noch ein paar Schritte«, bat Weber. Er hatte die Hand des Mädchens gefaßt:»Wir wollen noch einen Umweg durch den Seegarten machen«. Sie fühlte wie seine Wärme auf sie überging. Als sie dem Park sich näherten, ließ sie ihn los, weil eine leuchtende Blume sie lockte. »Die ist für Ihren Hut!« jubelte sie. Er beobachtete die geschmeidigen Bewegungen ihres schön gebauten Körpers; eine heiße Welle jagte durch seine Adern. Als sie sich erhob, trafen sich von neuem ihre Blicke. Er sah, wie ihre Wangen glühten, aber keiner wagte ein Wort; es war ein heiliges Bangen hin und her, bis Carl Maria die schlanke Gestalt an sich zog, die ihm jetzt ohne Zaudern ihre Lippen bot.

»Wie soll ich Dich nennen?« fragte er.

»Anna!« sagte sie leise.

»Also Ännchen! … Wenn ich meine schönste Oper schreibe, soll ein liebes Mädchen Deinen Namen tragen.«

Ihre Wangen standen in purpurnem Rot: »So hast Du mich lieb?«

Er küßte noch einmal ihren Mund. Sie stand vor ihm mit hochgereckten Kopf, als wolle sie noch mehr. Dann aber überfiel sie ein Gedanke, der sie quälte, sie senkte plötzlich den Blick: »Wie werden die andern Mädchen in der Oper heißen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Die Antwort steigerte ihre Unsicherheit: »Die Männer sind doch anders als wir …«

Er merkte ihre Verwirrung und wollte ihr helfen: »Magst Du die Männer nicht?«

»Die Männer?« fragte sie ziemlich bestürzt. »Liebt man nicht nur den Einen?«

»Wenn es der Richtige ist …«

»Bist Du nicht der Richtige?«

Es überlief ihn kalt, als er in ihre fragenden Augen schaute.

»Nun schweigst Du plötzlich«, bebten ihre Lippen.

»Traust Du mir denn nicht ohne lauten Schwur, mein Gretchen? …« Er merkte gar nicht, daß er sich versprach.

Sie wiederholte den Namen, fragend, mit bebender Stimme: »Gretchen? …«

Er zuckte jäh zusammen.

»Jetzt hast Du mich verraten«, sagte sie.

»Der Name hat nichts zu bedeuten; glaub es nur!«

»Und nun verrätst Du auch die andere!«

Es folgten bittere Minuten der Qual, keiner hatte den Mut, noch etwas zu sagen …

Als sie sich am Ausgang des Seegartens trennten, sah Carl Maria in die traurigsten Augen der Welt: »Ich will zur heiligen Anna für Dich beten«, sagte sie mit bebender Stimme.

Sie schien ihm göttlicher als die schönsten Madonnen der alten Meister. »Ja, bete für uns … und übermorgen, wenn die Vesperglocke tönt, will ich hier unter diesen Bäumen warten, bis Du kommst und sagst, daß Du mich dennoch liebst …«

Sie nickte nur. Dann ging sie leichten Schrittes, doch schweren Herzens davon.

*

Im Gasthof war schon am Nachmittag ein fürstlicher Diener mit einer mündlichen Einladung erschienen, die von der freundlichen Wirtin nicht ohne Stolz weitergegeben wurde: »Seine Durchlaucht lassen den hochwürdigen Herrn Abt und Herrn von Weber zu einer zwanglosen Abendunterhaltung bitten!«

Die beiden Gäste wußten diese Auszeichnung sehr wohl zu schätzen. Die Unterhaltungen in Schloß Amorbach erhielten durch die Pflege einer freimütigen Gesinnung, die dem zarten Empfinden schöner Seelen in taktvoll vornehmer Weise Rechnung trug, ihren besonderen Ton und schufen so eine natürliche Abwehr gegen die Aufdringlichkeit lästiger Schmeichler und Schwätzer. Man liebte eine ungezwungene Offenheit.

Den feinfühligen Herrn v. Weber erfüllte bald eine tiefe Verehrung für diesen Hof, der sich in seiner ganzen Lebenshaltung so grundsätzlich von vielen fürstlichen Haushaltungen unterschied.

Auch die Erziehung der Jugend fußte hier auf gesundem Gefühl. Die Fürstin kannte Pestalozzi und las Rousseaus »Emil«. Es war die Zeit, da man zu beobachten begann, daß auch den jungen Mädchen eine Stunde Anatomie besser bekäme, als das Lesen verlogener Romane, ein Zugeständnis, das für wirkliche Kulturmenschen keineswegs die Preisgabe überlieferter Bildungswerte bedeutete … Man musizierte nicht nur, sondern wußte sich auch mit den Problemen der Zeit in geistig anregender Weise zu beschäftigen.

Der zwanglose Abend zog sich diesmal länger hin als sonst. Abt Vogler hatte eine neue Komposition zum besten gegeben, Weber die Fürstin am Spinett zu einigen Arien von Stamitz und Mozart begleitet. Die beherrschte Sicherheit des Tons, die dem jungen Künstler bei liebenswürdigstem Benehmen etwas Unnahbares gab, gewann ihm schnell die Achtung des Fürstenpaares, die sich sofort auf den kleinen Kreis der geladenen Gäste übertrug. Weber empfand die Auszeichnung, die ihm von allen Seiten widerfuhr, als wohltuende Wärme. Man wurde nicht müde, seine feine Kunst des Akkompagnierens in den höchsten Tönen zu loben, bis die Fürstin das Gespräch auf das Theater brachte und wissen wollte, ob in jüngster Zeit eine besonders interessante Oper erschienen sei. Weber nannte »Die Zitherschläger« von Kapellmeister Ritter. Er hatte das Werk in Mannheim gehört und rühmte es als eine deutsche Nationaloper, die vor keiner französischen Konkurrenz zurückzuweichen brauche. Die gebändigt feurige Art, mit der Weber sich für die Arbeit eines andern einsetzte, wirkte so überzeugend, daß der Fürst seinem Intendanten sofort Weisung gab, die Partitur der Ritterschen Oper anzukaufen und das Werk einzustudieren.

Webers kurzer Vergleich mit der französischen Oper hatte die Aussprache auf die fremden Einflüsse in der Kunst gelenkt und damit ein Thema angeschlagen, das auch in den Kreisen der Burschenschafter seit einiger Zeit heftig erörtert wurde.

Abt Vogler nahm sogleich die Partei der wohlerzogenen Jugend.

»Es wird endlich Zeit«, bemerkte er mit Temperament, »statt der ›Verschwörung von Kamschatka‹ und anderer Machwerke Kotzebues die großen Dramen Schillers zu spielen; die Deutschen kennen weder den ›Don Carlos‹ noch ›Kabale und Liebe‹; und wo bleibt Goethes ›Goetz‹, der doch selbst unsere Bauern in Harnisch bringen müßte.«

Der Fürst erinnerte daran, daß die Bevorzugung lockerer Gesellschaftsstücke mit kriminalistischem Einschlag wohl in der Zeitrichtung und dem durch sie bestimmten Geschmack begründet sei. Von Kotzebue selber wollte auch er nicht viel wissen. »Dieser Herr ist ein mauvais sujet«, sagte er. »Sein infamstes Laster ist die Heuchelei; ich weiß das von Freunden, die den russischen Staatsrat in Paris kennen gelernt haben und mit Ekel erzählten, wie dieser Blender nur die Klubs der schlechtesten Freunde und Mädchen besucht habe und deshalb kein Recht besitze, sich als Hüter der ehelichen Treue aufzuspielen. Ich bleibe dabei, er ist ein mauvais sujet, ein charakterloser Mensch. Goethe aber sieht ihn mit den Augen des zahlungsfähigen Publikums, das für sein Geld unterhalten werden will. Darum läßt er als Theaterdirektor in Weimar Kotzebue neben Schiller spielen, der Lustspielfabrikant hat den großen Dramatiker in der Aufführungsziffer geschlagen …«

»Wenn Durchlaucht mir die Bemerkung nicht übel nehmen wollen«, bat Vogler mit einer Verbeugung, »so das Publikum das Gute nicht will, mag es sehen, wer ihm Theater spielt! Ich halte es mit Schiller, der in diesem Punkte ganz meiner Meinung war. Wenn Goethe den Plunder bevorzugt, so ist das skandalös!«

Der Fürst behielt seine Ruhe: »Sie irren, lieber Freund, es ist nur klug. Der weise Goethe kennt das Rezept, das der Theaterkasse frommt. Darum verordnet er Schiller und Kotzebue, nicht Schiller oder …! Das war schon im Mittelalter so! Neben dem Passionsstück das Satyrspiel, neben der Moralität der Fastnachtsulk. Erbauung und Unterhaltung, – die richtig dosierte Mischung ist das Richtige; so bekommt sie jedenfalls dem Menschen am besten; nicht nur dem einfachen Mann, auch uns, die wir uns großspurig gebildet nennen … Was sagt mein lieber Medikus dazu?«

Der wohlbeleibte Hof- und Medizinalrat Dr. Müller, der eben eine gewaltige Prise nehmen wollte, schob die silberne Dose wieder in die Tasche. »Durchlaucht erwarten zuviel; ich habe es zwar mit Faust gehalten und außer Medizin manch Semesterlein Philosophie studiert; für die Schauspielkunst aber bin ich nicht zuständig. Mein Trost war immer die Musik, die alle Fakultäten umschließt. Wenn ich eine Kantate von Palestrina oder eine Sonate von Rosenmüller höre, dann seh ich alter Heide den Himmel über mir geöffnet; der Oberpriester aber ist Mozart. Wenn alle meine Rezepte nicht helfen wollen, dann muß eine Arie dieses Göttlichen ein wenig Trost und Erbauung bringen!«

Der Fürst rief: »Bravo, Müller, behalten Sie die Tonkunst als Assistentin; sie ist die idealste Konkurrenz«.

»Und billig!« nickte der selbstlose Arzt.

Die Fürstin hatte bis dahin nur zugehört. Jetzt nahm sie das Wort: »Herr v. Weber weilt zum ersten Mal in unserm Kreise und hat sich durch seine Teilnahme an der musikalischen Unterhaltung unsern besonderen Dank verdient; ich würde mich freuen, einmal seine persönliche Auffassung über die Mission des Dichters und des Komponisten zu hören«.

Carl Maria verbeugte sich. »Der Herr Hofrat hat schon für mich mitgesprochen: Kunst will Arznei sein, himmlische Arznei. Darum muß der große Dichter wie der schöpferische Musiker beherzt zu allen kommen«. In seinen Augen flammte magisches Licht. »Was immer er in Tönen sagen mag, muß er vertreten vor dem höchsten Richterstuhl, frei, aus dem eigenen Herzen muß er schaffen, wenn er sich nicht am Heiligsten vergreifen will!«

Die Fürstin war von dieser Antwort aufs äußerste befriedigt »Herr von Webers Worte zeugen von der höchsten Gnade, die der Himmel zu vergeben hat, darum sollen sie diese Stunde beschließen!«

Sie reichte ihm die Hand, die Weber ehrfürchtig küßte. Dann erhob sich der Fürst, um die Herren bis an die Tür zu begleiten.

Auf dem Marktplatz trennten sich die Wege der wenigen Gäste. Der vergnügte Medizinmann vergaß seine zwei Zentner, als er in Schwarzmanns »Haferstübel« noch Licht sah; er sprang in die Apotheke, um mit verschmitztem Gesicht zu fragen, warum man eigentlich dem Herrn v. Weber, den er beim Fürsten soeben als einen sehr lieben Menschen und genialen Künstler kennen gelernt habe, kein Pulver habe verkaufen wollen. »So ein Pülverchen weiß nie, in wessen Magen es einmal spaziert …«

Als Vogler und Weber im Gasthaus anlangten, war die geräumige Wirtsstube so voll besetzt, daß der von den Männern laut und leise geschmähte, von den Frauen und Mädchen heimlich bewunderte Gast und sein Freund keinen Stuhl mehr bekommen konnten. Der Schleier des nächtlichen Spuks war gelüftet; man wußte nun, daß in Amorbach kein verkappter Teufel abgestiegen sei, der die Stadt ausrotten wolle. Selbst die ängstlichsten Tanten konnten wieder ruhiger schlafen, und der geschwätzigen Zettelbas war für einen ganzen Tag die Puste ausgegangen.

Da der Abend sein volles Maß erreicht hatte, beschloß man, sich früh zur Ruhe zu begeben. Für den Sonntagnachmittag hatte Vogler den Besuch eines alten Studienfreundes geplant; Weber dachte, einen Ausflug nach der nahen Burg Wildenberg bei Preunschen zu machen, auf der Wolfram von Eschenbach einen Teil seines Parzival gedichtet hatte. Da er aber großen Durst nach einem »Schöpple« verspürte, kletterte er im »Prinzen Carl« noch einmal schnell die Treppe hinab. Bald saß er in der Ecke neben dem Kachelofen des Gastzimmers und rückte seinem Kummer mit einem Bocksbeutel schweren Frankenweins zuleibe. Ihm gegenüber stemmte der Maler Eckardt aus Waldürn die Ellenbogen auf den Tisch und versuchte sich in der Rolle des Mephisto. Als er merkte, daß sein Zynismus wirkungslos an Weber abprallte, begann er über das denkfaule Bürgertum zu schimpfen, das den größten Teil seines Lebens mit Fressen, Saufen und Schafskopfspiel verbringe und einen Künstler zur Verzweiflung treiben müsse.

Ein gesetzter Herr am Nebentisch glaubte die Ehre der Einheimischen retten zu müssen und parierte: »Da kommen die Amorbacher aber schlecht weg. Wenn der Herr einmal gut ausgeschlafen hat und Land und Leute mit klaren Augen anschaut, wird er ganz gewiß zu einem freundlicheren Urteil kommen«.

Es folgte eine kurze Pause, es war aber nur die Ruhe vor dem Sturm; denn plötzlich polterte der Maler los: Ob er etwa ein Fremder sei; … er wisse im ganzen Mainland Bescheid; nirgends herrsche der Kastengeist so unumschränkt wie hier; nicht einmal der Fürst habe es fertig gebracht, diesen Krebsschaden am deutschen Volkskörper in seiner Residenz auszumerzen und seine Beamten zur Pflege einer vernünftigen Geselligkeit zu erziehen. Alles hat Seine Durchlaucht getan, um die schläfrigen Geister zu wecken. Aber mit dem Wecken allein ist es nicht getan, wenn dem Erwachen die Erleuchtung nicht folgt. Die meisten schnarchen auf den alten fettigen Kissen weiter. Der eine schielt auf die Achselstücke und Sterne des andern; selbst die engsten Verwandten schämen sich nicht, einander die Posten abzujagen.

Der Herr am Nebentisch erhob sich jetzt, um sich vorzustellen: »Derling, fürstlicher Wegemeister«. Der Maler knurrte seinen Namen. Dann kletterte auch Weber in die Höhe: »Weber«. »Sagen Sie doch Carl Maria v. Weber« berichtigte der Maler. Das brachte den Beamten in Verwirrung; er verbeugte sich höflich: »Hörte ich recht, Herr von Weber?« – Weber lächelte: »Recht schon, ist aber durchaus nebensächlich; nur wenn Sie durch die Unterhaltung mit einem Herrn vom Adel an Achtung vor sich selbst zu gewinnen glauben, dürfen Sie mich von Weber nennen, Herr fürstlicher Wegemeister!« Als der Beamte der Vermutung Ausdruck gab, die Herren gestört zu haben, besann Carl Maria sich: »Halten Sie es meiner schlechten Laune zugute und machen Sie mir das Vergnügen, ein Glas Wein mit mir zu trinken.«

Als der Wirt die bestellte Flasche brachte, begann auch der Himmel des Malers sich ein wenig aufzuhellen: »Da wären ja die berühmten Drei für einen Skat zusammen, – wenn die Herren gleicher Meinung sind!« Daß sie es nicht waren, ärgerte den Maler; er legte seine gebräunte Stirn in sokratische Falten und hob den Römer, den der Wirt soeben neu gefüllt hatte, vor sein Gesicht. Sein spitzbübisches Auge verriet aber, daß er etwas Boshaftes auf der Zunge hatte, das sich nicht mit einem Schluck hinunterspülen ließ: »Die Musiker hören lieber faule Witze und saftige Zoten; im übrigen sage ich Prost, meine Herren!« Die Gläser klangen aneinander.

Unterdessen hatten zwei junge Leute das Gastzimmer betreten. Als sie zwei Portionen Sauerkraut und Schweinsknöchel bestellten, meinte Weber: »Das ist auch keine schlechte Erfindung und nahrhafter als ein Stillleben«. Das Echo wirkte belustigend. »Herr Wirt, Sie können mir auch solch ein Schweinernes bringen.« »Mit großem Vergnügen, der Herr Hofmaler sollen mit der Portion zufrieden sein. Knöchel mit Kraut sind noch immer unsre Spezialität!« dienerte der Wirt, gab die Bestellung weiter und kehrte zum Tisch zurück. »Die Germanen sollen das Sauerkraut schon gekannt haben, ehe Gabel und Messer erfunden worden waren!« Der Maler nickte: »Wer weiß, ob die Schlacht im Teutoburger Walde so siegreich für uns ausgegangen wäre, wenn Thusnelda dem Hermann am Tage vorher nicht eine große Schüssel voll Sauerkraut gekocht hätte, natürlich mit dem nötigen Drum und Dran«. »Bravo, Herr Hofmaler«, strahlte der Wirt, »auch ich habe schon viel darüber nachgedacht, zumal die Westfalen hartnäckig behaupten, es sei ein Pott dicke Bohnen mit Speck gewesen. Schließlich hat jedes Land seine eigene Philosophie«.

Aus der Küche tönte die fette Stimme der Wirtin: »Dreimal Knöchel mit Sauerkraut«. Dann dampften die Schüsseln und die Köpfe. Der Maler konnte auch beim Essen das Witzeln nicht lassen; er zwinkerte zu Weber hinüber:

»Wollen Sie nicht notieren, Herr Kapellmeister, daß im »Prinzen Carl« zu Amorbach ein philosophischer Wirt ohne Eintrittsgeld zu sehen ist?« »Nichts für ungut, meine Herren«, rief statt seiner der kleine Dicke, »man kann nicht alles für sich behalten; unterdrückte Gase tun nicht gut, hat meine Mutter immer gesagt; man muß auch als Wirt ein wenig nach der Gesundheit leben!«

»Eine Philosophie mit festem Boden«, meinte der Wegemeister; »muß sich halt jeder seine eigne Hornhaut schaffen, wenn er im Leben bestehen will. Wer etwas dicker gepolstert ist, dem trampelt man nicht so leicht auf dem Herzen und der Galle herum.«

Der Maler nickte und nahm die Gabel etwas voller. Seine Gefühlsnerven waren gut wattiert. Die heikelsten Dinge betrachtete er mit dem Phlegma einer tausendjährigen Schildkröte; er rührte sich auch nicht, wenn die Witze knallten und andre ihre Bäuche halten mußten, damit sie nicht wie Gummibälle hüpften.

Weber wiegte nachdenklich den Kopf: »Ob es für unsereinen nicht doch besser ist, ein paar schmerzende Wunden zu haben, als eine Elefantenhaut, die uns verpanzert und gegen alle feineren Eindrücke unempfindlich macht? Der Künstler braucht vor allem Zartgefühl«.

»Unsinn!« rief der Maler, »der Künstler muß sich vor allem die Weiber vom Halse halten, sonst verderben sie ihm die Leinwand und das Konzept.«

»Es gibt auch Frauen, die den schöpferischen Menschen segnen, wenn sie für ihn oder um ihn leiden müssen.« Weber sagte es mehr zu sich selbst, als zu den andern am Tisch; er liebte es, dem landläufigen Begriff des »Genies« das Bild eines in guten Manieren erzogenen Mannes gegenüber zu stellen, der den zurückgelegten Lebensweg trotz seiner Jugend mit starkem Verantwortungsgefühl überschaute und selbst in lauter Gesellschaft gern darüber nachdachte, wie er in Treue gegen sich selbst die höchste Ausbildung seiner Anlagen erreichen könne. Oft schwelgte er im behaglichen Genuß dieses schöpferischen Selbstvertrauens, und es beglückte ihn, wenn die Freude, die er darüber empfand, sich seiner Umgebung mitteilte und auch in ihr das stille Gefühl eines beglückten und beglückenden Daseins erzeugte. Daß er diesmal auf keine Gegenliebe stieß, konnte seine innere Harmonie nicht stören. Viel eher war die Erinnerung an die Begegnung mit Anna imstande, ihn aus dem kaum erreichten Gleichgewicht zu bringen. Er erhob sich plötzlich und bat, sich empfehlen zu dürfen.

In seinem Zimmer angekommen, riß er die Fenster auf, um die frische Abendluft hereinzulassen. Das Brausen des Waldes drang vom Wolkmann herüber. Es war wie eine Einladung, die Kuppe zu besuchen. Auch die Kapelle Amorsbrunn hatte er noch nicht kennen gelernt. Um Pläne für das Programm des nächsten Tages brauchte er sich also nicht zu sorgen, falls der Weg zur Burg Wildenberg ihm für eine Sonntagswanderung zu beschwerlich werden sollte.

Als Weber am andern Morgen beim Frühstück saß, stürzte die Magd in das Gastzimmer: »Herr Professor, da draußen ist ein Schangdarm mit einem Brief. Soll er neikumme?« – »Natürlich!« rief Weber. Er ahnte nichts Gutes, als der Mann in der Tür erschien. Es war zwar kein Gendarm, sondern ein eiliger Kurier, der ihm ein Schreiben seines Herzogs überreichte, das seine sofortige Rückkehr verlangte. Carl Maria war außer sich. Hatte er deshalb eine Stelle als Privatsekretär beim Bruder des regierenden Fürsten angenommen, um sich aller persönlichen Freiheit berauben zu lassen? Herzog Eugen war ihm ein Freund in der Not geworden; es gab keinen größeren Gegensatz, als zwischen der zarten Erscheinung des kunstliebenden Herzogs, der das Oboe mit Meisterschaft blies und der unförmig beleibten, cholerischen Majestät des Königs Friedrich, Eugens ältestem Bruder, der durch den Graf von Dillen, einen schlauen Emporkömmling aus der Stallmeisteratmosphäre, beherrscht und betrogen wurde. Die Maitressenwirtschaft Ludwigs XIV. hatte Schule gemacht. Die Natur Friedrichs fand ihre höchste Befriedigung in wüsten Gelagen, prunkvollen Maskenbällen und Kostümfesten im Freien, und der mit den Regierungsgeschäften beauftragte Herzog Louis nahm seinen königlichen Bruder lieber zum Vorbild, als Eugen, den Ästheten und Feind jeder unsinnigen Ausschweifung.

Weber dachte: wie fleißig muß ein Volk sein, dessen Fürst sich mit soviel Brillanten schmücken und solche teuren Feste feiern kann. Die Verschwendungssucht des Herzogs Louis verlangte von seinem Sekretär die gewagtesten Geldbeschaffungsmanöver. »Warum«, fragte sich Weber, »hat ein gütiges Geschick mir nicht früher den Weg nach Amorbach gewiesen?« – Während die Stuttgarter Hofgesellschaft sich im Park der Solitude damit ergötzte, ein Rudel Edelhirsche auf eingezäuntem Platz von Bluthunden zu Tode hetzen zu lassen oder ihrer Genußsucht andere wüste Opfer zu bringen, bemühten die Leininger sich um die Pflege der schönen Künste, ihre Feste waren immer eine Revue neuer Komponisten, wenn der Fürst nicht gar die Wagen anspannen ließ, um mit seinen Gästen in Dürkheim der regelrechten Aufführung einer Komödie beizuwohnen, die der berühmte Iffland einstudiert hatte.

Vogler hatte seinem Schüler und Freunde noch manches schöne Erlebnis in Amorbach in Aussicht gestellt. Nun riß ein rücksichtsloser Befehl ihn aus allen Träumen. Die Begegnung mit dem Mädchen aus der Armengasse war durchaus nicht spurlos an ihm vorübergegangen; obgleich das zersetzende Beispiel der ausschweifenden Lebensformen am herzoglichen Hofe in Stuttgart seine eigene Festigkeit Eros gegenüber etwas gelockert hatte. Die Empörung über den Zwang, dem er sich fügen mußte, war so stark, daß er kaum Zeit fand, sich von Vogler zu verabschieden. Daß am Montag im Seegarten ein armes Kind vergeblich auf ihn warten würde, quälte ihn. Erst als er in der Reisekutsche nach Heidelberg saß, hatte der schlimmste Sturm in seinem Innern ausgetobt; der Gedanke, in Stuttgart Gretchen Lang wiederzusehen, siegte langsam über seine Erregung. Die kaum erblühte, üppige Blondine, die zu den besten Sängerinnen des Hoftheaters gehörte, hatte den jungen Falter tief in ihre seidigen Netze verstrickt. Der vornehme Musiker mit dem adligen Namen schien ihr eine verlockende Partie; so mimte sie denn die Spröde, bis ihr eigenes Herz Feuer fing und kapitulierte. Die Zeit rückhaltlos wilder Minne, die Carl Maria in den Armen des goldigen Mädels dann genießen durfte, weckte nicht nur seine Leidenschaft, sondern riß ihn auch zu frohem Schaffen empor; der Quell der Lieder strömte Licht und Leben.

*

Graf Dillen wußte um die Liebe zwischen Weber und Gretchen Lang. Die Abwesenheit des Sekretärs war ihm eine willkommene Gelegenheit, seinen längst entworfenen Kriegsplan in Angriff zu nehmen. Wenn es ihm gelang, die Sängerin durch reiche Geschenke für den Herzog zu interessieren, so wäre die erste Schlacht gewonnen. Dann wollte er dem König das unglaubliche Schuldenregister seines Bruders in die Hand spielen und dessen Sekretär als den verantwortlichen Schatzmeister verdächtigen. Damit wäre zugleich das Schicksal des Herzogs wie des »verliebten Musikus« besiegelt gewesen und Dillen hätte im Irrgarten der Liebe nach Belieben weiter jagen können.

