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Die Polizisten waren in einer Droschke gekommen. In dieser brachte ich Miss Morstan nach Hause. Mit der engelhaften Geduld der Frauen hatte sie die Aufregung mit gleichmütigem Gesicht ertragen, solange es jemand anderen gab, der umsorgt werden mußte. Ich fand sie wach und gelassen an der Seite der aufgeregten Haushälterin. In der Droschke jedoch war sie einer Ohnmacht nahe und fing hemmungslos zu weinen an – so sehr war sie von den Abenteuern dieses Tages mitgenommen. Später erzählte sie mir, daß sie mich während der Fahrt als kalt und distanziert empfand. Sie konnte den Kampf in meinem Innersten nicht im geringsten erahnen, auch nicht das Bemühen um Selbstbeherrschung, das mich hemmte. Meine Sympathien und meine Liebe galten ihr, genau wie meine Hand vorher im Garten. Ich fühlte, daß auch Jahre des gemeinsamen Lebens mir ihre süße, tapfere Natur nicht näherbringen konnten, als dieser ereignisreichen Tag. Aber es gab zwei Überlegungen, die meine Lippen für zärtliche Worte versiegelten. Sie war schwach und hilflos, die Gedanken und Nerven in Aufruhr. Ihr meine Liebe zu so einem unpassenden Zeitpunkt aufzudrängen, hätte nachteilige Folgen gehabt. Und was noch schlimmer war, sie war reich. Wenn Holmes' Nachforschungen erfolgreich wären, würde sie eine reiche Erbin sein. Wäre es richtig und ehrenhaft, wenn ein Chirurg mit einer halben Stelle diesen Vorteil der Intimität ausgenutzt hätte, die sich zufällig ergeben hatte? Würde sie mich nicht als einen gewöhnlichen Glückssucher betrachten? Ich konnte es nicht riskieren, daß ihr solche Gedanken in den Sinn kamen. Der Agra-Schatz war wie ein unüberwindbares Hindernis zwischen uns aufgebaut.
Es war beinahe zwei Uhr, als wir das Haus von Mrs. Cecil Forrester erreichten. Die Bediensteten waren schon vor Stunden zu Bett gegangen. Mrs. Forrester jedoch war über die seltsame an Miss Morstan ergangene Nachricht derart neugierig worden, daß sie aufblieb, um ihre Rückkehr abzuwarten. Sie öffnete die Tür persönlich. Sie war eine elegante Frau mittleren Alters und ich freute mich über die Art, wie sie ihren Arm zärtlich um die Hüfte von Miss Morstar legte und wie mütterlich ihre Stimme bei der Begrüßung wurde. Sie war sicherlich keine einfache bezahlte Angestellte, mehr eine liebe Freundin. Man stellte mich vor, und Mrs. Forrester bat mich herein und forderte mich auf, unsere Abenteuer zu erzählen. Ich klärte sie über die Wichtigkeit meines Auftrages auf und versprach willig, ihr später jeden Fortschritt zur Aufklärung des Falles zu berichten. Als wir abfuhren, konnte ich einen Blick zurückwerfen und ich sah die kleine Gruppe auf den Stufen, zwei liebevoll umschlungene Figürchen, die halb geöffnete Tür, das Barometer, die hellen Treppenstufen und das durch farbiges Glas hindurchscheinende Korridorlicht. Dieser Blick auf eine stille englische Wohnung beruhigte mich in Anbetracht des wilden, dunklen Unternehmens, das uns aufzehrte.
Und je mehr ich über das nachdachte, was sich bisher ereignet hatte, desto wilder und dunkler wurde es. Ich überprüfte die seltsame Abfolge von Ereignissen, als wir durch die gasbeleuchteten Gassen klapperten. Der erste Teil des Problems war zumindest gelöst. Der Tod von Kapitän Morgan, die Perlensendung, die Anzeige, der Brief – alle Ereignisse hatten wir beleuchtet. Aber alles hat uns nur noch zu tieferen und weit tragischeren Geheimnissen geführt. Der indische Schatz, der merkwürdige Lageplan aus Morstans Gepäck, die tragische Szene bei Major Sholtos Tod, die Wiederentdeckung des Schatzes gefolgt vom Tod des Entdeckers, die eigenartigen Begleiterscheinungen des Verbrechens, die Fußabdrücke, die ungewöhnliche Todeswaffe, die mit den Worten auf der Landkarte übereinstimmenden Worte auf dem Papier – hier gab es wirklich ein Labyrinth, in dem jemand an der Entwirrung verzweifeln könnte, der mit weniger Fähigkeiten als mein Freund ausgestattet war.
