Max Dreyer
Der Weg durchs Feuer
Max Dreyer

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Die Sonne lohte auf aus dem schwelenden Dunst des Osthimmels. Ehrenfried hatte sich zur Ruhe gelegt. Marten aber war aufgeblieben. All das, was in ihm schwang – kein Schlaf hätte es bändigen können.

Und jetzt machte er sich fertig zu einem schweren Gang. Einem schweren? Einem ehrlich mutigen, helloffenen und deshalb fröhlich leichten. Und doch einem schicksalsdunklen wohl.

Gleich in aller Morgenfrühe wollte er zu Brünne. Wollte Auge in Auge sich ihr stellen. Von ihm selbst sollte sie hören, was er angerichtet und ausgerichtet hatte. Gegen sie! Und wie sie sich dazu verhielt, darauf kam es jetzt an. Nicht weniger als die Zukunft hing davon ab.

Wieder kündigte ein glühender Tag sich an. Die 211 Küste entlang über die Niederung her kroch ein leichter Morgenwind. Aber vor dem Feueratem der Sonne verging ihm die Lust, und er verkuschelte sich im Ried des Ufergeländes.

Regen, wie tut Regen uns not! Vertrocknet die Gräser, die Sträucher am Verdursten, nur die Wasserpflanzen am Rande des Mühlbaches selbst finden noch ihre Nahrung, sonst alles versengt, grau, gelb und dürr. Und die Bäume werfen schon wie zur Herbstzeit welkes Laub auf den entfärbten Rasen.

Marten nahm den nächsten Weg, übers Moor. Von der erhitzten Torferde lohte die Luft zitternd in die Höhe. Die Torfstapel dampften und rauchten, als brüte in ihnen Feuerbrand.

Er fragte sich, ob nicht in solchem Gluten eine Selbstentzündung denkbar wäre. Und er dachte: Eine Unachtsamkeit, ein fliegender Funke aus der Tabakspfeife eines ländlichen Arbeiters – und unabsehbares Unglück konnte geschehen, schlimmer als der schlimmste der Präriebrände, von denen er ein Wort mitreden konnte. Er war nie groß im Sattel gewesen, aber da als Feuerreiter hatte er erfahren, was Pferdebeine sind, und die Kunst gelernt, oben zu bleiben.

Hier an diesem Torfgraben muß die Grenze des Eekenkamper Gebiets verlaufen. Sie ist immer noch nicht ausgemacht – durch meine Schuld, wird Brünne sagen. Und so mag es wohl sein. 212

Grenze – er mußte diesen Begriff sich nun schon unterstreichen. Bin ich hier nicht auf feindlichem Land? Und ist das Land meiner Väter. Mein Land! Ist es nicht wie ein Zufall, daß ein fremdblütiges Weib hier waltet?

Gut hat sie es für mich in Ordnung gehalten. Die Felder sind tadellos bestellt. Daß in der Dürre alles verbrennt, ist nicht ihre Schuld. Dies mit anzusehen, ein Jammer fürwahr! Und möglich, daß diese Notlage zur Katastrophe für sie wird.

Not ist, große Not. Und Hilfe wird gebraucht. Um so nötiger, daß ich jetzt zur Stelle bin. Ein Mann wird hier verlangt. Und ich will nicht, daß Eekenkamp in andre Hände fällt. Daß gar die Argillawerke die Faust auf das Land, mein Land legen und hier alles umwühlen und verwüsten.

Lächerlich der Scheidestrich, den sie beide, Brünne und er, zwischen sich gezogen, so lächerlich die ganze Grenzfrage! Jetzt, wo der Bach wieder fließt – ihm ist es, als wäre so wieder die lebendige Verbindung zwischen Eekenkamp und der Eekmühle hergestellt. Ein Symbol war seine Tat gewesen, da er den alten, natürlichen, ungeschmälerten, ungetrübten Zusammenhang wieder herstellte. Als solches mußte auch Brünne sie gelten lassen.

Es war, als wüchsen seine Kräfte mit jedem Fußtritt auf der väterlichen Erde. So schritt er als Eroberer dem Hause zu, in dem er geboren war. Und 213 er fühlte: jetzt, mit seinem Erscheinen vor Brünne, mit seinem Bekenntnis vor ihr mußte der große Friede geschlossen werden. Er mußte – oder sie beide mußten sich erwürgen. Ein drittes gab es nicht.

Vor ihm der Königshügel, über den ein Fußsteig führt. Ein altes Hünengrab. Wie oft haben seine Knabenträume hier angepocht und den schlafenden Helden geweckt! Von da oben hatte er den freien Blick auf den Hof.

Was schiebt sich da im Westen den dunstigen Horizont entlang? Eine dunkle lange Frauengestalt – humpelt und stakt, die Ellbogen helfen nach wie Flügel. Sabine, die Totenfrau, ist unterwegs. Unheil bedeutet dieser Totenvogel. Aber ihm auf seinem hellen Weg soll sie kein Unglück bringen! Er schüttelt den Anblick ab und wendet der Erscheinung den Rücken. Auf den Eekenkamper Hof heften sich seine Augen.

Noch regt sich erst kümmerlich, unfrisch und unfroh hier das Leben des erwachenden Tages. Zwei Knechte schleppen ihre müden Knochen zu den Ställen. All der Brand dieser Tage und Nächte schwärt in den ausgemergelten Gebeinen.

Verdrossen und müde tragen ein paar Hähne ihr hängendes Gefieder in den schwülen Morgen. Das Krähen bleibt ihnen matt in der Kehle sitzen, die gewohnte zärtliche Begrüßung für die ihnen nachtorkelnden Hennen wird vermieden. 214

Es muß etwas geschehen, hineinfahren muß etwas in all den trägen Dunst, wie ein Windstoß! Oh, Brünne wird schon in Bewegung geraten, wenn er ihr sein Geständnis macht.

Er weiß, sie ist alltäglich die Erste auf den Beinen. Noch hat die Arbeitsglocke nicht geschlagen, aber die Nachtruhe liegt gewiß jetzt in der ersten Frühe schon hinter ihr.

Nun betritt er den Hof. Die wenigen Augen der hier schon Herumwirkenden schauen stumpf und dumpf hinter ihm drein. Er schreitet die niedrige Freitreppe hinauf in die große fliesenbelegte Halle, der die Steine eine gewisse Kühle bewahrt haben. Und seine Lungen, obschon sie früher oft genug mit größerer Hitze fertig geworden sind, atmen nun doch wohlig auf.