Um schnell zum Ziele zu gelangen, ordnete der Graf ein großes Gartenfest an, dem die Idee eines ländlichen Idylls zugrunde lag. Die Eingeladenen wurden gebeten, als Schäferinnen und Schäfer zu erscheinen; ein kleines Spiel, von Mitgliedern des Hoftheaters agiert, sollte die Gäste des Herzogs ergötzen. Weber erhielt den Auftrag, eine heitere Ouvertüre zu schreiben, wobei ihm Dillen nahelegte, die Komposition dem Herzog zu widmen, was Durchlaucht ihm hoch anrechnen werde. »Um Ihnen, lieber Herr v. Weber, eine weitere Freude zu bereiten«, fügte der Graf hinzu, »werde ich auch die Lang zum Feste laden.« Carl Maria traute seinen Ohren nicht. Sein Grimm über die plötzliche Zurückberufung war verrauscht. »Er ist doch ein feiner Kerl.«

Der Park hinter dem Schloß hatte sich in einen Zaubergarten mit vielen kleinen Grotten verwandelt, die nach Beendigung des neckischen Schäferspiels zu traulicher Siesta luden. Weber war erstaunt, daß nach der Ouvertüre sich nur wenige Hände regten; der Herzog begnügte sich mit einem herablassenden Lächeln. Dem Schäferspiel, einer Folge teils gemacht naiver, teils erotisch-frivoler Szenen, folgte stürmischer Beifall. Dann führten die Schäfer ihre Schäferinnen zu den bereitgestellten kleinen Tischen, sofern sie es nicht vorzogen, sich eine verschwiegene Grotte zu einem improvisierten Spielchen ohne Publikum zu sichern.

Die Sterne schauten neugieriger als sonst auf das Leben im Schloßpark herab, so daß die Lichter der Lampions, die an Drähten über den kleinen Tischen hingen, nicht recht strahlen wollten. Die Bedienten trugen Früchte und Konfekt in silbernen Schalen herbei und gossen rote und weiße Weine in kristallene Becher.

Weber hatte seine Margarete noch nicht entdeckt. Er vermutete bei ihrer schelmischen Art, daß sie ihn ein wenig suchen lassen werde, um dann kichernd hinter einem Baume aufzutauchen. Nach wiederholtem Hin und Her glaubte er plötzlich ihre Stimme zu hören. Er machte halt. Da lehnte sie wirklich an einer steinernen Hirschgruppe, die von den niedrigen Zweigen einer alten Platane überdacht war, und schaute belustigt zu ihrem Kavalier empor. Weber näherte sich, durch breite Baumstämme verdeckt, so weit, daß er nicht zu befürchten brauchte, bemerkt zu werden. Sein Gretchen sah entzückend aus. Daß sie dezenter als alle andern Damen gekleidet war, schien ihre Anziehungskraft auf den Begleiter zu erhöhen. Der Mann bewies zum mindesten guten Geschmack. Jetzt konnte Weber seine Worte verstehen; es war Graf Dillen, der seine ganze weltmännische Gewandtheit spielen ließ, um seiner Schäferin erfolgreich die Kur zu schneiden. »Wie kann man nur so spröde sein, gnädigstes Fräulein«, sagte er eben, »wir wollen uns doch nicht um die Freuden dieses Abends betrügen, der einmal alle Unterschiede des Ranges vergessen machen soll. Heute gibt es nach des Herzogs Befehl nur Schäfer und Schäferinnen.«

»Sie wissen sehr wohl, Herr Graf, daß ich den Freiherrn von Weber liebe. Wollen Sie mich bitte zu einem Tischchen führen; ich würde gern eine kleine Erfrischung nehmen.«

»Aber gewiß, meine Teuerste, wie Sie befehlen. Nur eine kurze Bemerkung, aus Gründen der Gewissenhaftigkeit sozusagen: einen Freiherrn von Weber gibt es hier nicht; der Vater des jungen Mannes, den Sie meinen, erteilt als Geiger für billiges Geld Musikunterricht; er selbst ist Geschäftsführer des Herzogs. Wenn Seine Hoheit von solchem Größenwahn erführe, würde er ihm eine Geige in sein Familienwappen setzen lassen … Also sprechen wir lieber nicht weiter davon …« Das war dem Fräulein doch zu stark. Sie warf ihr blondes Köpfchen in den Nacken und ging ohne Gruß an dem Grafen vorbei, um sich einer kleinen Gruppe Damen zuzuwenden, die eben näher kam.

Der vom Glück beflügelte Weber sprang über den Rasen und schnitt ihr den Weg ab. Gretchen erschrak, als der Geliebte wie aus der Versenkung vor ihr auftauchte. Sie brauchte nicht auf das Stichwort zu warten, denn Weber umarmte sie unter herzlichen Küssen. Da tönte die Glocke für die Musik. »Wenn es Dir recht ist, fahre ich heim und erwarte ich Dich später!« – »Nicht heute bitte, mein Schatz; es fehlt noch eine Arie für Silvana, morgen früh um zehn ist Probe!« Sie bot ihm noch einmal den Mund: »Du Ärmster; dann also morgen! Du bist ja doch der Einzige, den ich liebe!«

Sie hüpfte mehr als sie ging dem Halteplatz der Kutschen zu. Noch ehe sie ihren Wagen erreichte, hörte sie ihren Namen rufen; gleich darauf stand ihre Zofe vor ihr. Gretchen wußte nicht, daß Graf Dillen ihr eigenes Mädchen mit einer Mission bedacht hatte. Webers Diener Huber war durch einen Golddukaten und das Versprechen, ihm eine Stelle beim Herzog zu verschaffen, für einen schändlichen Plan gewonnen worden. Er mußte der harmlosen Zofe ein Gespräch verraten, das zwischen dem Herzog Louis und dem Grafen stattgefunden haben sollte und von dem Kammerdiener des Herzogs gehört worden sei. Das schöne Fräulein von Waldskron sei beim Herzog in Ungnade gefallen und Dillen habe den Auftrag, Durchlaucht eine neue Freundin zuzuführen. Der Graf habe Fräulein Lang in Vorschlag gebracht und den Auftrag erhalten, beim Gartenfest mit der Sängerin zu sprechen. Von ihrer Zusage sei die besondere Bevorzugung der Künstlerin abhängig zu machen. Falls Fräulein Lang sich wider Erwarten nicht werde entschließen können, solle der Graf unverzüglich mit Fräulein Baumann, der reizenden Altistin, in Verbindung treten und sie dem Herzog beim Fest vorstellen.

Gretchen Lang schnellte empor: eine Kollegin sollte sie beim Herzog ausstechen, ausgerechnet diese hochnäsige Baumann, die ihr schon jetzt immer so herablassend begegnete? Es überlief sie kalt und heiß, als ihr zum Bewußtsein kam, welche Karte sie aus der Hand gegeben hatte. Würde der allmächtige Graf Dillen sich an ihr rächen? Ihre Eifersucht stand plötzlich in hellen Flammen. Sollte ihre gefährlichste Rivalin auf der Bühne sie um die Gunst des Hofes bringen?

Sie griff nach dem Arm der Zofe: »Laufen Sie zum Grafen Dillen; ich ließe fragen, ob ich ihn gleich sprechen könne; nein, bleiben Sie, ich will selber zu ihm hin«. Sie zitterte vor innerer Erregung, die sich zu einem Weinkrampf zu steigern drohte, als sie minutenlang hin- und hergerannt war, ohne den Gesuchten zu finden. Der Himmel hatte sich bezogen und die meisten Gäste zerstreut. Dillen saß bereits in einem traulichen Winkel des Schlosses, um seiner Vorfreude eine Flasche alten Burgunders zu gönnen. Er wußte, daß er sich auf Webers Diener verlassen konnte. Huber hatte schon beim ersten Dukaten eine große Begabung für die ihm zugedachte Aufgabe an den Tag gelegt.

Es war also kein Zufall, daß Huber plötzlich auf einem Seitenwege vor der Verzweifelten stand und mit geheucheltem Erstaunen fragte, wie es möglich sei, einer so viel begehrten Schönheit ohne Begleiter zu begegnen. In ihrer Aufregung vergaß sie alle Rücksicht gegen sich selbst und verriet dem Diener, was sie drückte. Als sie dann bat, ihr heimlich beizustehen, kam der Bursche in sein eigentliches Geleise; er könne nur dazu raten, den Grafen sofort in seiner Wohnung aufzusuchen. Seine Zimmer lägen im linken Flügel des herzoglichen Palais, eine Treppe hoch. Eingang durch das Gartenportal; das Tor sei nicht verschlossen …

Sie hätte schreien mögen. »Um diese Zeit? – Es geht auf Mitternacht« stieß sie entsetzt hervor.

»Meinetwegen warten Sie bis morgen, ich hatte geglaubt, man müsse in solchen Dingen eilig sein.«

»O Gott, wenn das Weber erführe – Sie, Huber, tun es ihm nicht an?«

»Ich? Stumm wie das Grab.«

Ihr selber war, als müsse sie ihr Glück zu Grabe tragen. Der Boden schien sich unter ihren Füßen zu verschieben, als sie das Portal des herzoglichen Schlosses erreichte. Sie mußte sich an einer Säule halten, um nicht zu fallen. So stand sie eine Weile, als warte sie auf den rettenden Ritter. Noch war es Zeit, umzukehren … Aber dann war wohl alles zu spät. Es wäre gut für alle drei – hatte der Huber gesagt. Für alle drei, das wäre schon ein Opfer wert gewesen.

Die dunklen Ballen am Himmel hatten sich vollends zusammengezogen. Jetzt fielen die ersten Tropfen; ein paar Sekunden später prasselte der dicke Regen auf die Steinplatten. Gleich darauf kamen zwei Gestalten, eng aneinandergeschmiegt, durch das äußere Tor. »Zwei Hofdamen«, sagte sich Gretchen Lang. Jetzt mußte sie handeln. So schnell ihre Füße wollten, flog sie die breiten Stufen hinan. Die Tür war angelehnt. Sie schob sich hindurch; die Angeln kreischten. Ein Diener leuchtete ihr zum Obergeschoß hinauf, wo sich wie zufällig eine Zimmertür öffnete, auf deren Schwelle Graf Dillen stand. »Ich habe Sie erwartet«, sagte er und reichte ihr die Hand. Dann wurde die Tür geschlossen.

Unterdessen waren die beiden Hofdamen an der unteren Treppe angelangt. Der Schirm, den die jüngere noch immer schützend über die ältere hielt, hatte es nicht verhindern können, daß beide bis auf die Haut durchnäßt waren. Die Kleider klebten ihnen an, als seien es nasse Trikots. »Sie haben doch auch die Tür gehört. Selbst solches Schweinewetter hält die lockeren Dämchen nicht zurück … Wollen Sie mir sagen, wie das enden soll?« fragte die ältere Dame, indem sie die dicken Tropfen von der leichten Pelerine schüttelte, die ihre mageren Schultern so schlecht geschützt hatte.

»Was will man machen, wenn zwei sich lieben? Man muß sie gewähren lassen« lautete die Antwort.

»Was sagten Sie, Beste? Ich fürchte, Sie lesen schlechte Romane, wohl gar »Die Leiden Werthers« oder wie das Schandbuch von Goethe heißt … Wenn Sie meinen, daß dieses Nocturno gut ablaufen werde, so dürften Sie sich irren. Ich kenne den Grafen Dillen schon seit der Zeit, da er noch Pferdejunge war. Er mißbraucht die Gewalt, die er an sich gerissen hat und bestiehlt seinen Herrn alle Tage. Wenn die Frauen wüßten, wie er über seine Eroberungen spricht, würde er keine einzige bekommen … Heute ist er der jungen Sängerin von der Hofoper nachgestiegen; ich wette, daß sie es war, die vor uns über die Treppe huschte und hinaufgeführt wurde.«

»Sie meinen die niedliche Lang?«

»Natürlich die Lang, die mit dem jungen Kapellmeister geht.«

»Das täte mir seinetwegen leid … Er soll ein begnadeter Künstler sein.«

»Ich bedaure die Männer nicht; sie verdienen es nicht besser! …«

Von neuem knarrte die schwere Tür. Dann war es still. Man hörte nur noch Tropfen fallen.

Während der Herzog Louis ein amüsantes Schäferstündchen erlebte, entwarf Graf Dillen im Vorzimmer nach berühmtem Muster feurige Liebesbriefe, um sie dem Herzog am andern Tage zur Auswahl vorzulegen. Sein Herr liebte die Abwechslung, und der Graf bemühte sich, es ihm gleich zu tun. So rächte sich das Schicksal an den Schönen, die von dem Treiben des Herzogs wußten und sich dennoch dafür gewinnen ließen.

*

Carl Maria v. Weber wußte nichts von dem Verrat, der an ihm geübt wurde. Er saß über seinen Schreibtisch gebeugt und warf fiebernde Noten auf das Papier. Dann setzte er sich ans Klavier; die neue Arie erklang zum ersten Mal; er hatte die Erinnerung an eine selige Stunde in Tönen aufgefangen … Jetzt trat er ans Fenster, um die frische Nachtluft zu atmen. Der Regen hatte nachgelassen. Ein Gang durch den Park würde ihn vor dem Schlaf erquicken. Er nahm seinen Hut und verließ das Haus. Die freudige Genugtuung, die er über die gelungene Liebesarie empfand, lenkte seine Schritte zur Wohnung Gretchens. Wenn sie noch wachen würde …

In wenigen Minuten ist er an ihrem Hause. Alles dunkel. Sie schläft wohl schon. Oder läßt das Erlebnis im Park sie noch nicht zur Ruhe kommen? Er nimmt ein Steinchen und trifft die Fensterscheibe ihres Schlafzimmers. Es bleibt alles still. Sonst war sein Gretchen immer gleich zur Stelle …

Er wirft ein zweites Mal. Der Stein zertrümmert das Glas. Er fühlt, daß diese Scherben kaum Glück bedeuten werden. Sein Gretchen ist nicht zuhaus. Er läuft wie besessen durch den Park zum Schloß, wo ihm ein geisterhafter Zuruf Halt gebietet. Hier steht er eine Weile, das Auge den erhellten Fenstern zugewandt; hier will er bleiben, bis er Klarheit hat. Ein langer Schatten streift die dichten Vorhänge, die alles sehen und über alles schweigen. Jetzt hört er weinen, – oder ist es lachen? Was will er noch?

Am andern Morgen liegt ein Brief von unbekannter Hand vor seiner Tür. Er wittert den Verrat: »So richtete man früher Menschen hin.« Es graut ihm, als er das Papier entfaltet. So sahen die Billets doux der Meuchelmörder aus, die zur Zeit Ludwigs XIV. in Paris beliebt geworden waren, die Rosabriefchen, die zwischen galanten Kavalieren und zierlichen Dämchen flatterten und einen angenehmen, aber tödlich wirkenden Geruch ausströmten …

Es kümmert ihn nicht mehr, wer der dunkle Ehrenmann ist, der das Herz eines gläubig liebenden Menschen treffen will, ohne die Verantwortung für sein schändliches Treiben zu übernehmen. Er springt über die Straße, um Gretchen selbst zu hören. Und sie weicht ihm nicht aus. Was sie getan hat, tat sie nur für ihn, aus Liebe! … »Ich muß mich also bei Dir bedanken? – Vielleicht gar auch bei ihm!« Er greift an seine Stirn. Sie steht vor ihm in übermütiger Laune, genau so wie früher, wenn er müde von den Proben kam, um allen Ärger in ihren Armen zu vergessen. Sein Blick fällt auf die zertrümmerte Fensterscheibe … Er läßt die Geliebte stehen und rennt hinaus …

Abschütteln will er sie, um frei zu sein. Aber Graf Dillen hat noch ein paar weitere Überraschungen vorbereitet; er ist kein Anfänger. Er hat die Gläubiger des Herzogs und seines Sekretärs zusammengetrommelt. Das mit erborgtem Gelde angeschaffte Reitpferd Webers muß mit Schaden verkauft, dem Reitknecht eine Abfindungssumme gewährleistet werden. Als Carl Maria mittags vom Dienst beim Herzog heimkommt, hält vor seiner Wohnung eine Kutsche, aus der ein alter Herr mit einer Baßgeige und zwei Pudeln klettert, die fett und faul in einem Handkorb lagen. Weber ahnt nicht, daß Dillen seinen Vater heimlich eingeladen hat, er traut seinen Ohren noch weniger, als der Alte versichert, nunmehr in Stuttgart bleiben zu wollen. Er hat immer mit rührender Liebe für seinen Vater gesorgt, hier aber muß die Anwesenheit des alten Herrn zur Katastrophe führen. Franz Johann Carl von Weber nimmt unbekümmert von dem Ruhebett des Sohnes Besitz und hängt den Korb mit den beiden Hunden an der Decke des gemeinsamen Schlafzimmers auf, das sie bald mit einer unerträglichen Luft erfüllen …

Weber sucht seine Rettung in der Arbeit und nimmt die Partitur der Silvana vor, die noch der letzten Feile bedarf. Das hindert den Vater nicht, auf seiner Baßgeige die lustigsten Pizzicatosprünge zu beginnen. Die Pudel kontrapunktieren das Thema mit winselndem Geheul, so daß Carl Maria beschließt, sich in die Bodega am nahen Marktplatz zu stürzen, um alles Gewimmer des Daseins bei einem guten Tropfen zu vergessen.

Vor der Tür begegnet ihm ein Bote mit einem Brief: »An Se. Hochwohlgeboren, den Herrn Freiherrn von Weber, Geheim-Sekretär Sr. Hoheit des Herrn Herzog Ludwig Friedrich Alexander von Württemberg zu Stuttgart«. Weber erbricht das Schreiben mit zitternder Hand. Es ist eine Klage gegen seinen Vater und dessen unmündigen Sohn Carl Maria auf Bezahlung einer Summe von tausend silbernen Gulden innerhalb von drei Tagen, andernfalls Verhaftung erfolgen müsse … Was soll er tun? Die Hölle scheint ihn verderben zu wollen … Hinter dem Kastanienbaum vor dem Hause taucht, als sei er gerufen worden, sein Diener Huber auf. Der weiß doch um alles, was seine Herrschaft betrifft. Kaum hat Weber ihm seine Sorgen geschildert, als Huber auch schon mit einem Rat aufwarten kann. In Schwieberdingen sei ein Wirt, der wohl ein Darlehen von tausend Gulden flüssig machen könne; er, Huber, werde schon dafür sorgen, wenn er von Weber die nötige Vollmacht erhalte. Carl Maria staunt über die Findigkeit seines Dieners; er ahnt ja nicht, daß Dillen auch hier seine Hand im Spiele hat. Schon am andern Tage ist das Geld zur Stelle. Huber streicht schmunzelnd die ihm versprochenen fünf Dukaten ein.

Weber atmet auf. Alle Nöte sind wie Spuk vor der Sonne verschwunden und damit endlich wieder die Vorbedingungen für die abschließende Arbeit an seiner Oper gegeben. In Frankfurt sollte die Uraufführung sein. Die Sänger warteten mit Ungeduld auf ihre Partien. Soweit die Zeit es ihm erlaubte, probierte Weber selber die Orchesterstimmen mit den Musikern durch, die ihn seiner Fähigkeiten wegen sehr verehrten.

Eines Morgens, als Weber eben den Taktstock heben wollte, tauchten im Theater ein halbes Dutzend Gendarmen auf und besetzten die Zugänge zum Orchesterraum, als gelte es, einem Mörder das Handwerk zu legen. Während die Anwesenden teils belustigt, teils mit unbehaglicher Neugierde dem Beginnen der Beamten folgten, trat der Führer der Abteilung auf den Kapellmeister zu, um zu erfahren, ob der Angeredete der Geheimsekretär des Herzogs Louis sei, was Weber mit ahnungsloser Freundlichkeit bejahte. Man war gespannt, ob diese hochnotpeinliche Amtshandlung sich als ein schlechter Scherz oder ein Irrtum entpuppen werde, bis der Beamte einen kurzen Verhaftungsbefehl aus der Tasche zog und Weber zum Entsetzen der Anwesenden aufforderte, ihm auf des Königs Befehl unverzüglich ins Gefängnis zu folgen.

Hinter dem vergitterten Fenster der schmutzigen Zelle merkte Carl Maria sehr bald, daß es sich bei seinem Abenteuer durchaus nicht um eine Fastnachtskomödie handle. Zu anderer Zeit wäre ihm das Studium der mit obszönen Zeichnungen und zotigen Versen bedeckten Wände vielleicht eine erheiternde Kurzweil gewesen; der soeben erlebte Szenenwechsel entbehrte aber jeden Humors, denn er stürzte einen schöpferischen Menschen, der nichts Ehrenrühriges begangen hatte, aus den elysischen Gärten himmelstürmender Phantasie in eine Wirklichkeit hinab, die an Roheit jede menschliche Vorstellung überbot. Nach zwei qualvollen Stunden wurde Weber zur Vernehmung in ein Amtszimmer geführt, wo er erfuhr, daß sein früherer Diener Huber, um das Darlehn für seinen Herrn schnell flüssig zu machen und seinen Helferslohn zu verdienen, dem Wirt in Schwieberdingen im Namen Webers die Befreiung seines Sohnes vom Militärdienst versprochen und seinem Herrn damit Rechte angedichtet hatte, die nur Graf Dillen ausüben durfte. Der duldete keine Konkurrenz; der schwungvolle Handel mit Titeln und höheren Verwaltungsstellen, sowie der Verkauf von Soldaten an kriegerische Fürsten zu Gunsten der königlichen Kasse blieben dem ehemaligen Bereiterjungen vorbehalten; selbst des Königs eigener Bruder war da ausgeschaltet. Vor dem Richter aber lag der Schuldschein, den der junge Weber in seinem Glück unbesehen unterschrieben hatte.

Der durch Napoleon auf den Thron gesetzte König Friedrich I. hatte nicht einen Augenblick gezögert, den von Dillen gegen den Geheimsekretär des Herzogs Louis von Württemberg beantragten Haftbefehl zu unterzeichnen. Jetzt mußte er sich davon überzeugen, daß Weber nicht einmal ahnte, warum er vor dem Richter stand. Der zuversichtliche Blick des Angeklagten sagte dem König, was Weber verschwieg; der eigne Bruder hätte dem Monarchen, der sehr schnell auch die letzten Zusammenhänge dieses Kriminalfalls durchschaute, Rede stehen müssen. Um so schmerzlicher war es für Weber, erfahren zu müssen, daß sein Herzog Louis ihm den Rücken gekehrt habe, ohne auch nur einen Rechtfertigungsversuch zu Gunsten seines Sekretärs zu wagen. Aber über die kleine Sängerin hatte der Herzog gesiegt; Carl Marias einstige Geliebte lag jetzt in seinen Armen.

*

Webers Ernüchterung sollte noch einen kleinen Nachtusch erfahren; der König hatte befohlen, den Geheimsekretär samt seinem Vater über die württembergische Grenze abzuschieben. Der Befehl erschien Carl Maria beinahe als ein Akt der Selbsterhaltung; es war ihm, als streife er eine alte Haut ab, um ein neues Dasein beginnen zu können. Der Weg zum priesterlichen Künstlertum lag vor ihm offen. War er gereift genug, ihn aufrecht zu beschreiten? …

Bald hatte sich aus dem Stuttgarter Erlebnis eine herrliche Lebensregel für Weber kristallisiert; er sagte sich: »Du mußt zufrieden sein mit dem, was du hast, nie mit dem, was du bist!« War sein sonst so feines Gefühl durch Umgang und Gewöhnung auch so weit abgestumpft, daß er in den Handlungen seines Herzogs nichts Verbrecherisches sah, so atmete er doch freier, als er seinem eignen Rechtsempfinden keine Opfer mehr zu bringen brauchte. Sein seelischer Zustand wurde mitbestimmt durch das Gefühl sinnlicher Übersättigung. Anstatt allabendlich vor Eros zu knien, wollte er von nun an jede freie Stunde nutzen, um sich tiefer in das Studium der alten Meister zu versenken. Daß seine wirtschaftliche Lage für die nächste Zeit wenig rosig sein würde, wollte er gern in Kauf nehmen; irgendwer oder irgendwas würde zu rechter Zeit schon kommen und ihm helfen. Er traute seinem Stern …

Natürlich gab es in Stuttgart noch manches, das ihn mit Heimweh erfüllen würde. Da waren die geselligen Nachtstunden im Künstlerzimmer des »Königs von England«, wo er mit dem Gespensterseher Ernst Theodor Amadeus Hoffmann einmal bis zum Hahnenschrei gebechert und alle Geister des Schönen beschworen hatte. Eine liebeglühende Serenade, die irgendwo zwischen seinen Notenblättern lag, klang wie ein unverblaßtes Echo in ihm fort … Beim Stuttgarter »Morgenblatt« waren ein paar tüchtige Kerle, darunter der Schriftsteller Hiemer, der ihm den Text zur »Silvana« geschrieben hatte … Das alles würde er nie vergessen. Aber er wollte beweisen, daß er auf alle angenehmen Bindungen verzichten könne, wenn sein Werk den vollen Einsatz von ihm forderte; er fühlte, daß die Stunde der Berufung näher kam …

Zunächst dachte er daran, in Darmstadt bei Abt Vogler seine musiktheoretischen Studien weiter fortzusetzen. Sein Lehrer hatte vom Großherzog Ludwig I. von Hessen als Dank für seine virtuose Orgelkunst ein Haus geschenkt erhalten; es verstand sich von selbst, daß Vogler seinen begabtesten Schüler mit offenen Armen aufnehmen werde. In Voglers Haus traf Carl Maria außer dem Freiherrn Alexander von Dusch aus Heidelberg auch den jungen Giacomo Meyerbeer, der seine musikalische Begabung in der Vertonung der geistlichen Lieder Klopstocks erprobte.