Pinchin Lane bestand aus einer Reihe schäbiger zweistöckiger Backsteinhäuser im unteren Viertel von Lambeth. Ich mußte einige Mal an der Hausnummer 3 klopfen, bis ich Gehör fand. Endlich sah ich den Schimmer einer Kerze hinter der Jalousie und im oberen Fenster erschien ein Gesicht.
»Hauen Sie ab, Sie alter betrunkener Landstreicher,« sagte das Gesicht. »Wenn Sie keine Ruhe geben, öffne ich die Hundezwinger und lasse dreiundvierzig Hunde auf Sie los.«
»Sie müssen nur den einen herauslassen, für den ich gekommen bin,« sagte ich.
»Gehen Sie weiter,« kreischte die Stimme. »Beim Barmherzigen, ich habe hier einen Totschläger, mit dem ich Ihnen eins überziehen werde, wenn Sie nicht abhauen.«
»Aber ich will einen Hund,« rief ich.
»Ich will kein Gerede!« rief Mr. Sherman. »Nehmen Sie sich in acht, wenn ich bis Drei gezählt habe, kriegen Sie eins drauf.«
»Mr. Sherlock Holmes –« begann ich und meine Worte hatten eine magische Wirkung, denn das Fenster wurde sofort zugeschlagen und innerhalb einer Minute wurde die Tür entriegelt und geöffnet. Mr. Sherman war ein schlaksiger, magerer, alter Mann mit gebeugten Schultern, einem sehnigen Hals und einer blaugetönten Brille.
»Ein Freund von Mr. Sherlock ist mir immer willkommen,« sagte er. »Treten Sie ein, Sir. Bleiben Sie vom Dachs weg, er beißt. Du Böser, du Böser, würdest du etwa einen Gentleman zwacken?« Letzteres sagte er zu einem Hermelin, der seinen boshaften Kopf mit roten Augen zwischen die Stangen seines Käfigs stieß. »Keine Sorge, Sir. Das ist nur ein lahmes Würmchen. Er hat keine Zähne mehr und ich kann ihn im Zimmer herumlaufen lassen, er frißt mir das Ungeziefer auf. Entschuldigung, daß ich vorhin so kurz angebunden war, aber Kinder hatten mir Streiche gespielt und es kommen viele vorbei, die mich herausklopfen wollen. Was wünscht Mr. Sherlock Holmes?«
»Er wollte einen Hund von Ihnen.«
»Aha, dann ist es Toby.«
»Ja, Toby war der Name.«
»Toby lebt hier links in Nummer 7.« Mit seiner Kerze bewegte er sich langsam durch die eigenartige Tierfamilie hindurch, die sich um ihn versammelt hatte. Aus jeder Ritze und Ecke sah ich im flackernden Lichtschein glänzende und schimmernde Augen, die auf uns starrten. Selbst die Dachsparren über unseren Köpfen waren von stillsitzendem Federvieh bevölkert, das träge sein Gewicht von einem Fuß zum anderen verlagerte, weil es durch unser Reden im Schlummer gestört worden war.
Toby erwies sich als ein häßliches, langhaariges, schlappohriges Tier, halb Spaniel und halb Spürhund. Das Fell war braun-weiß gefärbt und er hatte einen sehr plumpen, watschelnden Gang. Nach einigem Zögern nahm er ein Stück Zucker an, das mir der alte Präparator gab. Nachdem wir so unser Bündnis besiegelt hatten, folgte er mir zur Droschke und machte mir keine weiteren Schwierigkeiten. Im Buckingham Palast schlug es gerade drei Uhr, als ich wieder in Pondicherry Lodge ankam. Der Ex-Boxer McMurdo war inzwischen als Komplize verhaftet worden. Er und Mr. Sholto waren zur Wache abmarschiert. Zwei Wachtmeister beschützten das schmale Tor, aber sie erlaubten mir, mit dem Hund vorbeizugehen, als ich den Namen des Detektivs nannte.