Und jetzt, da kommen die beiden Airdales unter der Treppe hervor, wo sie wohl ihr Lager haben. Sie geben kurz Hals und knurren. Er macht sich auf verschiedenes gefaßt. Aber sonderbar, die Tiere verhalten sich gar nicht feindlich. Ja, Bob, der Rüd, der ihm das Handgelenk zerbissen hat, kommt sogar schweifwedelnd in den Bereich seiner Hand, die sich freundschaftlich auf seinen Kopf legen darf. »Ja,« sagt Marten, »wir sind jetzt wieder gut miteinander.« Und als gutes Vorzeichen nimmt er diesen Empfang.

Ein zierliches Hausmädchen mit verwunderten 215 Blicken fragt nach den Wünschen des überraschenden Besuchs. Sie geht hinauf, ihn bei der Herrin anzumelden, kommt gleich wieder herunter und führt ihn ins Wohnzimmer. Nicht lange wartet er, da tritt Brünne ein.

Sie mustern sich mit fast sportlichen Blicken. Und mit einer Art kühlen sportlichen Ritterlichkeit lassen sie auch den ganzen Wust ihrer Empfindungen hinter sich. Zwei reine Kämpfer stehen sie sich gegenüber. Marten kostet schweigend das Gefühl dieser Begegnung aus. Langsam erst kommen ihm die Worte. Und unbeholfen ist, was er spricht. »Ich bin so früh hier – was ich hab', duldet keinen Aufschub. Heut' nacht war ich schon einmal auf Eekenkamper Gebiet.«

Aus dem Worte Eekenkamp will sie einen Ton heraushören, der nicht eigentlich auf ihm liegt. Nun trübt sich ihre Ruhe, und lebhafter ziehen die Gedanken. Wie seltsam dies, daß er so vor Tau und Tag zu ihr kommt! Was hat er vor? Führt er etwas im Schilde? Will er die Fehde beilegen? Will er sich unterwerfen? So sieht er nicht aus. Und – würde er dadurch für sie gewinnen? . . . Da fangen die Wirbel schon wieder an zu kreisen. Da wollen die Funken schon wieder sprühen. Sie hält sich an die Tatsache, von der er gesprochen und die befremdend genug ist. »Und was wolltest du hier?«

»Ja, sieh« – er hat nichts von seinem Mut, 216 seinem Vertrauen, seiner Geradheit verloren – »ich wollte mir meinen Bach wiederholen.«

»Deinen Bach?«

»Das ist ja dummes Zeug, was red' ich da! Ich wollte, daß unser Bach nun eben uns beiden wieder gehöre. Und wieder das Band sei, das leuchtende, frische, lebendige zwischen Eekenkamp und der Mühle.«

In dem »unser« und »uns beiden« ist ein Klang, der durch sie hinbebt, gegen den sie sich wehren will, und den sie doch ausschwingen läßt. Und nun fliegt all das, was mit und zwischen ihnen beiden geschehen ist, in Blitzbildern an ihr vorüber. Wie konnte er kommen, zu ihr kommen nach alledem, was vorgegangen ist? Hat er nicht sterbenskrank gelegen an dem Biß des von ihr, von ihr gehetzten Tieres? Was Bedeutsames, was Großes muß schon sein Vorhaben sein! Daß er bei ihr sich einfindet – weiß Gott, das Landläufige ist es nicht.

Über den Haufen wirft Marten alles, was war. Ihren Zwist von Anfang an, ihren Zweikampf, und dies Letzte, das Schlimmste vielleicht, diesen Rechtsstreit, von den Behörden vergiftet. Den Streit um den Bach – den er unsern Bach genannt hatte und unser Band.

Sie aber kann sich auf das, was er in der Nacht hier gewollt und angestellt haben will, keinen Vers machen. 217

Doch er gewinnt neue Stärke aus der Geneigtheit und Bereitschaft ihrer Erwartung. Und so spricht er frei von der Leber, gehoben und freudig: »Damit etwas wird, muß nun allerdings etwas zugrunde gehen. Und so haben deine Karpfenteiche dran glauben müssen.«

Ist er bei Trost? Treibt er hier Narrenspossen? Will er sie zum besten haben? »Was ist mit den Karpfenteichen?« fragt sie schrill.

»Die hab' ich abgezapft. Und der Bach ist wieder Bach.«

»Ja – hast du den Sonnenstich?«

»Nenn' es den Sonnenrausch! Möglich, daß in meinem Tropenhirn etwas vorgeht. Aber laß doch etwas vorgehen! Laß was geschehen! Und jetzt gibst du mir ein paar Knechte mit, daß wir ein Reservoir schaffen für die Fische. Etwas Wasser haben sie ja noch in den Teichen, aber bei der Hitze sind sie bald auf dem Trockenen. Und dann verkaufen wir sie nach und nach.«

Brünne ist bildsäulenhaft geworden. Sie schielt nach der Klingel. Soll sie nicht Leute rufen? Gehört er nicht in die Zwangsjacke? Er, der selbst von seinem Tropenhirn spricht. Dann aber bricht der Zorn in ihr los und wirft alles andre nieder. Der Zorn über seine Gewalttat, an der nicht mehr zu zweifeln ist. Über diesen wüsten Eingriff, die Zerstörung von ihrem Hab und Gut – 218

Und was ist dies? Fängt er nicht an, darüber zu verfügen? Nimmt er nicht den Anlauf, hier als Herr und Gebieter in den Sattel zu springen? Soll das – und nun braust ihr das Blut – soll das eine Werbung sein? Wirbt man so um mich? Sie macht einen Schritt zu ihm hin.

Er sieht das Ungebändigte in ihren Augen – das soll nicht alles wieder umwerfen. Das soll nicht unser Leben zerstören. Dein Ungestüm – soll es gegen mich sein? Für mich soll es sein! Ich will es mir zwingen. Jäh wendet er sich ihr entgegen, springt sie an und umschlingt sie.

Mit leisem Schrei, mit Knirschen, mit wildem Keuchen ringt sie gegen ihn an.

