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»Nun, Frau Warren, ich sehe weder, warum Sie einen besonderen Grund zur Besorgnis haben, noch verstehe ich, warum ich meine kostbare Zeit für diese Angelegenheit opfern sollte. Ich habe wirklich andere Dinge zu tun,« sagte Sherlock Holmes und wandte sich wieder dem großen Album zu, in dem er sein neuestes Material ordnete und katalogisierte.
Aber die Hauswirtin besass die ganze Hartnäckigkeit und Schlauheit ihres Geschlechtes. Sie gab nicht auf.
»Letztes Jahr lösten Sie ein Problem für einen meiner Mieter,« sagte sie – »Herrn Fairdale Hobbs.«
»Richtig – ein einfacher Fall.«
»Aber er hört nicht auf darüber zu reden – über Ihr Entgegenkommen, mein Herr, und über die Art, wie Sie Licht in das Dunkel brachten. Ich erinnerte mich seiner Worte, als ich mich selber in Zweifel und Ungewissheit befand. Ich weiß, dass Sie helfen könnten, wenn Sie nur wollten.«
Holmes war für Komplimente zugänglich, er war aber auch, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hilfsbereit. Beides brachte ihn dazu, seinen Klebepinsel mit einem resignierten Blick wegzulegen und seinen Sessel zurückzuschieben.
»Gut, Frau Warren, dann lassen Sie hören. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche? Danke, Watson – die Streichölzer! Sie sind besorgt, wenn ich Sie recht verstehe, weil sich Ihr neuer Mieter nur in seinen Räumen aufhält und Sie ihn nicht zu Gesicht bekommen. Nun – du meine Güte, Frau Warren – wenn ich Ihr Mieter wäre, würden Sie mich oft wochenlang nicht zu sehen bekommen.«
»Kein Zweifel, mein Herr; aber dieser Fall liegt anders. Er macht mir Angst, Herr Holmes. Ich kann vor Angst nicht schlafen. Seine schnellen Schritte hören zu müssen, wie sie sich hierhin und dorthin bewegen, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht und noch nicht einmal einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschen zu können – das ist mehr als ich ertragen kann. Mein Mann ist darüber genauso beunruhigt wie ich, aber er ist den ganzen Tag fort bei der Arbeit, während ich keinen Moment Ruhe finden kann. Warum versteckt er sich? Was hat er getan? Außer dem Mädchen bin ich ganz alleine im Haus mit ihm, und das ist mehr als meine Nerven aushalten können.«
Holmes lehnte sich nach vorne und legte der Frau seine langen, schmalen Hände auf die Schultern. Wenn er wollte, konnte er jemanden mit fast hypnotischer Kraft beruhigen. Der erschrockene Ausdruck wich aus ihren Augen und ihre verstörten Gesichtszüge glätteten sich. Sie setzte sich in den Sessel, den er ihr angeboten hatte.
»Wenn ich mich darum kümmern soll, muss ich jedes Detail kennen,« sagte er. »Denken Sie bitte gründlich nach. Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein. Sie sagen, der Mann zog vor vor zehn Tagen ein und bezahlte Ihnen für zwei Wochen Kost und Logis im voraus?«
»Er erkundigte sich nach meinen Bedingungen, mein Herr. Ich sagte fünfzig Schilling die Woche. Unsere Wohnung ist oben im Haus, mit einem kleinen Wohnzimmer und Schlafzimmer.«
»Und?«
»Er antwortete, ›Ich werde ihnen fünf Pfund die Woche bezahlen, wenn Sie meine Bedingungen akzeptieren.‹ Ich bin eine arme Frau, mein Herr, und Herr Warren verdient wenig, ich brauche das Geld. Er zog eine Zehnpfundnote heraus und hielt sie mir hin. ›Sie können alle zwei Wochen wieder eine bekommen, und zwar für einige Zeit, wenn Sie sich an meine Bedingungen halten,‹ sagte er. ›Wenn nicht, will ich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.‹«
»Und wie waren die Bedingungen?«
»Nun, mein Herr, er wollte einen Schlüssel vom Haus haben. Das ist in Ordnung, Mieter haben oft die Schlüssel. Auch wollte er, dass er völlig in Ruhe gelassen wird und nie, unter keinem Vorwand, gestört wird.«