Die neue Umgebung war für den jungen Weber von belebender Frische. Die hessische Residenz selbst hatte ein anheimelndes Gepräge; die alte und die neue Zeit begannen in ihren Mauern eben die Klingen zu kreuzen. Spottlustige Einwohner pflegten den Fremden zuerst die vier Wunder von Darmstadt zu nennen: einen Marktbrunnen ohne Wasser, einen Tambour mit hölzerner Hand, einen Briefträger, der nicht lesen konnte und ein Schloß, dessen Fenster mit Brettern vernagelt seien. Das Schloß war wohl etwas zu groß geraten; aber man wußte die Räume des Baus zu nutzen, indem man ein Museum für Naturkunde, Gemälde- und Kunstsammlungen und eine große Bibliothek hineinlegte. Daß der Großherzog lieber Orchesterproben im Theater als die Paraden auf dem Schloßplatz dirigierte, hat ihm und seinem Lande nicht geschadet; er brachte Geld ins Land, anstatt es hinauszulassen. Selbst die verwöhnten Frankfurter kamen mit ihren Wagen nach Darmstadt, wenn eine neue Oper gegeben wurde.

Wenn die drei Freunde sich nach strengen Studien abends ein wenig erheitern wollten, suchten sie irgendeine Studenten- oder Soldatenkneipe auf, wo sich auch Hermann Gänsbacher als vierter Mann einzustellen pflegte. In vorgerückter Stunde kletterte Weber dann mit seiner Guitarre auf den Tisch und sang in freier Vertonung, so wie die fröhliche Laune des Augenblicks ihm eingab, Liebeslieder und Schelmenverse, bis der beizende Tabaksqualm seiner Stimme halt gebot. Da auch die Soldaten und Studenten manchen volkstümlichen Kantus steigen ließen, war es ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Oft saß Carl Maria hinterher noch eine Weile über dem Notenpapier und skizzierte die gehörten Melodien, um sie als Themen für ein Chorwerk oder ein Instrumentaltrio zu verwerten.

Als der rastlos schaffende Giacomo seine Gesundheit durch eine Erholungsreise nach dem Süden kräftigen sollte, schickte sein Vater ihm eine ansehnliche Summe mit dem gleichzeitigen Vorschlag, seinen Freund Weber als Reisegefährten mitzunehmen, was für die Mutter eine große Beruhigung sein werde. Man fuhr nach kurzer Beratung in die Pfalz, wo ein paar Mal in kleinen Weindörfern übernachtet wurde. Nach dem Abendessen holte Weber seine Laute hervor und spielte den Burschen und Dirnen zum Tanz auf. Da auch Dusch sich angeschlossen hatte, um die Abwesenheit der Freunde nicht in ungewohnter Vereinsamung büßen zu müssen, wurde beschlossen, über Schwetzingen nach Heidelberg zu wandern und von dort aus dem Stift Neuburg im Neckartal einen Besuch abzustatten.

Zwischen Speyer und Schwetzingen sah Carl Maria zum ersten Mal die unermeßliche Rheinebene mit dem sich jenseits der Bergstraße entwickelnden Odenwald. Die Ursprünglichkeit der Natur erfüllte ihn mit stiller Andacht; er fühlte: was ihm nirgends gelänge, das würde der deutsche Wald ihm schenken. So gab er sich dem Zauber der Landschaft mit den Empfindungen eines gläubigen Kindes hin, je weiter der Weg sich von der Stadt entfernte. Gestern erst hatten die Freunde vor dem Portal des Speyerer Doms halt gemacht und dem Bischof von Colmar im Geist dafür gedankt, daß seine unermüdlichen Bitten Napoleon bewogen hatten, jenem ehrgeizigen Architekten zu widersprechen, der den Dom als baufällig erklärt und nur die Vorhalle für wertvoll genug bezeichnet hatte, als Triumphbogen für den Kaiser stehen zu bleiben. Mit den Wellen des Rheins, die vorüberrauschten, war die Geschichte von zweitausend Jahren an den nachdenklichen Wanderern vorübergezogen: immer neue Gestalten stiegen aus der Versenkung empor: Hermann der Cherusker, Attila, Chlodwig, Karl der Große, Friedrich Barbarossa, Heinrich der Löwe, Karl V., Ludwig XIV. und Napoleon, – sie alle hatte der ungeheuerliche Kampf umstrickt, der um den Rhein seit Cäsars Zeiten tobte.

Mit aufgerüttelten Sinnen waren die Drei nach Schwetzingen gekommen, wo steinerne Göttinnen die Wege des Parks bewachten. Hier lugte die schöne Galathea durch die gepflegten Zweige, dort kicherte Pan hinter dichten Büschen, lagen Sphynxe mit den Leibern großer Katzen und den Gesichtern verliebter Hofdamen um das saftige Wiesenrund. Wieviel »Amouren« hatten hier gespielt? Wie oft war Amors bittersüßer Pfeil hier geflogen seit den Tagen, da Rudolph von Habsburgs Tochter Mechthild in die Arme des ersten pfälzischen Kurfürsten sank?

Dann standen die Drei vor dem kleinen Theaterbau, den der kunstliebende Kurfürst Carl Theodor errichtet hatte. Carl Maria wußte, daß hier bis zum Jahre 1770 nur französische Komödien aufgeführt worden waren. »Das duldeten die deutschen Dichter!« rief er sichtlich empört, und Dusch ergänzte ebenso erregt: »Unsere Kompositeure saßen im Zuschauerraum, wenn die deutschen Musiker im Orchester italienische Opern spielen mußten und die Bühnentechniker sich den Kopf zerbrachen, wie sie es zuwege brachten, daß die antiken Götter zur rechten Zeit aus den Wolken oder der Unterwelt auf die hölzerne Erde gelangten, Tempel einstürzten und die römischen Soldaten des Kurfürsten sich nicht schon vor der Bühnenschlacht in die künstlichen Haare gerieten«.

Carl Maria kam nicht sonderlich froh aus dem Schwetzinger Park zurück; ihm war noch lange zumute, als röche er den Puder jener Zeit, da Marie Antoinette die Königin der aristokratischen Mode war. Erst unter den Bäumen, die das Dorf Wieblingen säumten, gelang es ihm, sich langsam von den verhaßten Bildern zu befreien. Da floh ja auch der Neckar, der lieblichste und deutscheste der Flüsse, altmodischer und keuscher als seine größeren Brüder, die nach Norden strebten. Von der Bergstraße grüßten die Windeck und die Strahlenburg herüber, in deren Nähe vor Zeiten der Hollerbusch blühte, unter dem Graf Wetter vom Strahl seinem Kätchen von Heilbronn erschienen war.

Der Alltag der lärmenden Welt ist versunken. Aus Carl Marias Augen leuchtet jetzt die Schönheit einer sonnigen Seele. Wieder führt der Weg durch hohe Kiefern, die mit Laubholz wechseln. Die Sonne legt helle Streifen, wie mit der Schiene gezogen, über den moosigen Pfad. »Hier nimmt der Wald mich liebend an sein Herz«, ruft Weber, heiligen Glückes voll. »Hier fühle ich die Hand des ewigen Schöpfers; hier stürzen alle Götzen; hier finde ich zurück zu meinem Gott!«

*

Das Stift Neuburg gehörte der Familie Hout, die den Freunden eine herzliche Aufnahme bereitete. Die Dame des Hauses hatte auch Clemens Brentano und Ludwig Tieck eingeladen. So gab es denn ein frohes Wiedersehen. Tieck wußte, daß Weber in Stuttgart einen Roman »Tonkünstlers Leben« begonnen hatte; es war ihm aber trotz wiederholten Drängens noch nicht gelungen, den Freund zum Vortrag der fertigen Szenen zu bewegen. Um so schöner war die Überraschung: gleich nach dem Abendessen holte Weber sein Manuskript aus der Reisetasche.

»Nun gut, Ihr sollt den Entwurf meines Romans Die hier folgende Wiedergabe benutzt die Webersche Quelle in freier Bearbeitung; nur der Epilog lehnt sich direkt an die Vorlage an, zu der Weber durch eine 1670 in Paris erschienene Parodie der Großen Oper angeregt worden war. kennen lernen. Was mir vorschwebte, war eine Spiegelung des deutschen Theaterwesens. Ich hatte eben die letzte Note geschrieben und ergötzte mich an den Schnörkeln des Schlußzeichens, die meine Hand geschäftig vervielfältigte, als mein munterer Dichter in Domino und Larve zur Tür hereintrat und mich mit freundschaftlichem Ungestüm beim Ärmel nahm: »Das ewige Arbeiten taugt beim obersten Teufel nicht; also fort damit! Heut ist Redoute, glänzende Redoute. Da gibt es schöne Mädchen. Punsch, Musik, zwar schlecht, aber laut, da kann man Grobheit für Witz ausgeben und unter der schützenden Maske sogar einmal den Weibern die Wahrheit sagen. Also los, der Wagen steht vor der Tür, hier hast Du alles Nötige und nun marsch!« – Bevor ich recht wußte, ob ich wollte oder nicht, saß ich im Wagen, wurde von den geschäftigen Händen meines lockeren Freundes bemäntelt und verkappt und ebenso schnell wieder aus dem Wagen geschoben. Da stand ich nun in der wirbelnden Menge bunter Geschöpfe, die heute das Recht hatten, öffentlich etwas anderes zu scheinen, als sie waren. Die Rippenstöße einiger tanzenden Paare weckten mich aus meinen Träumen, und ich fing an, mir in dem lauten Wirrwarr zu gefallen. Es ärgerte mich aber, mich beinahe von jeder Maske erkannt zu sehen; darum zog ich mich etwas müde in eine Loge zurück, bis ein sonderbarer Aufputz meine Sinne fesselte:

Da steht ein Hanswurst und bittet das Publikum um die Erlaubnis, eine große deklamatorische, dramatisch-melopoetische, allegorische Darstellung in Versen geben zu dürfen. Alsbald tritt ein nüchternes Wesen hervor, das einen Musikkatalog und eine bekannte Zeitschrift wie eine Zuchtrute über seinem Kopfe schwenkt und sich selbst zu beweihräuchern beginnt. Sogleich ist der Hanswurst wieder zur Stelle. Die Parteilichkeit der Musikverleger kommt so gut an den Pranger, wie der Rollenneid der Sängerinnen und der Hochmut der Tenöre, die Sensationslust der Geldgeber wird mit dem gleichen Wohlbehagen verulkt wie die Schamlosigkeit des Balletts. Dann marschiert unter Donner und Blitz die italienische Oper als große Dame in durchsichtigem Schleppkleid über die Bühne, gefolgt von dem Hanswurst, der die Koloraturen der Primadonna und das Gebrüll des Stimmlöwen glossiert. Es folgt die große Oper der Franzosen mit einem brillanten Corps de Ballet, das alle Sinne bestrickt. Ein wilder Sängerstreit setzt ein; die Tonkunst scheint im Chaos zu verenden:

»Siebenmal höher gestrichene Noten
Sind ihrer Leidenschaft kreischende Boten …
Selbst Tuba und Horn modulieren nach oben.
Die Bässe fluchen, Altistinnen toben.
Der Dirigent schlägt wild den Takt,
Doch alle Hörer sind gepackt.
Vom Bauchtanz und vom Narrensprung
Bekommt kein junges Herz genung!«

Doch das Publikum fängt an, ungeduldig zu werden. Man hört laute Rufe nach der deutschen Oper, die nicht zum Vorschein kommen will. Die Direktion ist in großer Verlegenheit, bis der Hanswurst, in Schweiß gebadet, sich bereit erklärt, das Publikum zu beruhigen. Er schmettert eine Rede über die Köpfe der Anwesenden, in der er die schlechten Zeiten für die Oper schildert, die immer noch an Krämpfen kranke und so aufgedunsen sei, daß kein Kleid ihr mehr passen wolle. Die Spielordner ziehen bald der italienischen, bald der französischen Oper einen Rock vom Leibe, um die deutsche damit zu schmücken; er will weder hinten noch vorne sitzen. Auch mit neuen Ärmeln und Schleppen ist es nicht getan. Endlich sind ein paar romantische Schneider auf die Idee verfallen, einen vaterländischen Stoff für die neue Oper auszustaffieren – und siehe: Agnes Bernauerin, ein romantisch-vaterländisches Tonstück, im Herzen Deutschlands spielend, geht als schaurige musikalische Groteske in Szene. Der Hanswurst, tiefsinnig geworden, widmet dem Spiel einen nachdenklichen Epilog:

»Ich ahne was und weiß nicht was,
Des Auges Blum' ist schmerz-tropfnaß.
Ich sehe es kochen und überall gären,
Als wollt die Kunst eine Kunst gebären.
O, ehrliches deutsches Vaterland,
Mich hast du verfolgt, mich hast du verbannt,
Um fremdartig ärgere Narren zu pflegen.
Sprich, war dies zum Heile, war dies zum Segen?
Den Engländer, Spanier, Welschen und Franken
Beseelt stets nur der eine Gedanke,
Sich selber und seinem Volk würdig zu bleiben,
Und du, deutsche Kunst, schwächst im zänkischen Treiben
Was Göttliches dir nur vor allen verliehen:
Erkenntnis und Anstoß aus Fremdem zu ziehen.
Das hast du mißbraucht in der eigenen Kraft,
Die herrlich und rein aus sich selber schafft;
Wenn frei von der Nachäffung eitlem Streben
Sie tragen will göttlichen Stoff in das Leben …«

Das Publikum scharrt mit den Füßen und schreit, die Moral sei unnütz im Menschenleben. Da macht der Hanswurst einen Kratzfuß und ruft:

»Ach verzeihens, Verehrte, bitte schön,
Wär' mir fast Schreckliches gescheh'n;
Plagt manchmal mich, weiß selbst nicht wie,
Eine Art Natur-Philosophie.
Ist halt eine üble deutsche Gewohnheit,
Grenzt schon beinahe an Voll- und Tollheit!
Bin so dumm gewesen, zu früh zu kommen,
In zehn Jahren wird's vielleicht besser genommen.
Sein's bitte nit bös auf mich armen Kasperl,
Spiel' morgen früh den Herrn von Hasperl.
Hat mich eine Art Volkstum und Brauchtum ergriffen,
Hätten besser getan und mich ausgepfiffen …
Ist noch viel unvollkommen auf Erden;
Vielleicht – wird's später besser werden …«

Da erhebt sich wildes Bravoschreien. Der Hanswurst wird vier Mal herausgerufen; er spricht von Nachsicht, Weiterstreben und Wiedersehen. Die ausgelassenen Masken verlieren sich unter den Klängen eines tobenden Walzers im Gewirr; die Zuschauer aber machen ihrem Herzen Luft. Der eine nennt das Ganze eine ungereimte Farce, ein anderer dummes, absurdes Zeug, der dritte empfindet es als lustigen Spaß, der vierte schätzt das Spiel gering, da er den Verfasser kennt und genau weiß, daß er dieselben Kartoffeln ißt wie er und deshalb auch nichts Vernünftiges zuwege bringen könne. Zwei junge Damen ergötzen sich noch lange hinterher an der Pracht der Kostüme, ein Fremder bewundert den tiefen Sinn der Verse, bedauert aber, sie nicht begriffen zu haben.

Der Dichter, der dies alles sieht und hört, ist der Verzweiflung nah, weil er mit solchen Widersprüchen nichts anzufangen weiß. Da schlägt ihm ein Freund auf die Schulter: »Hier hast du das Publikum aller Zeiten: jeder Hansdampf glaubt sich für ein paar Groschen Eintrittsgeld befugt, wegwerfend über Dinge zu reden, die er nicht kennt, die er noch nie mit ernstem Sinn durchdachte. Wer gibt ihm das Recht, die Frucht jahrelanger Arbeit mit Spott und Hohn in den Schmutz zu ziehen, weil er vielleicht nicht gut verdaut und deshalb schlechter Laune ist? Wie kommt eine alberne Gans dazu, das Ganze schlecht zu finden und wie ihre Ahnfrau vom Kapitol zu schnattern, weil in einer belanglosen Szene ein Statist sich ungeschickt benimmt oder einmal stottern muß? – Willst du dem Dummen zürnen – seiner Dummheit wegen? – Bleib du nur Du! Dann wird das andre schon. Die Kunst braucht Zeit!«

Als Carl Maria mit der Vorlesung seines Entwurfs zu Ende war, erhob sich Tieck: »Unser verehrter Freund Weber hat ins Schwarze getroffen. Wir wollen es mit dem Helden seines Romans halten: Wer sich selber verrät, verriete die Kunst!« Dann drückte man Weber die Hand und stieß mit einem Glase badischen Weines auf seine neue Oper an: »Silvana soll leben!« – Weber dankte, indem er bat, den Wunsch, der seinem Werke gelte, an die gastliche Familie Hout weitergeben zu dürfen, die ihm und seinen Freunden diesen Tag gemeinsamer Freude ermöglicht und die Eindringlinge zu allem andern noch mit der sonnigsten Kaiserstühler Edeltraude, einer Sylvaner Auslese, symbolhaft beglücke. Bald flammte das vulkanische Feuer des Göttertropfens durch alle Adern; Alexander von Dusch, der sonst immer länger brauchte, um aufzutauen, saß plötzlich am Klavier und variierte eine Hirtenweise des alten Johann Staden, der zweihundert Jahre vorher, als die italienische Oper in Deutschland triumphierte, das lustige Wort geprägt

»Italiener nicht alles wissen,
Deutsche auch etwas können.«

Dieser Einfall rief das ganze Hausorchester auf den Plan. Dusch mußte seinen Klavierplatz an Giacomo abtreten, der schon lange darauf brannte, das Instrument unter seine geübten Finger zu bekommen. Dusch selbst übernahm, wie sichs gehörte, das Cello; die Tochter des Hauses packte trällernd ihre kostbare Stradivari aus. Und nun jubilierte es durch die geöffneten Fenster des alten Stifts, daß die Vögel draußen, die längst schliefen, erwachten und sich im Wettbewerb der freien Künste mit den vergnügten Musikanten zu messen begannen. Der redselige Ludwig Tieck aber mußte sich über das alles erst einmal gründlich aussprechen. Da sich sonst keine Opfer finden wollten, hakte er bei Weber und dem Herrn des Hauses ein und zog die beiden leise in das Nebenzimmer, wo er sogleich mit Feldherrntaktik aufs Ganze ging. Da er keinen Feind zu überrumpeln brauchte, sondern zwei Verbündete vor sich hatte, gewann er auf der ganzen Linie; sein Sieg war vollkommen, als er behauptete, daß die Gesundung der deutschen Oper bereits begonnen habe. »Der göttliche Mozart ist uns mit seinem Schaffen als herrliches Vorbild vorangegangen; es tut nichts zur Sache, daß der ›Don Giovanni‹ ursprünglich für italienische Sänger geschrieben worden ist; so wenig wie kein Deutscher sich Bach und Haydn, Händel, Spontini und Gluck je streitig machen läßt, so wenig wird es jemals einem vernünftigen Deutschen einfallen, das Werk des genialen Italieners Rossini wegen seiner Herkunft zu verkleinern. Der Sinn für das Edle und Große, aber auch für das Natürliche in der Tonkunst ist unter uns erwacht: nun muß jeder helfen, daß dieser Sinn nicht wieder untergeht … Wir haben es ja leicht, an die Gesundung der Musik zu glauben; denn unter uns weilt bereits das Genie.« Tieck hatte sich erhoben. Sein Wort klang feierlich: »Ein Genie läßt sich weder von unten, noch von oben her beirren; es schreitet unbehindert seinen Weg, dem Werk zuliebe; sein Tun erfolgt nach innerstem Gesetz. Darum wird auch seine Wirkung stärker sein als alle Gewalt, die von außen kommt.«

Am andern Tage fuhren die Freunde nach Mannheim. Unterwegs unterhielt man sich angeregt über die Stadt, in der Weber gern einmal als Gastdirigent aufgetreten wäre. Die Stadt war ihm als ein zweites München gerühmt worden, als er auf einer Durchreise die Gelegenheit benutzte, das Mannheimer Orchester kennen zu lernen. Der vielgereiste Tieck hielt es für seine Pflicht, die Erwartungen des Freundes ein wenig herabzuschrauben, um ihn vor allzu großen Enttäuschungen zu bewahren. Tieck fürchtete, daß die glücklichen Zeiten Carl Theodors schwerlich wiederkommen würden, wenn auch der Sinn für Musik in den Bewohnern lebendig geblieben sei, was allerdings nicht genüge, um die Stadt auch dem Fremden ans Herz zu legen; der Gegenwartsmensch könne vertrocknete Lorbeerblätter höchstens für eine gute Soße verwenden.

Weber nahm das Mannheimer Orchester temperamentvoll in Schutz: »Es leistet, was von einer erstklassigen Kapelle immer verlangt werden kann; ich selbst habe meine Kompositionen nirgends wieder mit solcher Präzision aufführen hören. Darum erfüllt es mich mit Stolz, daß mein Vater vom Kurfürsten Carl Theodor nach Mannheim berufen wurde, um in seiner berühmten Kapelle als Baßgeiger mitzuwirken. Viel eher ist zu befürchten, daß eine gewisse musikalische Anarchie in Mannheim überhand nimmt, wenn eine kräftige Hand nicht Halt gebietet. Erst vor kurzem haben die Musiker dem Dirigenten zuliebe ein Konzert abgelehnt, weil dem Kompositeur ein Streich gespielt werden sollte. Die Herren machen ein ungläubiges Gesicht? Nun denn: ich selbst war es, dem man erst die Zusage gegeben hatte, dann aber eine Ablehnung schickte, weil das Orchester auf Grund der bestehenden Bestimmungen nicht in der Lage sei, während der eigenen Winterkonzerte auswärtigen Veranstaltern zu akkompagnieren. Ich will mich hierzu weiterhin nicht äußern, obgleich diese angeblichen Bestimmungen andern Kompositeuren gegenüber nicht geltend gemacht wurden. Aber Sie verstehen nun wohl die Befürchtung, von der ich sprach; ich meine, es wäre gut, wenn alle, die es angeht, sich einmal etwas mehr für solche Dinge interessieren wollten, es wird unter den Musikern zu viel intrigiert. Das sollte nicht sein und brauchte nicht zu sein; es schadet den Künstlern und schändet die Kunst!«

Dusch freute sich über diese Forsche seines Freundes. Er hatte es noch nicht verschmerzt, daß der Versuch, Weber als Theaterkapellmeister nach Mannheim zu bringen, mißlungen war. Carl Maria vertraute seinem Stern auch weiterhin mit gläubiger Zuversicht. Die Freundschaft mit Alexander wog viele Entbehrungen auf; sie hatte ihm die Freude am Dasein wiedergegeben. Noch in Stuttgart waren die Wogen eines ausschweifenden Genußlebens über ihm zusammengeschlagen; Weber allein wußte, welcher unwürdigen Fessel er sich hatte entledigen müssen, um seine Stirn furchtlos und frei dem Schicksal bieten zu können. Jetzt besann er sich mit tiefstem Verantwortungsgefühl auf das hohe Ziel seines Lebens. Mit dem, was er hatte, wollte er schon zufrieden sein, nicht aber mit dem, was er war …

Die Familie Hout besaß eine ansehnliche Hausbücherei, die Carl Maria zu eingehenden Untersuchungen reizte. Er brauchte einen neuen Opernstoff, den er gleich nach der Frankfurter Uraufführung seiner »Silvana« in Angriff zu nehmen gedachte; sein getreuer Freund Alex half ihm fleißig suchen; wenn das Inhaltsverzeichnis eines Buches keine genügende Auskunft gab, wurden Stichproben im Text gemacht. Eines Abends beobachtete Weber, daß der Freund sich in eine alte Schwarte vertiefte. Es war ein vergilbtes Gespensterbuch von Apel, und es dauerte nicht lange, da hob Dusch die Siegesbeute in die Höhe: »Hier hast Du den herrlichsten Stoff von der Welt: die Geschichte vom Freischütz und der Wolfsschlucht«. Weber war selig. Schon der Titel sagte ihm genug, wenn sein Werk auch mehr werden sollte, als ein romantisches Schauerstück. »Ich will die Oper des deutschen Waldes schreiben und die deutsche Seele heraufbeschwören aus ihren tiefsten Gründen; ich fühle, daß es noch Mächte gibt, die sich vor mir verbergen, aber ich werde sie suchen gehn. Und wenn es dunkler um mich würde als in der schwärzesten Nacht, will ich dem unbekannten Wesen vertrauen, das ungesehen meine Schritte lenkt.«

Dusch drückte dem Glücklichen stumm die Hand; Weber fühlte, daß des Freundes Glauben bei ihm war. Er brauchte solche Säulen für den Dom, der in ihm wuchs.

*

Unterdessen hatte die Intendanz in Frankfurt den Tag für die Taufe der »Silvana« festgesetzt. In der musikalischen Welt sprach man von dem bevorstehenden Ereignis, und die Freunde beschlossen, Weber nach Frankfurt zu begleiten oder nachzukommen; sie wollten Zeugen seines Erfolges sein. Es verstand sich von selbst, daß auch Abt Vogler den Ehrentag seines großen Schülers nicht versäumen werde.

Die Stadt Frankfurt erfreute sich, obgleich sie seit 1806 unter dem Code Napoleon stand, eines regen Kunstlebens. Das Theater, das von Direktor Ihlee und Kapellmeister Schmitt geleitet wurde, bewies, daß mit richtigem Takt und zielbewußtem Fleiß auch bei geringeren Mitteln Gutes geleistet werden kann. Der Oper stand eine besonders ansehnliche Zahl gut geschulter Kräfte zur Verfügung, so daß Weber der Uraufführung seines ersten größeren Bühnenwerks mit Vertrauen entgegensehen durfte. Die Kapelle zählte neben den Orchestern in Berlin, München, Mannheim und Hamburg zu den besten Musikkörpern Deutschlands; die Bürgerschaft der alten freien Reichsstadt war als allgemein kunstliebend und kunstsinnig bekannt.