»Nein, Brünne, so geht unser Kampf nicht aus! So geht er aus – so!« Und seine Lippen stürmen auf ihren Mund, der im Wimmern erstarrt. Dann gibt er sie frei. Auf dem Hofe klingt die Glocke, die zur Arbeit ruft. Und wieder herrisch tönt es ihr in die Ohren: »Ihr seid beim Roggen. Immer noch hat die Eekmühle das Eekenkamper Korn gemahlen. Und wenn du selbst mir heut die erste Fuhre bringst – dann weiß ich, daß wir fortan miteinander leben. Miteinander! Und daß wir nicht – einander vernichten. Auf Wiedersehen also!«

Er geht. Sie, die Arme an den Hüften hinuntergereckt, ist wie von Stein. Noch eine ganze Weile, da sie allein geblieben. Dann dreht sie den Kopf, 219 wendet ihn hin und her, wie eine Schlafwandelnde, die erwacht. Wo war sie? Dies alles geschah doch nicht hier, hier in diesem Zimmer, hier in Eekenkamp, hier auf der Erde – nein, nein, auf einem fremden, fernen Weltenkörper begab sich dies. Wo war sie? Dann packt eine Hand die andre, daß sie wieder aneinander glauben. Dann rauscht das Blut ihr in den Ohren. Dann schlagen ihre Zähne aufeinander, und Tränen schießen ihr ins Auge. Und jetzt steht sie wieder fest, fest in ihren Schuhen, fest auf der Erde.

 

Es war der heißeste Tag des Jahres – wie die Zeitungen feststellten, der zweitheißeste des Jahrhunderts. Den Menschen siedete das Blut in den Adern. Was wild und zornig und trotzig in ihnen war, fieberte heftiger noch; viel von Vernunft, von Klarheit und Kraft wurde überschäumt, getrübt und erstickt. Wenn einmal von der See ein leiser Hauch herüberstrich, hielt alles den Mund sperroffen, wie Karpfen, die aufs Trockene gesetzt sind.

Brünne hatte zwei Arbeiter von der Ernte weggenommen und war mit ihnen zu den Teichen gegangen. Peter Kawel, der keine Hand entbehren konnte, war lebhaft dagegen vorstellig geworden. »Glauben Sie, ich tu' das zu meinem Spaß?« hatte sie heiser entgegnet. Und ihre Augen blickten nun freilich ernst genug. Tiefer hatten um ihren Mund sich die Falten gewühlt. Hager und hart wirkte sie, wie 220 übertrainiert sah sie aus, kaum brachte sie die Lippen zusammen, die Zähne drohten hindurch.

Es war höchste Zeit, daß sie kam. Die Karpfen hatten sich in dem Schlamm verkrochen. Noch eine Stunde Sonne, und die Modderschicht wäre ausgedörrt, der Fischbestand vernichtet gewesen. Sie ließ mehrere große und tiefe Löcher graben, in denen das rinnende Wasser sich sammelte. Reservoire – er hatte davon gesprochen. Nun geschah es wie auf sein Geheiß.

Und was war es, was er sonst ihr anbefohlen? Da er wie ein Gebieter von ihr ging? Ihr Korn sollte sie bei ihm mahlen lassen. Und selbst die erste Fuhre ihm bringen. Als Zeichen der Zusammengehörigkeit der beiden Anwesen, als Beginn einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Sie krampfte sich zusammen. Hatte er nicht den Hörigkeitsstempel ihr aufgedrückt? Was war mit ihr gewesen, daß sie das duldete? Daß sie ihn ruhig vom Hofe ließ. Daß sie ihn nicht über den Haufen schoß. Den Kerl mit seiner Roheit, mit den Sitten der Rinderhirten aus den Pampas. Daß solch ein Gaucho sie an sich reißen durfte! Und er lief frei umher! Und fühlte sich wohl gar als Sieger!

Jetzt, mit grausam nüchternen Augen prüfte sie das Werk seiner Zerstörung. Ganz sorgfältig, in alle Einzelheiten hinein. So hat er das also angestellt – so. Und sie freute sich ihres kalten Zornes, davor alle Wirbel der Gefühle verebbten. Sie 221 rechnete, rechnete sich bis aufs Tüpfelchen den Schaden aus, den er ihr zugefügt. Bis auf Heller und Pfennig sollst du mir das bezahlen. Und sollst auch sonst bezahlen, was du mir angetan!

Damit geriet sie nun wieder in den Empfindungsüberschwang. Und wieder mußten Sparsamkeit, Wirtschaftssinn und Sorgen sie unter die Dusche nehmen. Als ob ihrer Bedrängnis noch nicht genug wäre! Hatte er diese Wunde ihr geschlagen mit Bedacht, daß sie daran eingehen sollte? Lauerte er auf ihren Zusammenbruch?

Nun mußte sie also Anzeige gegen ihn erstatten. Zunächst bei der Polizei, beim Amtsvorsteher. Und was wird weiter geschehen? Wird der Staatsanwalt eingreifen? Liegt hier ein öffentliches Interesse vor? Wird hier nicht vielmehr auf den Privatklageweg verwiesen werden? Und wenn der Andre nach endlosem Aufwand an Zeit, Geduld und Nervenschmalz, von den Kosten abgesehen – wenn der Andre schließlich Schadenersatz leisten muß, ist das für ihn die richtige Strafe? Ist hier nicht mehr geschehen als eine Zerstörung äußerer Werte?

Eine Vergeltung nur gibt es. Auch die Hand legen an sein Hab und Gut! Da, wo es ihm das Liebste, wo es ihm ans Herz gewachsen ist! Die Brandfackel werfen in seine Mühle! Oh, was würde es brennen, das ausgedörrte Holz! Ihre Augen sind flackernde Flammen. Und was dann? Soll es 222 so weitergehen, Zug um Zug, Auge um Auge, Zahn um Zahn? Blutrache bis zum Austilgen?

Wie waren seine letzten Worte, mit denen er sie zurückließ nach dem Überfall, nach diesem Verbrechen seiner Roheit? »Daß wir fortan miteinander leben – und daß wir nicht einander vernichten.« War dies wahrhaftig die Werbung? In aller Form – des Rinderhirten! Wie ein Frost durchschauerte es sie. Und sie genoß die Schauer in diesem Meer von Glutwellen.

Absonderliche Landessitten, die er mitgebracht hat! So, so sich an ihr zu vergreifen und dann einen Schimpf auf den andern zu häufen! Sie soll heute zu ihm kommen! Das soll heißen: Hier bin ich – und heiße alles gut – und will, was du willst. »Wir wollen nicht einander vernichten« – ja, warum nicht? Und nun erst recht! Was gibt es denn sonst für mich? Was sonst?

