Max Dreyer
Lautes und Leises
Max Dreyer

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Vater und Sohn.

Auf der Schanz, wo einst der alten Hansestadt zur Wehr eine feste Mauer mit Türmen und Bastionen sich erhob, jetzt aber eine Reihe gleichförmiger zweistöckiger, weiß oder gelb getünchter Häuser steht, hält sich eines von diesen, das äußerlich nichts vor den andern voraus hat, gleichwohl von ihnen gesondert. Mit seinen Nachbarn verbindet es zur Rechten wie zur Linken nur ein kurzer Rest der alten Stadtmauer, ohne daß jemand zu sagen wüßte, wie es eigentlich zu dieser geheimnisvollen und vornehmen Sonderstellung gekommen. 2

Dies Haus gehörte der Witwe Emilie Schümann. Ihr Seliger hatte eine Schmalz- und Butterhandlung sein eigen genannt; zum Unterschiede von Namensvettern, die in der Stadt nicht selten waren, hieß er allgemein der »Pulver-Schümann« – warum? Weil man von ihm mit tödlicher Sicherheit behauptete, daß er das Pulver nicht erfunden hätte – und er trug dieses Beiwort nicht nur mit Würde, sondern auch mit Recht. Ohne seine Frau, ihren Verstand, ihre Rührigkeit und Umsicht hätte das Geschäft nimmer gedeihen können.

Nun glaubte sie aber an eine gewisse geheimnisvolle Beziehung zwischen ihrer Konstitution und dem Fettgehalt ihrer Umgebung. So wenig sie auch davon sich wirklich einverleiben mochte, so kärglich-dünn sie ihr Brot bestrich, so großer Enthaltsamkeit sie sich überhaupt im Essen und Trinken befliß – sie wurde umfangreicher von Tag zu Tage.

Damit wurde es auch nach dem Tode ihres Mannes nicht besser. Der alte knorrig-schalkhafte Sanitätsrat Mester erklärte ihr, als er einmal bei ihr einkaufte, sie so rührig hantieren sah und ihre Klagen über ihre zunehmende Schwerfälligkeit vernahm: »Kein Wunder, Frau Schümann! Butter und Schmalz sind Ihnen nun mal ans Herz gewachsen!«

Nein, nein – das sollten sie denn doch nicht! 3

So machte sie kurzen Prozeß: sie entzog sich einfach dem Einfluß der unheimlichen Kohlenstoffgeister. Gab das Geschäft auf, bezog das obgemeldete Haus auf der Schanz, das ihr durch seine Lage willkommene Gelegenheit zu herzstärkendem Klettern bot, und widmete ihre Thätigkeit, soweit nicht ihre häuslichen Aufgaben und das Bergsteigen sie beschäftigten, nach ihrer Kraft und ihren bescheidenen Mitteln wohlthätigen Zwecken.

Dünner wurde sie nun allerdings nicht davon, jedoch auch nicht dicker. Und sie war es zufrieden.

Zu ihren häuslichen Aufgaben aber rechnete sie auch – so wenig Gegenliebe sie mit dieser ihrer Betriebsamkeit fand – die Überwachung ihres Mieters, des Herrn Stadtsekretärs a. D. Philipp Gries, der mit seinem Sohne Friedemann das obere Stockwerk bewohnte.

Nicht, als ob zwischen ihr und diesem Hausgenossen etwas wie zärtliche Empfindung bestanden hätte. Philipp Gries war ein scheuer, einsamer, in sich gekehrter Mann. Seine Frau hatte gleich nach Friedemanns Geburt das Zeitliche gesegnet. Sein Amt hatte er bereits vor einigen Jahren, da ihm eine kleine Erbschaft zugefallen war, aufgegeben. So lebte er, flüchtig vor den Menschen, abseits von der Welt, nur seinem Jungen. 4

Mit einer so vertrockneten, schimmelnden Existenz konnte sich Frau Schümann natürlich nicht näher befassen. Eines aber hatte gar eine Verstimmung zwischen beide gesäet: Philipp Gries war Vegetarianer. »Ich kann mir das ja wohl denken, daß meine zweihundert Pfund Fleisch ihm ein Dorn im Auge sind,« erklärte einmal Frau Emilie mit kühnem Blicke, »und ich hätt' den alten ausgedörrten Spirrfix schon längst von meinem Anblick befreit, wenn mir der Kleine nicht leid thäte.«

Friedemann war elf Jahr und schon Tertianer. Ein blasser, zarter Junge. Der Vater hatte auch ihn an Pflanzenkost gewöhnen wollen; davon aber war das Kind körperlich so heruntergekommen, daß seine Gesundheit ernstlich bedroht ward. Als der Alte das bemerkte – viel zu spät nach seiner unbeholfen-kurzsichtigen Art – geriet er außer sich, zog mehrere Ärzte zu Rate, auf deren Urteil er sonst überlegen herabsah, und ließ den Kleinen, der ärztlichen Verordnung gemäß, nun recht viel Fleisch essen. Mit einem »Eines schickt sich nicht für alle« beruhigte er seine Überzeugung; er für seine Person blieb der Pflanzenkost treu und bereitete sich nach wie vor selbst seine Mahlzeiten, streng der vegetarischen Heilslehre gemäß. Für Friedemann hatte sich 5 Frau Emilie Mittag zu kochen erboten, und der Kleine erhielt täglich aus ihren Fleischtöpfen sein wohlzugemessenes Teil, wobei sie sich natürlich auch geistig und seelisch einander näherten. –

Ein leuchtender Maientag ist über die Stadt gekommen. Flimmernd bebt der Frühlingsatem durch die sonnige Luft. Kosend streicht der flutende Schein über die zerklüfteten Quadern des alten Gemäuers, aus dessen Fugen blühendes Leben quillt, und er webt um den Kirchturm und um die ehernen Glocken, daß sie erschauern, surren und summen – sie, die so vielem zu Grabe geläutet –: Es giebt nichts Totes! Es giebt nichts Totes!

Jubelnde Jugendlust braust aus den Thüren und Thoren des nüchtern-kalten Gymnasiums. Die Schule ist aus, ein Strom frischesten Lebens wogt in die Straßen. Erst stürmen die Kleinen in die Freiheit, tollend in ausgelassenster Lenzesfreude, dann kommen die Großen und Größten, auch sie von lebhafterer Beweglichkeit, und selbst die blasseste und gedankentiefste Primanerwürde hält dem Maienzauber nicht stand.

Am Hofthor steht, wie alltäglich um diese Zeit, Vater Gries, auf seinen Friedemann wartend. Jetzt tritt auch dieser heraus, er ist ernster und langsamer, als die andern. Auch geht er allein, 6 während die übrigen meistens in Gruppen oder zu zweien kommen. In sein ruhiges, geduldiges Gesicht schmiegt sich ein freundliches Lächeln, als er den Vater gewahrt.

»Na, Fiete, wie war's?« fragt ihn der, als sie sich begrüßt haben.

»Ganz gut, Vater. Griechisches Extemporale haben wir zurückgekriegt.«

»Na – und?«

»Drei Fehler. Genügend.«

»Oh – das muß aber doch noch besser werden. Was sind es denn für Fehler?«

»Mit pipto hab' ich nicht so recht Bescheid gewußt.«

»Aber Fiete – pipto, pesumai, epeson, peptoka

»Ja, Vater!« sagte der Kleine wehmütig, was so viel heißt wie: für diesmal ist's zu spät!

»Da müssen wir doch heut nachmittag die unregelmäßigen Verben mal wieder gehörig vornehmen.«

Fiete seufzt, wenn auch kaum hörbar. Ein Sonnenstrahl spielt mit seinem blonden Haar, seine Augen heben sich zu den Weiten des tiefblauen Himmels.

Als sie ins Haus treten, steht Frau Schümann unten auf dem Gang in blitzsauberem, steifem 7 Morgenkleid, eine blendendweiße Morgenhaube auf dem von dichtem Haar umrahmten, wohlgeformten, für ihre volle Gestalt zu kleinen Kopf.

Herr Philipp Gries zieht, ohne ein Wort zu sagen, den Hut und stolpert hastig die Treppe hinauf, Friedemann bleibt zutraulich bei ihr stehen.

»Tag, Tante Schü!« Und flüsternd, mit kindlichstem Lachen fragt er: »Was giebt's heute?«

Sie streichelt seinen Kopf mit ihrer weichen fleischigen Hand. »Schweinsbraten und Pflaumen, mein Jung'!«

»Ei!« Und dann nickt er ihr zu in seiner leisen sachten Art und geht nach oben. –

Nach Tisch, da der Vater sich zur Mittagsruhe in den Lehnstuhl setzt, verläßt Friedemann das Zimmer. Er steigt die Bodentreppe hinauf, huscht an die Giebelluke und öffnet sie weit. Dann legt er sich bäuchlings auf die Dielen, stützt den Kopf in beide Hände und blickt hinaus in die weite strahlende Welt. Das ist sein Liebstes.

Hart zu Füßen der Schanze wälzt der ansehnliche Fluß gemächlich seine klare blaue Flut. Dahinter dehnen sich frische Wiesen und Niederungen, hier und da hebt sich ein baumbestandenes Gehöft mit rotem Ziegeldach aus dem Gelände heraus. Dann erhöht sich das Land, Korn- und Rübenfelder wechseln miteinander ab und 8 zerfließen dort in nebelnde Fernen, während ihnen hier ein schwarzblau herüberdämmernder Tannenwald Halt gebietet.

Auf der einen Seite ist die Bahn frei für die weitesten Ausblicke von Friedemanns Träumen; aber er zieht die andere Seite vor, wo der dunkle Forst aufragt. Gerade hinter ihm ahnt er eine ganz besondere Welt.

Wenn er sich dann aber hier satt geträumt hat und weiter nach vorne kriecht und den Kopf links um die Ecke wendet, dann sieht er den Hafen mit seinen ragenden Masten. Fährjollen fahren von Ufer zu Ufer, weiterhin kreuzen die kleinen flachen Fischerboote, und vereinzelte Dampfer ziehen ihre Rauchstreifen durch die klare Luft. Immer breiter wird der Fluß, bis er zum »Breitling« sich haffartig weitet. Und dann, wenn die Gedanken das von dichtem Buchen-, Eichen- und Tannengehölz bestandene Küstenland überflogen haben, kommen sie ans Meer.

Das ist nun erst eine Welt! Sie füllt des Knaben weiteste sehnsüchtigste Träume an. Sie erregt ihn zu wehmütiger Unruhe und vermag diese gar in eine Art Trotz zu verhärten.

Einmal erst ist er an der See gewesen. Sein Vater liebt sie nicht. Aber er liebt sie! Dies Brausen und Schäumen und dies Ungehemmte, 9 dies Grenzenlose, das überallhin führt, das keine Wege hat und gerade darum denen, die sich ihm anvertrauen, alles erreichbar macht, das Nahe und die unermeßlichste Ferne.