Holmes stand auf der Eingangsstufe und rauchte seine Pfeife, dabei hatte er beide Hände in den Taschen vergraben.
»Ah, da haben Sie ihn ja,« sagte er. »Gutes Hundchen! Atheney Jones ist fort. Seit Sie gingen, haben wir uns mit einiger Vehemenz aneinander gerieben. Er hat nicht nur unseren Freund Thaddeus festgenommen, sondern auch den Pförtner, die Haushälterin und den indischen Diener. Mit Ausnahme eines Wachtmeisters im oberen Stockwerk haben wir diesen Ort nun für uns. Lassen Sie den Hund hier und kommen Sie mit hinauf.«
Wir banden Toby an ein Tischbein und stiegen erneut die Treppe hinauf. Das Zimmer war genauso, wie es verlassen worden war. Nur ein Laken war über die Person geworfen worden, um die sich alles drehte. Ein müde aussehender Polizist hatte sich in eine Ecke zurückgezogen.
»Wachtmeister, sehen Sie her!« sagte mein Begleiter. »Und nun binden Sie dieses Stück Pappe um meinen Hals, so daß es vor mir hängt. Danke! Jetzt muß ich meine Stiefel und Strümpfe ausziehen. – Nehmen Sie sie mit hinunter, Watson. Ich werde jetzt ein wenig klettern. Und tupfen Sie mein Taschentuch in das Kreosot. Das ist genug. Nun kommen Sie einen Moment mit in die Dachstube.«
Wir kletterten durch das Loch hinauf. Holmes zeigt mit der Lampe erneut auf die Fußstapfen im Staub.
»Ich möchte, daß Sie sich diese Abdrücke genau einprägen,« sagte er. »Finden Sie etwas Beachtenswertes daran?«
»Sie stammen von einer Frau oder einem Kind,« sagte ich.
»Ich meinte es nicht wegen der Größe. Gibt es sonst nichts?«
»Sie sind beinahe ebenso, wie andere Fußabdrücke auch aussehen.«
»Nicht exakt. Sehen Sie hierher! Dies ist der Abdruck eines rechten Fußes im Staub. Nun mache ich einen mit meinem nackten Fuß genau daneben. Was ist der Hauptunterschied?«
»Ihre Zehen stehen alle dicht zusammen. Der andere Abdruck zeigt jede Zehe einzeln.«
»So ist es. Das ist der entscheidende Punkt. Merken Sie sich das. Würden Sie jetzt bitte dort zum Fenster gehen und am Holzrahmen riechen? Ich bleibe hier, denn ich habe das Taschentuch in der Hand.«
Ich tat wie er mir befahl und bemerkte sofort einen starken Geruch nach Teer.
»Dorthin hat er seinen Fuß beim Hinausklettern gesetzt. Wenn Sie die Spur riechen, wird Toby keine Schwierigkeiten damit haben. Gehen Sie hinunter, lassen Sie den Hund frei und sehen Sie nach Blondin.«
Während ich zum Erdgeschoß hinunterging, war Sherlock Holmes bereits auf dem Dach. Ich konnte ihn wie ein riesiges Glühwürmchen langsam am Dachfirst entlangklettern sehen. Hinter einer Reihe von Schornsteinen verlor ich ihn aus den Augen, dann erschien er plötzlich wieder und verschwand erneut auf der gegenüberliegenden Seite. Als ich um das Haus herumging, saß er nahe einem Dachüberhang.
»Sind Sie es, Watson,« rief er.
»Ja.«
»Hier ist es. Was ist dort für ein schwarzer Gegenstand?«
»Eine Wassertonne.«
»Mit Deckel?«
»Ja.«
»Keine Leiter in der Nähe?«
»Nein.«
»Verdammter Kerl! Ein halsbrecherischer Ort. Ich versuche dort herunterzukommen, wo er hinaufgeklettert ist. Das Wasserrohr scheint sehr stabil zu sein. Naja, auf geht's.«
Man hörte ein Fußscharren und die Laterne kam langsam an der Seite der Wand hinunter. Mit einem letzten Satz sprang er aufs Faß und von dort zu Boden.