»Daran ist nichts Merkwürdiges, oder?«
»Eigentlich nicht, mein Herr. Aber merkwürdig ist es doch: er lebt seit zehn Tage hier und weder Herr Warren, noch ich, noch das Mädchen haben ihn je zu Gesicht bekommen. Wir können nur seine schnellen Schritte hören, auf und ab, ab und auf, nachts, morgens und abends; aber ausser in der ersten Nacht hat er nicht ein einziges Mal das Haus verlassen.«
»Oh, er ging also in der ersten Nacht aus?«
»Jawohl, und er kam sehr spät zurück – nachdem wir alle schon zu Bett waren. Nachdem er die Zimmer gemietet hatte, sagte er sagte mir, dass er das vorhabe und bat mich, die Tür nicht abzusperren. Ich hörte ihn nach Mitternacht die Treppe heraufkommen.«
»Und seine Mahlzeiten?«
»Er gab die besondere Anweisung, dass wir immer, wenn er klingelt, sein Essen auf einen Stuhl vor die Tür stellen sollen. Dann klingelt er wieder, wenn er fertig ist und wir holen das Geschirr von demselben Stuhl ab. Wenn er etwas anderes will, druckt er es auf einen Papierstreifen und legt ihn dort hin.«
»Druckt es?«
»Jawohl; er druckt es in Bleistift. Nur das Wort, nichts weiter. Hier ist so ein Streifen, den ich mitgebracht habe um es Ihnen zu zeigen – Seife. Hier ist noch ein anderer – Streichholz. Diesen hier hat er am ersten Morgen hinlegt – Tageszeitung. Ich bringe sie ihm jeden Morgen zum Frühstück.«
»Ach du liebe Zeit, Watson,« sagte Holmes und starrte voller Neugier auf die Kanzleipapierstreifen, die ihm die Vermieterin gegeben hatte, »das ist allerdings etwas ungewöhnlich. Zurückgezogenheit kann ich verstehen; aber warum in Druckbuchstaben schreiben? Das ist umständlich. Warum nicht handschriftlich? Was würde das nahelegen, Watson?«
»Dass er seine Handschrift zu verbergen wünscht.«
»Aber warum? Was kümmert es ihn, wenn die Hauswirtin etwas schriftliches von ihm hat? Vielleicht haben Sie recht, aber warum sind die Botschaften ausserdem so kurz?«
»Ich kann es mir nicht erklären.«
»Das eröffnet uns ein Feld für interessante Spekulationen. Die Wörter sind mit einem breitspitzigen, violett getönten Bleistift geschrieben, kein ungewöhnliches Modell. Sie können sehen, dass das Papier herausgerissen wurde, hier an der Seite, nachdem die Buchstaben geschrieben wurden, so dass das ›S‹ von ›Seife‹ zum Teil fehlt. Welcher Grund wäre naheliegend, Watson?«
»Aus Vorsicht?«
»Genau. Offensichtlich befand sich hier ein Zeichen, ein Daumenabdruck, etwas, das einen Hinweis auf die Identität der Person geben könnte. Frau Warren, Sie sagen, dass der Mann mittelgross ist, dunkel und Bartträger. Wie alt schätzen Sie ihn?«
»Ziemlich jung, mein Herr – nicht über dreißig.«
»Können Sie mir noch mehr über ihn sagen?«
»Er spricht gut Englisch, mein Herr, und trotzdem glaube ich, er könnte Ausländer sein, er hat einen leichten Akzent.«
»Und war er gut angezogen?«
»Sehr elegant gekleidet, mein Herr – wie ein perfekter Gentleman. Dunkle Kleidung – nichts Auffälliges.«
»Er gab keinen Namen an?«
»Nein, mein Herr.«
»Und er hat keine Briefe oder Besuche erhalten?«
»Keine.«
»Aber bestimmt betreten Sie oder das Mädchen morgens sein Zimmer?«
»Nein, mein Herr; er versorgt sich gänzlich selbst.«
»Ach du liebe Güte! Das ist allerdings bemerkenswert. Was ist mit seinem Gepäck?«
»Er hatte eine große braune Tasche bei sich – sonst nichts.«
»Nun gut, es scheint, dass wir nicht viele Anhaltspunkte haben, die uns helfen könnte. Sie sagen, dass nichts aus diesem Zimmer herausgekommen ist – absolut nichts?«
Die Hauswirtin zog einen Umschlag aus ihrer Tasche und schüttelte daraus zwei abgebrannte Streichölzer und einen Zigarettenstummel auf den Tisch.