So groß und so frei! Und so frisch geht dort der Atem der Welt und so frische Kraft ist da zu Hause! Er aber muß hier zwischen den Wänden hocken, in enger, dumpfer Stube, und sein Geist verfängt sich immer mehr in griechischen Formverschlingungen.

Er muß wieder einmal an seinen früheren Mitschüler, den großen Gerdes, denken. Das war ein Kerl gewesen. »Griech'sch is mir viel zu kraus«, hatte er ganz munter in der Quarta erklärt, als der Ordinarius sie in die Geheimnisse der griechischen Schrift einweihte. Er that dann einfach nicht mit, und so oft er später aufgerufen wurde, bekannte er, allen Arreststunden zum Trotz, mit größtem Gleichmut: »Griech'sch, Herr Doktor, kann ich nich!«

Dies »Griech'sch, Herr Doktor, kann ich nich!« war immer noch geflügeltes Wort auf dem Gymnasium und ließ die Erinnerung an den großen Gerdes nicht erlöschen. Der hatte dann seinem Widerwillen gegen das»Griech'sch« dadurch besondern Ausdruck verliehen, daß er aus den Stunden einfach wegblieb. Und als er gleich 10 danach auf dieselbe Weise auch Abneigung gegen das Lateinische bekundete, hielten seine Eltern es doch für geraten, ihrem Ehrgeiz zu entsagen, der ihn zum Gelehrten machen wollte. Sie ließen ihn werden, wonach sein ganzer Sinn stand: Seemann. Als Schiffsjunge war er in die weite Welt gefahren, gleich auf der ersten Reise bis nach Buenos Aires.

Er tritt jetzt dem Träumenden wie leibhaftig vor Augen. Dem kleinen stillen Friedemann hat der kraftstrotzende, unternehmungslustige Junge immer imponiert. Und oft hat er sich gesehnt, an dessen Spielen teilzunehmen, die am Strande und auf den Schiffen selbst, oft bis in die Mastspitzen hinein, geführt wurden. Aber er durfte nicht, der Vater erlaubte es nicht, es war »zu gefährlich«.

Sicherlich ist es nur Liebe zu ihm, was den Vater so ängstlich macht. Aber doch – –

»Fiete! Fietemann!« klingt es freundlich von unten herauf. Das ist der Vater. Der Kleine erhebt sich vom Boden, klopft die Kleider ab und geht hinunter.

»Was hast du denn zu morgen alles auf, Fiete?«

»Nicht viel, Vater, gar nicht viel. – Vater –?« 11

»Na?«

»Wollen wir nicht 'n kleinen Ausflug heute machen? Es ist heut' draußen so schön!«

»Hm, wohin möcht'st du denn?«

»Am liebsten nach der Fähre!«

»Nein, nein. Du weißt doch, daß ich mit den Wasserfahrten nichts im Sinn habe.«

»Dann nach den Kramohnstannen.«

»Das ist zu weit. Dann wirst du zu müd', mein lieber Jung', und kannst nachher nicht mehr arbeiten. Nein, nein! Ich will dir was sagen, wir üben erst mal gehörig die griechischen unregelmäßigen Verben und dann gehen wir nach dem weißen Kreuz, nicht?«

Friedemann nickte stumm. Da kamen sie ja aus den Häusern kaum heraus. Aber wenn der Vater es so wünschte!

So setzten sie sich denn zusammen hin und übten die griechischen unregelmäßigen Verben.

Der Vater war Friedemanns beständiger Lerngefährte. Er hatte von Hause aus nur Mittelschulbildung genossen. Als der Kleine die Sextanerwürde errungen, kaufte Vater Gries zwei lateinische Grammatiken und betrat Hand in Hand mit seinem Sprößling die Vorhalle der klassischen Bildung, des gehobenen und 12 geläuterten Menschentums, von heiligem Schauer angeweht.

Auch die andern Lehrbücher wurden doppelt angeschafft. Während der Kleine in der Schule saß, lernte dann der Vater zu Hause mit eisernem Fleiß, und seiner Ausdauer gelang es, der jugendlichen Leichtigkeit zur Seite zu bleiben, ja ihr in Manchem sogar vorauszuschreiten. So konnte denn Vater Gries seinen Friedemann in die Quinta, in die Quarta und jüngst in die Tertia geleiten.

Ein Fach, in dem er z. B. entschieden mehr leistete, als der Kleine, war das Griechische, an dessen Schwierigkeit er seine ganze unermüdliche Kraft setzte. Es war ein Glück, daß ihn keine Berufsgeschäfte in Anspruch nahmen! Da konnte er stundenlang die schweren unregelmäßigen Verben pauken, daß es nur so eine Art hatte. Und schon lockten ihn die verschmitzten Verba auf mi.

Friedemann waren solche Reize verschlossen. Wäre er nicht ein so braver und leidlich begabter Junge gewesen, er hätte sich leicht auf dem Standpunkt seines Freundes Gerdes verschanzt. So aber that er seine Arbeit.

Träge flossen ihm die Stunden des Nachmittags dahin. Dann gab es Kaffee und dann 13 kam der Spaziergang an die Reihe. Es war heute so wie immer.

Nur daß sie heute einen weiteren Weg machten, als gewöhnlich. Der führte sie am Mühlendamm entlang, und wenigstens einen Genuß besonderer Art schloß er für Friedemann ein: das war der Blick von der Schleusenbrücke in die wirbelnde Flut.

Schon von ferne hörten sie das Wasser tosen. Als sie auf die Brücke traten, fragte Friedemann. »Darf ich, Vater?«

»Na ja, wenn du so gerne willst.«

Der Vater nahm sorglich seine Hand, dann gingen sie an das hohe, mächtige eiserne Geländer, das solche Fürsorge ganz überflüssig machte. Dicht lehnte sich Friedemann an die Stäbe. der Vater blieb einen Schritt zurück, den Kopf abgewandt, die Hand des Jungen hielt er fest in der seinen.

Mit prickelndem Entzücken, das ihn fast erzittern machte, sah Friedemann in das wilde Gewühl der sich überstürzenden, sich fauchend verschlingenden und wieder ausspeienden Wasser.

»Wenn da einer hineinfällt, Vater –«

»Wie?« Das Brausen war zu stark. Friedemann wiederholte die Frage schreiend.

»Der wird erwürgt von dem schrecklichen Wirbel. Komm!« 14

»Noch einen Augenblick.«

Wenn jetzt die Brücke zusammenstürzte, dachte Friedemann. Man fühlte deutlich, wie ihre Pfeiler bebten. Ein wohliges Grauen überlief ihn. Er konnte die Augen nicht losreißen von dem Todesstrudel.

Und dann, da seine Blicke den reißend schnell fortgeschleuderten Fluten folgten, trafen sie em Stück freudigen mutigen Lebens.

Ein kleines Fischerboot. Jungen und kleine Mädchen sitzen darin, diese mit Frühlingsblumen in Hand und Haar. Die Knaben rudern das winzige Fahrzeug gegen den Strudel an. Langsam würgt es sich vorwärts. Es stampft und wühlt mit aller Kraft. Jetzt kann es nicht weiter. Die Wogen wollen sich am Rande festkrallen – da heben die Jungen die Ruder aus dem Wasser und fort schießt das Boot, zurückgeschnellt von dem Wirbel in blitzschneller Fahrt. Laut jauchzen und kreischen die Kleinen.

»Siehst du, Vater –«

Der Vater wandte den Kopf nicht.

»Jetzt ist's übergenug. Komm!«

Er zog ihn fort auf die andere Seite, und sie gingen weiter. Friedemann drehte sich mehrmals um. 15

»Da waren Kinder im Boot, die sind bis in den Strudel hineingefahren!«

»Das ist – das ist ja geradezu frevelhaft! Die verdienen die strengste Strafe!«

»Aber mutig sind sie doch!« dachte der Kleine. Und er verglich sich mit den Kindern – er hinter dem Gitter, vom Vater noch dazu an der Hand gehalten, und sie gegen den Strudel kämpfend und den Wirbel sich dienstbar machend.

Da kam es wie ein Sehnen über ihn, das sich auflehnen wollte gegen Gitter und Gängelband. Aber er konnte den Vater nicht betrüben, und so zog er still mit ihm die Straße. –

Früh wie immer gingen sie am Abend schlafen. Als Friedemann sich in seinem Nest zurecht gekauert hatte, zog auch Vater Gries seine dünnen Beine unter sein Oberbett.

»Fiete!«

»Ja!«

»Was heißt: sie beide fielen – pipto! Aorist!«

Der Alte hatte die Form schon: »epeseten« bildete er aus dem Handgelenk, erregt mit den Fingern schnalzend.

Drusselig wälzte sich der Kleine herum – er war bei epeson angelangt – epeses16 epese – weiter kam er nicht. Der Schlaf meinte es zu gut mit ihm.

Der Vater störte ihn nicht. Hat's doch noch immer nicht so recht erfaßt! dachte er. Aber seinem Unmut darüber hielt das Bewußtsein seines eignen Könnens die Wage.

*

Allzu vorschnell war die Maienluft gewesen. Rauhe, trübe Tage waren den warmen, sonnigen gefolgt. Vater Gries hatte sich ein tüchtiges Schnupfenfieber geholt. Verpimpelt wie er war, scheute er jetzt alle Berührung mit den Truggeistern des nordischen Lenzes, und Friedemann mußte heute den Weg von der Schule nach Hause allein zurücklegen.

Heute hatte es sogar am Vormittag etwas geschneit, zum Jubel der Jugend, der das Ungewohnte erhöhte Freude giebt. Und so ausgelassen wie je war ihr Ausgang aus den Thoren des Gymnasiums.

Als Fiete herauskam, flog sein Blick wie immer nach dem Standplatz seines Vaters – er war leer. Richtig! Ja! Der Vater fühlte sich nicht wohl. Aber er hatte doch gehofft, er würde ihn hier finden, es würde nicht so schlimm mit ihm sein. 17

In Sorge und Sehnsucht beschleunigte er seine Schritte.

Drei seiner Mitschüler, die denselben Weg hatten, tosten hinter ihm her.

»He hätt jo hüet sien Kinnermäten gor nich bi sich!« hörte er den einen rufen – gellend laut, daß er's auch ja hören sollte. Die andern johlten.

Das Blut flutete ihm zum Herzen, und dann brodelte es ihm heiß in den Kopf, daß seine Schläfen zuckten, aber er eilte weiter. Es war nicht das erste Mal, daß er so bittere Worte hinnehmen mußte. Freilich, heute thaten sie ihm besonders weh.