Einer der Knechte, ein älterer Mann, schwer und mächtig, mit stechenden Augen, bringt einen toten Fisch. »De is stickt in de Murr. Und dor gahn noch mihr ton Deubel.«

Und nun packt sie wieder ganz der Zorn um den wirtschaftlichen Verlust. »Ja, Möller, eine Sünd' und Schande ist das.«

»Wenn mi eener dat andahn har« – tückisch senkt sich das eine Lid – »in den sien Hut möcht ick nich steken.« 223

So denken die Leute. Und man blickt auf sie. Eine Tat wird erwartet, ein Akt der Sühne. An bereitwilligen Händen fehlt es ihr nicht.

Sie denkt an Jörg, den Freund. Ist er ihr Beschützer, muß er auch ihr Rächer sein. Ein Mann ist ihr zu nahe getreten! Darf er es dulden?

Er soll den andern stellen! Aber welche Rechte räumt sie ihm damit ein? Darüber muß sie sich klar werden. Ist sie ihm schicksalsverbunden? Sie sieht in seine kristallklaren Augen. Wie werden seine Blicke sich in sie einsenken, wenn sie mit ihren Nöten, ihren Stürmen zu ihm kommt. Wie wird er all ihre Gefühle prüfen, abtasten, zerlegen! Ihre Gefühle, die doch nur für sie allein sind! Und er, der Lebensretter von Beruf und Amts wegen – den sie nun als Zerstörer will und braucht!

Braucht – ja, braucht sie einen Helfer? Ist sie selbst nicht Persönlichkeit genug, sich durchzusetzen, sich Sühne zu verschaffen? Und Abrechnung wird gehalten, Marten Hillebrandt, mit oder ohne Jörg Eberwien – darauf kannst du dich verlassen!

Wieder überblickt sie das Feld der Verwüstung. Was an dieser Tat macht sie so wild? Vielleicht dies, daß sie selbst so gehandelt hätte – so hätte handeln müssen in gleichem Falle! Daß in dieser Gewalttat etwas ihr Blutsverwandtes ist. Und so gefällt ihr auch wohl im Grunde dieser ganze Flibustier – auch mit dem, was er ihr selber zugefügt. 224 Und wieder friert etwas durch sie hin. Und wieder schlägt die Glut und die Wut um so wilder über ihr zusammen.

Ein Knecht bringt ihr die Fuchsstute. Sie steigt in den Sattel und reitet nach ihrem Roggen.

Schlecht die Ernte bei dieser Dürre, diesem Gottesfluch. Und so viel Haß und Hohn wie heut hatte die Sonne noch nie. Soll dieser ihr Planet verschmachten mit allem, was auf ihm wächst und atmet? Diese weißglühende Luft frißt sich in die Augen, in die Lungen. Das Sehen, das Atmen, das Leben tut weh. Müde hängt Brünne auf dem müden Tier. Was soll das Arbeiten noch, da doch alles vorbei ist, da sie am Ende sind? Nur ausruhen, sich nicht rühren und nichts denken. Nicht mehr kämpfen, weil es nun einmal nutzlos ist. Eekenkamp – bis zum letzten Blutstropfen wollte sie es halten. Nicht in den Staub, nicht vor ihm, dem Feind, unterliegen! Daß er nicht triumphiere über sie! Aber ist dieser letzte Blutstropfen nicht am Verdorren?

 

Marten, der Tropenbefahrene, wurde besser mit der Hitze fertig als die andern Menschen hierzulande. Nachdem er, mit hoher und klarer Stirn, Eekenkamp verlassen hatte, war er langsam an den Strand gegangen.

In seinem Schritt schwang das Bewußtsein, sich ausgewiesen und glatte Arbeit geleistet zu haben. Die 225 Kraft seines Fühlens trug ihn, die Kraft seines Tuns. Brünne – sie wußte jetzt, wer er war und woran sie mit ihm war. Wie schlug ihm das Herz, an das er ihren Leib gepreßt hatte –!

In den Dünen warf er die Kleider ab, und nun schwamm er mit gleichmäßigen Stößen weit hinaus in die See. Gelöst, gläubig, zukunftsstark. Heute zum erstenmal sank er der Heimat freudig an die Brust. Heute fühlte er, wie sie mit neuer Kraft ihn begabte. Frisch atmete er sich voll und atmete sich aus in plätschernder Lust. Seine Kunststücke macht er, jungenhaft, sich selbst zum Ergötzen. Überkugelt sich, rollt sich durch die Flut wie ein Delphin, schwimmt unter Wasser, taucht nach dem Grund und bläst dann wieder Strahlen wie eine Fontäne, die regenbogenfarben zersprühen.

Er ist allein, niemand ist sonst in dieser blauen, hellgestimmten Welt, die ihm gehört! Weit ist er hinausgeschwommen. Der Sonnendunst hat die Küstenlinie ausgelöscht. Da er sich umsieht, ist vom Land nichts mehr da. Nun herrscht er herrlich in dieser Welteneinsamkeit. Und hat königliche Gedanken.

Jetzt, wo er umkehrt, die Blicke der Küste zugewandt, sieht er dahinten wie schwebend in dem Sonnennebel eine schlanke, feine, wundervoll ebenmäßige Gestalt. Ein Knabe? Ein Mädchen? Gleich dem Genius dieses verschleierten Gestades ist sie. 226

Und jetzt taucht sie auch hinein in die Flut. Ich will zu ihr hin, ist sein erster Gedanke. Aber dann sinnt er nach: Wer kann es sein? Und weiß es jetzt: Suse Wittenborn.

Damit kommt er, der König dieser Welten, sich nun doch als Marten Hillebrandt zu Bewußtsein. Und daß er spitterfasernackt ist. Um Suses schlanke Glieder spannt sich ein Badetrikot. Mit Gleichem kann er nicht aufwarten, so kann er sich ihr nicht präsentieren.

Er schwimmt zu seinen Kleidern. Dann geht er den Strand entlang. Schon ist sie weit, sehr weit draußen. In gleichmäßigem Schlag strebt sie immer mehr hinaus auf die hohe See. Jetzt läßt sie sich treiben. Nun wirft sie sich hintenüber, läßt den Kopf weit in den Nacken sinken, liegt still auf dem Rücken.

Marten ist eine Weile unschlüssig, ob er sie stören soll. Dann setzt er die Hände wie eine Muschel an den Mund und ruft ihren Namen . . .