Da die Anordnung der romantischen Szenerie die baldige Anwesenheit des Komponisten wünschenswert erscheinen ließ, fuhr Weber nach kurzer Unterbrechung in Darmstadt gleich bis Frankfurt weiter, wo er im Hotel »Zur Reichskrone« absteigen wollte, das ihm als billig und gut empfohlen worden war. Bei der Einfahrt in die Stadt drängten sich die Menschen vor großen Plakaten. Er konnte den Inhalt nicht erfahren, das aber stand fest: um seine »Silvana« handelte es sich nicht. So war er denn in begreiflicher Erregung. Bevor er im Hotel sein Zimmer aufsuchte, verlangte er das »Frankfurter Intelligenzblatt«. Er brauchte nicht lange zu suchen; denn ein Pfeil lenkte seinen Blick auf folgende Notiz: »Madame Blanchard wird am 16. dieses Monats ihre Luftfahrt ausführen. Für diejenigen, welche vorher ihre Entreebillets zu nehmen belieben, ist der Preis ein halber Kronenthaler, am Aufsteigetage aber zwei Gulden. Der Ballon ist in der Barfüßerkirche War damals noch im Bau begriffen und erhielt später den Namen Paulskirche. aufgestellt und täglich von morgens neun Uhr bis abends sieben Uhr gegen Eintrittsgeld von 24 Kreuzern pro Person zu sehen«.

Weber sank auf einen Stuhl. Ausgerechnet am Tage der Uraufführung seiner deutschen Oper mußte eine Pariserin mit ihrem Luftballon aufsteigen und das Publikum verrückt machen. Der Kalender zeigte den 12. September. Er sah nach der Uhr, schon sechs ein halb; die Besuchszeit war vorüber. Trotzdem nahm er Stock und Hut, um dem Direktor des Theaters noch am Abend seine Aufwartung zu machen. Die Dringlichkeit seines Anliegens mußte die Störung rechtfertigen. Schließlich hatten doch beide Interesse an einer reibungslosen Verhütung unnötiger Zusammenstöße. Schon nach zehn Minuten war Weber am Theater; aber der Portier bedauerte: der Herr Direktor sei vor einer halben Stunde fortgegangen, vermutlich zum Stammtisch im »Weißen Schwan«, wo der Herr ihn sicher treffen werde; vielleicht sei auch der Kapellmeister dort. Weber dankte und wollte weiter. Aus einem der Probezimmer drang eine helle Sopranstimme an sein Ohr. Sein Herz verdoppelte die Zahl der Schläge. Diese Stimme kannte er doch. Das war doch seine Stuttgarter Gretel, die da sang. Spielte ihm die Hölle einen zweiten Streich? Er überlegte fiebernd, ob er der Sache auf den Grund gehen oder hinausrennen solle. Da öffnete sich die gegenüberliegende Tür. Eine junge Dame von zierlichem Wuchs und edlem Anstand schaute ihn mit kindlich vertrauten Blicken an, so daß er ihr mit höflicher Verbeugung den Weg frei gab. Sie senkte dankend das reizende Köpfchen. Weber stand wie gebannt; seine Augen folgten der Erscheinung, bis sie im Portal verschwunden war. Wenn er vorher an die Hölle gedacht hatte, so war dieses Wesen ganz gewiß ein Engel. Er vergaß beinahe, was er im Theater gewollt hatte; aber er wußte: seine Stuttgarter Geliebte hatte er nicht gesucht; – ja das wußte er jetzt bestimmt. Also machte er mit beschwingter Wendung kehrt, um sein Glück im Künstlerzimmer »Zum weißen Schwan« zu versuchen.

Die Verwirrung, in die ihn das fast traumhafte Erlebnis der letzten halben Stunde versetzt hatte, ließ ihn das Wirtshaus erst nach einem Umweg finden. Ein dienstbarer Geist gab ihm Auskunft: Der Direktor sei allein im Künstlerzimmer, das heißt, er habe soeben Besuch von einer Sängerin, die in der neuen Oper die Partie der Silvana singen werde. – Ob die Besprechung lange dauern könne? – Das glaube er nicht. – Vielleicht sei es ratsam, den Gast beim Herrn Direktor zu melden. Wenn er das wolle, sein Name sei Weber. – Weber? Vielleicht Carl Maria v. Weber, der Kompositeur? Diese Ehre, – er werde sofort den Direktor rufen.

Die letzten Worte hatte der Kellner in seiner Freude über die Ankunft des berühmten Komponisten so laut gesprochen, daß Ihlee die Tür aufriß und Weber mit einem herzlichen »Grüß Gott, mein Lieber« beide Hände entgegenstreckte. Dann stellte er vor: »Herr von Weber, der Komponist der vortrefflichen Oper »Silvana«, und Fräulein Brandt, die Zierde unseres Stadttheaters, die Ihre Silvana verkörpern wird.« Ein leichtes Rot verschönte die zarten Wangen der jungen Sängerin. Als Weber ihr schweigend die Hand küßte, huschte die Vorahnung eines neuen höheren Glücks über seine blassen Züge; sogar die Angst vor Madame Blanchard war verschwunden; ein Blick in die unschuldigen Augen dieses seltenen Mädchens hatte alle bösen Geister in die Flucht geschlagen.

Als die Sängerin fort war, kam der Direktor auf Madame Blanchard zu sprechen. Er traute dem Publikum nicht recht und riet Weber, der Luftschifferin einen Besuch abzustatten, um sie zur Verlegung des Termins für ihren Aufstieg zu bewegen. Seitdem Weber die Bekanntschaft von Fräulein Brandt gemacht hatte, war er nicht mehr so ganz bei der Sache; erst bei der dritten Flasche erklärte er sich bereit, die Französin am andern Nachmittag aufzusuchen. Kapellmeister Schmitt, der unterdessen ebenfalls erschienen war, begründete die Notwendigkeit einer Verständigung mit dem besonderen Hinweis auf die Notlage der Orchestermusiker, die von einem durchschlagenden Erfolg der Oper eine Aufbesserung ihrer Gage erhofften. Weber begriff: er selber hatte sich das Geld zu der Reise nach Frankfurt von seinem Freunde Vogler leihen müssen, weil er die 150 Gulden, die er am Tage vorher von dem Verleger Simrock in Köln erhielt, sogleich zur Deckung einer alten Forderung aus Stuttgart verwendet hatte, um einer gerichtlichen Klage vorzubeugen.

Am andern Morgen begann Weber mit den eigenen Proben. Er fand die Aufführung der Oper sehr gut vorbereitet und war bald voll des Lobes über die mitwirkenden Kräfte. Neben der unvergleichlichen Caroline Brandt als Beherrscherin der Titelpartie stand die gewichtige Mechthild der Madame Schönfelder. Der Knappe Krips, den er in sonnigen Stunden zu einer drolligen Figur geschaffen hatte, wurde ebenfalls nach Wunsch verkörpert. Die Musiker und Sänger verehrten Weber, der ihnen immer mit Höflichkeit begegnete und dessen bescheidene Art selbst auf den anmaßenden Heldentenor erzieherisch zu wirken begann. Es ging also nur noch um das Frankfurter Publikum, das seit einer Woche von der bevorstehenden Luftfahrt sprach und sich von der waghalsigen Madame Blanchard immer neue Wunderdinge berichten ließ, von dem jungen Komponisten Carl Maria von Weber und seiner Erstlingsoper aber kaum etwas gehört hatte. Ganze Karawanen von Neugierigen zogen seit Tagen nach der Barfüßerkirche, um den Ballon und die Frau zu sehen, die mit ihrem Mann, dem berühmten Pariser Mechaniker Blanchard, schon mehr als sechzig Mal in die luftige Höhe hinaufgestiegen war, von der die Alten warnend sagten, daß sie noch weniger Balken habe als das Wasser. Die Menge hätte selbst den berühmtesten Komponisten Deutschlands der wohlbeleibten Madame Blanchard aus Paris geopfert. Nun sollte der junge Weber, von dem nur ein paar Eingeweihte wußten, gegen den Luftballon kämpfen? Die Freunde aus Mannheim, Heidelberg und Darmstadt würden zwar zur Stelle sein, aber ihr Beifall allein konnte den Abend nicht retten.

Ein letzter Versuch Carl Marias, bei Direktor Ihlee eine Verschiebung der Uraufführung durchzusetzen, stieß auf befestigte Gegenwehr. Der Tag hatte schon ein paarmal hinausgeschoben werden müssen. Durch eine abermalige Änderung des Termins wäre der ganze weitere Spielplan ins Wackeln geraten, und die von auswärts angemeldeten Besucher wären mit Recht verstimmt gewesen. Schließlich könne die Kollision gar nicht so heftig sein, da die Ballonfahrt schon um drei Uhr nachmittags vor sich gehen, die Vorstellung aber erst um sechs Uhr beginnen solle.

Webers Puls, der schon seit achtundvierzig Stunden dauernd hundertzwanzig zählte, sollte noch eine stärkere Belastung erfahren. Als er in sein Hotel zurückkam, saß im Gastzimmer eine kleine Gesellschaft, die sich laut über das bevorstehende Ereignis unterhielt. Eben nahm ein alter Herr das Wort und erinnerte an den Tag, an dem Monsieur Blanchard vor fast genau einem Vierteljahrhundert, nämlich am 3. Oktober 1785, zum ersten Mal vom deutschen Boden aufgestiegen war. Auch damals befand ganz Frankfurt sich in einem fieberhaften Taumel. Die Erwartung war nach dem mißlungenen Attentat, das ein Unbekannter gegen den »Häuptling der Luftgaukler« unternommen hatte, indem er die Ballonhülle mit einer Pistolenkugel durchbohrte, aufs höchste gestiegen. Wenn Blanchard sich anfangs vor der erregten Menschenmenge hatte retten müssen, weil die Neugierigen trotzdem ihr Schauspiel haben und von der Verschiebung des Aufstiegs nichts wissen wollten, so herrschte eine um so größere Begeisterung, als der kühne Mechaniker Ernst machte und sich unter dem lauten Jubel einer mehr als hunderttausend Köpfe zählenden Menge in die Lüfte erhob. Als der Franzose nach einer halben Stunde in der Gegend von Weilburg niedergehen wollte, hatten die Landleute auf dem Felde die Flucht ergriffen und die Hirten ihre Herden im Stich gelassen, weil sie glaubten, ein Abgesandter der Hölle oder der Teufel selber sei auf die Erde herabgefahren. Es hatte Mühe gekostet, die Bauern vor unbedachtem Handeln zu bewahren, denn ein paar Burschen waren bereits dabei, die Seile zu durchschneiden, als Blanchard die Landungsanker geworfen hatte. Am Tage nach seinem Siege über Wolken und Wind war der Franzose in einem herrlichen Wagen vierspännig nach Frankfurt kutschiert, wo er wie ein gekrönter Fürst empfangen wurde. Im Theater blies die Musik einen Tusch, und auf der Bühne erschien ein Schauspieler, der ein französisches Lobgedicht auf den Gefeierten mit echtem Frankfurter Akzent zum Vortrag brachte; dann erst durfte der Vorhang sich vor dem angekündigten Schauspiel selber teilen …

Die Zuhörer waren der Schilderung mit atemloser Spannung gefolgt. Das mußte ja eine tolle Sache gewesen sein; nun sollten sie etwas Ähnliches erleben! Nur eine junge Dame war weniger begeistert. »Ich sehe mir lieber die neue Oper an.« Weber hätte sie küssen mögen. Der alte Herr meinte: »Die Oper können Sie immer noch besuchen, die läuft ja nicht fort; aber die Blanchard reist Montag wieder ab!« – »Der Kerl schwätzt wie ein Reklamechef«, dachte Weber, »vielleicht bekommt er seine Reden bezahlt«. Die Wirkung lag ja auf der Hand. Wer bürgte dafür, daß am Tage der Uraufführung nicht ein ähnlicher Zustand fieberhafter Erregung den Frankfurter Bürgern alle Ruhe und Besinnung rauben würde. Sogar die Pferde waren dem Ballonfahrer vor fünfundzwanzig Jahren ausgespannt worden.

Es galt also alles zu tun, um das drohende Unheil abzuwenden. Weber mußte mit Madame Blanchard sprechen. Er sprang in eine Kutsche und nannte den Gasthof, in dem die Französin zwei Zimmer gemietet hatte. Es war nicht weit; aber Madame Blanchard war noch einmal in die Druckerei gelaufen, um neue Zettel drucken zu lassen, die sie auf der Straße verteilen lassen wollte. Das alles erfuhr Weber durch die betagte Wärterin, die bei dem dreijährigen Kinde saß, das sie in französischer Sprache über das Erscheinen des Fremden zu beruhigen suchte. »Madame Blanchard bald kommen«, bemerkte sie dann, zu Weber gewandt, indem sie den Besucher bat, so lange Platz zu nehmen. Er nahm den angebotenen Stuhl und dankte für das ihm erwiesene Vertrauen dadurch, daß er seinen Namen nannte und die Wärterin über den Grund seines Erscheinens unterrichtete. Sie hörte artig zu, besonders als er auf die vermutliche Massenwanderung der Frankfurter zur Pfingstwiese zu sprechen kam. Als sie aber gefragt wurde, ob Madame Blanchard ihre Ballonfahrt wohl verschieben werde, veränderte sich ihr kleines Gesicht; sie rief mit erhobenen Armen: »Herr von Webähr verlangen suviel. Madame Blanchard haben verloren viel Geld, weil schlechtes Wetter haben gemacht impossible der Fahrt und viel kaputt. Und der Ballon seien sehr teuer, und der Gas, und das voyager, und das Leben in der Hotel und die – et les annonces dans les gazettes«. – »Natürlich«, sagte Weber und dachte an den alten Herrn, der in der »Reichskrone« Propaganda für die Konkurrenz gemacht hatte; »es geht nichts über eine gute Reklame«. – » Monsieur haben recht; die Reklame sein auch sehr teuer.« Sie nahm das Kind, das zu weinen begann, auf den Arm. »Der kleine Schreihals muß auch auf die Rechnung«, rief Weber, der sich nicht mehr zu beherrschen wußte. »Oh, monsieur, nicht sollen sprechen häßlich von petit enfant. Der Vater sein vor einem Jahr gestorben! Madame Blanchard sein eine gute Mutter und lieben sehr ihr Kind. Madame Blanchard alles tun pour son cher enfant …«

Weber ist ein wenig beschämt und sieht verlegen nach der Uhr. Die Wärterin meint, sie könne Madame rufen, wenn der Herr auf den Kleinen aufpassen wolle. Der nickt ihr freundlich zu; das Bild der eignen Mutter ist bei ihm. Das Kind schaut mit großen Augen auf den fremden Mann, der sich bemüht, die Aufmerksamkeit des Kleinen durch seine Uhrkette, seinen leuchtenden Fingerring und ähnliche Dinge zu fesseln. Seine eignen Gedanken kreisen um die Titelgestalt seiner Oper; Silvana hat längst die Züge der zarten Caroline Brandt angenommen. Ihm ist, als fiele alle Unrast von ihm ab, wie etwas, das ihm feindlich war; der letzte Mißklang weicht der Harmonie himmlischer Helligkeit. Sein Herz quillt auf, jetzt weiß er, daß er liebt; jetzt fühlt er die heilige Wonne, daß er es weiß. Er hat das Kind vergessen; vergessen wo er ist. Plötzlich beginnt der Kleine von neuem unruhig zu werden, er ruft in bitteren Klagetönen nach der Mutter. Weber versucht, ihn wie vorher zu beruhigen, aber diesmal scheitert jeder Versuch.

An der Wand steht ein kleines verstaubtes Spinett. Er schlägt ein paar Akkorde an. »Der Kasten ist ja bös verstimmt.« Aber der Kleine horcht auf; er duldet sogar die Stimmversuche, die Weber mit dem Türschlüssel unternimmt. Dabei erinnert er sich eines kleinen Gedichts, das er seit Wochen in der Brusttasche trägt und das von seinem Stuttgarter Freund Karl Hiemer stammt. Er liest es leise vor sich hin. Dann tönt es durch das Zimmer: zarter Trost. Die Saiten zittern; seine Hände beten, und Engel treten an die Wiege des Kindes, das beseligt in den Kissen liegt, die Augen nach dem Spieler hingewendet, der jetzt zu einer leisen Melodie die Worte singt: »Schlaf, Herzenssöhnchen, mein Liebling bist du …« Es trinkt die Töne wie die Milch der Mutter und reckt, bevor es in tiefen Schlummer sinkt, die Arme verlangend nach dem fremden Mann … Als Madame Blanchard schließlich erscheint, sieht sie das schlafende, lächelnde Kind und ist beglückt. Sie dankt dem Herrn Baron; er küßt der Dame die Hand. Aber Sonntag nachmittag wird sie fliegen. »Die neuen Plakate sind gedruckt, – und tausend Karten schon verkauft, mon cher monsieur!« …

Direktor Ihlee hatte sich keinerlei Hoffnungen gemacht, obgleich er Weber den Rat gegeben hatte, der noch immer ansehnlichen Madame ordentlich die Cour zu schneiden. Weber hatte diese Zumutung zwar nicht ernst genommen, aber es reizte ihn doch, zu bemerken, daß er zwar bei der Französin kein Glück gehabt, dafür jedoch die Kinderfrau vertreten habe. »Auch in Frankreich gibt es Mütter, lieber Freund!«

*

Der 16. September war da. Schon am Vormittag begann eine Völkerwanderung nach der Pfingstwiese, dicht vor den Toren der Goethestadt. Die Hausfrauen hatten es einmal gut; sie brauchten weder Suppe zu kochen, noch den Braten zu richten. Die Haushaltungsvorstände schienen sich aller gewohnten Rechte begeben zu wollen; sie gingen sogar selbst einkaufen und kehrten mit großen Wurstpaketen, gekochtem Schinken, Käse und anderen Herrlichkeiten heim, holten Messer und Gabel herbei und verfertigten belegte Butterstullen, als müßten sie eine Wanderung durch die Wüste Gobi antreten. Die Jungen bekamen zu ihrem Futter noch Flaschen mit Apfelwein, Kaffee und Tee in den Rucksack gepackt; den Schnaps schob der Vater heimlich in die hintere Tasche des Gehrocks, den er seit der letzten Kindtaufe nicht mehr aus dem Schrank geholt hatte. Dann ging es in endlosen Zügen hinaus aus der Stadt.

Die Jugend von Sachsenhausen hielt die Zaune besetzt und trieb mit den luftigen Plätzen einen schwungvollen Handel. Wer in der Stadt zurückbleiben mußte, kletterte auf die Dächer oder die Türme, die noch immer in achtbarer Zahl die Stadtmauern zierten. In den Dachluken steckten die blassen Gesichter der Greise und Kranken. Keiner wußte, ob er das Schauspiel, das sich da vorbereitete, ein zweites Mal zu sehen bekommen werde. Für ein solches Ereignis durfte man schon ein Opfer bringen.

Für die Equipagen der Reichen war ein Wagenplatz abgeteilt, auf dem die Fuhrwerke sich gegen ein anständiges Eintrittsgeld aufhalten konnten. Auch der für die Füllung des Ballons abgegrenzte Raum war gegen Zahlung zu betreten; er war schließlich so überfüllt, daß die Arbeiter kaum hantieren konnten und die öffentliche Sicherheit gefährdet war. Obgleich die Riesenhülle noch nicht die Hälfte der nötigen Gasmenge aufgenommen hatte, warf der Ballon die Menschlein, die ihn mit Stricken bändigen wollten, schon beim Aufkommen des leichtesten Windes zum großen Gaudium der Menge hin und her. Die Ungeduldigen aber murrten laut, denn die Turmuhren meldeten bereits die fünfte Stunde.

Das war das Signal für die Menge, die weiter rückwärts auf dem Platze saß oder lag. Man pfiff und verlangte mit wildem Geschrei, daß die Fahrt nun endlich vor sich gehe. Madame Blanchard, die ihre Artistenehre gefährdet sah und wohl gar ein Attentat auf ihren Ballon befürchten mochte, schnitt plötzlich die Gondel ab, um den Ballast zu vermindern, knüpfte das herabhängende Seil zu einer Schaukelschlinge, zwängte ihre gut gepolsterten Beine hindurch und kommandierte »Los!« Die Menge traute ihren Augen nicht, als der Ballon sich federleicht erhob und höher und höher stieg, bis er ihren Blicken entschwand, um – wie ein Kurier meldete – »zehn Stunden später tief im Gebirge niederzugehen-. Madame Blanchard kehrte nach zwei Tagen krank und mit erfrorenen Händen in einem Fuhrwerk nach Frankfurt zurück; nun war sie erst recht das begeisterte Tagesgespräch der Jungen und Alten.

*

Der Taufakt im Theater war umso ruhiger verlaufen. Da der Direktor den Anfang der Vorstellung von sechs auf sieben Uhr verlegt hatte, eine Polizeiordnung aber für neun Uhr abends die Schließung aller Theater und Vergnügungslokale verlangte, mußten sämtliche Arien der Oper im letzten Augenblick gestrichen werden. Die Stimmung wurde noch mehr gedrückt, als die Hälfte der Plätze sich nicht füllen wollte; von denen, die im Theater saßen, konnten wohl nur wenige ermessen, daß auch die Uraufführung der »Silvana« einen Höhenflug bedeutete; nur die Eingeweihten erkannten die feine Hand des heranreifenden Meisters trotz der Vergewaltigung der Hauptpartien, und wenn Fräulein Brandt in der stummen Titelrolle des Waldmädchens, die Weber aus einem früheren Werk herübergenommen hatte, auch keine Gelegenheit fand, ihre junge Sopranstimme strahlen zu lassen, so entzückte sie doch alle Anwesenden durch die Beherrschung ihrer ausdrucksvollen Gebärdensprache und die natürliche Anmut ihres ganzen Spiels. Darum verlangte das Publikum solange den Komponisten und die Titelheldin zu sehen, bis beide Hand in Hand im Rampenlicht erschienen.

Die Freunde waren mit dem Erfolg des Theaterabends im ganzen zufrieden, weil sie ihn nur als kleinen Markstein auf Webers Weg zu den Höhen betrachteten. Keiner hätte ihm einen lauten Sieg gewünscht; was ihm als Künstler not tat, war ihm zuteil geworden: er hatte seine Kraft zum ersten Male an einer größeren Aufgabe erprobt und gefühlt, was ihm gelungen war – und wo es ihm noch fehlte. Das war ein Gewinn, der den geringen Kassenrapport und das magere Honorar, das der Direktor ihm durch den Theaterdiener übermitteln ließ, wohl aufwog. Vor allem hatte Weber auf dem Parnaß gestanden und die gütige Hand der Frau, die bestimmt sein sollte, seine Freuden zu mehren und seine Leiden zu lindern, beglückt in seiner Hand gehalten.

Der schöne Traum verwehte, als der Hoteldiener am andern Morgen bei Weber klingelte und ihm ein versiegeltes Paket überreichte. Weber öffnete es in banger Ahnung und fluchte, als er sah, daß die Sendung seine sechs von André in Offenbach bestellten Sonaten enthielt. Er las den beigefügten Brief; die Begründung spottete jedem Glauben an den Sinn der Kunst. Ein Reigen lächerlicher Redensarten tanzte an ihm vorüber; seine Musik sei zu gut und zu schade für die Zeitgenossen; die Menschen wollten leichter unterhalten sein, im Stile Demars etwa, des Pfuschers, fügte er hinzu; – er solle an die Komödienhäuser denken, die mit den seichten Lustspielen Kotzebues die besten Geschäfte machten, von Goethe und Kleist aber nicht viel wissen wollten. Das alles hieß mit andern Worten: Schund bestellen. Er schlug mit der Faust in den Brief, als wollte er den Schreiber selber treffen. Dann warf er drei Zeilen aufs Papier, die sagten, daß er lieber hungern wolle …

Seine »Silvana« rückte er von nun an unter eine um so schärfere Linse. Er erkannte plötzlich, daß noch viel Fremdes, Uneigenes in seiner Oper war. Statt der französischen Romanze sollte von nun an das deutsche Lied eine immer größere Rolle in seinem Schaffen spielen, das Herz der Deutschen sollte tiefer und reiner in seiner Tonkunst schwingen, und wahr und frei vor allem, – wie der Wald. Jetzt empfand er stärker noch als sonst, wie bitter es war, nicht so schreiben zu können, wie das Herz es wollte, ohne Rücksicht auf irgend ein Publikum. Dieses Abhängigkeitsgefühl peinigte ihn am Tage und nahm ihm nachts den Schlaf. Wenn seine Arbeitslust sich vorübergehend hob, war es meist der Erinnerung an jene Szene zuzuschreiben, da Caroline Brandt-Silvana seine Hand genommen hatte, um ihn auf die Bühne zu ziehen. In solchen Augenblicken wünschte er, die kleine Hand fester gehalten und nicht mehr losgelassen zu haben. Aber wie sollte er das ermöglichen, so lange seine Schulden immer noch größer als seine Einkünfte waren. Allerdings rückte die Mannheimer Kapellmeisterfrage von neuem in ein für Weber günstiges Stadium, dem der Heimatlose um so mehr Aufmerksamkeit schenkte, seitdem der Plan, in Frankfurt einen eigenen Klavierabend mit großem Orchester zu geben, sich zerschlagen hatte und Weber fest entschlossen war, die Goethestadt zu verlassen. Das Gerücht, der allzu bequeme Herr Ritter sei bei Hofe in Ungnade gefallen, gab seiner Hoffnung neue Unterlagen. Ein idealer Freundeskreis hätte ihn in der neuen badischen Heimat noch fester Wurzeln schlagen lassen.