»Ich konnte ihm einfach folgen,« sagte er und zog sich Strümpfe und Stiefel wieder an. »Auf der ganzen Strecke waren die Ziegel locker und in der Eile hat er dies hier verloren. Meine Diagnose ist bestätigt, wie Sie Herren Doktoren es auszudrücken pflegen.«
Der Gegenstand, den er mir hinhielt, war eine kleine Tasche oder ein Beutel, aus farbigen Gräsern gewebt und mit einigen kitschig-bunten Perlenschnüren umwickelt. In Form und Größe war er einer Zigarettendose ähnlich. Darin befanden sich ein halbes Dutzend Dornen aus dunklem Holz, am einen Ende scharf und am andern Ende abgerundet, genau wie jener, der Bartholomew Sholto getroffen hatte.
»Das sind teuflische Dinger,« sagte er. »Passen Sie auf, daß Sie sich nicht stechen. Ich bin froh, daß ich sie jetzt habe. Denn es kann sein, daß er keine weiteren mehr hat. Sonst hätten wir sie vielleicht früher oder später in unserer Haut stecken. Vor einer Standgerichtskugel hätte ich mich sicherer gefühlt. Sind Sie für einen Marsch von sechs Meilen gerüstet, Watson?«
»Natürlich,« antwortete ich.
»Wird es Ihr Bein aushalten?«
»Ja, sicher.«
»Auf geht's Hundchen! Guter alter Toby! Riech, Toby, riech!« Er hielt dem Hund das mit Kreosot getränkte Taschentuch unter die Nase. Der Hund stand mit seinen wuscheligen, abgewinkelten Beinen da und hielt seinen Kopf wie ein Weinkenner, der das Bouquet eines berühmten Jahrgangs kostet. Holmes warf das Taschentuch ein Stück voraus, befestigte eine feste Schnur am Hals der Promenadenmischung und führte ihn an den Fuß der Wassertonne. Das Tier sieß sofort ein hohes, quietschendes Jaulen aus. Mit der Nase am Boden und dem Schwanz in der Höhe folgte er der Spur in einem Tempo, das die Leine spannte und uns auf Höchstgeschwindigkeit brachte.
Im Osten wurde es allmählich hell und wir konnten im kalten grauen Licht ein Stück vorausschauen. Das quadratische, hohe Haus mit seinen schwarzen, leeren Fenstern und den hohen, nackten Mauern ragte traurig und verlassen hinter uns auf. Unser Kurs führte uns direkt durch den Park, hinein und hinaus aus den Gräben und Gruben, von denen er durchschnitten wurde. Der ganze Ort mit seinen verstreuten Hügeln und kränklichen Sträuchern hatte ein schicksalbehaftestes Aussehen, genau wie die dunkle Tragödie, die über ihm lag.
Als wir die Grenzmauer erreichten, rannte Toby an ihr entlang und jaulte heftig. Im Schatten der Mauer hielt er schließlich an einer Ecke, die von einer jungen Buche verdeckt wurde. Dort wo sich die beiden Mauern trafen, waren mehrere Steine herausgenommen worden und die dadurch erzeugten Mauerlücken sahen aus, als ob man sie öfter wie eine Leiter benutzt hatte. Holmes kletterte hinauf, nahm von mir den Hund entgegen und setzte ihn auf der anderen Seite ab.
»Hier ist ein Abdruck vom Holzbein,« bemerkte er, als ich neben ihn heraufkam. »Man sieht den kleinen Blutfleck auf dem hellen Mörtel. Welch ein Glück, daß wir seit gestern keinen starken Regen hatten! Der Geruch bleibt im Boden, trotz der achtundzwanzig dazwischenliegenden Stunden.«
Ich gestehe, daß auch ich Zweifel hatte, als ich an den starken Verkehr dachte, der in der Zwischenzeit über die Londoner Straßen gerollt war. Meine Angst wurde jedoch bald beschwichtigt. Toby schwankte oder zögerte nicht, sondern watschelte in der ihm eigenen Art weiter. Eindeutig überwog der Kreosotgeruch alle anderen konkurrierenden Düfte.