»Das war heute früh auf seinem Tablett. Ich habe es aufgehoben, weil ich gehört habe, dass sie auch aus Kleinigkeiten viel herauslesen können.«
Holmes zuckte mit den Schultern.
»Das nützt nichts,« sagte er. »Die Streichhölzer wurden natürlich dazu verwendet, Zigaretten anzuzünden. Das geht eindeutig aus der Kürze des verbrannten Endes hervor. Die Hälfte des Streichholzes wurde verbrannt, um eine Pfeife oder Zigarre anzuzünden. Aber dieser Zigarettenstummel ist ausserordentlich interessant. Der Herr trägt Bart und Schnurrbart, sagen Sie?«
»Ja, Mein Herr.«
»Das verstehe ich nicht. Ich behaupte, dass diese Zigarette nur ein gut rasierter Mann geraucht haben kann. Sehen Sie Watson, sogar Ihr bescheidener Schnurrbart wäre angesengt worden.«
»Ein Zigarettenhalter?« vermutete ich.
»Nein, nein; der Stummel ist benetzt. Ich gehe davon aus, dass nicht zwei Personen in der Wohnung sein können, Frau Warren?"
»Nein, mein Herr. Er ißt so wenig, dass ich mich oft wundere, wie es einen Einzigen am Leben erhält.«
»Nun, wir müssen noch eine Weile auf weitere Hinweise warten. Jedenfalls können Sie sich nicht beklagen. Sie haben Ihre Miete bekommen und er belästigt Sie nicht, auch wenn er kein gewöhnlicher Mieter ist. Er bezahlt Sie gut und wenn er es vorzieht, im Verborgenen zu bleiben, ist das nicht unbedingt Ihre Angelegenheit. Wir haben keine Rechtfertigung für ein Eindringen in seine Privatsphäre, bis wir die Veranlassung haben zu glauben, dass es gegen ihn belastende Indizien gibt. Ich habe mich der Sache angenommen und werde sie weiter verfolgen. Berichten Sie mir, wenn etwas Neues vorfällt und rechnen Sie mit meinen Beistand, wenn Sie ihn brauchen sollten.«
»Es gibt sicherlich einige interessante Aspekte in diesem Fall, Watson,« bemerkte er, als uns die Hauswirtin verlassen hatte. »Sie können natürlich trivial sein – wie individuelle Überspanntheit – sie können aber auch viel tiefer liegen, als es auf den ersten Blick erscheint. Zum Beispiel besteht offensichtlich die Möglichkeit, dass die Person, die sich jetzt in der Wohnung befindet, eine andere ist, als die, die sie mietete.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, nicht nur durch die Zigarettenstummel, ist es nicht auch bemerkenswert, dass der Mieter nur ein einziges Mal ausging, und zwar sofort nachdem er die Räume gemietet hatte? Er kam zurück – besser: jemand kam zurück – nachdem alle Zeugen aus dem Weg waren. Wir haben keinen Beweis, dass die Person, die zurückkam auch die Person war, die das Haus verlassen hat. Außerdem: der Mann, der die Zimmer mietete, sprach gut Englisch. Der andere, wie auch immer, schreibt ›Streichholz‹, wo es doch ›Streichölzer‹ heissen müßte. Ich kann mir vorstellen, dass das Wort aus einem Wörterbuch entnommen wurde; dort würde nur das Substantiv stehen, aber nicht der Plural. Dieser lakonische Stil könnte die Unkenntnis des Englischen verbergen. Ja, Watson, wir haben gute Gründe zu vermuten, dass die Mieter gewechselt haben.«
»Aber was könnte der Grund sein?«