Der eigentliche Schutzgeist des Mannheimer Musiklebens war damals die Prinzessin Stephanie von Baden, die sich für Weber gleich bei seinem ersten Auftreten als Gastdirigent erwärmt und dem Künstler nach seinem virtuos vorgetragenen Klavierkonzert opus 18 so impulsiv die Hand gedrückt hatte, daß die Oberhofmeisterin Gräfin Walch ein um so kälteres Marmorgesicht zeigte, um Ihre Durchlaucht lautlos in die Grenzen der gefährdeten Würde zurückzubringen. Vielleicht war die Hofmeisterin die einzige, die nachher wußte, warum die Verhandlungen, die zwischen Weber und dem Bevollmächtigten der badischen Prinzessin gleich darauf begonnen hatten, zu keiner Einigung führen wollten. Jedenfalls erhielt Weber bald darauf den Bescheid, daß leider keine Aussicht bestehe, ihm eine Kapellmeisterstelle am Nationaltheater in Mannheim zu übertragen und daß auch eine private Anstellung als Klaviermeister der Prinzessin nach Auskünften des Kassierers »nicht tunlich« erscheine …

Sollte er sich noch länger mit fadenscheinigen Hoffnungen begnügen? Er mußte sein Glück draußen in der Welt suchen, so sehr ihn der Abschied von seinen Freunden in Baden auch schmerzen würde. Nur Vogler in Darmstadt mußte er noch einmal die Hand drücken und dann vor allem ein paar Lage in Amorbach bleiben, das wie ein Märchen in seiner Erinnerung lebte. Dort sollte die Sehnsucht nach dem höchsten Glück des schöpferischen Menschen seine Schwingen heben. Abt Vogler kannte sein Weberlein; er fürchtete, daß sein allzu leicht entzündliches Herz im Irrgarten der Liebe noch manche harte Prüfung werde bestehen müssen. Auch die Liebe hat ihre Reifezeit; nur fällt sie nicht mit dem Alter zusammen, das die Menschen weise macht; sie ist und bleibt das Unerforschliche, das uns zu Siegern des Lebens erhebt oder verdirbt. Als Lehrer und Schüler sich vor Voglers Hause trennten, drängte es Carl Maria, dem älteren Freunde kurz zu sagen, daß er das Bild eines himmlischen Wesens in sich trage; es sei das Bild seiner Silvana Caroline Brandt. »Warum«, rief er, indem er dem Freund beide Hände reichte, »warum muß ich erst jetzt die wahre Liebe erfahren, da die Stürme der Not und Sorge mich fast zerbrochen haben? Die stolzeste Fregatte wird zum Wrack, wenn der Sturm sie überwältigt hat.« Vogler sagte nur: »Du stehst ja erst am Anfang, lieber Freund; rette Deinen Glauben, wenn die Stürme toben!«

Da es ohne kleine Umwege bei Weber nie recht gehen wollte, fuhr er über Aschaffenburg, um wenigstens »auf ein Köppchen Kaffee« beim Grafen Benzel-Sternau hereinzuschauen, dessen Empfehlung er es wohl zu verdanken hatte, daß er gleich das erste Mal vom Fürsten zu Leiningen so herzlich empfangen worden war. Der Minister war aber auf Reisen; so kam es, daß Weber sich dem Ziel seiner Fahrt eine Stunde früher näherte.

Hinter Weilbach sprang er aus dem Wagen und gab dem Kutscher die nötigen Anweisungen für sein Gepäck. Er selber wollte den kurzen Weg am Berg entlang zu Fuß zurücklegen. Der Herbst ließ seine Farben aus dem Grün der Bergkuppen flammen; die Birken wetteiferten mit den Ahornkronen und Buchen um den Schönheitspreis. Die Amseln am Weg hüpften kaum zur Seite, und die Finken wußten nichts von der Resignation, die aus dem fallenden Laube klang.

Zur Linken lag der Gotthardberg mit den Mauern und Türmen der Ruine; ihre Linien schwangen im sanften Wellenspiel der Abenddämmerung gleich den Fittichen eines großen Vogels; in gerader Richtung vor ihm ragten die vier mächtig unterbauten Türme der Abtei empor. Die Klänge der Glocken wogten weithin über Wiese und Wald, wehten in die lieblichen Täler und riefen die Menschen zum Gebet.

Weber dachte: es ist wohl ein Kompaß in uns, der unserm Lebensweg die Richtung gibt, ein Unsichtbarer, der unsere Schritte nach seiner Weisheit lenkt. Es zog ihn in die Kirche; ihm war, als fasse jemand heimlich seine Hand. Nachher brauchte er lange, um aus der Dämmerstille des hohen Kirchenschiffs wieder in den Tag zurückzufinden.

Im Gasthaus erfuhr er, daß eine alte Magd, die im Haus seiner Eltern sechzehn Jahre lang gedient hatte, in Wörlbach bei Uffenheim in Mittelfranken in tiefer Armut lebe und noch 104 Gulden rückständigen Lohn für die Pflege von Carl Marias verstorbenem Vater zu bekommen habe, weil ein Gläubiger die letzte Barschaft des alten Herrn in Abwesenheit seines Sohnes mit Beschlag belegt hatte. Weber lieh sich die Summe bei einem Bekannten. Dann schrieb er dem Pfarrer in Wörlbach einen Brief, legte das Geld bei und bat den Geistlichen, es der treuen Christiane Adamin zu übermitteln und ihr mitzuteilen, daß Weber ihr außerdem »eine jährliche Pension von sechzig Gulden ausgesetzt habe, die sie erhalten solle, so lange er selber kein armer Hund sei!« …

*

In der Wirtsstube ging es laut her; an den Biertischen wurde Weltanschauung verkitscht. Weber liebte es nicht, solche Dinge als Dutzendware verschleudert zu sehen, am wenigsten von Leuten, die doch nur die Meinung anderer zu Markte trugen. Was weiß der Packesel von der Last, die er trägt! Als Weber in die Gaststube trat, schallte ihm der holde Klang der schwäbischen Mundart entgegen. Neben dem alten Zollinspektor hatten sich zwei Untertanen des Königs Friedrich niedergelassen, jenes umfangreichsten aller gekrönten Häupter, von dem Napoleon, sein Schutzpatron, gesagt haben sollte, Gott habe ihn so dick gemacht, um einmal festzustellen, wie weit eine menschliche Haut sich ausdehnen lasse.

Carl Maria verspürte keine große Lust, den Abend in angeheiterter Gesellschaft zu beschließen. Er nahm an einem Fenstertisch Platz und freute sich über die Geschichten, die die beiden Württemberger ihrem etwas schwerhörigen Tischnachbar über die Verschwendungssucht am Stuttgarter Hofe erzählten. Der Zollinspektor kam als leidenschaftlicher Nimrod bald auf die königlichen Treibjagden zu sprechen, und die Schwaben blieben ihm keine Antwort schuldig; sie stießen kräftig in das gleiche Horn und überboten sich höchstens in den Zahlen, um sich hinterher auf der mittleren Linie zu treffen. Daran war nicht zu rütteln: wenn ihr König eine Treibjagd befahl, waren ganz sicher an die zwölftausend Kerls auf den Beinen und mindestens tausend Pferde dazu. Kein Bauer wagte laut dagegen zu murren, obgleich er fühlte, daß er nur noch als Treiber etwas galt. Just in diesen Tagen war zur Oktoberjagd geblasen worden. Drei Tage hatte die Massenschlächterei gedauert. Über neunhundert Hirsche, zweitausend Rehe und fünfzehntausend Hasen waren auf der Strecke geblieben. Auch ein halbes Tausend Wildschweine hatte dran glauben müssen.

»Da gab es denn wohl auch unter den Treibern Tote und Verletzte?«

»Natürlich passiert's, daß statt der Sau mal ein Bauer die Kugel erwischt; es bleiben halt immer noch Treiber genug.«

Carl Maria von Weber hätte die Schilderungen nach den verschiedensten Seiten hin ergänzen können. Er begnügte sich aber damit, stille Vergleiche zu ziehen. Noch vor wenigen Wochen hatte er selber im Dienst eines Fürsten gestanden, dessen schrankenloses Herrenbewußtsein nichts schonte, was die verlangenden Sinne begehrten, der im Bann der rohesten Begierden selbst Treibjagd auf flügge Mädchen machen ließ, wenn sein Heißhunger nach Abwechslung verlangte. Wie anders gab sich Fürstenart am Amorbacher Hof; die Leininger achteten die Gefühle ihrer Untertanen in den Fragen der Liebe und Religion, ohne darin ein Verdienst zu sehen. So bauten sie Brücken zu den Menschen und Gott einen hohen Altar.

Die Gaststube im »Prinzen Carl« hatte sich gefüllt; manche Bürger waren mit ihren Frauen und Töchtern gekommen. Es hatte sich herumgesprochen, daß der geniale Herr von Weber auch dieses Mal wieder vom Fürsten Emich empfangen worden sei. Man trank einen Schoppen nach dem andern, bis Webers heiteres Temperament nach der Laute langte und in ein paar süßen Liebesliedern durch den Raum flutete. Die jungen Schönen waren schnell betört, so daß ihre Kavaliere nach Hause drängten. Wo heiratsfähige Töchter waren, lud man den begabten Musiker, als man sich trennte, zu Gast; und da Weber zu jung war, um nein sagen zu können, hatte es bald den Anschein, als habe der Norddeutsche die Wiener Schule mit sehr gutem Erfolg absolviert. Wie weggeblasen schienen seine guten Vorsätze und die ernsten Worte des erfahrenen Freundes. Wenn sein Hang zur Freiheit sich auch stärker erwies als alle süßen Lockungen der Sirenen, so erinnerte sein Leben doch ein wenig an ein Schmetterlingsdasein, das viel Zeit in müßigem Getändel verbrachte. Kleine galante Abenteuer lösten einander ab und wechselten mit erregten Auseinandersetzungen, wenn der junge Odysseus plötzlich zwischen zwei neu entfachte Feuer geriet. Wie wenig alle diese Dinge Weber innerlich berührten, ging aus seinem Tagebuch hervor. Nach einem besonders vergnügten Abend, an dem wohl manche glaubten, der junge Herr Baron habe sich für immer einer reichen Bürgerstochter Amorbachs verpflichtet, holte er sein Tagebuch hervor und schrieb: »Bin ich ein Fangball des trügerischen Glücks? – Ihr lacht zu früh; ich bleibe mir treu und meiner heiligen deutschen Kunst«.

Außer dem Hofmaler Eckardt aus Waldürn war auch eine junge Dichterin, Frau Helmina von Chezy, in Amorbach eingetroffen. Sie war mit der Postkutsche über Darmstadt und Aschaffenburg gekommen, schwärmte von der Schönheit des Mains zwischen Klingenberg und der Mildenburg bei Miltenberg und vergaß weder des edlen Weins, noch der fleißigen und gesitteten Bauern des Landes in rühmlichen Worten Erwähnung zu tun. Sie gab Weber den Rat, den Odenwald nicht zu verlassen, bevor er die Hainsäulen besucht habe, die wie die gigantischen Trümmer eines rätselhaften Bauwerks jenseits der Mildenburg im Walde lägen; es empörte sie geradezu, daß man nicht wenigstens die größte Säule als stolzen Schmuck aus der ältesten Geschichte der Heimat aufgerichtet habe.

Der Maler war anfangs wenig geneigt, Helmina ernst zu nehmen. Er tat ihr unrecht, wenn er sie im stillen als Blaustrumpf belächelte; weit eher hätte er sich über ihren Aberglauben lustig machen können. Ein Schwein, das ihr in der Nähe der Wohnung über den Weg lief, veranlaßte sie ganz gewiß, gleich wieder kehrt zu machen und zu Hause zu bleiben; beim Frühstück suchte sie im Kaffeesatz alle möglichen Rätsel zu lösen; keine Kartenlegerin zog bei ihr vergeblich die Klingel.

»Vergessen Sie nur nicht, die Früchte Ihrer Reise in einem schönen Buch zu sammeln«, riet Eckardt ihr mit einem Blick zu Weber hinüber, der den leisen ironischen Unterton der Worte wohl vernahm.

»So, die junge Dame schreibt schon Bücher?« klang es zurück.

»Ich meine, Bücher sollten nur von reifen Menschen geschrieben werden.«

»Oder von artigen Händen, die der Himmel begnadet hat.«

Der Maler nickte: »Das haben Sie sehr schön und lieb gesagt, Meister; wir wollen nicht daran zweifeln, daß Helmina von Chezy zu den begnadeten Frauen gehört.«

Jetzt lächelte die Dame: »Ich war schon daran, Sie für einen eingefleischten Junggesellen zu halten«.

»Was heißt eingefleischt? Meinen Sie eingepökelt oder gar eingeweckt?«

Weber amüsierte sich köstlich: »Ihre Phantasie eilt der Zeit voraus, Weckapparate wird man erst in hundert Jahren erfinden«.

»Gehen Sie nicht unter die Propheten, lieber Freund; prophezeien ist Sache der Dichter … prophezeien und lügen, wenn Sie verzeihen, Gnädigste!«

»Garnichts verzeihe ich!« rief Helmina; »ein wirklicher Dichter lügt nie, weil ein Gott ihm eingibt, was er zu sagen hat«.

»Und die Märchenerzähler?«

»Es ist unerhört, daß Sie so fragen! Ist es etwa der Sinn des Märchens, zu täuschen? Will es nicht die guten Geister wecken zum Kampf gegen Gift und Dunkelheit?«

»Brav pariert!« strahlte der Maler jetzt zurück; »die Lüge ist den Unfertigen vorbehalten, den Konjunkturpoeten, die erst nach der Wetterfahne schauen. Der echte Dichter weiß vom Wetter nichts, das draußen tobt, den führt der Kompaß in der eignen Brust; und der ist echt, verlaßt Euch drauf!«

Weber war nachdenklich geworden: »Darum wird der wahre Dichter immer ein Kämpfer und Streiter sein, – und Vorspann für die Müden und Verarmten!«

»Wie arm waren die Menschen doch, als es noch keine Bücher gab«, meinte Helmina nach einer Pause.

Da dachte der Maler aber anders: »Vielleicht waren sie noch so reich, daß sie keine Bücher nötig hatten«.

»Das wäre ein vernichtendes Urteil über unsere Zeit, und wer möchte behaupten, daß dieses Urteil falsch sei«, fügte Weber hinzu. »Vielleicht kommt einmal die Zeit, in der die Menschen der Bücher nicht mehr bedürfen«.

Der Maler wollte den Schlußstrich ziehen: »Wenn die Zeit nur die Spreu vom Weizen scheidet, vollbringt sie schon ein großes Werk!«

Frau von Chezy hatte noch etwas auf dem Herzen: »Wenn ich noch einmal von mir sprechen darf: was Armut ist, habe ich am bittersten gefühlt, als ich einmal das Grab meiner Mutter auf einem Friedhof in Berlin besuchte. Der Kirchhof glich einem Walde. Ich tastete mit müden Schritten hierhin und dorthin und schaute die Bäume an, als könnten sie mir sagen, wo die Gute gebettet sei. Aber die Bäume blieben stumm. Da fielen mir die Worte ein, die im Testament der Mutter standen; sie hatte den Wunsch geäußert, auf ihrer Gruft ein schwarzes Kreuz zu haben, in dessen Mitte ein kleines weißes Kreuz eingelegt sei mit der Inschrift: »Es drückt nicht mehr!« Daß ich ihr diese Bitte nicht erfüllen konnte, das drückt mich heute noch!«

Weber strich ihre Hand; er dachte: sie ist doch eine Dichterin; ihr Herz ist voll heiliger Gefühle.

Dann sagte er, innerlich bewegt: »Daß Sie so von Ihrer Mutter sprechen, ehrt Sie mehr als alles, was Sie dichten; Sie werden mich nicht mißverstehen, da ich ja noch nichts von Ihnen gelesen habe, – was Sie einem fremden Musiker ganz gewiß verzeihen werden. Auch ich habe das Glück einer herrlichen Mutter genossen und weiß, daß keine Wissenschaft, die auf Erden gelehrt werden kann, noch irgend eine Kunst uns das erschließt, was ein Wort, ein Blick der Mutter uns gibt!«

Das Gespräch war ernster geworden, als es sonst wohl bei gutem Wein der Fall zu sein pflegt. Aber in solchen Gegensätzen bewegt sich das Leben; wir selber können uns nicht nach Dur- oder Moll-Tonart stimmen, wenn das Schicksal auf uns, in uns und mit uns spielt …

Die beiden Männer begleiteten Frau von Chezy bis vor ihre Wohnung, wo sie sich verabschieden wollten. Helmina war erst beim Schultheiß von Amorbach untergebracht gewesen, hatte dann aber im »Deutschen Haus« zwei Zimmer bezogen, um mit ihren beiden Jungen nicht zu sehr beengt zu sein. Sie bestand darauf, daß die beiden Herren wenigstens einen Blick in ihr gemütliches Künstlerheim werfen müßten, was unter den verlockenden Hymnen auf einen guten alten Kognak nach kurzem Widerstreben gebilligt wurde.

Das Künstlerheim Helminas war wirklich mehr als »gemütlich«; selbst der abgebrühte Maler machte Augen, als er das malerische Innenleben des Wohnzimmers sah. Das Sofa, das der Wirt der Mieterin auf besonderen Wunsch in das Zimmer gestellt hatte, war mit Kleidungsstücken aller Art besät, die Wäsche mit genialem Schwung unter das Sofa geschleudert, wo sie schon einige Zeit auf die Waschfrau zu warten schien. Die Bücher lagen ungeordnet auf den Fensterbrettern, wo sie den Platz mit allerlei Toiletteartikeln teilen mußten. Kleiderschränke gab es in der Wohnung nicht; was an Kleidungsstücken nicht an langen Nägeln in der Türfüllung hing, lag auf irgend einem Stuhl.

Als Eckardt und Weber eintraten, machte Helmina einen kleinen Sessel und einen Lehnstuhl frei und schob die Möbel an den Tisch, auf dem einige benutzte Tassen und Gläser standen. Abends beköstigte Frau von Ehezh sich selbst, sofern keine Einladung vorlag, die sie dieser Sorge enthob. Wenn mehr als drei Besucher gleichzeitig erschienen, fehlte es trotz des Schlafsofas an Sitzgelegenheit. Helmina nahm dann in der Mitte des Zimmers auf einem Kissen Platz und las aus ihren Gedichten vor; reichten die Gläser für den Wein nicht aus, wurden die Teetassen hervorgeholt, auf denen nicht selten ein stolzes Wappen oder eine Krone mit fünf Zacken leuchtete. Auch die schweren silbernen Löffel ließen, obwohl sie oft ins Leihhaus mußten, auf fürstliche Gönner und Gönnerinnen schließen. Sie berief sich, wenn es nötig schien, auf Jean Paul, der nicht einmal eine Krawatte trüge und sich meist mit offenem Hemdkragen zeige, was der Dichter des »Schulmeisterlein Wuz« mit seinem kurzen, dicken Hals begründen konnte, der im übrigen gut zu seinem frischen, runden Gesicht paßte und dem Leuchten seiner lebendigen Augen in keiner Weise Abbruch tat, so daß selbst junge Damen sich gern in ihrem Glanze spiegelten. Wenn Helminas Vergleich auch hinkte, so konnte das ihre gute Laune und die Sicherheit ihres Auftretens in keiner Weise beirren.

»Dagegen kommt selbst ein eingefleischter Junggeselle nicht an«, dachte der Maler; in Webers Erinnerung lebte gleichzeitig die reizende Behaglichkeit auf, die ihn in der Frankfurter Wohnung der Caroline Brandt umfangen hatte; ihr Ordnungssinn wirkte vor diesem Kontrast wie ein doppelt lieber Gruß und weckte eine heftige Sehnsucht nach der Frau, die als Silvana noch immer Triumphe feierte.

Für die späteren Abendstunden erwartete Helmina den Besuch der beiden Töchter des Oberforstmeisters von Tubeuf, deren jüngste, Polhxena von Tubeuf, der Fürstin zu Leiningen durch engere Freundschaft verbunden war. Auch die Gesangslehrerin Jeannette Koch hatte sich mit der kleinen Nannette Eschborn, ihrer begabtesten Schülerin, angesagt, um mit Frau von Chezy über deren Singspiel »Emma und Eginhard« zu sprechen, dessen Aufführung nach einem Befehl des Fürsten bald in Amorbach erfolgen sollte.

Die eigentliche Residenz des Fürsten blieb nach wie vor Bad Dürkheim in der Pfalz, wo die Kunst nicht weniger gepflegt wurde als in Amorbach. An dem Abend, da Ifflands Drama »Verbrechen aus Ehrsucht« in Mannheim aufgeführt wurde, fuhr der Leiningische Hof mit neun Kutschen am Nationaltheater vor, um dem Verfasser zu huldigen, dessen Schauspielkunst auf den Erbprinzen Emich Carl von jeher den tiefsten Eindruck gemacht hatte. Nach der Aufführung nahm er Iffland in seinen Sechsspänner; die Fackelträger und Husaren ritten hinterdrein.

Der Erbprinz versuchte sich auch mit Erfolg an kleinen Liebhaberstücken, in denen er meist selbst als Spielleiter und Darsteller mitwirkte. Auch ein Neffe des alten Fürsten, der junge Graf Wartenberg, trat gern als jugendlicher Held und Liebhaber auf, wenn der Erbprinz nicht selbst in einer Hauptrolle auf der Bühne erschien. Die Hofkavaliere und Hofdamen hatten sich unter die kleineren Aufgaben zu teilen; durch ihr Beispiel kam es zur Gründung der Theatralischen Gesellschaft, der die fürstliche Familie den schönsten Saal des Schlosses zur Verfügung stellte. Man wollte eine »Kunst für alle« pflegen und sah die Gemeinschaft des Adels, der Bürger und Bauern einträchtig und mit Spannung vor dem Vorhang sitzen, bis das Zeichen zum Beginn ertönte; denn es war des Fürsten Wille, daß keiner ausgeschlossen werden dürfe, den es nach dem Segen verlange, der von der Kunst ausginge … Später wurde die große Ökonomiescheuer, die an das Wirtschaftsgebäude des früheren Schloßbaus grenzte, zum Theater umgebaut. Im Zuschauerraum war Platz für etwa zweihundertundfünfzig Personen: der fürstliche Hof wohnte, soweit er nicht beteiligt war, den Vorstellungen in der Hofloge bei, die sich der Bühne gegenüber befand; der Dienerschaft waren die Bänke unter dem Balkon zugeteilt.

Schon gleich nach der Übersiedlung an den Amorbacher Hof war das Liebhabertheater eingerichtet und seine künstlerische Leitung dem jungen Rechtspraktikanten Steinwarz übertragen worden, der sich schnell zu einem ebenso tüchtigen Darsteller wie Intendanten entwickelte und die eigentliche Triebfeder des Unternehmens war. Die Vorstellung des Singspiels, das die Liebesgeschichte der Tochter Karls des Großen und des Kanzlers behandelt, von dem das Grafenhaus Erbach seinen Ursprung herleitet, sollte den Charakter eines Familienfestes tragen, an dem alle Verwandten des fürstlichen Hauses, die erreichbar waren, teilzunehmen hatten.

Der Wunsch des Fürsten war allen Geladenen ein Befehl, dem jeder gern gehorchte. So war denn am bestellten Tage ein wirklich festliches Aufgebot aus den besten Adelsfamilien zur Stelle. Der Fürst selber erschien in der Gestalt Karls des Großen auf der Bühne; der Erbprinz spielte den glücklichen Eginhard; seine Emma wurde durch die gewinnende Hofmarschallin von Fray, die Gisela durch Fräulein von Eschborn verkörpert; andere Angehörige des Hofes traten in Nebenrollen auf. Dabei zeigte sich wieder einmal, daß die Begeisterung oft größere Leistungen zuwege bringt, als der Kunstdrill der Theaterschulen. Das Spiel ergriff die Alten und die Jungen. Alles sprach von der reizenden Textdichterin und dem von Fräulein von Eschborn mit schlichter Innigkeit gesungenen Lied »Ach, wie ist's möglich dann, daß ich dich lassen kann«. Bald tönte sein Echo aus allen Fenstern des Städtchens.

Der Aufführung folgte ein Bankett. Die Damen und Herren überboten sich in Liebenswürdigkeiten gegen die Dichterin, die unter dem Eindruck der sie umgebenden Herzlichkeit bald vergaß, daß sie in ihrem schmucklosen Wiener Wollkleid nicht ganz in den festlichen Rahmen des Abends passen wollte. Der beherrschten gesellschaftlichen Form der Gastgeber gesellte sich ein feiner Herzenstakt, der sich allen Anwesenden mitzuteilen schien, die an der hufeisenförmigen Tafel Platz genommen hatten.

Die Tischordnung hatte der Dichterin den Grafen Franz von Erbach zur Rechten, den Grafen Albrecht von Erbach-Fürstenau zur Linken gesetzt, zwei Kavaliere, die sich durch edle Ritterlichkeit und feines Verständnis für die ungekünstelte Art des legendenhaften Singspiels besonders auszeichneten und die Befürchtung Helminas Lügen straften, daß die ihr erwiesene Huld weniger durch ihre schlichte Verskunst, als durch die Freude der Grafen über die ihren Ahnen durch Dichtermund widerfahrene Ehrung veranlaßt werde. Es bedrückte sie, daß ihre Mutter nicht mehr Zeuge ihres herrlichen Erfolges war; auch die Gestalt Chezys, von dem sie nun schon mehrere Jahre getrennt lebte, stieg für einen Augenblick aus der Versenkung empor und weckte längst begrabene Gefühle.