Sie kamen in die Altstadt. Hier galt für einen richtigen Jungen das Schulgesetz nicht mehr, durch welches das Schneeballen auf dem Schulweg strengstens untersagt war; und als er in eine Querstraße einbog und den Kopf zurückwandte, sah er seine Mitschüler sich kräftig bombardieren.

Die Drei folgten ihm weiter. Und jetzt traf ihn ein Schneeball klatschend in den Nacken. Jäh drehte er sich um. Es zuckte und drängte in ihm, dem ersten sich entgegenzuwerfen.

Wer weiß aber, ob's der gewesen ist? fragte seine Überlegung. Und er schritt weiter. Als 18 er mit der Hand die Spuren des Geschosses entfernte, merkte er, daß es nicht gerade aus weißem Schnee gebildet gewesen. Aber er zwang auch diesen Unmut nieder.

Und nun war er dicht bei seinem Haus. Jetzt waren es nur noch zwei, die hinter ihm hergingen.

»Du, Gries!« rief der eine, »wur is denn dien Oll hüet?«

»Den Öwergesnappten? Den hebben's nah 't Kathrinenstift bröcht!« rief der andere schrill, mit lauter Genugthuung ob seiner Witzigkeit.

Friedemann warf die Bücher hin. Wild stürzte er sich auf den Schmäher. Zischend und fauchend ging der Atem ihm durch die Zähne. Mit beiden Fäusten schlug er nach dem Gesichte seines Gegners, der sogleich den Kampf aufnahm. Dieser war der größte und kräftigste von den dreien; sein Begleiter, auch wenn ihn nicht das Anstandsgefühl zurückgehalten hätte, durfte ruhigen Gewissens den Zuschauer spielen.

Friedemann hatte einen harten Stand. Ins rechte Auge und auf die Nase traf ihn gleich im ersten Gang mit aller Wucht die knochige Faust seines Feindes. Aber er hielt sich wacker. Und nicht alle seine Hiebe wurden pariert. Jetzt aber sprang der andere sich duckend blitzschnell auf ihn los, umschlang ihn von unten und warf 19 ihn zu Boden. Dann kniete er auf dem Kleinen und wollte ihn soeben nach allen Regeln der Faustkunst als Besiegten sich fühlen lassen – da tönte ihm aus kräftiger Frauenkehle ein schmetterndes: »Infamer Bengel!« in die Ohren, um die ihm im nächsten Augenblick ein paar Maulschellen saftigsten Kalibers sausten. Aufspringen, seine Bücher aufraffen und mit dem Genossen verschwinden war eins. Sein Schimpfen erklang erst nach geraumer Weile.

Friedemann aber fühlte sich von Frau Schümann, der kampfesfreudig wie flatternde Fahnen die Haubenbänder ums Haupt wogten, aufgehoben und in zärtliche Obhut genommen.

»Hast dich gut gehalten, Fieting! Hab's schon 'ne ganze Zeit mit angesehen – bis' mir zu doll wurd. Na, nu komm man! Die Nas hat ja gehörig einen abgekriegt. Bist aber doch 'n tüchter kleiner Mann!«

Sie zog ihn in die Küche und wusch ihm das Blut ab. Ihrem Bedauern legte sie absichtlich Stillschweigen auf. Dann kühlte sie ihm das eine Auge, das blau unterlaufen war. Als sie den kleinen Kämpen einigermaßen in stand gesetzt hatte, ließ sie ihn nach oben gehen.

»Wird doch noch 'n Kerl! Trotz alledem!« murmelte sie vor sich hin. 20

Der Vater saß im Lehnstuhl. Er hatte die Brille abgenommen, weil die Augen ihm weh thaten. Und das war günstig, so konnte er von dem, was vorgefallen war, keine Spur entdecken. Der Kleine aber war entschlossen, von seinem Kampfe nur zu erzählen, wenn er danach gefragt würde.

»Wie geht's denn, Vatting?« Zärtlich schmiegte sich Friedemann an des Alten Knie.

»Es geht, mein lieber Jung. Hat mir leid gethan, daß ich dich nicht abholen konnt'. Aber ich muß mich schonen. Nun, wie war's denn heut' in der Schule?« – –

*

In ungestörtem Gleichmaß flossen die folgenden Jahre hin. Unermüdlich lernte Vater Gries alles, was seinem Sohn die Schule aufgab, und dieser selbst zog auch seinen Strang weiter. Was hätte er auch anders thun sollen? Zu Seitensprüngen ließ es schon die ständige Genossenschaft des Vaters nicht kommen.

So waren sie denn in der Sekunda angelangt. Und jetzt standen sie vor dem »Einjährigen Zeugnis«. Mit Zagen und Beben sah Vater Gries der Entscheidung entgegen. Das lag daran, daß er selbst kein guter Schüler mehr 21 war. Ließen bei Friedemann die Leistungen in den alten Sprachen zu wünschen übrig, so haperte es bei ihm in der Mathematik. Daher seine Unsicherheit. Er fühlte, daß er seinem Jungen nicht mehr in allem eine Stütze sein, daß er nicht mehr in allem mit ihm Schritt halten konnte, und trostlos grau malte sich ihm die Zukunft.

Und alltäglich, bis in die Nacht hinein, büffelte er Geometrie und Algebra, schwitzte Angst beim »goldenen Schnitt« und brütete über Gleichungen mit mehreren Unbekannten, die seiner Bekanntschaft boshaft auswichen. Kein Wunder, daß er immer trockner und gelber wurde.

Friedemann ließ eher die Sache an sich herankommen. Er beschäftigte sich jetzt vorwiegend damit, zu wachsen. Lang schoß er in die Höhe, bald überragte er seinen Vater, der auch nicht ganz klein war.

Tante Schü aber freute sich besonders seines Gleichmuts. »Die Schwarte hat er!« sagte sie. »Wenn er nu noch den Speck darunter kriegt, denn kann er werden!«

Wenn der Vater seiner Angst vor dem Abschluß des Schuljahres die Zügel schießen ließ, tröstete ihn Friedemann. »Na Vatting – wir werden da ja wohl mit durchkommen. Es sind schon viel Dümmere damit durchgekommen.« Aber 22 die Sorgen des Alten wurden durch solchen Zuspruch nicht aufgehellt. Und er that weiter Buße bei der Mathematik.

Und jetzt war der Tag der Entscheidung gekommen, an dem nachmittags nach drei Uhr den Schülern ihre Zeugnisse eingehändigt werden sollten. Vater Gries war vom frühesten Morgen an in großer Aufregung; er vergaß darüber fast Essen und Trinken. Friedemann aber ließ sich sein Mittag – es gab für ihn 'mal wieder Schweinsbraten mit Pflaumen – vortrefflich schmecken.

Schon geraume Zeit vor drei fand sich der Alte beim Gymnasium ein und strich um dessen Mauern. Drei schlug es, die Zwischenpause begann, vom Schulhofe aus stieg der Lärm der unbekümmerten Jugend in die Lüfte.

Jetzt schellte es laut. Das jubelnde Treiben verstummte. Die jungen Sünder begaben sich in die Klassen, ihr Urteil entgegenzunehmen. Ein alter Sünder aber irrte inzwischen, von seinem Gewissen gepeitscht, rastlos weiter um die Mauern des Schulgebäudes.

Jetzt kamen die Ersten der Erlösten heraus, beflügelten Schrittes mit leuchtenden Augen die einen, die andern langsam mit langen Gesichtern. Und dann kamen immer mehr. Friedemann aber war noch immer nicht zu sehen, auch von seinen 23 Mitschülern keiner. Dem Alten stieg das Herz würgend bis in den Hals. O Gott! O Gott! In der Untersekunda wurde sicherlich grausames Gericht gehalten.

Da! jetzt tauchten auch die weißen Mützen auf – sein Auge wühlte sich durch die Schar – und jetzt gewahrte es Friedemann – forschend sog es sich an dessen Zügen fest, doch die waren gleichmäßig wie je.

Der Vater stürzte auf ihn los.

»Fiete – na, was is?«

»Durch!«

»Was heißt das?« Das klang wie ein ängstlicher Schrei.

»Durchgekommen!« Der Alte sank in seine Arme.

»Hurra!« brüllten ein paar lose Rangen, und alle, die die Gruppe umstanden, lachten hell auf.

Etwas beschämt löste sich Friedemann aus des Vaters Umarmung. Und dann gingen sie nach Haus, still nebeneinander. Erst nach einer Weile ließ sich der Alte die Zensur zeigen, und jetzt fand er auch die Sprache wieder. Über einzelne Noten, die ihm nicht gut genug waren, schüttelte er den Kopf und regte dann lebhaft die Zunge. 24

»Vater,« fragte Friedemann, als bei seinem Erzeuger sich die Erregung gelegt hatte, »erlaubst du nicht, daß ich heute abend – wir, die wir das Einjährige gekriegt haben, geben heute abend einen Kommers –«

»Was – was gebt ihr?«

»Einen Kommers!«

»Ihr Jungs? Aber ich bitte dich, Fiete, ist denn das erlaubt?«

»Nee, das wohl nicht –«

»Und dann willst du das mitmachen!? Das hast du dir doch nicht richtig überlegt, mein Jung! Erstens vergehst du dich damit aufs schwerste gegen das Schulgesetz! Und zweitens nicht weniger schwer gegen dich selbst, gegen deinen Körper und deinen Geist. Das Bier ist in so jungen Jahren ja geradezu tödliches Gift! Auch später ist es ja im höchsten Grade schädlich, und ich hoffe, du wirst dich immer vom Kneipen fern halten. Aber jetzt – nicht daran zu denken! Nein, mein Jüngling! Ich koch' uns heut abend recht schöne Schokolade, und dazu kaufen wir uns vorher Kuchen beim Konditor Kreymann – Sandtorte, nich? Und denn geh'n wir auch zum Antiquar Bunge und kaufen uns die Bücher, die wir in der Obersekunda brauchen. Und die sehen wir uns heut' abend 25 an, und dann woll'n wir uns schon freuen über den heutigen Tag!« –

Zwei unholde Mächte, Trigonometrie und Stereometrie benamset, schlossen in der Folgezeit einen heimtückischen Bund, Vater Gries das Leben nach Möglichkeit noch mehr zu verleiden. Er schwitzte Blut im heißen Ringen mit diesen bösen Geistern; aber es nützte ihm alles nichts: die Mathematik ließ sich von ihm nun einmal nicht bezwingen. Das lastete schwer auf ihm, es drückte ihn fast zu Boden. Da aber sprach Friedemann ihm Trost zu: Keiner von seinen Mitschülern könnte so viel Lateinisch und Griechisch wie der Vater, und wer in den alten Sprachen so viel leistete, der könnte in der Mathematik ruhig schlecht sein, das Abiturienten-Examen bestände er doch, da würde das kompensiert!

Dadurch wurde der Alte ein wenig aufgerichtet.