»Ja, da liegt unser Problem. Das ist eine wichtige Fragestellung für unsere Nachforschungen.« Er nahm das große Buch herunter, in das er Tag für Tag die privaten Anzeigen der verschiedenen Londoner Zeitungen einordnete. »Du liebe Zeit!« sagte er, als er die Seiten umblätterte, »was für ein Chor von Stöhnen, Schreien und Geblöke! Was für ein Durcheinander von einzelnen Geschehnissen! Aber sicherlich der wertvollste Jagdgrund, der je einem Studenten des Ungewöhnlichen geboten wurde. Der Mann ist alleine und nicht über einen Brief zu erreichen, ohne die selbstgewählte absolute Abgeschiedenheit zu durchbrechen. Wie kann ihn dennoch eine Nachricht oder Neuigkeit erreichen? Offensichtlich nur durch eine Zeitungsanzeige. Es gibt keinen anderen Weg und glücklicherweise brauchen wir nur eine Zeitung in Betracht zu ziehen. Hier sind die Auszüge dieser Tageszeitung der letzten zwei Wochen. ›Dame mit schwarzer Boa im Schlittschuhverein des Prinzen‹ – das können wir übergehen. ›Jimmi will bestimmt nicht das Herz seiner Mutter brechen‹ – das scheint irrelevant zu sein. ›Wenn die Dame, die im Bus nach Brixton ohnmächtig wurde‹ – sie interessiert mich nicht. ›Jeden Tag sehnt sich mein Herz‹ Geblöke, Watson – richtiges Geblöke! Ah, scheint schon eher zu passen. Hören Sie sich das an: ›Sei geduldig. Werde sichere Wege zur Mitteilung finden. In der Zwischenzeit, diese Spalte. G.‹ Das war zwei Tage bevor Frau Warrens Mieter angekommen ist. Es klingt plausibel, oder nicht? Der Mysteriöse kann Englisch verstehen, auch wenn er es nicht schreiben kann. Lassen Sie uns sehen, ob wir die Spur wieder aufnehmen können. Ja, da haben wir es – drei Tage später. ›Mache erfolgreiche Übereinkünfte. Geduld und Vorsicht. Die Wolken werden vorüberziehen. G.‹ Danach eine Woche lang nichts. ›Der Pfad lichtet sich. Gebe Nachricht per Blinkzeichen wenn möglich – erinnere an vereinbarten Code – eins A, zwei B, und so weiter. Weitere Nachricht folgt. G.‹ Das war in der gestrigen Ausgabe und in der heutigen ist nichts. Das passt alles hervorragend auf Frau Warrens Mieter. Wenn wir noch ein bisschen warten, Watson, zweifle ich nicht daran, dass die Geschichte verständlicher wird.«
Genauso kam es auch, denn am Morgen fand ich meinen Freund vor dem Kamin stehend, mit dem Rücken zum Feuer und dem lächelnden Ausdruck grosser Zufriedenheit auf dem Gesicht.
»Wie klingt das, Watson?« rief er und fischte die Zeitung vom Tisch. ›Hohes, rotes Haus mit weißen Steinverblendungen. Dritter Stock. Zweites Fenster links. Nach der Dämmerung. G.‹ Das ist klar genug. Ich denke, dass wir nach dem Frühstück eine kleine Erkundung der Nachbarschaft von Frau Warren machen müssen. Ah, Frau Warren! Was für Neuigkeiten bringen Sie uns an diesem Morgen?«
Unsere Klientin war plötzlich in das Zimmer hereingeplatzt mit einer explosiven Kraft, die von einer neuen und bedeutsamen Entwicklung sprach.
»Das ist ein Fall für die Polizei, Herr Holmes!« kreischte sie. »Er soll sich hier fortmachen samt seinem Gepäck. Ich wäre geradewegs zu ihm hochgegangen und hätte es ihm gesagt, aber ich dachte, es wäre nur fair Ihnen gegenüber, Sie zuerst nach Ihrer Meinung zu fragen. Aber ich bin am Ende meiner Geduld, und wenn es schon dazu kommen, dass mein Alter angegriffen –«
»Herrn Warren wurde angegriffen?«
»Jedenfalls wurde er grob behandelt.«
»Aber wer ist grob mit ihm umgegangen?"