Der Fürst bemerkte als feiner Kenner des Frauenherzens die mühevoll beherrschte Erregung der jungen Frau, wenn er ihren Grund auch auf falscher Fährte suchte, indem er sie mit den kriegerischen Ereignissen in Beziehung brachte, die eben aus dem Norden Deutschlands gemeldet wurden. Die Nachrichten über neue Schlachten hatten die Gemüter schon seit einigen Tagen in wilde Verwirrung gesetzt; jede Post brachte Meldungen über den Tod von Vätern und Söhnen, von Gatten, Brüdern und andern nahen Verwandten … Wer schätzte die endlose Reihe der Hinterbliebenen, die durch den gleichen Schmerz betroffen wurden? – Fürst Carl Emich hatte durch einen reitenden Kurier erfahren, daß die europäischen Mächte ein heimliches Bündnis gegen Napoleon beschlossen hätten. Er nahm die Dichterin beiseite, um es ihr mitzuteilen. Als Frau von Chezy begeistert aufjubeln wollte, hob er wie abwehrend seine Hand und seine Züge nahmen den Ausdruck unermeßlicher Trauer an: »Der Eroberer muß fallen, sein Untergang ist nötig; Unheil bringen wird. Was er Großes gewollt, wird mit ihm zugrunde gehen, was er aber an Unheilbringendem gesät, wird unter den Händen derer, die nach ihm die Zügel halten werden, wuchernd in die Höhe schießen«. Die Bewegung schien den Fürsten zu überwältigen. Er wollte sich erheben, als habe er zuviel gesagt, aber er zögerte und fuhr fort: »Unsere politische Erziehung beginnt schlechte Folgen zu zeitigen, weil sie unser Urteil trübt. Die Zukunft wird ein einiges Europa brauchen, oder Asien wird den zerstückelten Westen zermalmen«.

Helmina war in ihrer patriotisch engeren Einstellung weder gewillt noch fähig, dem Fürsten auf seinem weitschauenden Gedankengang zu folgen. »Warum muß unser armes Deutschland soviel durchmachen?« seufzte sie. Der Fürst hatte seine Ruhe wieder gewonnen: »Auch diese Frage wird die Zukunft beantworten; alle Weltverbesserer werden sich vergeblich um das Schicksal unseres Landes bemühen, solange das Volk nicht einig ist. Das aber wird erst sein, wenn der Deutsche anfängt, auch im politischen Gegner den Menschen zu achten und zu ehren. Wir sollten nach achtzehnhundert Jahren auch nicht mehr so laut von dem Siege reden, den Arminius über die Römer errungen hat; es wäre an der Zeit, ein neues Heldentum heranwachsen zu sehen, das sich nicht mehr darin gefällt, Varus zu beschimpfen«.

Er schaute wie ein Seher in die Ferne. Plötzlich besann er sich, als habe er tauben Ohren gepredigt: »Was soll das alles? … Ich wollte nur sagen, daß uns über Dinge, die wir miterleben, kein letztes Wort zusteht. Darum ist auch alles Gerede über den Korsen verfrüht; sein Urteil mögen die sprechen, die nach uns kommen. Ein Bündnis zwischen ihm und uns, – das wäre die Lösung, die not tut. Frankreich und Deutschland zusammen könnten alles vollbringen und alles verhindern, was den Frieden Europas stören würde. Aber wir sind noch nicht so weit; es wird noch viel Blut fließen müssen, bevor es gelingt …«

Der Fürst reichte der Dame die Hand, um sich zurückzuziehen. Das Fest ging noch ein paar frohe Stunden weiter, die nichts von dem Ernst der politischen Lage wußten. Helmina fand sich schnell wieder in die helle Stimmung zurück, aus der sie durch die Nachrichten aus dem deutschen Norden so unsanft geschreckt worden war.

*

Die Novemberstürme hatten den Seegarten heftig gezaust, seitdem Carl Maria zum letzten Male unter den Wipfeln der alten Bäume gestanden hatte. Es war ihm mitgeteilt worden, daß Annas Mutter gestorben und das Mädchen bald darauf als Krankenschwester in ein Würzburger Hospiz eingetreten sei. So war die Erinnerung an einen schönen Traum von dunkler Wehmut umflort. Die Allerseelenstimmung der Natur griff ihm fester ans Herz als in früheren Jahren. Daß er seinen Vater in Mannheim begraben mußte, hatte ihn tief erschüttert; seine Mutter, der liebende Schutzengel seiner Jugend, war schon früher von ihm gegangen. Er dachte: ich habe die Hälfte des Lebens schon hinter mir; nun will ich die Zeit nutzen, die mir noch zugemessen ist. Wenn es eine Vergeltung gibt, so wird sie mir die Leiden anrechnen, die ich ohne meine Schuld gelitten habe; und wenn sie eines Tages einen Stein auf mein Herz legen, dann sollen sie in den Marmor graben: »Hier liegt einer, der es wahrhaft redlich und rein meinte mit Menschen und Kunst!«

Das war ja auch das ethische Ideal Wolframs von Eschenbach, der ihm über Jahrhunderte hinweg die Hand entgegenstreckte, seitdem Abt Vogler dem jüngeren Freund das Versprechen abgenommen hatte, beim nächsten Aufenthalt in Amorbach der nahen Burg Wildenberg einen Besuch abzustatten. Gleich am andern Morgen wollte er hinauf, und zwar allein; er wußte, daß ein lieber Mensch dennoch an seiner Seite schreiten würde …

Es hing noch ein dichter Schleier vor der Sonne, als Weber den Gasthof verließ und auf das Dörfchen Buch zuschritt. Als er zum ersten Male diese Straße gekommen war, waren ihm Fuhrwerke begegnet, die große Quadersteine geladen hatten. Die Bauern in der Runde betrachteten die nahe Ruine als herrenloses Gut und holten sich nach Belieben Steine, wenn sie bauen wollten. Da keiner sie zur Verantwortung zog, glaubten sie schließlich, von angestammten Rechten sprechen zu dürfen. Die Gleichgültigkeit der Menschen und ihr Mangel an geschichtlichen Erkenntnissen hatten dem einst so stolzen Bau mehr zugesetzt, als die Geschütze der aufständischen Bauern im Jahre 1525. Erst als Carl Emich den willkürlichen Räubereien Einhalt bot, hörte der Unfug auf.

Auf Carl Marias Weg lag Feierglanz. Ihm war, als höre er die Bäume reden. Der Wind hielt Zwiesprache mit den entlaubten Zweigen der stämmigen Riesen, die schier aussahen, als hätten sie schon hier gestanden, als der liederfrohe Wolfram den Otterbach entlang geritten kam und zum ersten Male klopfenden Herzens die Burg der Herren von Durne erblickte. Auch Webers Herz schlug froher und stolzer, als der Quaderbau der alten Veste mit dem wuchtigen Bergfried durch die gelichteten Wipfel sichtbar wurde. Er dachte: Dort ragt ein Denkmal der deutschen Seele! Auch meine schwachen Kräfte wollen ihr dienen; der Himmel, der sich so licht über mir wölbt, wird mir dabei helfen. Gott gab meinem Herzen seine Schöpferwonnen, daß sie seine Herrlichkeit bezeugen; … ich bin ein Weber am Webstuhl der Kunst, und das Hohelied des Waldes soll mein Webermeisterstück in Tönen werden … So trug der Begnadete die Idee seiner neuen Oper wie ein heiliges Gefäß mit sich herum, um seine tiefsten Eingebungen in diesem Gral zu sammeln; er fühlte fiebernd, wie es in ihm wuchs und blühte.

Langsam kam er näher an die Burg. Er merkte gar nicht, daß er oft stehen bleiben mußte, weil heftige Atembeschwerden ihn plötzlich dreißig Jahre älter machten. Jetzt starrten halbzerfallene Mauern den sinnenden Wanderer an, als wollten sie fragen: Wer bist du, Mensch, der sich vermißt, von Ruhm und Ewigkeit zu träumen? In den Zweigen der hohen Bäume raunte es: Schau uns an, damit du den ewigen Kreislauf begreifst; sieh, wie das Wasser der Quellen, aus steinernen Adern kommend, von der Wurzel in die höchsten Wipfel steigt und in den Blättern wieder niederwirbelt, wenn der Sturmwind es will und der Herbst es befiehlt. Hier hast du das Bild der treibenden Welle, die nie stille stand, nie stille stehen wird; hier spürst du den Atem der Ewigkeit. Selbst die Wälder, die vor Jahrbillionen untergehen mußten, damit der Raum dem Schöpferdrang genüge, leben weiter fort im Schoß der Erde, wo sie die stillen Feuer nähren, die unsere tiefsten Brunnen heizen müssen.

Er seufzte nur: »Warum ist unsre Bleibe hier so kurz?« … Der Wind blies seine eitle Frage fort …

Stundenlang kletterte er zwischen den Mauern umher; noch immer wirkte der gewaltige Bau als Ausdruck des stolzen Kraftgefühls, das die selbstbewußten Gefolgsleute der Hohenstaufen im zwölften Jahrhundert beseelte. Das war nicht nur ein technisches Meisterstück, sondern das kühne Sinnbild einer großen Zeit. Die Phantasie Webers ergänzte die fehlenden Teile des einstigen Palas, die Decke mit Holzschnitzereien in bunten Farben geschmückt, die Wände mit kostbaren Geweben orientalischer Herkunft behangen, die zahllosen Leuchter, die alle diese Schätze mit mildem Kerzenlicht bestrahlten … Sein Ohr vernahm den Widerhall der Worte, in denen Wolfram die Pracht der Burg besungen hatte:

»Hundert Kronenleuchter hingen
Im hohen Saal, zu dem sie gingen:
Armleuchter zierten rings die Wand,
Dran tausend Kerzen ihr Licht ergossen
Hernieder auf die Hausgenossen.
Hundert Ruhebetten fand
Er von den Dienern aufgeschlagen,
Drauf hundert Polsterdecken lagen.
Vor jeder Ruhstatt, auf der bereitet
Für vier ein Sitz, war ausgebreitet
Ein runder Teppich, weich wie Fell.
Wohl könnt entfalten solche Pracht
Der Sohn des Königs Frimutel.
Auch hatte man darauf gedacht
(Man ließ sich keine Kosten dauern),
Aus Marmorsteinen aufzumauern
Drei Feuerherde im Geviert.
Drauf ward zu heller Glut geschürt
Ein kostbar Holz von Aloe.
Sah eines Menschen Auge je
Solch Feuer wohl zu Wildenberg?
So kostbar war dort jedes Werk.«

Eine Leiter ermöglichte dem Besucher, den Wehrgang zu besteigen: dann lockte ihn der Bergfried, der mit seiner Spitze über die höchsten Bäume hinwegschaute und dessen Quadern seit mehr als einem halben Jahrtausend jedem Wetter trotzten. An der Ringmauer versuchten ein paar Wurzeln ihre sprengende Kraft … Zwei, drei Mal kehrte der Wanderer zu den kunstvollen Arbeiten der Steinmetzen an der Nord- und Ostwand des Palas zurück, um schließlich lange vor der vielumstrittenen Inschrift »Owe muter« zu verweilen, die der Stahl in einen schweren Stein neben dem Palasfenster eingegraben hat und die der Kundige gern durch die fragende Verszeile Wolframs ergänzt: »Ave muoter, waz is Got?«

Als Carl Maria wieder talwärts schritt, sang es ihn an aus jedem kahlen Strauch. Die Welt war ihm nur noch ein Bild aus Tönen … Am liebsten wäre er für immer hier geblieben; im letzten einsamen Häuschen hätte er wohnen mögen; die Sträucher und Bäume hätten sein Schloß bis zum obersten Ziegel überwuchert und vor den Blicken der Neugierigen verborgen, bis er mit seinem vollendeten Werk vor seine Königin treten würde, um es in ihre Hände zu legen.

Es dämmerte schon, als er sich dem Städtchen näherte. Vom Wolkmann her wehte ein kalter Wind, aber es war Musik darin; selbst die blassen Strahlen der Sterne, die jetzt über dem Odenwald erschienen, wurden zu silbernen Saiten eines majestätischen Instruments, in das unsichtbare Geisterhände griffen …

*

Nach den idyllischen Tagen in Amorbach begann für Weber eine längere Rundreise, die ihn kreuz und quer durch Deutschland führte und ihn bald in Leipzig und Berlin, bald in Dresden und Prag auftauchen ließ. Weber hatte den besten Kriegsgedichten Theodor Körners flammende Melodien geschenkt; auf dem Wege nach Berlin begegnete ihm eine Abteilung Husaren, die aus fröhlichen Kehlen sein Schwertlied sangen; aus den Fenstern einer Schule klang der zündende Rhythmus von Lützows wilder verwegener Jagd. Weber war über Nacht der meistgesungene Komponist der Deutschen geworden; aber man überschätzte die Nährkraft des Lorbeers; keiner dachte daran, nach der wirtschaftlichen Lage des Dichters zu fragen … Am so glücklicher waren seine Freunde, als sie eines Tages erfuhren, daß der stürmische Erfolg eines großen Konzerts ihm einen vorteilhaften Vertrag an das neugegründete deutsche Nationaltheater in Prag gesichert habe.

Auf der Fahrt nach der unvergleichlichen Mozartstadt machte Weber in Frankfurt halt, um seine Caroline zu begrüßen. Sie hätte ihn lieber in einer deutschen Residenzstadt gewußt, da sie um seine spätere Laufbahn besorgt war und fürchtete, er werde sich alle Sympathien bei Hofe verscherzen. Weber aber wollte in seiner dionysischen Verzücktheit nichts von Fürsten und andern irdischen Machthabern wissen; für ihn gab es keinen Herzog und keinen König mehr, sondern nur noch eine Königin, seine Caroline. Mit diesem Bekenntnis küßte er die letzte Sorgenfalte von der Stirn der Geliebten; den Mund verschloß er ihr mit stummen Schwüren. Dann perlte der Sekt, bis die Nacht verging … Von einer vernünftigen Unterhaltung war in solchen Stunden keine Rede. Nur einmal mußte Weber der Sängerin die Verwandtschaft mit seinem Vetter Wolfgang Amadeus und seiner Base Constanze Mozart erklären, auf deren Ruhm Caroline ein wenig eifersüchtig war, obgleich die beiden Sängerinnen sich in ihrem Wirkungskreis kaum begegneten.

Als Weber wieder in der handwerklichen Arbeit des Kapellmeisterberufs mit seinen endlosen Proben und Konferenzen untertauchte, empfand er tiefes Mitleid mit den vielen Tausenden, die nur die Prosa des Lebens kennen lernen, denen die geleistete Arbeit nur der Befriedigung der notdürftigsten Lebensbedingungen dient, ohne dem Schaffenden einen Genuß oder gar eine moralische Genugtuung zu gönnen. Auch der materielle Gewinn seiner aufreibenden Mühen zerrann, weil er noch immer Schulden decken mußte, deren Tilgung er aus Liebe zu seinen Angehörigen als Ehrensache betrachtete. Ein Leben, das sich in fortgesetzten Genüssen erschöpft hätte, wäre ihm ebenso wenig bekommen; sein Wunsch war, ein Werk schaffen zu können, das auf die kommenden Geschlechter erhebend und belebend wirken würde. Es ging ihm in Wahrheit um die Seele und das Herzleben seines Volkes. Mit diesem Ziel vor Augen wollte er selbst den härtesten Frondienst ohne Murren leisten. Schließlich beglückte es ihn doch sehr, wieder vor einem erstklassigen Orchester zu stehen; denn Prag rangierte in der ersten Reihe der europäischen Musikstädte. Dazu kam die Schönheit der architektonischen Wunder, die diese Stadt umschloß und der Reiz der traulichen Weinstuben, die in die barocken Winkel der Straßen und Gassen lockten. Gleichwohl flogen seine Gedanken immer wieder in die Stille des Odenwalds zurück, wo er sich nach langem zermürbenden Verkehr wieder selbst gehört hatte. Er war der mordenden Enge der Häuser und Gassen entflohen, um nicht zum Märtyrer des geselligen Lebens zu werden; obgleich sein Tagebuch viele Tage verzeichnete, die in voller Blüte prangten und von reifen Früchten wußten. Nun lauerte ihm ein neuer dämonischer Moloch auf, der die Achillesferse des jungen Musikers zu kennen schien, denn er nahte Weber in der verführerischen Gestalt einer ausgelassenen Wiener Tänzerin, die ihn gleich in den ersten Tagen in ihre lockeren Netze verstrickte. Ein paar Mal war er der schönen Therese Brunetti ausgewichen; sie verstand es immer wieder, den fast noch knabenhaft wirkenden Mann mit den schmalen Händen und der glatten weißen Stirn in die leidenschaftlichsten Wallungen zu versetzen; ihr Gatte, der als Tanzmeister am Nationaltheater wirkte, ließ sie mit Rücksicht auf Webers einflußreiche Stellung als Operndirektor gern gewähren, weil er auf diesem unsauberen Wege ebenfalls zu gewinnen hoffte. Den »Fall Weber« hielt er außerdem für besonders günstig, da er es für ausgeschlossen hielt, daß der junge Kapellmeister, den er oft genug mit andern Schönen flirten sah, ernsthaft Feuer fangen könne. Im übrigen hätte der Schuft es fertig gebracht, seine Frau selbst einem verrufenen Kritiker auszuliefern, wenn er dafür eine öffentliche Lobhudelei hätte einheimsen können. Es war also eine gewisse Vergeltung, die Therese übte, um sich für den Sklavenhandel, der mit ihr getrieben wurde, schadlos zu halten; es war eine teuflische, aber begreifliche Art von Rache, die die Natur hier übte wie eine befugte Gerichtsbarkeit.

Bald stand Carl Marias Herz in lodernden Flammen, die Therese jedes Mal, wenn sie nachzulassen schienen, durch die geschickteste Kontrapunktik in Dur oder Moll neu zu entfachen wußte; es gab Kavaliere genug, die gern jede Hilfsstellung leisteten, wenn die verwöhnte Ballerina es für angebracht hielt, Webers Neigung zur Eifersucht in tobende Siedehitze zu bringen. Eine Zeitlang hielt der Geprellte das aus, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, daß der herrlich gewölbte Nacken dieser Frau, deren Formen mit der Venus von Milo wetteiferten, jemals von einem andern Menschen geküßt werden dürfe, – bis Weber eines Abends sehen mußte, wie Therese sich von einem Herrn nach Hause bringen ließ, der seit einiger Zeit die Loge im Theater mit ihr teilte, wenn er selber am Dirigentenpult stand. Es sollte ein Kommissionär mit einem sagenhaften Vermögen sein. Das war Berechnung einer niedrigen Seele, die aus der Leidenschaft der Männer Kapital schlagen wollte; die fürstlichen Geschenke des Kavaliers, mit denen die Tänzerin seit einiger Zeit vor der breitesten Öffentlichkeit paradierte, waren ein neuer Beweis dafür.

Um sich Klarheit zu verschaffen und dann nötigenfalls einen endgültigen Strich unter das Kapitel Brunetti zu setzen, beschloß Weber eines Abends, ihr nach der Aufführung noch einen Besuch zu machen, wogegen der Gatte ja nie etwas eingewendet hatte. Als er in die Nähe der Wohnung kam, sah er den neuen Anbeter an der Seite seiner Aphrodite. Weber wartete einen Augenblick, weil er hoffte, daß der junge Liebesritter sich vor dem Hause verabschieden werde. Er täuschte sich aber, denn die beiden verschwanden Arm in Arm hinter der Tür. Gleich darauf wurden die Zimmer, die Weber nur zu gut kannte, erhellt und die Vorhänge zugezogen.

*

Wie ein Schwerkranker taumelte er heim. Solchen Betrug hätte er nicht für möglich gehalten. Er mußte alles Ehrbare in sich zusammenballen, um über die Anfechtungen dieser Stunde hinwegzukommen; er wußte jetzt, daß ein Mensch aus beleidigter Liebe zum Verbrecher werden könne. Wer hätte den Stab über ihn brechen wollen, wenn er den Widerwärtigen, der da oben an seiner Stelle die Seligkeiten des Paradieses kosten durfte, wie einen gemeinen Räuber niedergeschossen hätte? … Durch Gassen, die sein Fuß noch nie betreten hatte, kam er erschöpft nach Haus. Da er sich über alle wichtigen Erlebnisse in seinem Leben Notizen zu machen pflegte, holte er sein Tagebuch hervor und schrieb:

»Eine fürchterliche Entdeckung … Der schönste Traum ist vorüber … Die Kette riß … Ich werde alle Bitterkeit in mir vergraben und – arbeiten.«

Wenn wohlmeinende Verehrer ihm früher mitgeteilt hatten, die Brunetti betrüge nicht nur ihren Mann, sondern auch ihn und mache ohne sein Wissen Landpartien, Soupers und Bälle in Begleitung anderer Herren mit, so hatte er solche Nachrichten als Erfindungen oder Irrtümer bezeichnet und hinterher in den Armen des herrlichen Weibes auch die letzten Zweifel überwunden. Weil selbst der Nachhall der himmlischen Seligkeiten sein erhitztes Blut in schäumender Wallung hielt, glich er dem unersättlichen Tannhäuser, der seine Freunden Brüder und Schwestern verließ, um immer wieder im Hörselberg vor Frau Venus zu knien. Wie oft war Weber, der Sirene folgend, bis zum Hahnenschrei in der Gesellschaft unerträglicher Menschen geblieben, um sich von der Geliebten nicht trennen zu müssen. Es waren schwere Opfer, die ihn bis aufs Blut zu erschöpfen drohten.

Er fühlte, daß er mit Therese Brunetti brechen müsse, wenn er die Kraft zu schöpferischer Leistung nicht verscherzen wollte; langsam reifte in ihm die Erkenntnis, daß er nie wieder Herr über sich selbst werden würde, wenn es ihm nicht gelänge, sich ganz vom Einfluß ihres irrlichternden Wesens zu befreien. Da ihm dies ohne räumliche Trennung unmöglich schien, beschloß er, gleich die ersten Theaterferien auswärts zu verbringen. Bis dahin konnte allerdings noch manches geschehen, – und so war es denn auch. Als Weber eines Mittags im Theater das Verwaltungszimmer betrat, kam ihm der Direktor Liebig mit der Nachricht entgegen, daß er Fräulein Caroline Brandt von der Frankfurter Oper als erste Sopranistin verpflichtet habe. Der Kapellmeister wußte nicht, wen er mehr beglückwünschen sollte, den Direktor oder sich selbst. Da es der Sängerin gelungen war, ihren Frankfurter Vertrag zu lösen, weil eine Verwandte des Intendanten an ihre Stelle rücken sollte, konnte schon in den nächsten Tagen mit ihrem Eintreffen gerechnet werden.

Carl Marias Freude war maßlos. Er vergaß, daß es Essenszeit war und rannte nach Haus, um Caroline zu schreiben. Als er dann daheim am Schreibtisch saß, fühlte er sich außer stande, seine Gedanken zu formen. Hätte er ihre Hand halten dürfen, hätte es keines einzigen Wortes bedurft. Aber da mit allem, was den Menschen beglückt, zugleich ein Zweifel geboren wird, tauchte auch hinter Webers Gedanken plötzlich eine bange Frage auf, und er überlegte, ob wirklich er selber es sei, dem Carolinens Liebe gelte, oder ob sie in erster Linie die Kunst bewundere, die in ihm und durch ihn wirksam sei. Wenn er ihr in Tönen hätte antworten können – es wäre ihm leichter ums Herz gewesen. Warum schrieb er denn nicht auf, was vor seinem geistigen Ohr vorüberflutete; eine ganze Partitur drang auf ihn ein; er hätte nur Papier und Notenfeder gebraucht, um alle Antworten auf die Regungen seines keuschen Herzens in eine beseligende Kantate zu gießen. Aber seine Unruhe war noch zu groß … Schließlich ging er ans Klavier und ließ die Rosenarie der Gräfin in Figaros Hochzeit aus den Tasten steigen: »Komm Geliebter, daß ich mit Rosen bekränze dein Haupt«. Mit Mozart Arm in Arm stürmte er die letzten Barrikaden; dann jubelte er mit sieghafter Stimme: »Ich weiß, daß sie mich liebt – mit meiner Kunst!« Der Brief von jenem Tag blieb ungeschrieben.

Schon nach einer Woche hielt Caroline Brandt mit ihrer Mutter ihren Einzug in Prag. Die erste, die davon erfuhr, war Therese Brunetti, die sofort ihr ganzes Arsenal mobil machte, um die Nebenbuhlerin aus dem Felde zu schlagen. Als sie die Wandlung in Weber bemerkte, war auch in ihr eine Veränderung vor sich gegangen. Ihre Gefühle wurden sich plötzlich darüber klar, daß sie diesen Mann, mit dem sie nur zu spielen glaubte, von Herzen lieb gewonnen hatte. Dieser wirklich adlige Mensch war doch anders als die geschniegelten Kavaliere, die in jeder Damengesellschaft den Liebhaber machten und sich in faden Schwüren überboten. Die Begehrlichkeit seines heißen Stürmer- und Drängerherzens wurde durch Tugenden ausgeglichen, die in Theaterkreisen nicht gerade selbstverständlich waren: auch Therese hatte jene starke moralische Energie eines Willens gespürt, zu der sie als Frau auch dann unbedingtes Vertrauen haben konnte, wenn sie nie eine Feuerprobe verlangte.

Als Carl Maria eines Morgens ins Theater kam, trat Therese ihm hinter der Tür zum Orchesterraum in den Weg. Sie griff nach seinen Armen: »Du liebst eine andere; … ich weiß, wer es ist …«

Er fühlte wie sie zitterte. Die Lampe im Gang warf ihren matten Schein auf ein blutleeres Gesicht. Als Weber schwieg, schrie sie lauter als vorher: »Du liebst eine andere; … lüg nicht; … ich kenne sie längst!«

Das brachte ihn vollends zur Besinnung: »Wer streitet es denn ab?« – Hätte er seine Caroline verleugnen sollen, – jetzt, wo sein Herz endlich im reinen war? – »Gehen Sie an Ihre Arbeit, Brunetti; wir haben wohl beide etwas nachzuholen …« Sie stampfte mit ihrem zierlichen Fuß auf den harten Steinboden: »Du bist der grausamste Mensch von der Welt!« Dann rannte sie fort.