Die Abiturientenprüfung, der Friedemann jetzt zusteuerte, nachdem er die Primanerwürde errungen hatte, beherrschte die ganze Gedankenwelt des Vaters, unheimlich drohend und zauberhaft lockend zugleich wie Nordlandsschein. Für Friedemann aber war sie nichts als das leuchtende Thor, das zur Freiheit und Selbständigkeit führte. Selbständigkeit! Frei werden von der Knute 26 engherziger Schulmeisterei! Und frei auch von der überängstlichen Hut des Vaters –

Nicht als ob seine Zärtlichkeit für den Vater nachgelassen hätte. Der war und blieb sein bester, sein einziger Freund, sein guter, treuer Kamerad, dem er alles mitteilte, ohne Rückhalt – bis auf das eine –

Seit über seiner Oberlippe ein leiser Schatten sich zog, gingen zarte Regungen durch seine Seele. Die blondzöpfige Frieda, des Küsters blitzblankes Töchterlein, wurde die Königin seiner Phantasie. Und ihrem Liebreiz brachte seine sehnende Minne manches Huldigungslied dar.

Aber niemand wußte davon. Nicht einmal die Erkorene seines Herzens selbst. Sie ahnte nicht das geringste von dem zarten Werben seiner Gedanken. Denn scheu hielt er sich von ihr fern, selbst seine Blicke wichen vor ihrem munteren Augenpaar zur Seite. Und auch seinem Vater enthüllte er seine lyrischen Empfindungen nicht.

Der hätte auch jetzt, wo das Examen schon nahe vor der Thür stand, nicht eine Spur von Verständnis dafür gehabt. Für ihn gab es nichts als Pauken und Büffeln. So ging es den lieben langen Tag bis spät in die Nacht hinein. Er durchbrach die Ketten des binomischen Lehrsatzes und flüchtete sich zu seinem geliebten Cicero oder 27 zum Thukydides, bei denen er im Vollgenuß seines Könnens schwelgen durfte, um dann reuevoll zu der kalten, liebeleeren Mathematik zurückzukehren.

Immer fieberhafter wurde seine Thätigkeit, Friedemanns Ermahnungen und Tröstungen verfingen schon nicht mehr – und als dann das Examen wirklich begann, hatte er es glücklich so weit gebracht, daß er das Bett hüten mußte. Er war wie gebrochen, eine müde Teilnahmlosigkeit bemächtigte sich seiner, und diese dichtete sich dann zu einer Art Schlafsucht, die Friedemann mit großer Besorgnis erfüllte. Der holte den alten Sanitätsrat Mester.

»Lassen Sie ihn man schlafen,« meinte dieser, »das ist das beste was er jetzt thun kann. Wer schläft, schmökert nicht.«

Es dauerte nun freilich eine Zeitlang, ehe der Leidende sieh wieder erholte. Inzwischen hatte Friedemann die schriftliche Prüfung hinter sich. Hatte ihn die Unrast des Vaters während jener schweren Tage verschont, so hatte dafür die Sorge um dessen Wohlergehen auf ihm gelastet und seine Gedanken oft von der Arbeit abgezogen.

Mit einigem Herzklopfen erwartete er das Ergebnis, das ihnen nach vierzehn Tagen mitgeteilt wurde. Aber seine Befürchtungen waren 28 umsonst gewesen, er war zum Mündlichen zugelassen.

Die Freudenbotschaft ließ Vater Gries wieder aufleben. Er wurde so regsam, wie er nur je gewesen, wurde nicht müde, nach allem zu fragen, und für das, was bevorstand, Rat zu erteilen und wirksam zu helfen – wie er vermeinte – indem er selbst wieder zu den Büchern griff. Und als es dann zum Mündlichen ging, hatte er sich glücklich wieder zu Schanden geochst. – –

Friedemann kam durch – nicht gerade mit Glanz, aber er stand seinen Mann.

Als er freudigen Schrittes nach Hause eilte, traf er Frau Schümann in der Thür. Die sah ihm gleich an, was geschehen war.

»Herzlichsten Glückwunsch mein lieber Jung!« Sie umarmte ihn, und er drückte einen herzhaften Kuß auf ihren Mund. Dann stürmte er nach oben.

Der Vater saß im Lehnstuhl. Bang und still waren seine großen Augen.

»Fein raus, Vatting!« jubelte ihm Friedemann entgegen, und er warf sich in seine Arme und küßte und küßte ihn. Da weinte Vater Gries leise vor sich hin.

Dann aber war er wieder oben auf; und als Friedemann ihm nun erzählen mußte, wie 29 es ihm in den einzelnen Fächern ergangen war, zeigte er sich keineswegs mit allen Ergebnissen zufrieden.

*

»Morgen abend soll nun unser großer Kommers sein!« verkündete Friedemann ein paar Tage später. »Da darf ich jetzt doch hingehen?«

»Hm – ja – wenn es durchaus sein muß!«

»Ja, Vatting. Ich kann mich doch allein nicht ausschließen.«

»Nun ja – aber du mußt mir versprechen, Fiete, daß du recht mäßig bist – ein – höchstens zwei Glas Bier – allerhöchstens – mehr darfst du auf keinen Fall trinken! Es ist ja gar nicht zu sagen, wie viel geistige Potenzen durch das Kneipen vernichtet werden.«

Und dann hielt er eine rasselnde Philippika gegen den Alkoholgenuß.

Der Abend des Kommerses war da. Vater Gries geleitete seinen Sohn nach dem Lokal, und eindringlichst schärfte er ihm unterwegs noch einmal die größte Mäßigkeit ein und ermahnte ihn, spätestens halb elf nach Hause zu kommen.

Dann machte er sich gesenkten Kopfes auf den Heimweg – es war der erste Abend, den er ohne Friedemann verbringen sollte. Ihm 30 war's, als habe er einen schweren Verlust erlitten. –

Als Friedemann in den Saal trat, fand er hier schon eine ganze Menge beisammen: Studenten, Konabiturienten und Primaner.

Sie alle thaten sehr behäbig und sachverständig, und immer mehr fanden sich ein mit gewichtiger Miene.

Alle hatten offenbar schon eine mehr oder weniger große Kommerspraxis hinter sich, er war entschieden der einzige Neuling.

Schwer wurde es ihm, einen Anschluß zu finden. Er wurde allgemein für ein verzärteltes Muttersöhnchen gehalten, und die Art galt hier am allerwenigsten, hier, wo Forschheit Trumpf war.

Als dann aber von der dröhnenden Stimme des zum Präsiden ernannten baumlangen Studenten »ad loca« kommandiert worden, hatte er das Glück, neben dem dicken Lüders seinen Platz zu bekommen. Das war eine brave Haut, der nahm sich gutmütig seines unerfahrenen Nachbarn an.

»Willst du auch 'n Toback?« Er griff in die Tasche und hielt Friedemann ein paar Cigarren hin, bei deren Wahl er offenbar in erster Linie auf das Kaliber gesehen hatte. 31

»Danke, ich rauche nicht.«

Ringsum schmauchten und pafften sie alle wie die Schornsteine. Ehe der Dicke Worte gefunden hatte, seine Mißbilligung zu äußern, schmetterte das Präsidium den Schläger auf die Tischplatte und befahl »Silentium!« trank dann einen Ganzen auf den glücklichen Verlauf des Kommerses und bestimmte: »Wir singen das erste Offizielle ›Hier sind wir versammelt‹.«

Viel zu tief für die jugendlichen Kehlen wurde das Lied angestimmt. Aber es gewährte ihnen allen große Genugthuung, im Bierbaß zu grunzen. Und jeder holte aus seiner Kehle heraus, was sie irgend hergeben wollte.

Friedemann sang nicht mit. Einmal kannte er die Weise nicht, und dann stürmten die neuen Eindrücke zu mächtig über ihn her.

Dieses ungehemmte Brausen frischer, kraftvoller Jugendlust war ihm eine neue Welt, und es betäubte ihn erst, um dann seine ganze Seele zu füllen. Immer mehr ging sein Wesen auf in diese Sorglosigkeit und Ungebundenheit, in diese Freiheit des Frohsinns.

Der wuchtige Sang war zu Ende. »Silentium! Ein Schmollis den Sängern!« verkündete der Präside.

»Fiducit!« hallte es als Antwort der Korona 32 durch den Saal. Und danach tranken sie alle. Friedemann that es ihnen nach.

Jetzt erschienen ein paar Lehrer auf der Bildfläche. Sie wurden in Ehren empfangen. Dann aber kümmerte sich keiner mehr groß um sie. Dieser und jener trank ihnen ohne weiteres zu und sie erwiderten es freundlich. Sie gaben sich hier ganz als »Kommilitonen«.

Alles das gefiel Friedemann unbändig. Und das Bier schmeckte ihm ausgezeichnet. Bald stand ein neues Glas vor ihm.

»Na, prost Blume!« sagte sein dicker Nachbar, dem schon das dritte gebracht worden. Er that ihm Bescheid.

Und dann kam die schwungvolle Rede des Präsiden auf sie, die Abiturienten, die so lange hinter den schirmenden Mauern der Schule und des Hauses gesessen, die jetzt hinaus müßten ins feindliche Leben. Ein donnernder Salamander schloß sich daran.

Friedemann hatte sein Glas ausgetrunken, wie die andern, sein Auge blitzte und seine Seele jauchzte.

Jetzt ging's in den Kampf! Mit der Hockerei hinter dem Ofen war es jetzt vorüber! Jetzt konnte er seinen Mut zeigen und seine Kraft. Jetzt galt es, sich als ganzer Kerl auszuweisen, 33 Nichts fürchten! Offen und frei in Wort und That!

»Frei ist der Bursch!« sangen sie nun:

»Wer die Wahrheit kennt und sagt sie nicht,
Der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht!«

Jetzt sang er mit. Die Melodie hatte er gleich begriffen. Herzhaft quollen die Töne über seine Lippen, alles, was in ihm war, jubelte dem Geiste dieses Weiheliedes zu. Ein ungekanntes Glücksgefühl durchleuchtete sein ganzes Wesen.

Reden und Lieder wechselten mit einander ab, Ernst und Scherz. Friedemann verschlang alles mit strahlenden großen Augen. Dann und wann stieg ihm eine heiße Blutwelle zu Kopf. Er hatte schon erheblich viel mehr getrunken, als der Vater ihm erlaubt. Aber er dachte schon nicht mehr an die häusliche Enge.

Bis zur Ausgelassenheit war die Stimmung angewachsen. Einzelne Gemüter platzten bereits aufeinander. In seiner Nähe hörte er einen Kampfhahn mit achtunggebietender Stimme seinem Gegner einen »Bierjungen!« ins Gesicht schleudern.

»Hängt!« entgegnete der andere gelassen.

»Was ist das?« fragte Friedemann den dicken Lüders.