»Ach, das ist ja genau das, was wir wissen wollen! Es war heute Morgen, Mein Herr. Herr Warren arbeitet bei Morton und Waylights in der Tottenham Court Road. Er muss vor sieben aus dem Haus gehen. Also, heute früh war er noch keine zehn Schritte die Straße hinunter gegangen, als zwei Männer von hinten kamen, einen Mantel über seinen Kopf stülpten und ihn in eine Droschke packten, die neben dem Bordstein stand. Sie fuhren eine Stunde lang mit ihm herum, öffneten dann die Tür und stießen ihn heraus. Er lag auf der Strasse, so zu Tode geängstigt, dass er gar nicht bemerkte, wohin die Droschke fuhr. Als er sich wieder aufraffte bemerkte er, dass er auf der Hampstead Heath war; also nahm er den Bus nach Hause und da liegt er nun auf dem Sofa, während ich sofort hierher kam um Ihnen zu erzählen was passiert ist.«
»Sehr interessant,« sagte Holmes. »Hat er mitbekommen, wie die Männer aussahen – hat er sie sprechen hören?«
»Nein, er ist völlig benommen. Er weiß nur, dass er wie durch Zauber hochgehoben und wie durch Zauber fallengelassen wurde. Es waren mindestens zwei dabei, oder vielleicht drei.«
»Und Sie bringen diesen Angriff mit Ihrem Mieter in Verbindung?"
»Nun ja, wir leben hier seit fünfzehn Jahren und so etwas ist vorher nie passiert. Ich habe genug von ihm, Geld ist nicht alles. Bis zum Abend will ich ihn aus dem Hause haben.«
»Warten Sie noch ein bißchen, Frau Warren, handeln Sie nicht voreilig. Ich fange an zu glauben, dass diese Sache viel wichtiger ist, als sie auf den ersten Blick erschien. Es ist jetzt klar, dass Ihrem Mieter irgendeine Gefahr droht. Es ist ebenso klar, dass seine Feinde, als sie in der Nähe Ihrer Tür auf der Lauer lagen, ihn bei dem nebligen Morgenlicht mit Ihrem Mann verwechselt haben. Als sie ihren Fehler entdeckten, ließen sie Ihren Mann laufen. Was sie mit ihm getan hätten, wenn es nicht der falsche Mann gewesen wäre, können wir nur vermuten.«
»Also, was soll ich tun, Herr Holmes?«
»Ich bin sehr begierig, Ihren Mieter zu sehen, Frau Warren.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie das zu bewerkstelligen ist, ausser Sie brechen die Tür auf. Ich höre, daß er jedes Mal aufschließt sobald ich das Tablett abgestellt habe und die Treppe hinuntergehe.«
»Er muß das Tablett hereinholen. Bestimmt könnten wir uns verstecken und ihm dabei zusehen.«
Die Hauswirtin dachte einen Moment nach.
»Nun, mein Herr, gegenüber ist eine Abstellkammer. Ich könnte vielleicht einen Spiegel anbringen, und wenn Sie hinter der Tür wären –«
»Ausgezeichnet!« sagte Holmes. »Wann ißt er zu Mittag?«
»So gegen Eins, Mein Herr.«
»Dann werden Dr. Watson und ich rechtzeitig herüberkommen. Erst einmal auf Wiedersehen, Mrs. Warren.«
Um halb Eins befanden wir uns auf den Stufen zu Frau Warrens Haus – ein hohes, schmales, gelbes Backsteingebäude in der Great Orme Street, einer schmalen Durchfahrtstrasse an der nordöstlichen Seite des Britischen Museums. Es stand in der Nähe der Straßenecke und bot einen guten Überblick über die Howe Street mit ihren massiven, protzigen Häusern. Holmes zeigte mit einem leisen Lachen auf ein Gebäude, ein Zeile mit Mietwohnungen, die so hervorstachen, dass sie den Blick auf sich zogen.
»Sehen Sie, Watson!« sagte er. ›Hohes rotes Haus mit Steinverblendungen.‹ Da ist also wohl die Signalstation. Wir kennen den Ort und wir kennen den Code; unsere Aufgabe wird bestimmt einfach sein. Da ist ein Schild ›zu vermieten‹ im Fenster. Offensichtlich ist es diese leere Wohnung, zu welcher der Komplize Zugang hat. Gut, Frau Warren, was nun?«
»Ich habe alles für Sie vorbereitet. Wenn Sie beide heraufkommen und Ihre Stiefel unter dem Treppenabsatz lassen, werde ich Sie jetzt hinbringen.«
Sie hatte ein ausgezeichnetes Versteck ausgewählt. Der Spiegel war so angebracht, dass wir, im Dunkeln sitzend, die Tür gegenüber fast vollständig sehen konnten. Wir hatten uns kaum hingesetzt und Frau Warren war gerade gegangen, als ein entferntes Läuten anzeigte, dass unser mysteriöser Nachbar geklingelt hatte. Gleich darauf erschien die Hauswirtin mit dem Tablett, stellte es auf einen Stuhl neben die geschlossen Türe und dann, nach heftigem Gestikulieren, entfernte sie sich. Zusammengekauert in der Türecke hielten wir die Augen fest auf den Spiegel gerichtet. Plötzlich, als die Schritte der Wirtin in der Ferne verhallten, hörte man Drehen eines Schlüssels, der Knauf drehte sich, zwei schmale Hände schossen heraus und nahmen das Tablett vom Stuhl. Einen Moment später wurde es eilig zurückgestellt und ich erhaschte einen Blick auf ein dunkles, schönes, verängstigtes Gesicht, das durch den engen Spalt des Abstellraumes leuchtete. Dann schlug die Tür zu, der Schlüssel drehte sich wieder und alles war still. Holmes zupfte mich am Ärmel und wir stahlen uns gemeinsam die Treppe herunter.