Jetzt hebt sich langsam der Kopf. Marten wirft grüßend und winkend die Arme in die Luft. Sie kommt aufs Land zugeschwommen, aber es sieht aus, als müsse sie sich von etwas losmachen, als wühle sie sich durch eine zähe Masse hindurch. Nun hat sie Grund, sie stellt sich auf die Füße und schleicht an den Strand mit trägen Knien.

»Ich hätte nicht rufen sollen,« sagt er und forscht in ihrem Gesicht. »Sie wollten alleinbleiben.« 227

»Guten Morgen!« grüßt sie und möchte unbefangen sein. Aber seinen Blicken hält sie nicht stand. Furchtsam und gequält flieht ihr Auge in sich zurück. Was ist mit ihr? Was ist in den Tagen, da er sie nicht gesehen hat, aus ihr geworden?

Er nimmt ihre Hand, gebrechlich hat sie den Arm ihm entgegengestreckt. So schmerzlich müde kauern ihre Lider. Was ist mit ihr? Er weiß, daß sie schwer, schwerer noch als andere die Bürde ihrer Jugend trägt. Aber jetzt geht es ihm auf, daß ein besonderes Erleben sie zerquält. Eine innere Stimme in ihm spricht weich: Suse, kleine Suse – und es ist mehr darin als Erbarmen.

Sie hat selbst das Gefühl: ich muß eine Erklärung geben. »Was ist bloß mit der Sonne? Und mit der See? Auch sie hat etwas Feindliches bekommen. Auch sie ist ein trüber Dunst, und wie krank ist sie. Ob dies der Weltuntergang ist?« Die Augen, die ermattet vom Gram in ihre Höhlen gesunken waren, springen wieder ins Leben, aber mit tödlichen Wünschen, mit Sterbenspein und Sterbensgier zugleich.

Marten hätte darüber gern im stillen gelächelt, aber das bringt er nun doch nicht zustande. In dieser jugendlichen Emphase ist zu viel reifer Schmerz. Und so fragt er ruhig: »Wenn man Sie so hört, sollte man meinen, Sie seien mit dem Weltenende nicht unzufrieden.«

»Ich wüßte nicht, was mir lieber wäre,« gibt sie 228 zurück und neigt sich zu ihm hin, anlehnungsbedürftig, Freundschaft suchend und Verbundenheit. »Sie haben doch auch mit diesem Leben nichts im Sinn.«

»Ist das so, dann liegt es daran, daß ich den Sinn des Lebens noch nicht habe. Denn ich bin noch grün, müssen Sie wissen. Wir Hillebrandts sind erst mit fünfzig Jahren ausgewachsen.«

Verändert findet sie ihn. Er ist nicht so wie das Bild, das sie von ihm hatte. Sie spürt etwas von dem Hochmut einer Kraft, der sie kalt anweht. Wo ist seine schmerzliche Versunkenheit und Vereinsamung, mit der er ihr Herz gewonnen hatte? Wo bleibt die Not um seine Mühle, die sie ihm doch todwund geschlagen haben? »Mögen Sie denn noch das Leben?« mustert sie ihn mit verlangenden Blicken. »Nach alldem, was es Ihnen antut? Ich hoffte, Sie hätten es satt wie ich.«

Zu diesen letzten Worten spitzt er die Ohren. »Ihre – Weltflucht möchte einen Genossen?« fragt er sie und hütet sich vor Überlegenheit.

Sie hebt den Kopf und spricht frei ihr »Ja!«

»Und der soll ich sein?« Der Schrei der jungen Seele, der zu ihm hinflattert, hat ihn nun doch bewegt und seltsam beglückt.

Sie holt aus zu geistigen Erklärungen. »Man kann überall sich sagen lassen, daß das Leben ein Gnadengeschenk sei. Aber das glauben Sie doch ganz gewiß auch nicht. Dieses Dasein ist uns doch einfach 229 aufgedrängt, ohne daß wir gefragt sind. Eben darum haben wir jederzeit das Recht, es von uns abzutun. Und sind verpflichtet dazu, wenn es uns zur Qual wird. Und gar zu einem Verbrechen an andern . . .« Ein Schreck über sich selbst durchwühlt sie.

Da nimmt er ihre Hand. Hier können keine Worte helfen, keine Begriffe, keine Philosophien. Nur eine Gemeinschaft kann die kleine Freundin wahren und halten. Er zerbricht sich nicht erst groß den Kopf darüber, was wohl an ihrem jungen Leben sie so verstört. Helfen will er ihr, den Gleichklang eignen Erlebens schlägt er an für sie, die Wahlverwandtes zu ihm hinzieht.

Sie setzen sich nebeneinander in den Sand. »So vieles, was den Menschen hier bei uns jetzt zu schaffen macht – Sie sprachen selbst von der feindlichen Sonne – es ist wie ein Gespenstern der in nördliche Breiten verirrten Tropenglut.«

»Die Ihnen nichts anhaben kann.«

»Nicht so viel wie den andern.« Hierin war wieder die Fremde eines Selbstgefühls, das sie zurückstieß. »Aber eben darum« – und jetzt zog wieder die Macht einer Güte sie an – »weil ich den Kopf mehr oben habe, bin ich vielleicht zum Raten und Nützen da. Ich soll in Ihrem Lebenshaß Ihr Kamerad sein. Haß ist immer nur ein Teil, nie etwas Ganzes. Soll ich nicht auch sonst an Ihrer Seite stehen?« 230

Ihre Lider schließen sich vor seinen Augen. Die sonst soviel in sich hineinblickten und heute ihre Strahlenfülle nicht meistern können. Sie sinnt: soll ich mein Lebensleid ihm beichten, so wie ich Onkel Jörg mich offenbarte? Was hat der mir geben können? Würde von diesem Beichtvater mehr Trost und Halt ihr beschieden sein? Beichtvater – nichts von einem Beichtvater hat Marten Hillebrandt. Ganz anders ist er als Onkel Jörg. Sie könnte ihm auch gar nichts beichten von ihrem Elend. Obwohl es durch sie hinflutet, unklar, dumpf und verwirrend, als besäße er ein Heilmittel gegen ihre Not. Oder gerade weil er, weil er der Heilkräftige ist – muß sie deshalb so sich gegen ihn verschließen und gegen ihn sich wehren?