»Wirst ja sehn! Prost!« gab der zur Antwort. 34

Mit gespanntester Aufmerksamkeit folgte Friedemann den Vorgängen, die sich aus jener Forderung entwickelten.

»Ich bitte um Silentium für einen Bierskandal!« ersuchte den Präsiden derjenige, der zum Unparteiischen für den feuchten Zweikampf ernannt war.

»Silentium für einen Bierskandal!« gebot der Hochwohlweise.

Und dann, nach Erledigung der Präliminarien. gossen die beiden »Paukanten« das Bier aus den vollen Gläsern in den Schlund.

»Bierjunge!« keuchte der erste, der fertig war, seinem Gegner ins Gesicht, der sich eben verschnaufte. Der Geforderte war Sieger.

»Abfuhr auf seiten des Herrn Knoop!« entschied der Unparteiische. Und aufs neue brausten durch die Halle die Wogen lärmender Unterhaltung.

Ein neues Lied – diesmal sangen sie: »Es lebe die Liebste deine« und dabei dachte Friedemann mit Inbrunst an des Küsters Töchterlein – und darauf eine neue Rede, diesmal eine lustige von einem der Lehrer – beides bedeutete für Friedemann ein neues Glas.

»Du Gries!« wandte sich da sein Gegenüber an ihn – es war der dünne Braun, den er 35 nicht leiden konnte – »du kriegst ja so 'n roten Kopf – besauf dich man nicht!«

Das stieg Friedemann denn doch in die Krone. Aber er wußte, wie man sich gegen solchen Tusch zu verhalten hatte – natürlich! Und ein kräftiger »Bierjunge!« flog dem andern an den Kopf. Er wollte ihm schon zeigen –!

»Was? Der Gries?« Aus der ganzen Nachbarschaft richteten sich die Köpfe nach ihm – und die Kunde verbreitete sich blitzschnell durch den ganzen Saal, der »kleine Gries« hätte zum Bierjungen kontrahiert. Das war ein Ereignis!

Die größte Teilnahme war diesem Kampfe gewiß. Mit fast atemloser Stille sah man ihm zu. Und siehe da – Friedemann ging als Sieger aus ihm hervor!

»Bravo, Gries! Das hast du gut gemacht!«

»Bravo! 'n Halben aufs Spezielle!« – »Prost Gries!« so scholl es durch die Reihen.

Friedemann fühlte sich nicht wenig gehoben.

Ja, ja – ihm sollte mal einer an den Wagen fahren!

Die Thatsache aber, daß er die öffentliche Aufmerksamkeit beschäftigt hatte, trug bald genug ihre Früchte.

Der Vorsitzende schlug auf den Tisch. »Silentium! Kommilitonen! In Anbetracht des 36 Umstandes, daß auf der Korona eine so überaus trübselige Stimmung lastet, halte ich es für geboten, daß scherzhafte Reden und allerhand Kurzweil die Dämmerung dieses traurigen Abends erhellen. Ich werde einige von den jüngeren Semestern, die zu größeren Hoffnungen berechtigen, dazu bestellen, uns durch Bierreden geziemend zu erheitern. Als ersten habe ich zu diesem wohlthätigen Zweck Herrn Gries ausersehen!« (Beifälliges Fußtrampeln und lautes Bravo unterbrach den Redner.) »Herr Gries wird also in fünf Bierminuten ums Wort bitten. Dixi.« (Wiederholtes, lebhaftes Bravo.)

Jetzt beschäftigten sich alle Blicke eingehend mit Friedemann. Der war, als er seinen Namen hörte, ein wenig zusammengezuckt, gleich aber sah er mit hellen Augen denen, die ihn musterten, ins Gesicht. Erst hatte sich in ihm etwas gegen diese Bestimmung, die sich um seinen eigenen Willen nicht im geringsten kümmerte, entschieden aufgelehnt. Dann aber war er entschlossen, ihnen allen auf der Stelle zu zeigen, wer er war. Und er erhob sich gleich.

»Ich bitte ums Wort.«

»Silentium für Herrn Gries!«

»Meine Herren! Der Herr Präses hat – kraft des Verstandes, dessen er sich rühmen darf, 37 weil ihm ein Amt gegeben ist« – ein gutmütig verblüfftes »Halloh!« des Präsiden und ein Murmeln des Staunens aus der Runde unterbrach den Redner.

»Der Herr Präses hat – mich in erster Reihe bestimmt, durch eine Bierrede einen andern Geist hier heraufzubeschwören und – er darf sich zu dieser Wahl beglückwünschen!«

»Nanu?« – »Der ist günstig!« – »So 'n üppiger Fuchs!« – »Silentium!«

»Wenn ich meine Augen so um und um gehen lasse, entdecke ich nicht einen einzigen, der hierin sich mit mir auch nur im entferntesten messen könnte. Wohl – möchte es auf den ersten Blick scheinen, als ob Sie alle, die Sie um mich herumsitzen, gerade zu einer Bierrede berufener wären, als ich, denn – keiner unter Ihnen, von Herrn Kondirektor Dr. Weiße angefangen bis zu dem jungen Rösner, in dessen Zügen nicht mehrfache Trunkenheit ihre mehr oder weniger wüsten Spuren hinterlassen hätte!«

Eine neue Pause der Verblüfftheit – dann ein Johlen und Lachen und vereinzelte Entrüstungsrufe der Unverständigen.

»Silentium striktissimum!« gebot der Präses.

»Ich sage, es könnte den Anschein haben, 38 als ob Sie zu einer Bierrede mehr Anlage und Berechtigung besäßen, als ich. Und das mag in der That zutreffen für eine Bierrede schlechthin, für eine Bierrede gewöhnlichen Schlages. Meine Bierrede ist aber von ganz ungewöhnlicher Art. Das – werden Sie begreifen und anerkennen, wenn meine Rede die feierliche und bedeutsame Mitteilung an Ihre Ohren klingen läßt, daß ich heute zum erstenmale in meinem Leben überhaupt Bier getrunken habe.«

Hier und da ein höhnisches Lachen.

»Geht Ihnen jetzt ein Licht auf? Sehen Sie jetzt, daß keiner von Ihnen imstande wäre, auch nur annähernd eine solche Bierrede zu halten? Zugleich aber werden Sie verstehen, daß diese meine Bierrede für mich zu einer Weiherede, zu einem Gelübde wird! Heute zum erstenmale habe ich dem Biere mich ergeben – und hier gelobe ich feierlichst: ich werde das noch sehr oft wiederthun. Sie aber, die Sie Zeugen dieses Gelöbnisses sind, fühlen sich gedrängt, mir für mein nunmehr gehobenes Dasein die besten Wünsche darzubringen, und indem ich freundlichst Ihrem Drange entgegenkomme, fordere ich Sie auf, sich zu erheben und auf mich einen donnernden Salamander zu reiben. Ich lebe hoch!«

Die Unverfrorenheit hatte gesiegt. 39

»Bravo!« – »Feiner Kerl!« scholl es aus dem Kreise, und die Füße trampelten Beifall.

Der Schläger des Präsiden forderte Ruhe. »Silentium! Wir haben eben die unverschämteste aller Bierreden gehört und wünschen dem Redner von Herzen Glück zu seiner überaus edlen Dreistigkeit. Daß sich bei ihm der Durst mit ihr stets auf gleicher Höhe halte, darauf reiben wir einen Salamander!«

Die ungeahnte Entpuppung des »stillen kleinen Gries« bildete den Höhepunkt des Abends. Insonderheit für Friedemann selbst. Jetzt, nachdem er vielfach Bescheid gethan und dazu ein paarmal Brüderschaft getrunken hatte, ging es schnell mit ihm bergab. Lähmende Müdigkeit überkam ihn, sein Kopf wurde schwerer und schwerer und sank dann auf den Tisch. Zugleich mit ihm blieben andere auf der Walstatt – es war Mitternacht geworden.

Der dicke Lüders, dem Friedemann ganz ungeheuerlich imponiert hatte, nahm sich seiner mit zärtlicher Sorgfalt an. Er half ihm auf die Beine, brachte ihn in die Garderobe, wo er ihm den Mantel anzog und den Hut aufsetzte und machte sich dann selbst fertig, ihn nach Hause zu geleiten. –

Trübsinnig und sorgenvoll hatte inzwischen 40 Vater Gries, während sein Sohn Friedemann zu feuchtfroher Berühmtheit gedieh, zu Hause gesessen. Bis halb zehn etwa hatte er alle Viertelstunde nach der Uhr gesehen, dann hatte die Bekümmernis ihn müde gemacht, und schließlich war er eingenickt. Als er wieder aufwachte, war es halb zwölf geworden.

Herrgott! Wo war Friedemann? Sollte er schon gekommen und, um ihn nicht zu stören, leise zu Bett gegangen sein?

Er stürzte ins Schlafzimmer – leer!

Heiliger Himmel! Wenn da ein Unglück geschehen war!

Mit zitternden Händen holte er seine Stiefel. Erst fuhr er in den verkehrten, dann brachte er die Fußbekleidung zustande. Nun noch Hut und Mantel!

Er tastete sich die dunkle Treppe hinunter, schloß nach allzu hastigem, vergeblichem Bemühen endlich die Thür auf und stürzte hinaus in die Nacht.

Schweißgebadet kam er vor dem Lokal an, wo der Kommers gefeiert wurde. Der grelle Lichterglanz, der aus den Fenstern in das Dunkel der Nacht brach, und der Lärm, der in die nächtige Stille sich warf, ließen seine ungestüme Sorge erst zurückscheuen. Dann aber trieb sie 41 ihn aufs neue an, und mit wilder Entschlossenheit stürzte er sich auf einen Kellner, der unten über den Hausflur schritt.

»Seien Sie doch so gut – geh'n Sie doch bitte 'mal nach oben und fragen Sie, ob Friedemann Gries noch da ist!«

Der Befrackte richtete aus seinem schläfrigen Gesicht einen halbwegs erstaunten Blick auf den so inbrünstig, fast weinerlich Bittenden. Dann näselte er »Ja woll!« und schritt lässig die Treppe hinauf.

Nach einer Weile, die dem Vater Gries die Angst zu Stunden des Grauens verzerrte, kam der Mann wieder heruntergeschlichen.

»Herr Gries hält grad 'ne Rede!«

»Was? Was?« Vater Gries taumelte zurück. Und wie um sich zu retten vor dem Schwall von Empfindungen, die ihn durchtosten, hastete er wieder auf die Straße hinaus.

Eine Rede hielt Friedemann!

Es dauerte eine Zeit, ehe er den Gedanken überhaupt zu fassen vermochte. So ungeheuerlich war das – beinahe grauenhaft! Dann aber schwand das Entsetzen, nur ein gelinder Schauer, ein gewisser Reiz des Unheimlichen blieb zurück, und dazu gesellte sich etwas wie Stolz und Freude. 42

Ja, ja – sein Friedemann –!