»Glauben Sie nicht,« sagte Holmes, »daß mein Erfolg von der bloßen Chance abhängt, daß einer dieser Typen seinen Fuß in die Chemikalie gestellt hat. Ich weiß mittlerweile genug, um sie auf viele andere Arten zu verfolgen. Dies ist aber die geeignetste Art, und weil uns das Glück dabei half, wäre ich dumm, wenn ich es nicht nutze. Dadurch ist der Fall aber zu einer kleineren intellektuellen Aufgabe geworden, als ich Ihnen früher versprach.«
»Ich versichere Ihnen,« sagte ich, »daß ich staune, mit welchen Mitteln Sie die Ergebnisse in diesem Fall gewonnen haben. Noch viel mehr als im Jefferson Hope Mordfall. Hier erscheint mir alles viel verborgener und unerklärlicher zu sein. Wie haben Sie zum Beispiel den Mann mit dem Holzbein so genau beschreiben können?«
»Pah, mein lieber Mann! Er war sehr simpel. Ich möchte nicht theatralisch sein. Es ist liegt offen auf der Hand. Zwei zu einer Strafkolonie abkommandierte Offiziere erfahren das Geheimnis eines verborgenen Schatzes. Ein Engländer namens Jonathan Small zeichnet für sie einen Lageplan. Sie erinnern sich, daß wir den Namen auf der Karte aus Kapitän Morgans Besitz fanden. Er hatte sie für sich und seine Verbündeten unterschrieben – das Zeichen der Vier, wie er es etwas dramatisch nannte. Mit Hilfe dieser Karte haben die Offiziere – oder einer von ihnen – den Schatz gehoben und nach England gebracht. Und hat ihn aus uns noch unbekannten Gründen nicht angerührt. Aber warum hat Jonathan Small den Schatz nicht selber genommen? Es gibt nur eine Antwort. Die Karte trägt ein Datum aus der Zeit, als Morstan in einen direkten Zusammenhang mit den Gefangenen gebracht werden konnte. Jonathan Small konnte den Schatz nicht heben, weil er und seine Genossen noch Gefangene waren und nicht fortkommen konnten.«
»Aber das ist bloße Spekulation,« sagte ich.
»Es ist mehr als das. Es ist die einzige Hypothese, die sich mit den Tatsachen deckt. Wollen wir sehen, wie es sich mit der weiteren Abfolge verhält. Major Sholto verhält sich für einige Jahre ruhig und freut sich über den Besitz des Schatzes. Dann erhält er einen Brief aus Indien, der ihm einen großen Schrecken einjagt. Was war es?«
»Ein Brief mit der Mitteilung, daß die Männer die er betrogen hatte, freigelassen worden sind.«
»Oder entflohen waren. Das ist wahrscheinlicher, denn er kannte sicherlich die Dauer ihrer Inhaftierung. Das wäre für ihn keine Überraschung gewesen. Was tat er dann? Er schützte sich vor einem Mann mit Holzbein – einen Weißen, denn er verwechselte einen weißen Händler mit ihm und schoß auf diesen. Nun, es war aber nur der Name eines Weißen auf der Karte. Die anderen waren Hindus oder Mohammedaner. Es gab keinen anderen Weißen. Deshalb können wir mit Gewißheit sagen, daß der Holzbeinige mit Jonathan Small identisch ist. Kommt Ihnen diese Folgerung falsch vor?«
»Nein: sie ist klar und einleuchtend.«
»Gut, dann versetzen wir uns an die Stelle von Jonathan Small. Schauen wir es uns von seinem Standpunkt aus an. Er kam mit zwei Absichten nach England. Er wollte das wiedererlangen, was ihm gehört und Rache an dem Mann nehmen, der ihn betrogen hatte. Er fand Sholtos Aufenthaltsort heraus und hat sehr wahrscheinlich mit irgend jemandem aus dem Haus Verbindung aufgenommen. Es gibt diesen Butler, Lal Rao, den wir noch nicht gesehen haben. Mrs. Bernstone bescheinigt ihm keinen guten Charakter. Small konnte jedoch nicht herausfinden, wo der Schatz versteckt war. Denn keiner kannte den Ort außer dem Major und einem treuen Diener, der verstorben ist. Plötzlich erfährt Small, daß der Major auf seinem Totenbett liegt. In größter Aufregung, daß das Geheimnis des Schatzes mit ihm stirbt, nimmt er die Beine unter den Arm und kommt zum Fenster des Sterbenden. Am Eintreten hindert ihn nur die Anwesenheit der beiden