Was soll er ihr, dieser Marten Hillebrandt, der jetzt so kraftbegabte? Den will sie nicht! Sie gedenkt dessen, der gleich ihr an des Lebens Kreuz zu tragen hatte. Und mit dem ganzen Stolz des Lebensverächters steift sie sich gegen ihn. »Sie haben recht, Sie hätten mich nicht rufen sollen. Ich war so schön im Einschlafen auf dem Wasser. Ich wär' dann leise weggesackt, und alles wär' zu Ende gewesen.«

Marten war sich wohl bewußt: Du darfst nicht mahnen, darfst nicht das Alter ausspielen, mußt ganz ihresgleichen sein. Er holte sich eine Zigarette hervor. »Wollen Sie auch eine?«

Sie wollte und nahm. 231

Ruhig berichtete er dann: »Ich hab' mich auch einmal auf dem leichtwiegenden Ozean zur Ruhe gelegt und war bereits eingeschlafen. Und war schon weggesackt. Da hat man mich herausgeholt und wieder geweckt.«

»So haben Sie auch einmal sterben wollen?«

»Das hab' ich mehr als einmal gewollt.«

Jetzt war er ihr doch wieder plötzlich ganz nah und brüderlich mit ihr im Bunde. »Also auch auf Selbstmord aus!« Damit wurde sie streitbar. »Sie haben jetzt ein neues Wort dafür. Das soll was sein und ist nichts. Ekelhaft sabbelig und sentimental und rosenrot.« Da sie schimpfte, kam sie wieder fester auf die Erde. »Freitod! Ich für mich bleibe bei Selbstmord. Das ist ehrlich und kraftvoll und schauerlich und verbrecherisch. Wie es ist und wie es sein soll.«

Er aber sprach weiter, wie zu einem Altersgenossen. »Der Wassertod ist besonders qualvoll. Ich hab' ihn sozusagen erlitten, denn ich war bewußtlos, als sie mich wieder ins Leben holten. Angstvoll sind die letzten Gedanken und Träume. Es ist kein Übergang da zu einem lichteren Dasein.«

Suse dachte an Helga, der auch beim Ertrinken das Leben entflohen gewesen, und die auch von den entsetzlichen Angstträumen geklagt hatte. Mit Helga aber war ihr ganzer Daseinsjammer wieder über ihr, und sie entschied: »Eine Kugel ist das Beste.«

»In Peru hat man ein Gift, es stammt von den 232 Inkas her und ist aus den Früchten einer Daphneart gewonnen. Sie nennen es: die Brücke zur Seligkeit. Wer es gebraucht, von dem fallen die Schlacken dieses Daseins ab. Alle bösen Leidenschaften, aller Haß, alle Pein bleibt unter dem Entschwebenden. Leicht und licht, von schönen Träumen getragen, geht er ins Jenseits ein.«

Suse blickt ihn an, finster, fast böse. »Woher weiß man das? Ist da auch einer wiedergekehrt?« fragt sie zweifelnd.

»Man hat ein Gegengift.«

»Peru ist weit,« bemerkt sie trocken und unwillig.

»Ich hab' mir eine Dosis mitgebracht,« erklärt er gelassen.

»Das entsprechende Gegengift auch?« Noch ist eine Niedertracht dabei. So kann man ja eine Orgie feiern in dem wunderschönen Sichvergiften und dem wieder Entgiften.

»Das nicht.« Er bleibt in seinem Gleichmut. »Wenn ich es einmal brauche, dann soll es auch ungestört tun, was seines Amtes ist.«

Sie starrt ihn an. Dann packt sie nach seiner Hand. »Geben Sie mir das Gift! Ich bitte Sie!« Und ihre Finger würgen sein Gelenk.

Er nimmt sie ganz und gar mit all dem Brausen und Tosen ihrer kranken jungen Seele in seine tiefen Augen. »Liebes Fräulein Suse, was ich Ihnen 233 da eben erzähle, weiß keiner von mir. Das soll Ihnen zeigen, welch guter Kamerad ich Ihnen sein möchte. Wollen Sie die Kameradschaft? Hand darauf!«

Sie schlägt ein. Ihre Augen aus ihrer Finsternis leuchten zu ihm auf.

»Ich war einmal kurz, sehr kurz davor, diese Brücke zum Jenseits zu betreten. Und nun hören Sie gut zu. Keiner weiß – außer einem Menschen, der nicht mehr hier unten ist, welche Erlebnisse mich dahin geführt haben. Ihnen würde ich sie erzählen. Und wenn Sie danach mit gutem Gewissen sagen können: das, was ich auszuhalten habe, ist ebenso schlimm – dann will ich Ihnen die Giftflasche einhändigen.«

Sie blickt groß und weit, von seiner Freundschaft, seinem Vertrauen überwältigt. Dann fragt sie bescheiden und ergeben: »Wann soll ich Ihre Geschichte hören?«

»Sobald wir einmal eine stille Stunde für uns haben. Ich muß jetzt heim. Und dahinten, an dem Boot, ist das nicht Ihr Vater?«

»Ja. Er will zum Holm hinüber.« Sie schaut vor sich nieder, bezwungen, versonnen. Asche von ihrer Zigarette fällt ins Dünengras. Ein verdorrter Halm fängt an zu schwelen. Marten zerdrückt die Funken mit der Hand. Da springen ihre Augen wieder auf und springen ihn an, und in ihrer Stimme ist etwas 234 von der alten Klage. »Warum tun Sie das? Es hätte so schön einen Weltenbrand geben können.«

Marten aber denkt eben aufs neue: Was kann daraus werden, wenn in dies zundertrockene Land unbehütete Feuerfunken fallen! Wieder nimmt er ihre Hand. Ihre Wildheit hat sich nun doch gelegt. »Sie sollen einmal in meine Mühle kommen.«

»Gestern war ich dicht bei Ihnen. Es ist da eine Jagdhütte im Moor.« Sie bricht ab. Schmerzverzogen ist ihr Mund. Aber sie kämpft tapfer gegen ihre Qual. Sie will der Kameradschaft sich wert zeigen. »Da soll heute auf wilde Enten gejagt werden. Helga – begleitet ihn.« Voll spricht sie es aus, eben weil es weh tut.

Ehe Marten von dem, was in diesen Worten schwingt, das Innere verspürt, ruft der Professor, der die beiden erkannt hat, laut seinen Gruß herüber.

Sie gehen zu ihm. Vom Wetter wird gesprochen – wovon sonst? »Heute haben wir nun die höchste Höhe und die Krisis,« erklärt Karsten, der Meteorologe. »Der Umschlag will schon einsetzen, heute abend kriegen wir sicherlich ein Gewitter.«

»Das wird es in sich haben!«

»Ja, auf allerhand Entladungen können wir uns gefaßt machen.«

Suse im Badeanzug – sie ist so von Haus an die See gewandert – steigt zu dem Vater ins Boot. In ihrem Abschiedsblick für Marten steht zu lesen: 235 Ich danke dir für deine Kameradschaft, und ich komme zu dir.