Danach aber wurde die Sorge wieder mächtig über ihn, die Angst, als könnte dieses Gewaltige, Ungeahnte ein Verhängnis einschließen – als müßte Friedemann etwas geschehen – als stände ihm etwas Furchtbares bevor – – –

Solche und ähnliche Empfindungen durchwogten ihn im Wechsel, und dabei ging er die Straße auf und ab, bald langsam, bald schneller, wie es ihn gerade packte und trieb. Er dachte nicht daran, etwas zu thun – was konnte er diesem Großen gegenüber, diesem Unglaublichen – er war am Ende seiner Macht, das fühlte er wohl – –

Friedemann hielt eine Rede!

Das war eine Selbständigkeitserklärung, wie sie überwältigender nicht gedacht werden konnte! Wehmut und Stolz rangen in ihm mit einander – – –

Jetzt – er war wieder in die Nähe des Restaurants gelangt – hörte er Lärm vor der Thür. Er wollte schon umkehren, da war es ihm, als ob sein Name gerufen würde. Er trat näher – und dann stürzte er auf die Gruppe los: das war ja Friedemann, der so kraftlos in dem Arm des andern hing! 43

»Friedemann! Um des Himmels willen! Was ist bloß passiert!«

»Ach garnichts, Herr Gries! Er ist bloß 'n bischen duhn!« erklärte der Dicke statt Friedemanns, der stillvergnügt allerhand musikalische Erinnerungen, wie sie ihm gerade durchs Hirn zuckten, vor sich hin summte.

»Das – das muß ich an dir erleben, Friedemann! O mein Gott, mein Gott!«

»Hallo Oller!« stieß Friedemann hervor, der seinen Vater jetzt erkannte, und er breitete die Arme aus und umschlang ihn stürmisch –

»Dolle Sache heute – dolle Sache –«

Weiter kam er nicht.

»Es ist ja nicht zu glauben!« jammerte der Alte, und mit Lüders Hilfe entwand er sich der Umarmung, die ihn selbst ins Schwanken brachte.

Dann faßte er mit todesmutiger Energie seinen Sohn, der höchst friedlich zu allem bereit war, unter dem Arm, erklärte dem Dicken: »Ich danke Ihnen bestens! Wir werden schon allein nach Hause kommen!« und dampfte nun mit Friedemann ab, der große Neigung zum Eilmarsch zeigte, aber durchaus nicht direktionslos war.

So kamen sie denn recht gut weiter.

Vater Gries sprach andauernd weinerlich verzweifelt auf seinen Sprößling ein, der zuerst 44 Miene machte, mit gerührt zu werden, und nur ganz hart am grauen Elend vorüberstreifte, dann aber kräftiglich gegen die Zerknirschung sich auflehnte und seinem Übermut die Zügel freigab.

Da zog der Alte andere Saiten auf. Angst vor den Nachtwächtern – Du heiliger Herrgott! Wenn sie nun auch noch mit der Polizei zu thun kriegten! – Dann die drohende Verzögerung der Heimkehr, da Friedemann nach den väterlichen Ergüssen immer Posto zu fassen und nun auch seinerseits seinen Gefühlen in möglichst eindringlicher und lebendiger Rede Ausdruck zu verleihen suchte.

So schwieg denn der Alte zitternd und wimmernd; Friedemann aber war der Ruhe keineswegs abhold, und sie schwankten nun schnellen Schrittes, ohne noch ein Wort zu reden, heimwärts.

*

Nach unruhigem Schlafe erwachte Vater Gries am anderen Morgen mit schwerem Kopfe und zerdrücktem Gemüt. Aufrecht setzte er sich im Bette und sah forschend nach Friedemann hinüber.

Der schlief wie ein Bär.

War das wirklich sein Sohn? Wenn er 45 bedachte, was am Abend vorher geschehen war! Er umspannte den Kopf, der ihm auseinander zu gehen drohte, mit den Händen. Betrunken! Sein Friedemann betrunken! Wie mußte das nicht bloß störend in dessen physische Entwickelung eingebrochen sein – auch seine moralische Existenz hatte es erschüttert, daran war nicht zu zweifeln.

Er stand auf und zog sich an, und dabei beobachtete er immer mit großen Augen seinen in tiefsten Schlummer versenkten Sprößling, als hätte man ihm jetzt, nach all den Jahren noch, einen ausgewachsenen Wechselbalg anstatt seines echten Kindes untergeschoben.

Wie fürchterlich mußte das Erwachen sein!

Aber als er, zum zwölften Male etwa, nachdem er mit dem Ankleiden fertig war, wieder in die Schlafstube schlich, hob Friedemann ruhig die Lider, streckte und reckte sich friedlich und gähnte mit Behagen.

»Friedemann, wie ist dir?«

»Haa – ah – Morgen, Vatting! Ach, was freue ich mich, daß ich nicht zur Schule brauch'!«

»Dir ist sehr schlecht?«

»Riesig fidel ist mir zu Mut – bloß, weißt Du, im Schädel da hab' ich so'n kleinen Brummer – aber der ist auch mehr lustig, als sonst was. 46 Na, ich hab' aber gestern auch nicht schlecht gesogen!«

Tiefbekümmert schüttelte Vater Gries das Haupt. Schon Friedemanns Art zu sprechen bekundete eine Verwahrlosung – oh!

Bebend vor Erregung begann er dann gegen das Laster des Trinkens sich ins Zeug zu legen, mit flammenden Worten kennzeichnete er den Fluch, den der Alkohol über die Menschheit gebracht, brandmarkte er alle dem Alkoholgenuß Ergebenen als die schlimmsten Feinde der Gesittung, als diejenigen, die sich am schwersten gegen die Kulturentwickelung versündigten.

Friedemann aber hörte ihm gleichmütig zu, steckte den Kopf ins Waschbecken, zog ihn prustend wieder heraus und meinte dann gelassen: »Ach Vatting, das ist nicht so schlimm! Du solltest auch deinen Schoppen trinken!«

»Friedemann!« Entsetzt fuhr der Alte zurück und wortlos verließ er die Schlafstube. –

Allmählich fand Vater Gries sein Gleichgewicht wieder. Von eingetretener sittlicher Fäulnis gaben sich bei Friedemann keine Anzeichen zu erkennen, er blieb abends immer zu Hause und trank ohne Einwendungen wie früher mit dem Vater Thee oder Schokolade. 47

Vielleicht war er dem Teufel noch glücklich entronnen!

Diese Hoffnung festigte sich bei dem Alten immer mehr, und sie spielte dann ihre Rolle bei den Zukunftsplänen, die jetzt für Friedemann geschmiedet wurden. Daß er klassische Philologie studieren sollte, stand für Vater Gries unerschütterlich fest, und den Jungen ließ seine Gemächlichkeit, wenn er auch im Innersten keineswegs damit einverstanden war, zum Widerstand sich nicht erheben.

Aber auf welcher Universität? Das war die erste große Frage.

Eine altehrwürdige, wenn auch kleine Hochschule war am Orte selbst, aber gerade mit der alten Philologie war es hier kümmerlich bestellt. Auf dem Lehrstuhl für klassische Sprachen saß ein uraltes Männlein, noch rüstig an Körper und Geist, aber steif und starr geworden, ohne Frische und belebende Kraft. Noch war er Alleinherrscher in seinem Reich, in absehbarer Zeit aber, jedenfalls in wenigen Semestern mußte, woran nicht zu zweifeln, ein jüngerer Genosse ihm zur Seite treten.

In Anbetracht dieser Verhältnisse hatte Kondirektor Dr. Weiße, den Vater Gries um Rat gefragt, diesem aufs entschiedenste zugeredet, er 48 solle Friedemann erst eine andere Universität besuchen lassen. Inzwischen würden sich hier die Dinge ändern, und dann könne sein Sohn ja hier und bei ihm bleiben bis zur Beendigung seiner Studien.

Schwere innere Kämpfe hatte Vater Gries zu bestehen, bis er sich entschloß, diesen Rat zu befolgen.

Es ging nun einmal nicht anders! Einmal mußte Friedemann ja doch vom Hause fort – das sagten sie alle, und es war auch wohl wirklich nicht zu umgehen. Dann aber lieber gleich, daß er ihn später ohne Unterbrechung bei sich hatte.

Aber wohin nun? Der Kondirektor hatte ihm zu Göttingen geraten. Er hatte dort selbst studiert und wollte Friedemann Empfehlungen mitgeben. Dazu kam, daß eine Schwägerin von der Schwester des Vater Gries in Göttingen wohnte. Das traf sich gut, die mußte sich des Jungen annehmen.

Und dann – die Göttinger Bibliothek.

500 000 Bände hat sie. Was konnte Friedemann da arbeiten! Mit welchen Wissensschätzen würde er nach Hause zurückkommen!

Vater Gries zählte seine Bücher. Es waren 454. Er hatte sich eingebildet, daß er eine 49 stattliche Bücherei sein eigen nenne. Und dagegen 500 000!

Ja, ja! Friedemann mußte nach Göttingen! Und das war ja nicht aus der Welt! Wenn die Sehnsucht zu mächtig über ihn wurde, konnte er ja hinfahren und seinen Sohn besuchen! Aber das Sommersemester war ja nur kurz – und zu den Ferien kam Friedemann wieder nach Hause.

Vorbereitungen über Vorbereitungen, die bis ins Kleinste und Feinste gingen, Ermahnungen und Verwarnungen ohne Ende füllten die folgenden Wochen. Gegen solches Geplätscher schützte Friedemann zur Genüge sein wasserdichtes Fell. In seinem Herzen aber strahlte die Freude, der sonnige Ausblick auf Selbständigkeit, auf ein freies Regen der Kräfte.

So kam der Tag der Trennung herbei. Vater Gries hatte erst einen Teil der Strecke mitfahren wollen. Eine so weite, weite Reise konnte der Junge doch unmöglich ganz allein machen!

Jetzt aber zwang den Alten sein körperliches Befinden, davon abzustehen. Er war wieder einmal ganz mürbe geworden.

Kurz, aber herzlich war der Abschied von Frau Schümann. 50

»Na Friedemann – halt' immer die Ohren steif und werd' 'n Kerl!« Das war ihr Reisesegen.

»Kümmer' dich auch 'n bißchen um Vater!« bat er sie.

»Das soll geschehen, mein Jung'!« –

Die dumpfe Teilnahmlosigkeit, die sich des Alten am Tage der Abreise bemächtigte, wich am nächsten Morgen der Sehnsucht und dem Gram. Sterbenstraurig saß er im Lehnstuhl am Fenster. Draußen regnete es ohne Unterlaß, matten Auges starrte er in das trübselige Grau.

Dieses erdrückende Gefühl des Verlassenseins! Diese arbarmungslose Gefangenschaft der Einsamkeit!