Ohne eigenes Zutun hatte die Kraft, die von Caroline Brandt ausging, über die Gefahren gesiegt, die dem Bilde ihrer stillen Sehnsucht drohten. Um dieses Bild selbst wob der Zauber einer lichterfüllten Harmonie. Die in ehrbarer Zucht gefestigte Mädchenseele Carolines strahlte ethische Strömungen aus, die jeder Laune und Anfechtung trotzten. Der Hauch wirklicher Reinheit drang keusch und unverdorben in Webers Sinne. Dabei war dieses Mädchen schön genug, um auch den Qualen der süßesten Erinnerungen an die Tänzerin ein Ende bereiten zu können. Das schmerzte nicht mehr; das hob ihn höher empor. Größeres konnten ihm auch die Sterne nicht offenbaren, zu denen er abends, wie weiland Wolfram, die betenden Augen erhob. So schlief er ein mit einem Schwur im Herzen: er wollte schaffend um sie ringen und für sie kämpfen, bis sie ihn segnen würde …

Wie ganz anders sah es in Therese Brunetti aus. Sie fühlte, daß die Trennung von Weber in ihr noch lange nicht vollzogen sei; ihr genialer Kapellmeister saß immer noch fester im Sattel, als sein langweiliger Nachfolger, der sie eigentlich mehr durch seine stets gefüllte Börse als durch sein Wesen angezogen hatte. Sie nahm sich vor, bei einer Begegnung mit Weber eine besondere Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, was ihrer theatralischen Begabung keine große Mühe kostete.

Der zweite Dirigent der Oper war ein Italiener namens Torselli, der die Stellung seines deutschen Kollegen mit viel List zu untergraben suchte. Wenn es ihm gelänge, Weber zu einer Unbedachtsamkeit zu reizen, die seinem Ansehen schaden würde, hätte er den ersten Vorsprung schon getan. Es wollte sich aber keine rechte Gelegenheit bieten, bis der Arzt Weber eine dringende Erholungskur in Bad Liebwerda verschrieb. Hier begann seine Gesundheit, die durch die angestrengteste Arbeit bis in die tiefen Nächte hinein untergraben und durch die seelischen Erregungen noch mehr gefährdet worden war, sich schnell so weit zu kräftigen, daß Weber sich schon bald zu einer Nachkur in seinen Odenwaldwinkel begeben konnte.

Die findige Therese war sofort auf der Spur des Flüchtlings – so nannte ihn der Italiener –, der der Beleidigten so lange zusetzte, bis sie sich entschloß, Weber nachzureisen. Wenn es ihr nur gelingen würde, auf diese Weise das Vertrauen Carolinens zu erschüttern, hätte die Reise sich gelohnt; außerdem wollte ihr galanter Beschützer sie begleiten.

Der intrigante Schachzug glückte; schon bald nach Carl Maria von Weber traf das abenteuerliche Paar in Amorbach ein, wo es im Gasthof »Zum Hecht« die beiden schönsten Zimmer erhielt. Thereses erster heimlicher Gang war zur Wohnung Webers hinüber. Da ihr Klopfen ungehört blieb, öffnete sie die unverschlossene Tür und trat in das Zimmer. Auf dem Tisch lag Webers Tagebuch. Sie konnte sich so wenig beherrschen, daß sie darin blättern mußte; sie las:

»Du fragst mich, ob Deine Liebe mich glücklich mache? O sage mir, süßer Engel, ist denn die Seligkeit, die mich durchglüht, nicht Deine Schöpfung? Jeden Tag und jede Nacht bebt die Liebe zu Dir wie ein Jubellaut, wie ein Triumphgesang, wie Festgeläute nach, und keine Sorge des Tages, kein Wirrwarr der Geschäfte, keine Mühe der Arbeit macht ihn verstummen …

Nie, seitdem ich Dich besitze, war ein Wunsch in meiner Seele, zu dem Du nicht gehörst, – nie eine Sorge als die, Deine Liebe verlieren zu können, – nie ein Gebet, dem Du nicht Worte oder selige Tränen gabst. Ja, jetzt erst fühle ich selig, daß ich lebe! …

Ich sage nicht, ich liebe Dich mit jedem Tage mehr; denn die volle reine Liebe ist wie die Ewigkeit, die flutet nicht und ebbt nicht. Du bist mir Freund und Freundin, Schwester, Gattin und Schutzgeist zugleich. Jetzt erst, mein Engel, verstehe ich, warum ich lebe; jetzt erst weiß ich, was Liebe ist; jetzt erst kenne ich das Geheimnis der Seligkeit; jetzt erst umfasse, begreife ich, daß zwischen Himmel und Erde nicht eine ewige Kluft ist! Jetzt erst, da ich mit meinem ganzen Leben in Dir aufgehe, aufgehe in Lust, Seligkeit und Liebe, hat das Leben Wert und Bedeutung für mich!«

Als Therese Brunetti zu lesen begann, war ein spöttisches Lächeln über ihre Züge geglitten; dann aber waren die Worte des einstigen Geliebten wie Flammen in sie gefahren. Ihre alte Leidenschaft entbrannte zu rasender Glut, aber ihr Stolz reckte sich mit theatralischer Geste empor; der Treulose sollte nicht erfahren, daß sie noch immer liebend an ihn dachte, obgleich sie längst am Arm eines andern hing. Tänzelnd, auf den Zehenspitzen, verließ sie das Zimmer. Auf dem Flur stieß sie mit dem Stubenmädchen zusammen, das ihr neugierig mit den Blicken folgte. Dann sprang sie schnell über die Straße in ihr Hotel zurück, wo ihr Ritter mit einer kleinen Süßigkeit für seine Geduld belohnt wurde.

Carl Maria von Weber ahnte nichts von dem Besuch, den sein Arbeitszimmer während seiner kurzen Abwesenheit beherbergt hatte. Die Bemerkung des Stubenmädchens, es sei eine Dame dagewesen, nahm er nicht tragisch. Wer etwas wollte, werde schon wiederkommen.

*

Der Herbst schien in diesem Jahre weniger Nebel als sonst in das Maintal zu tragen. Die ehemalige Benediktinerabtei hatte den Nutzen davon; denn noch im Oktober gab es viele helle Sonnentage, die Weber zu wiederholten Ausflügen in die Umgebung Amorbachs ermunterten. Die jungen Bauernburschen der benachbarten Dörfer vergnügten sich sonntags viel mit Armbrustschießen. In Carl Maria wurde dadurch eine besonders liebe Erinnerung geweckt: eine blitzblanke Armbrust war neben einer Mittenwalder Geige einmal seine größte Weihnachtsüberraschung gewesen. Diese Erinnerung an seine Jugend begleitete ihn, als er sich aufmachte, um dem Scheibenstand im nahen Kirchzell einen Besuch abzustatten, wo eben die Vorbereitungen für das große Schützenfest begonnen hatten. Das Fest selbst fand erst ein paar Wochen später statt. Dann saß man in langen Zelten bei Apfelmost und Bier, sofern man nicht am Scheibenstand war, um sich als Schütze einen Preis zu holen. Für die Jugend war nur die Armbrust zugelassen, die Alten schossen mit Kugeln nach dem Vogel auf der Stange, – oder sie schoben Kegel mit allen Schikanen, vom linken Eckpinn bis zum rechten Sauzahn. Daß die Preisgekrönten hinterher wie die Bürstenbinder soffen, war Ehrensache; man erzählte sich, wie Vater und Sohn als Preisträger einmal so betrunken gewesen waren, daß sie einander die Duzbrüderschaft anboten und Arm in Arm heimzogen, bis sie sich vor der gemeinsamen Haustür mißtrauisch in Augenschein nahmen und schließlich erkannten.

Der Schützenverein umfaßte alle Stände der Volksgemeinschaft Kirchzell, die mit dem Preisschießen zugleich eine allgemeine Musterung der wehrhaften Bürger und Bauern verband. Die Schützen trugen schmucke Uniformen und stellten auch ein schneidiges Pfeifer- und Trommlerkorps, das sich für diesen Tag den Schnurrbart wachsen lassen mußte. Wenn die Stoppelfelder die Einfuhr der letzten Ernte quittierten, war auch die Zeit für die Stoppeln unter der Nase gekommen; nur Kinn und Backen wurden sauber rasiert. Die Jugend wußte dann Bescheid; sie hätte keines Kalenders bedurft, um den Zeitpunkt der kommenden Ereignisse bestimmen zu können; manche Burschen und Mädels legten dabei einen Scharfsinn an den Tag, den sie ihren Lehrern in der Schule niemals verraten hatten. Die Schützen begannen ihre Uniformen instand zu setzen und die widerspenstigen Knöpfe zu putzen, die Weiber und Jungfrauen ihren Ballstaat zu ordnen.

Auf dem Scheibenstand selbst herrschte vorläufig noch wenig Leben. Die Amorbacher trafen sich deshalb gern auf halbem Wege in dem Flecken Buch, wo ein rühriger Wirt im Freien guten Kaffee, würzigen Wein und die größten Stücke »Quetschekuchen« verkaufte. Weber hatte hier früher die Bekanntschaft eines Pfarramtskandidaten gemacht, der nebenher Musik studierte. Die Freundschaft, die sich aus der gemeinsamen Liebe zur Kunst entwickelt hatte, führte die beiden auch diesmal zusammen. Auf dem Rückwege von Kirchzell kehrten sie bei dem Quetschewirt ein. Der Wein schmeckte dem einen nicht schlechter als dem andern, so daß die Freunde in der besten Stimmung waren, als ein junges Paar auf dem Platz erschien, das alle Blicke auf sich zog. Frau Brunetti war trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit in eine auffallend knallige Sommerrobe gekleidet und ließ ihre Augen hin- und hergehen, um ihre gewohnte Überlegenheit zu erproben. Sie konnte mit dem Erfolg zufrieden sein; denn unter ihren Bewunderern befand sich auch der anspruchsvollste Mann, der ihren Weg gekreuzt hatte: Carl Maria von Weber …

Ein paar Mal zieht sie, als sei ihr kein Platz gut genug, mit hochnäsiger Gebärde an ihrem Kapellmeister vorbei, gefolgt von ihrem Prager Kavalier: so herausfordernd ist ihr Wesen, daß Weber nicht glauben will, daß sie es sei. Als die beiden sich endlich niederlassen, gehen seine Augen immer wieder zu ihr hin. Der Begleiter, dem der Frankenwein das Gemüt erhitzt hat, macht eine unartige Bemerkung und kommt an den Tisch Webers, der ihn unbeachtet stehen läßt. Der Theologe, als gerade gewachsener Pfälzer nicht gewohnt, durch die Blume zu reden, nimmt für den Freund das Wort und verbittet sich laut, von einem Flegel belästigt zu werden.

Die Forderung lautete auf Pistolen mit dreimaligem Kugelwechsel bei fünfzehn Meter Entfernung. Der Pfarramtskandidat nahm auch die Partie für Weber auf sich, womit der Herausforderer gern einverstanden war, da in diesem Falle der Gegner zweimal ohne Pause anzutreten hatte. Alle Einwendungen Carl Marias waren umsonst. Der Kommissionär galt als guter Schütze; der Theologe dagegen hatte noch nie eine Schußwaffe in der Hand gehabt, was seine innere Sicherheit aber in keiner Weise berührte.

Schon am andern Morgen um sechs Uhr traf man sich auf einer Waldschneise am Buchener Galgen. Dem Pfarramtskandidat war der erste Schuß zugestanden worden. Als die ersten Kugeln von beiden Seiten fehlten, rückten die Kämpfer auf Anweisung des Unparteiischen einander um drei Schritte näher. Der Theologe erhielt jetzt einen Schuß in den rechten Arm, der ihn eigentlich kampfunfähig machte; er bestand aber nach eiliger Anlegung eines Notverbandes auf seiner dritten Kugel. Als der Schuß nicht losging, warf er die Pistole hinter sich und ließ sich eine andre Waffe reichen; er drückte ab, man sah den Gegner wanken, dann brach der Getroffene zusammen. Die Kugel hatte das Herz durchbohrt. »Verfluchtes Weib!« rief er sterbend. – »Das erste vernünftige Wort!« sagte der angehende Pfarrer, »schade, daß es zugleich sein letztes ist; er wäre noch besserungsfähig gewesen« …

Die Polizei hatte Verhaltungsmaßregeln erhalten. So gewann der junge Theologe Zeit, die Landesgrenze zu überschreiten und sich in Sicherheit zu bringen. Später sorgte der Fürst für die Einstellung des Verfahrens und die »Erlaubnis zur Rückkehr des Mannes, der dem großen Kompositeur Carl Maria von Weber das Leben gerettet habe, das nicht nur ihm, sondern dem deutschen Volke gehöre!«

Den zartbesaiteten Musiker hatte das Erlebnis auf das Krankenlager geworfen; der Arzt stellte heftiges Nervenfieber fest, das die Phantasie des langsam Genesenden mit den wildesten Wahnvorstellungen belebte. Daß ein Mensch, der von einer Schußwaffe keine Ahnung hatte, seinen Gegner durch einen Herztreffer, dazu mit dem linken Arm, zur Strecke brachte, das grenzte zum mindesten ans Wunderbare. Hatte etwa der Teufel selber die Kugel geführt? War Webers Leben durch eine Freikugel gerettet worden? Womit hatte er sich die Hilfe höllischer Mächte verdient? – Die Gestalt seiner verstorbenen Mutter stand vor ihm, um ihn zu beschwören; er hörte deutlich ihre warnende Stimme.

Langsam wuchsen die Kräfte des Genesenden; bald saß er wieder bis in die Morgenstunden über das Notenpapier gebeugt, um den Fluß der Melodien in feste Formen zu zwingen. Eine wilde Unrast hatte ihn erfaßt, als fürchte er, irgend etwas zu versäumen; als der Arzt ihm den ersten Ausgang erlaubte, war er der glücklichste Mensch von der Welt. Zweierlei wollte Weber vor der Rückfahrt noch erleben: einen nächtlichen Ausflug auf den Wildenfels und ein halbes Stündchen auf der Orgel in der Abteikirche. Viel Zeit war nicht mehr zu verlieren; der Zeitpunkt der Abreise stand nahe bevor, und der Platz in der Postkutsche war schon bestellt …

*

Der Kalender zeigte Vollmond an; die Sterne glänzten über dem Wald, als Weber an das Fenster trat. Er fühlte, wie etwas ihn hinwegzog in die ewige Unendlichkeit; ihn bannte die Magie des Unerforschten, das über uns und in uns lebt. Vom Seegarten klangen die Stimmen froher Menschen herüber; die Luft war von ungewohnter Schwüle; nur hin und wieder pfiff ein Windstoß so heftig um die Ecke, daß die Spaziergänger nach ihren Hüten griffen. Weber war zu wenig Wetterprophet, als daß er ein Gewitter befürchtet hätte. Mehr mechanisch als mit bewußter Überlegung warf er seine Pelerine über; dann knarrte die Treppe und Weber stand auf der Straße. Der Mond war hinter einer schwarzen Wolkenwand in Deckung gegangen, die er erst verließ, als Carl Maria den Seegarten erreichte. Ein Tier sprang auf und jagte davon; er wußte nicht, ob es ein Hase oder ein Schmalreh war; aber er zuckte zusammen. Auch sonst schien jedes Geräusch stärker, als er es gewohnt war, auf ihn einzudringen. Offenbar war er empfindlicher als sonst. Das war ein Wispern und ein Tuscheln in den Zweigen, ein leises Stöhnen und ein Seufzen rechts und links. Alle guten und bösen Geister des Waldes schienen ihm ihre Geheimnisse anvertrauen zu wollen, so daß es ihn bald mit seliger Wonne, bald mit leisem Schauer überlief.

Saß auf der Weide nicht der geigende Tod? Das Wegkreuz hob sich drohend wie ein Mannsbild vom Himmel ab. Dann sah er, wie ein Feuerring den Stein umkreiste; er wußte nun, warum die Pferde ängstlich ausgewichen waren, als er mit seinem Wagen hier vorüberfuhr. In Buch schlugen alle Kettenhunde an. Da war ganz sicher der »Schwed« unterwegs, der die Seelen der dreihundert Bauern bewacht, die beim Schwedenkreuz dem Jüngsten Tag entgegenschlummern …

Plötzlich begannen die Bäume am Buchener Berg sich zu biegen; dann brach durch die Stämme am Wolkmann ein Orkan, der die Äste von den Bäumen riß und über die ausgefahrenen Wege warf. Anstatt umzukehren, kletterte der nächtliche Wanderer über die unbequemen Hindernisse, die allen Gesetzen der Schöpferlust zu spotten schienen. Die Anstrengung kostete ihn manchen Tropfen Schweiß: die Erregung trieb die Hitze noch schneller durch die Poren. Wenn seine Schritte einen Stein ins Rollen brachten, hüpften die Kobolde hinter ihm her und lachten, weil er stolperte, wie schadenfrohe Teufel, daß die Eulen sich leisen Flugs davonstahlen.

Warum zuckten die schwefligen Feuer in dieser Nacht so drohend über dem Wipfelwald? Spukten die Toten des Bauernkriegs gleich Kündern nahen Unheils in den Lüften? Dröhnte der Boden nicht wie damals vom Hufschlag der Pferde, die das Erdbeben im friedsamen Tale der Mud geweckt hatten? Oder verfolgten die Seelen der Urbewohner, die hier seßhaft waren, die betenden Mönche, die am Otterbach den Teufel jagten und die Christen tauften?

Jetzt fährt der erste Blitz hernieder und rückt den Wald für einen Augenblick in so grelles Licht, daß er hinterher erst recht als schwarzes Ungetüm vor Webers fiebernden Augen kauert. Der Bildstock, den er noch vor wenigen Tagen bewundert hat, als fromme Hände ihn mit bunten Herbstblumen schmückten, liegt schräg im Schlamm des Grabens; ein entwurzelter Eichenstamm hat ihn umgelegt. Jetzt prasseln die ersten Tropfen nieder, von einer wilden Peitsche angetrieben und vom Wehgeheul unsichtbarer Wölfe begleitet. Die Kiefern krümmen sich vor Angst, denn der Sturm bietet neue Verstärkungen auf; selbst durch die Riesen des Waldes geht ein dumpfes Zittern … Aufruhr in der Natur! … Der Fiebernde stöhnt auf und schlägt ein Kreuz … »Die wilde Jagd!« Der Rodensteiner führt; sein Bart flammt auf. Aus den Hufen seines Rappen zischen die Blitze wie glühende Speere, daß der Mond selber sich duckt. Dem Feuerbart folgt das entfesselte Heer mit Hussa und Horrido; seine Äxte treffen die Stämme, daß sie zerspellen wie dürres Schilf. Der brüllende Donner, gleich hinterher, springt von Berg zu Berg, von Dorf zu Dorf, schlägt gegen die schlanken Türme der Kirchen im Tal und jagt wieder hinauf, bis er sich verliert. Im fahlen Mondschein glänzende Krähen: die Totenvögel folgen dem Zug …

Der Wind hatte gedreht; er stieß hart in Webers Rücken, zerrte mit eisernem Griff an seinen Kleidern. Wohin? Die Bäume reckten ihm wie zur Abwehr ihre starken Zweige entgegen. Wer hatte auch das Recht, dieses geisterhafte Weben zu stören, das von Blatt zu Blatt, von Wurzel zu Wurzel ging, bald hoch in den Lüften sang, bald über dem Erdboden grollte! … Ihn schauderte vor dem Dämon der Nacht, der von neuem mit gespenstischen Krallen nach seinem Herzen griff. Das Fieber, das ihn erst vor drei Tagen verlassen hatte, flackerte mit jedem Schritt wieder auf und erhitzte seine wache Phantasie. Er sah in die hohlen Augen eines Schädels, der körperlos im Freien schwebte; gleichzeitig vernahm er Stöhnen und Klagen; immer neue grausame Wellen rannten gegen sein Ohr und brandeten in seinem Blute weiter.

»Die Wolfsschlucht!« dachte er und schleppte sich keuchend bis zu einem Baumstamm, den der Sturm gefällt hatte. Der Waldbach, der die Schlucht durchquerte, kannte seine schmalen Ufer nicht mehr und tobte schäumend gegen einen Fels, auf dem ein Wicht mit einer roten Hahnenfeder hockte. Eine große Eule schwebte lautlos vorüber, die gekrümmten Fänge an den Federleib gezogen, als trüge sie eine Seele fort … Jetzt riß der düstere Schleier entzwei und zeigte dem Auge, dessen Nerv in heftiger Erregung war, das weiße Antlitz eines Sterbenden. »Wer ist der Schreckliche?« stieß er hervor. »Du siehst nur dich!« klang es grabtief zurück.

Es überlief ihn kalt; er faltete die Hände zum Gebet. Da versank das Furchtbare, um einem lichten Bilde Platz zu machen. Die Gestalt seiner verstorbenen Mutter stand vor ihm, um ihn zu beschwören; er hörte deutlich ihre warnende Stimme: »Mach keinen Pakt mit dem Bösen; Du mußt ihm alles zehnfach zahlen; denn es ist ein ehernes Gesetz, daß alles, was wir empfangen, zurückgefordert wird: der Leib von der Seele, die Seele von Gott, und die Macht von all den großen und kleinen Mächten, denen der Mensch sie zu danken hat; sie müssen Stück um Stück hergeben, was sie sich angeeignet haben durch Gewalt!« – »Mutter!« rief Weber. Sogleich verschwand das Bild …

Wenn das Mondlicht die Welt der Geister und Gesichte erhellte, sah das Auge sich genarrt, denn alle Bilder, die so schreckhaft wirkten, waren durch das Ohr zu ihm gekommen. Das Ohr ist das Organ der Finsternis. Ein Blinder wäre sicher besser daran, dachte der Musiker; sein Ohr ist immer auf das Dunkle eingestellt und darum besser gerüstet, die Sprache der Finsternis zu verstehen. Dieser Sturm hat schon am dritten Schöpfungstage gerauscht, lange bevor der Mensch auf der Erde erstand; er wird auch über die letzten Gräber brausen …

Als Carl Maria sich wieder erhob, um wahrhaft trunkenen Sinnes nach der Stadt zurückzukehren, schritt sein Genius neben ihm her. Der Tag warf den ersten Schein auf die Dächer von Amorbach; die Glocken der Abteikirche meldeten die fünfte Morgenstunde, als Weber sein Zimmer im Gasthaus betrat. Er hatte eine Nacht erlebt, wie keine andere vor ihr.

In Webers Seele war jetzt tiefe Ruhe. Als sei ein böser Traum im Licht des Tages zerstoben, wob eine leise Melodie in ihm, die sich allen Dingen mitzuteilen schien. So friedsam hatte er auch den Wald gesehen, als er noch ein Kind war, das nichts von Furcht und Grauen wußte. Der Wald war nun wieder sein lieber Freund, der ihn zum Spiel mit Blumen und Tieren einlud; seine Augen schauten wieder die moosige Waldwiese, auf der er sich mit seinen Freunden tummelte, wenn der Sommer sie aus der Stadt getrieben hatte. Dann kletterten sie auf die schlanken Birken, als wollten sie es den jungen Eichhörnchen gleichtun, oder sie schnitten sich einen Strunk vom hochstämmigen Farnkraut ab, dessen Schnittfläche einem Adlerwappen ähnlich sah. Am Waldbach jagten sie den Libellen nach, oder sie lauschten wie der junge Siegfried der Stimme des Waldvogels, der sie in grünverhangene Märchengärten rief. Einmal waren sie bis in den Teutoburger Wald und zum Wesergebirge gefahren, um die Westfälische Pforte zu sehen … Es waren auch dunkle Plätze im Wald, von tückischem Gestrüpp wild überdacht, so dicht, daß kein Strahl der Sonne, kein Schimmer des Lichts den Boden fand. Dann war ihr Jauchzen verstummt, als fühlten sie ein Unbehagen, das sie warnte. Vielleicht lag dort ein Unhold begraben, den man nicht wecken durfte, oder auch ein erschlagener Held. Der Ginster wucherte um den Platz in gelben Flammen.

Von solchen Kindheitserinnerungen begleitet geht Carl Maria in die Kirche, um noch einmal das Wunderwerk der Orgel zu liebkosen. Er hat sich nur zwei Stunden Ruhe gegönnt und dann gleich zum Küster geschickt; es ist noch zuviel wach in ihm, als daß er schlafen könnte. Und die Orgel weiß gleich, was den Meister bewegt – denn er ist nun ein ganzer Meister geworden; die Nacht hat ihn vollends sehend gemacht, – sie braust heut nicht einher mit Baß und Tubaton, sie hat das Lied der Nachtigall belauscht und trägt die bunten Blumen aus den Gärten am Main empor und bettet sie auf weiße Wolkenkissen. Es ist ein leichtes Auf- und Niederschweben von Licht und Glanz in heiterem Schöpferdrang und Lebensüberschwang, der keinen Zweifel kennt und keine Schicksalstücke; kindgläubig tönt sein Spiel, ein seliges Gebet …

*

Als Carl Maria von Weber wieder nach Prag zurückkehrte, wußte er, daß der Stern Thereses nicht nur über den Zenith seines Himmels hinweggegangen, sondern auch für immer untergetaucht sei … Die Ballerina war nach dem Tod ihres Beschützers schnell wieder zu Hause gewesen, wo sie anfangs einen stark ernüchterten Eindruck machte. So wenigstens glaubten ihre Kolleginnen dem Kapellmeister bei seiner Ankunft berichten zu müssen; sie wußten ja nicht, daß am Horizont seines Lebens ein größeres Gestirn mit reineren Strahlen erschienen war und den Wendekreis der Circe durchbrochen hatte: der leuchtende Stern Caroline Brandts hatte seinen Siegeslauf in Webers Leben angetreten. Jetzt mußte sie ganz die Seine werden; bei der ersten Gelegenheit wollte er der Mutter einen Besuch machen, um sie von dem Entschluß in Kenntnis zu setzen.