Der aber weiß sie zunächst einmal bei dem Vater gut aufgehoben. Und jetzt zieht es ihn nach der Mühle. Der ein hoher Besuch bevorsteht. Brünne wird mit der Kornfuhre aus Eekenkamp Einzug halten in sein Land. Wie eine Königin will er sie empfangen.

 

Marten saß allein in seiner Mühle. Der Bach rauschte, dem vermochte all die Glut Himmels und der Erden nichts anzuhaben. Der Herr der Mühle war voll Übermut und Machtgefühl. Festlich war er im Innern angetan, sein Herz frohlockte. Brünne! Jetzt klingt in uns die gleiche Lebensmelodie. Du weißt es wie ich: nur so konnte ich mich mit dir versöhnen!

Ehrenfried war unterwegs, die alte Kundschaft für den wiederbelebten Mühlenbetrieb neu zu werben. Um Marten war Stille, er sammelte sich in der Einsamkeit und fühlte die Kraft seiner Schwingen.

Daß ich fliegen kann – Brünne, weißt du was davon? Was weißt du überhaupt von meinem Leben? Und du sollst so viel von mir sehen und erfahren! Nie noch hast du, solange ich hier bin, den Fuß in meine Mühle gesetzt. Du weißt nicht, daß sie recht eigentlich das Gangwerk meines Herzens ist. Hättest du etwas geahnt von meines Wesens Schlagwerk, 236 du hättest nicht hineingegriffen mit deiner stürmenden Hand. Und jetzt wirst du verstehen, daß ich mich wehren und wahren mußte – ganz so, wie ich mich gewahrt habe. So nur konnten wir zusammenkommen, nur so konnten wir uns finden. Und so finde ich selbst mich wieder und das, was stark in mir ist. Ich hab' eingezwängt und wie gefangen gesessen in Trotz, Widerstand und Abwehrkampf. Wie verkrampft war ich in meine Enge.

Er nahm seine Skizzenmappe vor. Noch nie hat es sich eigentlich in seiner Hand schöpferisch geregt, all die Wochen, die er daheim ist. Jetzt, wo sie zugepackt hat, sich das Glück zu erobern, jetzt wird alle Macht des Wirkens in ihr lebendig, daß sie das Glück auch meistere.

Marten zeichnete. Er ließ die begnadete Hand wandern, ließ sie sprechen, wie sie wollte, ohne daß Gedanken sie lenkten und banden, ließ sie singen und träumen. Und die Hand flog in dem Reigen zukunftslichter Bilder und Gesichte. Seine Augen lachten, aber sein Herz war in Feuer. Denn er fühlte: dies ist für dich! Dir soll es Lob singen. Wie gut, daß jetzt ein andrer Mensch mich aus mir selbst erlöst! Zu sehr war ich in meine Einsiedelei verbannt, zu viel hab' ich immer mit mir allein verkehrt. Das Herz nicht verhalten, das Herz ausströmen lassen, das ist Leben. Mein Leben und Schaffen, von heute ab wird es anders sein. Ein Atelier ist, 237 was ich haben muß. Der brave Müllerknecht in mir braucht deshalb doch nicht zu kurz zu kommen. Hab' ich nicht gesündigt an meinen Gaben? Jetzt muß alles in mir blühen und prangen und werben und wirken. Eine sonnige Giebelstube hat das Mühlenhaus. Die ausbauen zum Atelier! Ausbauen – hm – nun ja. Ein leichtes Stutzen gibt es nun schon. Geld gehört dazu. Und damit ist es kümmerlich bestellt.

Wirklich? Er mustert die Wände. Hier ist manch ein peruanischer Schatz, der von Kennern mit Gold aufgewogen wird. Nur ist alles durch Erinnerungen geweiht – wie kann er sich davon trennen? Aber was seine eigne Hand gebildet hat. Hört er nicht genug von dessen Wert? Die Argillawerke – seltsam, der Gedanke an sie ist nicht mehr so voller Kriegsgeschrei. War nicht Furcht in diesem lautheftigen Gegensatz? Und ihm ist jetzt, als sei er aller Furcht entwachsen.

Und wieder prüft er die Wände mit ihrem Schmuck. Dies muß anders hängen. Hier die Tierreliefs, sie sollen ihr gleich in die Augen fallen. Sie soll die Tiere liebgewinnen, so lieb, wie ich sie habe. Du hast zu viel gehaßt, Brünne. Das war deines Lebens Mühsal. Ich will dich lehren, was Liebe ist. Umschaffen will ich dich. Es ist ja alles bei dir, in deinem Wesen, in deinem Gesicht. Und schon hat er wieder ein Blatt genommen und den Stift in die Hand. Dein Mund – dein Mund muß anders 238 werden . . . Er schloß die Augen und sann ihrem Bilde nach. Und da, wie ein Schreck lähmte es ihn. Die Linien verschwanden, das Bild schwand hin, in die Ferne, ins Wesenlose und ließ sich nicht zurückholen. Seine Sehnsucht rief, seine Inbrunst rang – das Bild blieb ausgelöscht.

Brünne, wie ist dies denkbar, daß ich nun plötzlich nichts von deinen Zügen habe, deinem Gesicht? Wie ein Blinder stehe ich vor dir, ich weiß nicht, wie du aussiehst – wie soll ich das begreifen? Ich hab' sie doch, die andern, leibhaftig vor Augen: Ehrenfried, die alte Sabine, Mutter Hackpoot gar, Professor Karsten Wittenborn und dich, Suse, den jungen Kameraden! Dich mit deiner drängenden, überbrausenden Jugend, die sterben will. Und in ihrer dunklen Überfülle an mich sich hängt, als den sturmerprobten Helfer. Ja, du, du bist so nah bei mir – dich hab' ich zum Greifen, dich mit der ins Leben taumelnden Todestrunkenheit deiner entknospeten Kindheit . . . Brünne! Und dich, wie bann' ich dich her? Wie siehst du aus? Es wird Zeit, daß du hier bei mir erscheinst in Fleisch und Bein.