»Ich werde Sie am Abend wieder aufsuchen,« sagte er zu der wartenden Wirtin. »Ich denke, Watson, wir können diese Angelegenheit besser in unserem Quartier besprechen.«
»Wie Sie sehen, stellt sich meine Vermutung als richtig heraus,« sagte er aus den Tiefen seines Lehnsessels. »Es hat ein Austausch der Mieter stattgefunden. Was ich nicht voraus sah: dass wir eine Frau finden würden, und zwar keine gewöhnliche Frau, Watson.«
»Sie hat uns gesehen.«
»Nun, sie sah etwas, das sie beunruhigte. Das ist sicher. Der allgemeine Ablauf der Geschehnisse ist ziemlich eindeutig, oder? Ein Paar sucht in London Zuflucht vor einer ziemlich schrecklichen und unmittelbaren Gefahr. Die Gründlichkeit ihrer Vorsichtsmassnahmen zeigt das Ausmass der Gefahr. Der Mann, der gewisse Aufgaben zu erfüllen hat, wünscht die Frau in absoluter Sicherheit zu wissen, während er dies tut. Kein einfaches Problem, aber er löste es auf ungewöhnliche Weise und so wirkungsvoll, dass ihre Gegenwart nicht einmal der Hauswirtin bekannt wurde, die sie mit Essen versorgt. Wie sich jetzt herausstellt, dienen die Nachrichten in Druckschrift der Verhinderung der Entdeckung ihres Geschlechtes durch die Handschrift. Der Mann kann sich der Frau nicht nähern, sonst leitet er ihre Feinde zu ihr. Da er nicht direkt mit ihr in Verbindung treten kann, greift er auf Anzeigen in einer Zeitung zurück. So weit ist alles klar.«
»Aber worin besteht der Grund dafür?«
»Ach ja, Watson – äußerst praktisch, wie immer! Was ist die Ursache von allem? Seit wir eingegriffen haben, weitet sich Frau Warrens merkwürdiges Problem ein wenig aus und erhält einen dunklen Aspekt. So viel können wir schon sagen: das ist keine gewöhnliche Liebesangelegenheit. Sie haben das Gesicht der Frau im Angesicht der Gefahr gesehen. Auch haben wir von dem Angriff auf den Hauswirt gehört, der zweifellos gegen den Mieter gerichtet war. Diese Anzeichen und die verzweifelte Notwendigkeit der Geheimhaltung sprechen dafür, dass es eine Angelegenheit auf Leben und Tod ist. Der Angriff auf Mr. Warren weist außerdem darauf hin, dass der Feind, wer immer er ist, nichts über die Vertauschung des weiblichen Mieters mit dem männlichen weiss. Das ist sehr merkwürdig und undurchschaubar, Watson.«
»Warum sollten Sie sich weiter damit beschäftigen? Was können Sie dabei gewinnen?«
»Was denn wohl? Es ist Kunst um der Kunst willen, Watson. Ich nehme an, als Sie Arzt waren, haben Sie auch Fälle studiert, ohne auch nur den Gedanken an ein Honorar fassen.«
»Um zu lernen, Holmes.«
»Das Lernen hört nie auf, Watson. Es ist eine Reihe von Lektionen mit der größten zum Schluß. Dies ist ein lehrreicher Fall. Er bringt weder Geld noch Ansehen und man wünscht sich bereits jetzt, man hätte ihn gelöst. Sobald die Nacht einbricht, sollten wir mit unseren Ermittlungen schon einen Schritt weiter gekommen sein.«
Als wir zu Frau Warrens Unterkünften zurückkamen, hatte sich die Dunkelheit des Londoner Winterabends zu einem dunklen Vorhang verdichtet, ein totes Einerlei von Grau, nur durchbrochen von den scharfen, gelben Vierecken der Fenster und den verschwommenen Lichthöfen der Gaslaternen. Als wir aus dem verdunkelten Wohnzimmer des Mietshauses spähten, flackerte ein weiteres, schwaches Licht aus der Dunkelheit auf.