Söhne. Haßerfüllt gegen den toten Mann geht er nachts in das Zimmer und durchsucht die Privatpapiere, in der Hoffnung, eine den Schatz betreffende Notiz zu finden. Letztlich hinterläßt er eine gekritzelte Erinnerung an seinen Besuch auf dem Kartonschnipsel. Zweifellos hatte er schon vorher geplant, daß er diese oder eine ähnliche Nachricht beim Major ließe, wenn er ihn ermordet hätte, nur um zu zeigen, daß es kein gewöhnlicher Mord, sondern aus der Sicht der vier Verbündeten eine Art von Gerichtsbarkeit war. Schrullige und bizarre Eitelkeiten dieser Art sind in den Annalen des Verbrechens oft genug zu finden und geben normalerweise wertvolle Aufschlüsse über den Täter. Konnten Sie soweit folgen?«
»Sehr gut.«
»Und was konnte Jonathan Small jetzt tun? Er konnte nur aus dem Verborgenen die Versuche zur Auffindung des Schatzes verfolgen. Möglicherweise verließ er England und kam nur gelegentlich zurück. Dann folgte die Entdeckung der Dachkammer und er wurde sofort darüber informiert. Wiederum müssen wir die Spur eines Verbündeten im Haushalt verfolgen. Mit seinem Holzbein ist es Jonathan total unmöglich, das obere Zimmer von Bartholomew Sholto zu erreichen. Er hatte aber einen sehr seltsamen Partner dabei, der diese Schwierigkeiten zwar überwinden konnte, der aber mit seinen nackten Füßen in das Kreosot tappte. Und nun kommen Toby und sechs Meilen Humpeln für einen Chirurgen mit halber Stelle und einer lädierten Achillessehne.«
»Aber dann war es der Kumpane und nicht Jonathan, der das Verbrechen beging.«
»So ist es. Und sehr zu Jonathans Mißvergnügen, denken Sie daran wie er aufstampfte, als er das Zimmer betrat. Er hegte keinen Groll gegen Jonathan Sholto, er hätte ihn lieber gebunden und geknebelt. Er wollte keine Schlinge um seinen eigenen Kopf bekommen. Aber er konnte nicht mehr helfen: die wilden Instinkte seines Begleiters waren ausgebrochen und das Gift hatte seine Wirkung erzielt. Daher verließ Jonathan den Ort, ließ die Schatzkiste zum Boden hinunter und folgte selbst. Das war die Folge von Ereignissen, soweit ich sie entziffern konnte. Und zu seinem Aussehen: er mußte mittleren Alters und sonnengebräunt sein, wenn er seine Zeit in einem solchen Ofen wie den Andamanen verbracht hatte. Seine Größe läßt sich einfach aus der Schrittlänge errechnen und wir wußten, daß er bärtig war. Seine Behaartheit war das einzige, das Thaddeus Sholto auffiel, als er ihn am Fenster sah. Ich glaube, mehr Fakten gibt es nun nicht.«
»Der Verbündete?«
»Oh ja, aber das ist kein großes Rätsel. Bald werden Sie alles darüber erfahren. Wie lieblich ist doch die Morgenluft! Sehen Sie, diese kleine Wolke schwebt wie die rosa Feder eines riesigen Flamingos. Jetzt schiebt sich der rote Rand der Sonne über die Wolkenbänke von London. Sie scheint jetzt auf eine Menge Leute, aber niemand von denen hat einen seltsameren Auftrag als wir beide zu erledigen. Wie klein wir doch mit unseren geringen Bestrebungen sind im Angesicht solch elementarer Mächte der Natur! Sind Sie mit Ihrem Jean Paul weitergekommen?«
»So einigermaßen. Ich bin auf ihn über Carlyle gestoßen.«
»Wie man einem Bach bis zum See folgt. Er machte eine seltsame aber tiefgründige Bemerkung. Er sagt, daß der beste Beweis der wirklichen Größe eines Mannes im Erkennen seiner eigenen Kleinheit liegt. Hier streiten sich Vergleich und Würdigung, was wiederum ein Zeichen von Würde ist. Bei Richter finden sich viele Dinge zum Nachdenken. Haben Sie eine Pistole?«
»Ich habe meinen Stock.«
»Es ist möglich, daß wir so etwas brauchen, wenn wir zu ihrem Lager kommen. Ich überlasse Ihnen Jonathan, aber wenn der andere gemein wird, schieße ich ihn über den Haufen.« Beim Sprechen zog er seinen Revolver, und nachdem er beide Kammern geladen hatte, steckte er ihn in die rechte Tasche seiner Jacke zurück.