Die Dämmerung, die zwischen sie beide sich gelegt hat, schon hört sie auf, ihn zu quälen. Ich weiß jetzt, was es ist! Du bist dabei, dich umzugestalten. Als eine andre wirst du vor mich treten. Wie falsch ist es, wie frevelhaft, dein Bild durch Gedächtnisqualen herbeizwingen zu wollen! Die du zu mir kommst, 239 eine Verwandelte, eine Neugeborene. Und jetzt soll meine Hand schaffen und bilden, du: zum Willkomm. Das, was uns feindselig bis aufs Blut gegeneinandergestellt hat, jenes wilde, schlimme Erlebnis, das uns vergiftet hat mit seiner Wut – hier soll es beseelt von mir werden. Und so wird es dir selbst in die Seele dringen. Gerade weil hier das erste Motiv wieder auflebt, das mich damals in der wirren Jungenzeit tiefer bewegt hat, gerade darum will ich dies dir darbringen. So siehst du meine Erstlinge, so verstehst du meine Entwicklung, so erkennst du, wie ich war und wie ich mir treu geblieben bin.

Er hat ein Relief zu schnitzen begonnen, in müßigen Stunden, wie er sie nannte, da er kunstfern war in seinem Groll. Jetzt sind die lebendigen Stunden dies. Und die Hand ist beseelt und beseligt. Das Holz lebt und singt und blüht der Auferstehung entgegen. Wie gespannte Saiten klingen die Fasern, Marten pfeift Melodien durch die Zähne. Seit seiner Jungenzeit hat er so nicht mehr gepfiffen. Und sein Kinderlachen hat er zu den Clownerien des jüngsten drolligen Welpenbalgs . . . Ja, dies wird etwas. Und in ihm ist die strahlende Sicherheit schöpferischer Höhe.

Gedankenlos nickt er zu Ehrenfrieds, des Zurückgekehrten, geschäftlichen Berichten. Der hinfällige Zustand des aufgelösten alten Mannes wird ihm kaum bewußt. Was er sagt, sein Stöhnen: »Wenn wir heute kein Gewitter kriegen, verkohlen wir bei 240 lebendigem Leib«, es verdampft in der kochenden Luft.

Als der Abend heraufschwelt, der alle Tagesglut wie gesammelt ausdünstet, da hat er es vollbracht; bis auf wenige Striche ist das Werk fertig.

Jetzt aber wollte er es genug sein lassen. Unsicher war die Hand geworden von dem Übermaß an Kraft und Licht. Jetzt gab er sich die festliche Haltung der Bereitschaft. Jetzt blickte er nach der Kommenden aus. Auch Brünnes Tagewerk mußte jetzt getan sein. Die Stunde der Zusammenkunft brach an und damit die Zeit des Zusammenseins.

Nun sah er plötzlich wieder ihr Bild. Aber so wie sie war, nicht wie sie geworden ist. Und dies Bild wollte er nicht. Er selbst stieß es von sich. Die andre Brünne soll es sein. Wie fing er jetzt an, nach ihrer Leibhaftigkeit sich zu sehnen! Und wie langsam schwer rollte mit einmal die Zeit!

Er ging vors Haus, nach Eekenkamp hinzuspähen. Aber die Stickluft war so grau und dick und wie voll Rauch, die Blicke kamen nicht weit. Wie Asche fiel es auf ihn. Die Abendsonne, sonst glühendes Blut, war ein grauer Teller und wie schmelzendes Zinn. Nun verging auch ihm das Atmen, nie hatte er die Welt so gesehen. War dies ihr Untergang, von dem das Susemädel phantasierte?

Er wollte sich selber auslachen, und doch dunkelte es ihm unheimlich durchs Gemüt. Und eine kindliche 241 Angst befiel ihn: Brünne muß doch erst noch kommen, ich muß mit ihr zusammen sein, mit ihr mich versöhnen, mit ihr mich vereinen.

Dort am westlichen Horizont unter der grauen Sonnenscheibe war schwarze Nacht. Da war das Gewitter, das Karsten Wittenborn prophezeit hatte. Ja, nun ja, im Donnersturm, im Blitzeswettern würde Brünne daherfahren, ganz nach ihrer Art.

Er lauschte nach der Wolkenwand hin, er sehnte die elektrischen Entladungen herbei. Aber nichts war zu hören, nicht das leiseste Rollen aus weitester Ferne. Grabesstille. Keine Tierstimme lebte auf, kein Vogellaut. In Todesmattigkeit und tödlicher Angst hatte alles sich versteckt und verkrochen, wie ins Nichts sich geborgen.

Weiter ging er lehnan, der Erwarteten entgegen. Und wieder jammerte ihn seines Landes. Verbrannt das Gras, die Büsche angesengt, wie dürre Besen starrten die Ginstersträuche, das Laub, das von den Bäumen sank, zerfiel in Zunder auf dem Waldesboden. Auch keine Menschenseele ringsum, als wär' alles, was Odem hat, ausgetilgt, als duldete der brodelnde Schwaden kein Leben. Nur da hinten am Horizont entlang schlich ein Gespann – unwesenhaft, gespenstisch.

Ob Brünne ihren Roggen eingefahren hat? Brünne, wann kommst du? Schreitet schon der Tod 242 durchs Land, wollen wir miteinander in seinen Reigen treten?

Raschelt da nicht etwas übers Laub? Und kommt es nicht näher durch den Dampf, der wie Schwefeldunst in die Lungen sticht? Sabine, Mutter Hackpoot – ist sie's, ist sie's nicht? Gleich nachher schon hätte er es nicht zu sagen gewußt. Ein Gespenst auch sie.

Jetzt aber ist es ihm, als klappere ihr Schnabel: »Das stirbt hier wie die Fliegen. Glauben Sie, Jungherr Marten, daß ich vor dem Unwetter noch nach Hause komm'?«

Um Gottes willen, sie möchte ihm Gesellschaft leisten. Jetzt weniger als je kann er sie brauchen.

»Sonst könnt' ich auch solange in der Mühle bleiben.«

Heiser stößt er hervor: »Das zieht noch lange nicht herauf. Zehnmal bist du vorher in deinem Dorf.«

Deutlich ist dies, und sie stakt weiter. »Na, denn gu'n Abend!«

»Guten Abend, Sabine!«

Noch einmal aber dreht sie sich um, hebt sich, schlägt mit den Flügeln und krächzt: »Jungherr Marten, wohr' dien Möhl!«

Wie ein Spuk ist alles verflogen, aber ein Schauer rieselt es noch durch seine Adern.

Brünne, wo bleibst du? 243

 


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