Da kam der Postbote! Friedemann sollte gleich eine Karte schreiben, sobald er an Ort und Stelle angelangt wäre! Aber der Briefträger ging vorüber – nun ja, die Nachricht konnte ja auch unmöglich schon da sein!

Voll Angst und Unruhe lief Vater Gries im Zimmer auf und ab. Der Atem versagte ihm – er mußte heraus aus den Wänden, ins Freie!

Frau Schümann fegte unten den Hausflur. Was er seit vielen Jahren nicht gethan hatte, das geschah jetzt: er blieb bei ihr stehen.

»Ja – nun ist er fort!« sagte er leise und trübsinnig. 51

»Na ja, deshalb müssen Sie doch den Kopf nicht so hängen lassen!« Sie öffnete die Thür zu ihrem Wohnzimmer. »Bitte, treten Sie näher. Es gießt ja gerade fürchterlich.«

Er setzte seine unruhige Wanderung in ihrer Stube fort. Sie aber nahm gelassen Platz und holte ein Strickzeug hervor.

Und allmählich, während sie mit einander sprachen, wobei sie ihm offenherzig aber unaufdringlich ins Gewissen redete, wirkte ihre fleischige Seßhaftigkeit und unerschütterliche Festigkeit beruhigend auf seine fliegenden Nerven, er ließ sich friedlich in der Sofaecke nieder und dachte nicht mehr daran, draußen im Regen herumzulaufen.

Wie gut, daß er doch jemanden hatte, mit dem er über Friedemann wenigstens reden konnte!

So holte er sich öfters Trost bei ihr. Einmal nur erregte sie seinen Unwillen – und er blieb deshalb den folgenden Tag von ihr fort – da ermahnte sie ihn mit aller Entschiedenheit, er solle doch endlich die »dämliche Krautesserei« aufgeben, dabei müsse er ja »immer mehr auf den Hund kommen.«

Danach hatte es eine ziemlich erregte Auseinandersetzung gegeben, dann aber war er doch wieder zu ihr gegangen. Es war gerade wieder 52 ein Brief von Friedemann angelangt, daraus mußte er ihr doch vorlesen!

Friedemann schrieb regelmäßig jede Woche. In allen Briefen stand, daß es ihm vorzüglich ginge. Im übrigen schilderte er zumeist das Leben in der fremden Stadt und ihre Umgebung. Von seinen Studien aber vermeldete er so gut wie nichts, obschon sein Vater verschiedentlich danach gefragt hatte. Er vertröstete ihn auf mündlichen Gedankenaustausch.

»Er will nicht renommieren!« erklärte dem Alten Mutter Schümann, und dabei versteckte sich in ihren runden Backen ein behaglich verschmitztes Lächeln.

Mehr als zwei Monate waren dahingeflossen. Vater Gries hatte sich allmählich an die Trennung von seinem Friedemann gewöhnt. Inzwischen war er selbst nicht unthätig gewesen. Emsiglich hatte er seine klassischen Studien für sich fortgesetzt; er wußte von Friedemann, daß der unter anderen ein Kolleg über Plautus und eins über Aristophanes belegt hätte, und diesen beiden Geistern suchte er nun mit aller Hingebung näher zu treten.

Wie freute er sich auf die Ferien, wo er dann mit Friedemann seine Gedanken austauschen würde! 53

Für seine schwache Gesundheit wurde es dabei wieder zuviel der geistigen Anstrengung, und bald mußte er sich legen. Es stellten sich dann allerhand sogenannte Komplikationen ein, die schließlich zu einem regelrechten Nervenfieber führten.

Es gab bei seiner kraft- und saftlosen Natur kein wildes sich Aufbäumen, keine Fieberkämpfe; mehr ein Hindämmern war es in müde Bewußtlosigkeit. Mit Aufopferung pflegte ihn Frau Schümann Tag und Nacht, und doch wurde sein Zustand immer bedenklicher.

Sie wollte an Friedemann telegraphieren, dem aber trat Sanitätsrat Mester entgegen. Dessen Ankunft würde eine seelische Erschütterung hervorrufen, die der Kranke unter keinen Umständen überwinden könnte. Es wäre durchaus nicht unwahrscheinlich, daß er in dieser Gefühls- und Gedankenlosigkeit wieder zu Kräften käme; alle gewaltsamen Eingriffe müßten verhängnisvoll werden.

Trotzdem war Frau Schümann eines Tages auf dem Sprunge, die Depesche abschicken zu lassen, als der Kranke den Kopf auf dem Kissen so seltsam regelmäßig hin- und herzudrehen und pustend zu atmen begann. Dann stellte sich heraus, daß dies die Krisis war und daß er sie offenbar glücklich überwand. 54

Er schlug die Augen auf, sah Frau Schümann ins Gesicht und sagte mit seiner matten Stimme: »Mir ist so eigentümlich leer!«

Da erhob sie sich, ging in die Küche und holte eine Tasse kräftiger Fleischbrühe.

Mit Behagen sog er, halb schlafbefangen, den Trank in sich hinein.

Seit der Zeit wurde es besser mit ihm.

Als am andern Tage der Sanitätsrat kam, war sein Bewußtsein ungetrübt.

»Sie haben sich brav gehalten, Herr Gries! Zur Belohnung brät Ihnen Frau Schümann auch draußen eine Taube!«

»Eine Taube?! Nein – nein!« Es war nur ein mattes Widerstreben, mehr gab seine Schwäche nicht her. Aber sein vegetarisches Gewissen regte sich bis in die Tiefen.

»Machen Sie gefälligst keine Geschichten! Sie müssen wieder zu Kräften kommen! Vegetariertum – für gewisse Zeiten und Verhältnisse ist es ja ganz gut – aber – Sie sind doch ein vernünftiger Mann, Sie dürfen doch nicht verallgemeinern! Jetzt wär' es geradezu verhängnisvoll für Sie! Und im übrigen – Sie sind ja auch schon innerlich entweiht!«

»Wie – meinen Sie das?«

»Nun, Sie haben ja Bouillon getrunken!« 55

»Nein!!«

»Ja gewiß! Frau Schümann hat sie Ihnen gestern eingeflößt. Und das war sehr vernünftig von ihr.«

»Bouillon« – hauchte er ganz zerknirscht vor sich hin.

»Ja, ja, – und sehen Sie, da kommt auch schon die Taube!«

»Ich mag nicht.« Er drehte den Kopf zur Wand.

»Aber Mann! Wollen Sie nun endlich Vernunft annehmen! Was soll denn Ihr Sohn sagen, wenn er jetzt zu den Ferien nach Haus kommt und Sie in der Verfassung findet! Wenn Sie nicht Fleisch essen, steh' ich für nichts!«

Als Vater Gries Friedemann erwähnen hörte, hatte er sich wieder herumgewandt. Schon hatte Frau Schümann wortlos an seinem Bett Platz genommen und die Taube zerlegt.

Jetzt hielt sie ihm mit ihrer ruhigen Bestimmtheit den ersten Bissen hin.

Hilflos sah der Kranke bald auf den Sanitätsrat, bald auf Frau Schümann, bald auf den Bissen, der ihm unerbittlich immer näher rückte, und dann machte er den Mund auf und aß.

Und siehe da – es schmeckte ihm! Das gab den Ausschlag, und er verzehrte die ganze Taube. 56

Am folgenden Vormittag fand der Sanitätsrat ihn beim Frühstück. Frau Schümann saß wieder am Bett und fütterte ihn.

»Wenn ich sie nicht hätte!« sagte er, als er den Arzt begrüßt hatte, und klopfte auf ihren vollen Nacken.

»Na ja, ich sag' man,« bemerkte der Sanitätsrat und machte sein verschmitztes Gesicht, »jetzt haben Sie sogar schon am Fett ihre Freude.«

Frau Schümann warf ihm einen sehr energischen Blick zu, aber das störte ihn nicht.

»Kommt all von der Tasse Bouillon! Auf Sie als Vegetarianer mußte die ganz besonders wirken! 's war 'n Liebestrank des Fetts!« –

Morgen war der große Tag, an dem Friedemann zu den Ferien nach Hause kommen sollte. Vater Gries, der soweit wieder hergestellt war, daß er täglich eine halbe Stunde und darüber spazieren gehen konnte, hatte erst Guirlanden und einen großen gedruckten Willkommensgruß besorgen wollen, Frau Schümann aber hatte solchen Überschwänglichkeiten sich mit Entschiedenheit und Erfolg widersetzt. So suchte er denn die freudige Erregung seines Vaterherzens beim »Trinummus« und »Miles gloriosus« zu dämpfen.

Zum Bahnhof durfte er nicht gehen. Das wäre zu viel der Anstrengung geworden. Frau 57 Schümann holte den Ankömmling ab. Inzwischen stand Vater Gries klopfenden Herzens am Fenster und blickte, mit zitternden Fingern gegen die Scheibe trommelnd, über den Kirchplatz.

Da – da kamen sie! Aber – war denn das Friedemann? Seine Augen stutzten und warfen sich dann wieder mit forschender Inbrunst auf die Gestalt – war das Friedemann, so breit und so stark?

Er hastete die Treppe hinunter und huschte über den Gang, zur Thür hinaus – und da stürmte es schon auf ihn zu und zwei starke Arme umschlangen ihn –

»Vatting!«

»Junge – Junge,« er wollte noch mehr sagen, aber er konnte nicht sprechen vor Thränen und darum auch nichts sehen –

»Bist so krank gewesen, hab' ich eben gehört! Jetzt geht's dir doch wieder gut?«

Inzwischen hatte sich Vater Gries, während er zu der Frage nickte, die Augen gewischt und jetzt blickte er seinem Sohn ins Gesicht –

»Fiete – wie siehst du denn aus!« kam es bebend über seine Lippen.

»Ganz munter, denk' ich!« Und ein frohes Lachen flog über seine frischen, blühenden, auf 58 der linken Seite von ein paar jungen Schmissen belebten Züge.

»Ja – aber – du hast dich geschlagen –«

»Haben die anderen auch 'was gekriegt?« warf Frau Schümann ein.

»Ja, Tante Schü.«

»So ist's recht. Na, Vater Gries,« sie faßte den Alten am Arm und schüttelte ihn ein wenig, »freuen Sie sich denn nicht, was Ihr Fiete für 'n Prachtkerl geworden ist?«

»Ja, ja,« dabei flogen seine Blicke zärtlich über die kraftstrotzende Figur seines Sohnes, »du bist ja kaum wiederzuerkennen mein Jung – in den paar Monaten – man sollt' es nicht für möglich halten!« Dann aber wandten sie sich wieder der Quartseite zu und stiegen ängstlich die Stufenleiter der Schmisse auf und nieder.

»Weißt du, was es heute giebt, Friedemann?« fragte jetzt Frau Schümann.