»In diesem Zimmer bewegt sich jemand,« flüsterte Holmes, sein hageres und eifriges Gesicht an die Fensterscheibe vorgeschoben. »Ja, ich kann seinen Schatten sehen. Da ist er wieder! Er hat eine Kerze in der Hand. Jetzt späht er herüber. Er will sicher sein, dass sie am Ausguck ist. Jetzt beginnt er zu signalisieren. Schreiben auch Sie die Nachricht auf, Watson, dann können wir uns gegenseitig überprüfen. Ein einzelner Blitz – das ist bestimmt ein A. Jetzt wieder. Wieviele haben Sie gezählt? Zwanzig. Die Tat ist vollbracht. Das sollte T bedeuten. AT – das ist verständlich genug. Noch ein T. Das ist bestimmt der Anfang eines zweiten Wortes. Jetzt, dann – TENTA. Ein Anschlag. Das kann nicht alles sein, Watson? ATTENTA gibt keinen Sinn. Und ist auch nicht besser als drei Worte AT, TEN, TA, ausser, dass T.A. die Initialen einer Person sind. Es geht weiter! Was ist das? ATTE – warum, es ist wieder dieselbe Nachricht. Merkwürdig, Watson, sehr merkwürdig. Jetzt geht es wieder weiter! AT – warum wiederholt er das zum dritten Mal? ATTENTA drei Mal! Wie oft wird er es noch wiederholen? Nein, es scheint vorbei zu sein. Er hat sich vom Fenster zurückgezogen. Wie interpretieren Sie das, Watson?«
»Eine verschlüsselte Nachricht, Holmes.«
Mein Begleiter gab ein leises, verständnisvolles Lachen von sich. »Und kein sehr komplizierter Schlüssel, Watson,« sagte er. »Ja doch – das ist gewiss Italienisch! Das A bedeutet, dass es an eine Frau gerichtet ist. ›Vorsicht! Vorsicht! Vorsicht!‹ Wie klingt das, Watson?«
»Ich glaube, Sie haben es herausbekommen.«
»Daran besteht kein Zweifel. Das ist eine sehr eindringliche Nachricht, dreimal wiederholt, um es noch deutlicher zu machen. Aber Vorsicht vor was? Warten Sie ein bisschen, er kommt wieder zum Fenster.«
Wieder sahen wir die undeutliche Silhouette eines zusammengekauerten Mannes und das abrupte Schwingen der kleinen Flamme über das Fenster, als die Signale wieder kamen, schneller als vorher – so schnell, dass es schwer war sie zu verfolgen.
»PERICOLO – pericolo – eh, was ist das Watson? ›Gefahr‹, oder? Ja, beim Jupiter, es ist ein Gefahrensignal. Jetzt wieder! PERI. Hallo, was zum Teufel –«
Das Licht war plötzlich ausgegangen, das erleuchtete Viereck des Fenster war verschwunden und der dritte Stock bildete ein dunkles Band um das hochaufragende Gebäude mit seinen Reihen von schimmernden Fensterflügeln. Der letzte Warnschrei war plötzlich unterbrochen worden. Wie, und von wem? Augenblicklich kam uns beiden derselbe Gedanke. Holmes sprang von dem Fensterplatz auf, an dem er gekauert hatte.
»Das ist ernst, Watson,« schrie er. »Da geht etwas teuflisches vor sich! Warum sollte so eine Nachricht auf diese Weise unterbrochen werden? Ich sollte Scotland Yard in diese Angelegenheit einweihen – aber wir können jetzt unmöglich fort.«
»Soll ich die Polizei holen?«
»Wir müssen die Lage noch besser einschätzen können. Alles kann eine andere, harmlose Bedeutung haben. Kommen Sie Watson, lassen Sie uns hinübergehen und selbst sehen, was wir feststellen können.«