Mutter Brandt reichte dem lieben Gast beide Hände; sie war glücklich, ihre Tochter für später in so sicherer Obhut zu wissen. Da Caroline nicht im Hause war, machten die beiden allerlei Zukunftspläne, bis Weber betonte, daß er es zur Sicherung des gemeinsamen Glücks für unbedingt notwendig erachte, daß seine Braut nach der Hochzeit der Bühnenlaufbahn entsage. Da aber stieß der Ahnungslose auf heftige Gegenwehr; mit ganzer Entschiedenheit versicherte Mutter Brandt, weder sie noch ihre Tochter würde hierzu die Einwilligung geben.

Weber war zerknirscht. Sollte Caroline ihm dieses Opfer wirklich nicht bringen können? Er sagte nur: »Daran ist nicht zu rütteln, Mutter Brandt, mein Weib muß mir, mir ganz allein gehören. Ich hoffe auf Carolinens beglückendes Wort! Auf Wiedersehen, Mutter Brandt!«

Im Theater begegnet ihm der Direktor. Weber ist unvorsichtig genug, ihm das Geschehene mitzuteilen. »Also doch!« denkt Liebig, dem die Brunetti längst Wind in die Ohren geblasen hat.

Eine Stunde später klingelt es bei Frau Brandt. Als sie öffnet, steht der Direktor in höchsteigener Person in der Tür: »Grüß Gott, meine verehrte Madame Brandt. Sie kennen mich doch, ich bin der Direktor Liebig, und ich bin froh, Sie anzutreffen; denn nun weiß ich, daß alles Unheil verhütet wird«. Er nahm den Stuhl, den Frau Brandt ihm anbot. »Es geht heute um das Wohl Ihrer vortrefflichen Tochter. Warum wohl hätte ich sonst bei Ihnen zu tun? Ja, das Wohl Ihrer Tochter. Da ist nämlich ein unsinniges Gerede, Fräulein Caroline wolle heiraten. Als wenn Sie das Geld für ihr Studium einfach auf die Straße geworfen hätten. Nun gut, das Heiraten wäre ja nicht das Schlimmste; die Leute wollen aber wissen, daß Ihre Tochter auch die Absicht habe, vom Theater fortzugehen … Bitt' schön, bleiben Sie ruhig, verehrte Frau Brandt; ich seh schon, Sie regen sich auf. Natürlich hab ich dem Unsinn widersprochen; ich kenne die große Begabung Ihrer Caroline zu gut, solche Kräfte schickt der Himmel nicht alle Tage, die sind ein Geschenk an alle, an Reiche und Arme, und die Welt hat ein Recht darauf, so gut wie auf die Sonne am Firmament und auf die blühenden Bäume im Mai! Da sind andere, die laufen einem das Haus ein und wollen ein Engagement, obgleich sie nur eine halbe Stimme haben, und da sollte – nein, hab ich gesagt, ich selber werde die Mutter fragen; die Mütter wissen, was sie zu tun haben, wenn's um das Glück ihrer Kinder geht. Aber bitt' schön, liebe Frau Brandt, ich weiß doch, daß Caroline Ihre Einzige ist; aber nun kann ich den Schwätzern doch Antwort geben. Solange Mutter Brandt lebt, bleibt ihr Carolinche beim Theater, um das Herz der Menschen zu erfreuen; es ist nun einmal wahr: Gesang ist wie ein Stück des Himmels … Leben Sie wohl, liebste Frau Brandt; ich danke Ihnen für Ihr Wort. Und grüßen Sie Fräulein Caroline recht schön«. – »Grüß Gott, Herr Direktor.« Er macht noch einmal kehrt: »Nix von mir reden, gute Frau Brandt«. In drei Sätzen ist er wieder auf der Straße.

*

Caroline hatte sich Bedenkzeit vorbehalten. War sie sich wirklich noch nicht klar? Oder geschah es mit Rücksicht auf die Mutter, die sie erst umzustimmen hoffte? … Weber erinnerte sich, daß Caroline früher einmal geäußert hatte, sie wäre beruhigter gewesen, wenn er ohne seine große Begabung in ihr Leben getreten wäre, weil sie ihn nun mit vielen teilen müsse. Da hatte er an ihre Kunst erinnert und gemeint »Der Mann gehört der Welt, die Frau dem Hause; gehören sie aber beide der Welt, so verlieren sie sich in ihr und keiner findet seine Zuflucht bei dem andern« … Sie wollte Bedenk-Zeit haben … Er riß das Wort entzwei, das ihn zu erwürgen drohte … Er sollte andere mit seinem Herzblut erquicken und selber innerlich zugrunde gehen? …

Er hoffte, Caroline im Theater zu treffen. Nachdem er vergeblich durch alle Probezimmer gerannt war, warf er einige Zeilen auf ein Stück Notenpapier: »Entweder Du vertraust mir oder Du zerbrichst meine Kraft, wie Dalila die Kraft Simsons zerbrach. Dann aber ist alles verloren. Du solltest glücklich meines Ruhmes sein und stolz, daß ich Dich vor Tausenden erkor. Verkleinerst Du nicht Dich selbst, wenn Dir das Ansehen Deines Mannes nicht genügt? Ich könnte nie ein großes Werk vollenden, wenn Du an mir verzagen solltest! Meine Kunst will ich an alle verschenken, aber mein Weib ist nur für mich! Sag, daß es so sein soll und daß es so ist, aber sag es mir bald. Dein Carl.«

Daheim versuchte er, sich in der Arbeit zu betäuben, aber die Stimme in seinem Innern war wie ausgestorben; keine Note wollte auf das Papier. Wie ganz anders hatte es sonst in seiner Seele gerauscht. Die Feder hatte nicht schnell genug folgen können, wenn die Gedanken an Caroline sich in jubelnde Melodien verwandelten. Der Schmerz der Sehnsucht, der immer das Tiefste in ihm aufgerüttelt hatte, war einer schauerlichen Leere gewichen; es fehlte das Wesen, das in den Stunden der Trennung heimlich seine Hand gehalten hatte, das Ohr, das auf die gemeinsame Offenbarung gelauscht, das Herz, das dem Augenblick der letzten unlösbaren Verbindung wie einem neuen Schöpfungswunder entgegengehofft hatte. War der vermeintliche Gott ein machtloser Götze gewesen? Hatte die nackte Wahrheit aus dem Munde einer Mutter ihn aus den Fesseln eines trügerischen Wahns befreit und das Mädchen, in dem er sein Heiligstes wiederzufinden glaubte, nur scheinbar in seiner Welt gelebt, in Wirklichkeit aber dem eigenen Ruhm gedient? Wollte sie sich nur mit ihm in die Lorbeeren der Bühne teilen, anstatt die gläubige Dienerin im Tempel seiner Kunst zu sein? Rang sie mit ihm um den Thron, während er ihr das schönste seiner Werke dankbar zu Füßen legen wollte?

In Caroline tobte zu gleicher Stunde ein ähnlicher Kampf. Nun das schreckliche Wort vom Be-denken gesprochen war, das himmelstürmende Götter zu elenden Kreaturen macht, fühlte sie die Ursprünglichkeit der Lebensenergie, mit der Carl Maria ihr Wesen erfüllt hatte, seitdem ihr mit der Sprache seiner Tonkunst auch die Melodie seines Blutes offenbar geworden war. Künstler und Mensch waren durch seinen Genius in Wahrheit eins; – das hatte sie vorher noch nie erfahren. Sie holte, mehr mechanisch als überlegt, die letzten Arien hervor, die er ihr gebracht hatte und setzte sich vor das Klavier. Es dauerte ein wenig, ehe die Finger wollten. Da war noch irgendwo ein Widerstand. Jetzt schlug sie die ersten Akkorde an. Wie viel voller und tiefer hatte das alles geklungen, wenn Carl Maria vor den Lasten saß und die Schwingen seiner Seele sich weiteten, um Caroline mit hinaufzureißen in Gefilde, die sich nur den Auserwählten öffnen.

Jetzt weiß sie, wessen Hand sie halten darf und muß. Sie rennt hinaus, um bei ihm zu sein. Die späte Stunde kümmert sie nicht. Sie klopft, aber es erfolgt keine Antwort. Als sie Webers Zimmer betritt, findet sie ihn ohnmächtig zusammengesunken. Sie küßt ihm die Stirn und legt ein kühlendes Tuch auf seine Brust; denn der Atem geht schwer. Dann schickt sie eiligst zum Arzt. Ein Aderlaß verhütet die drohende Katastrophe. »Sein gutes Herz wird es noch einmal schaffen«, sagt der Medikus. Sie wiederholt beglückt: »Sein gutes Herz« – und sie weiß jetzt, daß sie diesen Mann lieben muß, nur diesen Einen lieben kann. Als er die Augen aufschlägt, hört er ihre Stimme: »Ich habe Dich nun noch lieber als sonst; was bin ich ohne Dich? Du bist mein Leben!« Jetzt weiß sie, daß sie einem Großen dienen wird; den Menschen hatte sie immer geliebt, nun liebt sie ihn als Führer zu den Höhen, die er ihr freigelegt hat. Gleich einer Priesterin der Vesta will sie das Feuer des häuslichen Herdes hüten und an diesem Altar kraft ihrer eignen Schönheit nichts dulden, was seine Stufen entweihen könnte, auf daß das heilige Feuer schöpferischer Begeisterung den Gatten rein und stark durchglühe ewiglich …

*

Die Flitterwochen leuchteten hell. Carolinens Frohsinn war die Sonne, die Weber des morgens jubelnd empfing und die seinen Tageslauf begleitete, bis der Dienst ihn aus dem Hause riß. Zwei Liebende waren nach langen Kämpfen wirkliche Kameraden fürs Leben geworden: sie als sein guter Engel, er als ihr stützender Arm. Sein Wesen öffnete ihr den Blick in Tiefen und Höhen, ihr Wort war ihm Balsam und Gebet.

Dann kam aus Dresden ein Kurier: der Intendant Graf Vitzthum teilte Weber mit, daß er sich für seine Anstellung als erster Kapellmeister einsetzen werde, wenn er bereit sei, die notwendig gewordene Neuordnung des Hoftheaters und die Leitung der deutschen Oper zu übernehmen. »Schnell eine Flasche Sekt!« rief der Beglückte, »es lebe der König Friedrich August von Sachsen; es lebe die Kunst und die Liebe!«

In Dresden stand es um die deutsche Oper schlecht. Die sächsische Hofhaltung machte mit der Wahl des jungen Dirigenten ein Zugeständnis an den Wandel der Zeit, das ihrer Einstellung zu den Fragen der Kunst nicht ganz entsprach, denn die italienische Oper feierte große Siege und unterband so die Entwicklung der deutschen Musik im eignen Land. Weber, der dabei war, mit allem fremden Ballast in sich selber aufzuräumen, konnte sich für die Vokal- und Instrumentalkunststücke der Italiener nicht erwärmen; er haßte es, dem einfachsten und anspruchlosesten Thema ein prunkvolles Gewand übergeworfen zu sehen. Seine Vorbilder waren Mozart, Haydn und Gluck, deren gediegene Innigkeit er durch das funkelnde Passagen- und Trillerwerk des Ausländers gefährdet sah; er lehnte es auch ab, die menschliche Stimme zu virtuosen Mätzchen mißbraucht zu sehen. Ihm ging es bei aller Freude an den formalen Schönheiten der Tonkunst um ihre seelische Verinnerlichung, um den natürlichen Ausdruck des Gefühls. Mit einer Musik, die einem abgestumpften Publikum als Nervenkitzel diente, hatte der neue Dresdner Hofkapellmeister nichts zu tun.

Die Fanatiker der einflußreichen gegnerischen Partei schwiegen dazu natürlich nicht still; ihr Führer Spontini hatte geschworen, alle Religionen der Musik – gleich Mohamed – mit Feuer und Schwert zu verfolgen, um keinen andern Propheten neben sich aufkommen zu lassen. Nun wüteten sie in Schrift und Wort und suchten Weber als musikalischen Umstürzler in den Augen der Konzert- und Theaterbesucher herabzusetzen. Daß der Deutsche nur den übertriebenen Kadenzen- und Koloraturunfug beseitigt haben wollte, verschwiegen sie sehr wohl, und da auch der König die süßliche Melodik der Italiener liebte, war es für den jungen Reformator nicht leicht, seine neuen Opernpläne durchs Ziel zu bringen. Es gab zuviel »Deutsche« am Dresdner Hof, die das Wort deutsch mit schwerfällig übersetzten, dem jungen Bahnbrecher des Gesunden aber nicht die Freude gönnten, den wiederholten Einladungen nach Berlin, Wien und London Folge zu leisten.

Um Webers Einfluß sicherer zu unterbinden, mußte der gefügige Direktor der Oper dem Hofkapellmeister den Vorwurf machen, daß die Leistungen des Orchesters zurückgegangen seien; er bedaure, ihm die Unzufriedenheit der hohen Landesstelle für die Angelegenheiten der Kunst und des Theaters ausdrücken zu müssen. In seiner Antwort charakterisierte Weber kurz den Musikgeschmack, den er bei seiner Ankunft in Dresden angetroffen hatte; dieser Geschmack sei durch die Mischung zweier Stile, der ehemaligen italienischen Oper und der Musik Mozarts bestimmt gewesen; die Natur der italienischen Oper entspreche nicht dem Wesen des Deutschen, der alles tiefer erfühle und ein in allen Teilen harmonisches Kunstwerk verlange. Mit ein paar blitzenden Steinen in guter Fassung sei ihm nicht gedient, wenn die Garderobe als Ganzes nicht sitzen wolle.

Es war erfreulich zu sehen, daß die Musiker im Orchester sich für ihren streitbaren Kapellmeister einsetzten. Die Pünktlichkeit, zu der Weber sie zwang, war nach anfänglichem Sträuben längst ihr Stolz geworden; selbst die Sänger hatten ihn liebgewonnen trotz der Unerbittlichkeit, mit der er ihnen ihre italienischen Schnörkel und andere Kinkerlitzchen abgewöhnte. Weber wollte sein Orchester zu einem Instrument des Himmels machen, das Arme und Reiche zu Brüdern werden ließ, wenn sie ihm lauschten. Dabei vertrat er seinen deutschen Standpunkt nur im Vertrauen auf den wirklich musikalischen Teil des Publikums, unter Verzicht auf die Masse, die sich durch schlechte Kritiken beeinflussen ließ, weil sie kein eigenes Urteil zur Abwehr besaß. Die scharf ausfallende Art, mit der die plötzlich hart bedrängten Italiener als die besseren Florettfechter in Stahlklinge und Wort die Waffen führten, machte Weber taub gegen die Vorstellungen seines Freundes Fürstenau, daß es sich doch um zwei ganz verschiedene Arten von Tonkunst handle und es zu weit gehe, dem gefeierten Rossini bewußte Leichtfertigkeit vorzuwerfen, anstatt in seiner Musik den gegebenen Ausdruck romanischen Wesens zu sehen. Die Drohung, daß man ihm wegen seiner Unnachgiebigkeit kündigen werde, konnte ihn nicht in seiner Festigkeit beirren; er erklärte aber, daß er bereit sei, vor jedem zurückzutreten, der es besser mit der Oper meine als er und der besser imstande sei, den hohen Ansprüchen einer ehrlichen Kunsterziehung zu dienen.

Daß Weber selber nicht auf sofortiger Lösung seines Vertrages bestand, geschah mit Rücksicht auf Caroline, die ihm unterdessen nach Dresden gefolgt war. Kein Wesen hätte es in gleichem Maße vermocht, ihn aus allem Ärger herauszureißen, wie dieser beglückende Lebenskamerad, dessen Glaube an die Ehrlichkeit und Größe von Carl Marias künstlerischer Mission auf ihn zurückstrahlte, wenn die Enttäuschungen im Kampf gegen die Vorherrschaft der italienischen Kunst ihn zu entwaffnen drohten. Als die Theaterkasse es eines Tages ablehnte, die Mehrkosten für die Bühnenmusik zu Mozarts »Don Giovanni« zu bewilligen, zahlte er den Betrag trotz seiner Schulden aus der eignen Tasche, um kein Verräter an der deutschen Kunst zu werden.

Schon bei einer früheren Reise nach Dresden hatte Weber den Dichter Friedrich Kind kennen gelernt und mit ihm über die Freischütz-Legende gesprochen. Kind kannte den Stoff aus dem Gespensterbuch und machte sich gleich daran, die im Einverständnis mit Weber stark veränderte Geschichte von dem jungen Jäger, seinem Pakt mit dem Bösen und seiner Rettung durch eine reine Mädchenseele als Text für eine Oper umzudichten. Bald hielt Weber das fertige Manuskript in Händen. Nun begann eine herrliche Zeit: die ganze Fülle verhaltener Musik, die sich seit jenem Erlebnis im nächtlichen Odenwald in seiner Seele vorbereitet und aufgespeichert hatte, drängte in die Notenfeder. In göttlicher Schöpferlust spürte der Auserwählte das Werden eines Werks, das darüber entscheiden sollte, ob in Deutschland in Zukunft die italienische oder die deutsche Musik das Feld beherrschen werde.

Auf dem Schreibtisch schichteten sich die Blätter mit Noten. Oft genug, besonders wenn er wieder eine Liebesarie oder ein neues Duett geschrieben hatte, sprang er in die Küche, wo er Caroline stürmisch in die Arme schloß, ob sie nun mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt oder im Begriff war, den Kaffeetisch zu schmücken. Kam es aber einmal vor, daß Weber zwei Stunden unsichtbar blieb, weil er den Strom der Melodien, der ihn mit heißen Wonnen durchflutete, erst zwingen mußte, schlich sie auf leisen Zehen heran, um sich mit einem lieben Blick zu begnügen, wenn die Zeit für eine Kunstpause noch nicht gekommen war. Sie war die einzige, die Weber immer stören durfte; aber sie blieb dennoch in der Tür stehen, wenn sie fühlte, daß die himmlischen Mächte ihn umkreisten; ihr wäre gewesen, als würde in das Heiligste einer Kirche eingebrochen … Und sie dachte: die Lust zu schöpferischer Arbeit ist so sicher von Gott wie die Liebe …

So hütete einer des andern Glück und belohnte sich selbst am meisten damit. Webers Dankbarkeit für die Fügung des Schicksals, das ihm die treueste Gefährtin für die Lebenswanderschaft beschieden hatte, war so grenzenlos, daß er wohl scherzte, er sei zum Hüter der ehelichen Harmonie in der Welt bestellt. Der Garten Eden, den zwei Liebende bebauen, muß Tabu sein … »Heilig sei dir mein Herd!« stand in flammender Sternenschrift über dem Dach unserer Ahnen …

So entsprach Webers Menschentum der Größe und Erhabenheit der Kunst, für die er auserkoren war. Die ihn früher gekannt hatten, meinten wohl, er sei ein anderer geworden, seitdem er vor dem Tor der Ewigkeit gestanden habe. Sicher muß jeder ein Eintrittsgeld entrichten, auch wenn er nur in den Vorhof darf … Das Licht, das rückwärts strahlt, erhellt zugleich den Weg, der vor uns liegt. Weber war kein anderer geworden; er hatte nur zu seinem Eigensten zurückgefunden, er war noch nie so ganz er selbst gewesen, wie jetzt.

Selbst wenn die Erinnerung an den schmerzhaften Wunden der Vergangenheit zu reißen begann, siegte die Dankbarkeit für irgend etwas Schönes, das sich mit der Erinnerung verband. Auch das Vergangene stand einmal im Zenith der Sonne und senkte wärmende Strahlen in sein Herz; so blieb er jeder Stunde verbunden, da er an der Brust des Ewigen liegen durfte …

Dann kam der Tag, da Caroline ihrem Gatten das erste Knäblein in den Arm legen konnte. Opus 1a! Das Glück war unbeschreiblich. Als die junge Mutter schlief, ging der Vater in sein Arbeitszimmer. Eine Kerze erhellte kaum den Tisch, aber es war ein Leuchten im Raum, das kam von einem andern Stern. Er hatte die Fenster weit geöffnet. Der Odem der Nacht strich über sein Haar. Aus ewigen Höhen stieg es zu ihm herab in Tönen, die er vordem nie vernommen hatte. Dann übermannte ihn die Müdigkeit; im Halbschlafdämmerlicht stand Caroline und sang Agathes Lied:

»Leise, leise,
Fromme Weise!
Schwing dich auf zum Sternenkreise.
Lied, erschalle!
Feiernd walle
Mein Gebet zur Himmelshalle« …

Der es geschrieben hatte, wagte kaum zu atmen, als fürchte er, das Wunder zu zerstören, das losgelöst von allem Irdischen wie eine weiße Taube gen Himmel stieg.

Schon in der Frühe des folgenden Tages saß der Komponist des »Freischütz« wieder bei der Instrumentation. Das ging so viele Wochen lang. Er wollte seine gesundesten Nerven für das Gelingen des Werkes opfern und den Himmel bitten, die Saiten seiner Seele zu schützen, damit sie nicht zu früh zersprängen. Als er die Geigen und Klarinetten, Celli und Bäße antrieb, mit Oboe und Flöte, Horn und Fagott um die Wette ihre gespenstigen Läufe und Sprünge zu vollführen, um das Nahen des wilden Heeres anzukünden, graute ihm selber vor den Gesichten, mit denen er noch einmal ringen mußte. Wie das knisterte und rauschte, knarrte und bebte, wenn der Sturm die Wipfel der Bäume in der Wolfsschlucht niederbog und der schwarze Orkan den Wald zu vernichten drohte; das Hohngelächter der Hölle selbst war zu hören, wenn Samiel erschien und die Todesvögel in den Lüften schrieen.

Ein unverbesserlicher Nörgler aus dem Orchester stänkerte gleich nach der ersten Orchesterprobe gegen das wüste Durcheinander der Instrumente, das von den Gesetzen der Harmonie nichts wüßte, was allerdings nicht verwunderlich sei, da ja der Teufel in dieser Oper eine Rolle spiele. Andere schimpften über den Text, obgleich nur wenige Abschriften davon im Umlauf waren. Weber wußte am besten, was er seinem Dichter verdankte; es empörte ihn, wenn er hörte, daß jemand an dem sprachlichen Gewand und dem dramaturgischen Aufbau der Oper mit falschem Maß herumhantierte und dabei übersah, daß gerade die Naivität des Stoffes und seine ungekünstelte Formgebung das Werk zum Allgemeinbesitz des deutschen Volkes machen mußte.

Es gab auch Leute, die behaupteten, es sei geschmacklos und unzeitgemäß, die Geschichte von den Freikugeln und anderen Dingen, die nur den Aberglauben befestigen würden, auf die Bühne zu bringen. Natürlich hörte Weber davon. Bei der nächsten Probe nahm er das Wort zu ein paar kurzen Bemerkungen an seine Musiker: »Meine Herren, ich kann mir denken, daß Sie nicht mit allem einverstanden sein werden, was Sie da spielen sollen; ich denke, daß wir dennoch gute Freunde bleiben wollen. Wir haben selbst bei dem herrlichen Mozart große Augen gemacht, weil uns die Ohren zu klein vorkamen. Und manche haben laut geschimpft, wenn bei den Tuttistellen der Nachbar den Nachbar nicht mehr recht hörte, bis sie vom Publikum erfuhren und dann selbst erkannten, daß hier die Sprache des Erhabenen tönte. Also, meine Herren, nehmen Sie's Ihrem Kapellmeister nicht übel, daß er gemeint hat, auch eine Oper schreiben zu müssen; … er hat sogar gemeint, er wolle den Deutschen eine Oper schreiben, die jeder lieben muß und jeder lieben wird, – so wahr ich Weber heiße! Ich habe darin nichts anderes dargestellt, als den Kampf zwischen Gut und Böse, den Kampf, der zu allen Zeiten die Phantasie der denkenden Wesen beschäftigt hat, und ich bin überzeugt, daß Sie alle dazu beitragen werden, daß der Sieg auf der Seite des Guten ist!« Da jubelte das ganze Orchester ihm zu.

Als am 18. Juni 1821 im Berliner Schauspielhaus die romantische Oper »Der Freischütz« aus der Taufe gehoben wurde, fielen die Würfel: die Bevölkerung der Reichshauptstadt bereitete dem Werk und seinem Komponisten eine begeisterte Aufnahme, an der sich die hervorragendsten Persönlichkeiten nicht weniger beteiligten als das arbeitsame Bürgertum. Das Schicksal der italienischen Oper, deren Hüter unter Spontinis Führung bis zuletzt alle erdenklichen Rettungsmaßnahmen versuchten, war besiegelt; der Siegeslauf der deutschen Oper konnte beginnen … Die Schmäher halfen ihr die erste breite Gasse bahnen.

*

Im Sommer 1826 kam ein steinaltes Mütterlein zum Küster der Abteikirche in Amorbach. Sie hatte – wann war es doch gleich? – mit ihrem Enkel gelauscht, als der junge Musiker, der mit dem hochwürdigen Abt Vogler gekommen war, so herrlich auf der Kirchenorgel spielte – und wollte gern wissen, wann er wieder käme. Der Küster konnte ihr die Frage nicht beantworten, aber er erzählte ihr, daß der junge Herr ein sehr berühmter Hofkapellmeister geworden sei und die große Oper vom Freischütz und andere herrliche Werke geschrieben habe. Er wußte nicht, daß Carl Maria von Weber just in jenen Tagen, nachdem man in London seine Märchenoper »Oberon« in phantastischer Pracht aufgeführt und die Herzogin von Kent, geborene Prinzessin von Koburg-Saalfeld, ihren deutschen Landsmann empfangen hatte, fern von den Seinen im Alter von neununddreißig Jahren gestorben sei. Der Zauberbecher des Elfenkönigs hatte sich in den Kelch bittersten Leides verwandelt, den je ein deutscher Meister leeren mußte; aber dieser Meister war über die Schwelle der Unsterblichkeit geschritten. Zwei ewige Mächte hatten seinen Weg zur Höhe und zu sich selbst bestimmt: der deutsche Wald und ein liebendes Weib.

*


 << zurück