Während der ganzen Zeit wurden wir von Toby durch die ländlichen, mit Villen besetzten Straßen geleitet, die zur Metropole führten. Nun kamen wir aber auf glattere Straßen, auf denen Arbeiter und Seeleute auf den Beinen waren. Unordentlich gekleidete Frauen nahmen die Fensterläden ab und putzten die Treppen. An einer Ecke öffneten bereits die Läden und grobschlächtige Männer kamen heraus, ihre von der Morgenwäsche feuchten Bärte mit den Hemdsärmeln abtrocknend. Streunende Hunde stromerten herum und starrten uns verwundert an. Aber unser unbeirrbarer Toby schaute weder nach links noch nach rechts und trottete mit seiner Nase am Boden vorwärts, nur unterbrochen von einem gelegentliche Jaulen, das die wiedergefundene Fährte signalisierte.
Wir hatten Streatham, Brixton und Camberwell durchquert und befanden uns nun in der Kennington Lane und hatten uns durch die Seitenstraßen nach Osten bewegt. Die von uns Verfolgten schienen einen seltsamen Zickzackweg genommen zu haben, vielleicht wollten sie der Verfolgung entkommen. Nie benutzten sie eine Hauptstraße, wenn parallele Seitenstraßen zum gleichen Ziel führten. Am Beginn der Kennington Lane hatten sie sich nach links durch die Bond Street und Miles Street bewegt. Wo letzere in Knight's Place übergeht, beendete Toby das Vorwärtsdrängen und begann vor und zurück zu laufen, mit einem gespitzten und einem herunterhängenden Ohr. Das typische Bild eines unentschlossenen Hundes. Dann watschelte er im Kreis, schaute bisweilen zu uns auf, als wollte er um Verständnis für seine Unentschlossenheit bitten.
»Was ist mit dem Hund los?« knurrte Holmes. »Sie haben bestimmt keine Droschke genommen oder sind im einem Ballon davongeflogen.«
»Vielleicht standen sie hier eine Weile,« schlug ich vor.
»Ach, es ist in Ordnung. Weiter geht's,« sagte mein Begleiter mit Erleichterung.
Und tatsächlich zog er los, denn nach einem kurzen Herumschnüffeln entschied er sich plötzlich und flitzte mit einer Energie und Entschlossenheit davon, wie er sie bisher noch nicht an den Tag gelegt hatte. Die Fährte schien viel frischer als zuvor zu sein, denn er hielt die Nase nicht am Boden, sondern zerrte an seiner Leine und versuchte davonzurennen. Am Glanz in Holmes Augen konnte ich erkennen, daß er das Ende der Reise erwartete.
Unsere Route ging jetzt Nine Elms hinunter bis wir das großen Nelsonsche Holzlager erreichten, das dicht hinter dem Gasthaus Eagle lag. Hier zwängte sich der aufgeregte Hund durch das Seitentor in das umzäunte Gelände, auf dem die Sägearbeiter bereits bei der Arbeit waren. Der Hund lief durch Sägemehl und Holzspäne auf eine Gasse zu, dann durch eine Passage aus zwei Holzstapeln und sprang zuletzt mit triumphierendem Jaulen auf ein großes Faß, das noch nicht vom Handkarren heruntergenommen war. Mit hechelnder Zunge und blitzenden Augen stand Toby auf dem Faß und sah von einem zum andern und wartete auf ein Zeichen des Lobes. Die Faßdauben und auch die Räder des Karrens waren mit einer dunklen Flüssigkeit beschmiert und die Luft war vom Geruch von Kreosot geschwängert.
Wir sahen uns stumm an und brachen dann in ein unkontrolliertes Lachen aus.