»Ja, ich weiß – Schweinsbraten und Pflaumen!«

»Richtig! Na nu leg' man oben schnell ab und dann komm 'runter!«

Vater Gries aß auch unten. Und – was Friedemann noch viel mehr überraschte – er aß Fleisch. Doch ließ dieser von seinem Erstaunen nicht das geringste merken. 59

Der Alte indessen fühlte sich selber verpflichtet, über seine veränderte Lebensweise eine Erklärung abzugeben. Diese wollte nun darauf hinauslaufen, daß er das Fleisch nur als Medizin betrachte, wenn er erst wieder ganz hergestellt sei, würde er zu seiner alten Ernährungsart zurückkehren. Das ließ jedoch Frau Schümann, wie ihr Augenzwinkern verriet, nicht gelten.

Dann begann der Vater den Sohn nach seinen Studien zu befragen. Das Verhör wurde mit der Erkundigung eröffnet, ob er denn auch täglich auf der Bibliothek gewesen sei.

»Das kann ich nicht sagen,« antwortete Friedemann ungestört mit kauendem Schmunzeln.

Schon aber machte Frau Schümann der Inquisition ein Ende. Wenn sie dabei wär', würde nicht von Gelehrsamkeit gesprochen. Ihr Schweinsbraten wäre kein Schweinsleder. Und sie ließ sich von Friedemann berichten, wie in Göttingen die Beköstigung gewesen sei.

»Hast du auch öfters Bier getrunken?« fragte der Alte mit zaghafter Stimme, als habe er Angst vor der Antwort.

Frau Schümann lachte und Friedemann lachte auch.

»Gewiß, Vatting! Jeden Tag.«

»Jeden Tag« – Vater Gries schüttelte den 60 Kopf, aber er sagte nichts weiter, er wollte doch nicht gleich in der ersten Stunde Moral predigen.

Als sie beide dann oben beisammen saßen, forschte der Alte: »Sind in dem Kolleg über Plautus auch die Fragmente des Diphilos näher behandelt?«

»Das weiß ich nicht, Vatting!«

»Das weißt du nicht? Ja, aber – du hast doch das Kolleg belegt?«

»Ja – ich bin aber nie dagewesen!«

»Friedemann!«

»Ja, Vatting – ich hätt's dir so wie so gleich gesagt – ich und die Philologie, wir haben beide nichts miteinander im Sinn.«

»Wie ist das möglich – wie ist das bloß möglich!«

»Kann mir nicht helfen, Vatting. Es drängt mich nun mal zur Medizin. Ich hab' auch schon Vorlesungen besucht. Schiffsarzt möcht' ich zunächst werden und die ganze Welt mir erst 'mal um die Ohren schlagen. Und du, Vatting – nicht wahr, du erlaubst mir, daß ich Medizin studiere!«

»Friedemann – das macht mich sehr betrübt.«

»Aber Vatting –« 61

»So schwinden immer mehr die Zusammenhänge zwischen uns, bis ich dich ganz verloren habe.«

»Aber lieber Vater, wie kannst du nur so reden! Du bist und bleibst mein bester Kamerad. Und ich werde dich froh machen und jung. Hier wollen wir heute nicht sitzen bleiben. Raus wollen wir ins Freie. Wir nehmen uns 'n Wagen und fahren nach dem Schweizerhaus. Und da trinken wir Waldesfrische und Tannenduft. Du mußt mehr für deine Erholung thun, Vatting – ich bin dein Medizinmann!«

»Ach Junge –«

»Hilft dir alles nichts. Ich hol 'ne Droschke.«

Und er war schon hinaus.

Als sie in den leuchtenden Augustnachmittag hineinfuhren, wich die dumpfe Beklemmung von des Alten Seele. Und die Freude an der Kraft und Frische seines Jungen füllte sein ganzes Herz.

Eine Menge lustiger Geschichten hatte Friedemann zu erzählen, und erst mit Kopfschütteln und zaghaftem Schmunzeln, dann öfter und öfter mit hellem Lachen hörte der Vater ihm zu.

Was der Junge für einen Glanz und Schein mitgebracht hatte aus der Fremde! 62

Darüber vergaß er immer mehr die schwere Enttäuschung, die ihm Friedemanns Erklärung bereitet hatte.

Und dann gingen sie unter den rauschenden Tannen Arm in Arm dahin und Friedemanns kindliche Freude über dies und das, was die Natur ihnen zeigte, goß noch mehr Sonnenlicht in des Alten Gemüt.

»Friedemann, ich kriege Durst. Wir wollen im Restaurant eine Tasse Kaffee trinken.«

»Kaffee ist gar kein besonders zuträgliches Getränk.«

»Man höre den Medizinmann!« Die Leichtherzigkeit, die aus diesen Worten sprach, wollte den Alten schon wieder gereuen.

Als sie in die Wirtschaft kamen, rief Friedemann dem Kellner. »Vatting – erlaub' mir – ja? Bringen Sie uns zwei Glas Bier.«

»Ja wohl.« Der Ganymed sauste davon.

»Aber Friedemann! Du weißt doch, daß ich kein Bier trinke!« Seine Stimme klang erregt.

»Das mußt du aber, Vatting. Trinken hat einen ganz besonderen Kulturwert. Du verkümmerst dir wirklich dein ganzes inneres Leben, du entziehst dir ein Stück Weltanschauung! Du sollst einmal sehen, ganz andere Empfindungen, 63 ganz andere Vorstellungen und Farben werden in dir lebendig, wenn du beschaulich trinkst. Und auch das geschwätzige Trinken ist nicht zu verachten. Setz' dich mal an den Biertisch, hör' mal, was da für dummes Zeug geschwatzt wird – und die Dummheit sag' ich dir, was Gesünderes giebt es ja gar nicht auf der Welt!«

»Du bist ein Schlingel!«

Der Kellner brachte die beiden Gläser mit dem klaren schäumenden Trank.

»So, Vatting, nun wollen wir mal auf meine Heimkehr anstoßen –«

»Ach, Friedemann, du weißt –«

»Vatting, wenn du nicht mit mir anstößt, dann muß ich annehmen, daß du mir böse bist, weil ich Medizin studieren will. Aber sieh' mal« – und er legte den Arm um des Alten Nacken – »ein Mediziner kann doch mit einem Philologen gut Freund sein! Du wirst ja weiter Philologie studieren und dich weiter mit Plautus und Di– Di– wie heißt der Kerl doch?!«

»Diphilos!«

»Und Diphilos dich beschäftigen. Das stört uns doch aber nicht! Prost, Herzensbruder! Na – Vatting – Prost!«

Zögernd stieß der Vater mit ihm an. Er 64 hatte Durst – und der helle Trank lachte ihn so verlockend an – und dazu die herzbezwingende Art seines Jungen –

Er trank.

»Na Vating? Ist das 'ne Strafe!«

Der Alte zuckte die Achseln. Friedemann brauchte denn doch nicht zu wissen, daß es ihm vorzüglich schmeckte.

Als sie zurückfuhren, war Vater Gries in entschieden gehobener Stimmung. Das eine Glas hatte naturgemäß hingereicht, sein mattes Blut zu bezaubern. Laut jubelte er zu Friedemanns ausgelassenen Geschichten, von denen der offenbar einen ganzen Sack voll mit nach Hause gebracht hatte; nach besonders lustigen Stellen schlug er seinem »Bengel« mit klatschender Hand auf den Schenkel.

»Was ist denn mit Vater Gries los?« fragte Frau Schümann, als sie zu Hause anlangten.

Kraft des Mutes, den der Gerstensaft verleiht, pflanzte sich der Alte vor ihr auf und bekannte mit allem Ernst, der so bedeutsamen Lebenslage angemessen, frei von der Leber, was er gethan. »Ich habe mit Friedemann – – ein Glas Bier getrunken.«

Fast hätte er gesagt: »gekneipt«, aber dagegen steifte sich doch seine Würde. – 65

So war also in dem Leben des Vater Gries ein Neues, Junges, Triebkräftiges aufgegangen, und bestehen blieb es, daß es um seine Grundsätze geschehen war.

Kraftvoll setzte jetzt auch Frau Schümann den Hebel an, sein Wesen ganz aus den eingerosteten Angeln zu heben.

Vor allem legte sie ihre Armen ihm ans Herz. Und sie brachte es allmählich fertig, daß er zum städtischen Armenpfleger sich bestellen ließ. Danach war es mit der Menschenflucht endgiltig vorbei. Was er so gewahrte an Niederem und Hohem, was er erlebte an Erhebendem und Niederzwingendem, das alles rüttelte ihn im Innersten auf. Wohl konnte er, wenn ihn die Welt einmal allzu rauh angepackt hatte, wie ein großer Junge bei Frau Schümann Klage führen und hinter den Diphilos sich verstecken. Aber die junge Triebkraft in ihm siegte immer aufs neue. Und da er mit teilendem Herzen so viel Leid kennen lernte, verschmähte er auch die Fröhlichkeit nicht, so daß man ihn auch hier und da, im Kreise mitfühlender Genossen, wacker den Humpen heben sah.

Jedenfalls half ihm sothanes Schaffen über die Trennung von Friedemann leichter hinweg, der noch auf ein Semester nach Göttingen 66 ging, um danach seine Studien in der Vaterstadt zu vollenden. –

Der lange Winter ging zur Rüste. Als die Schneeglöckchen dem scheidenden Februar den Abschied läuteten, kehrte Friedemann mit dem Frühling wieder. Und es gab ein fröhliches Sichmustern, als er dem Vater gegenüber stand.

»Vatting! Vatting! Du kriegst ja 'n Bauch! Siehst du, den hast du von mir!«

Und Friedemann hob munter die Weste bis an den Hosenrand und der Alte that fröhlich dasselbe und dann schritten sie gravitätisch auf einander zu und rieben die beiderseitigen Leibesrundungen aneinander, wie es die Guarani zur Begrüßung thun – oder sind es die Omagua?

Schüchterne Rundungen waren es allerdings beim Alten wie beim Jungen, mehr Verheißung als Erfüllung, und Tante Schü, die bei solcher Begrüßung nicht wohl mitthun durfte und beschaulich sich abseits hielt, konnte ein Knurren unsäglichen Mitleides nicht unterdrücken, aber sie sprach kein Wort, sie wollte die Familienfreude nicht stören.

Die obvermeldete, ohne Frage höchst feierliche, dabei wahrlich nicht minder reale Berührung zwischen Vater und Sohn aber inaugurierte eine neue Phase ihrer Gemeinschaft. Mit solcher 67 symbolisch-tiefsinnigen und bedeutsamen Handlung entsagte Vater Gries der ausgemergelten weltfremden und menschenscheuen Schulfuchserei für immer.

Und als getreue Kameraden traten Vater und Sohn selbander werkfreudig ins frische Leben ein.

 

 


 


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