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IV. Das Tagebuch eines Sterbenden.

Wie seltsam erscheinen mir diese Worte zu Beginn der leeren Seite meines Notizbuches! Noch seltsamer aber ist es, daß ich, Edward Malone, sie geschrieben habe – ich, der erst vor etwa zwölf Stunden meine Wohnung in Streatham verlassen habe, ohne eine Ahnung davon, welche wunderbaren Ereignisse dieser Tag bringen sollte. Ich überblicke nochmals die Reihenfolge der Ereignisse, meine Unterredung mit Mac Ardle, Challengers ersten beunruhigenden Brief an die »Times«, die verrückte Bahnfahrt, das angenehme Frühstück, die Katastrophe, und nun ist es so weit gekommen, daß wir allein auf einem leeren Planeten zurückgeblieben sind. So unabwendbar ist unser Los, daß mir diese Zeilen, welche ich aus Berufsgewohnheit schreibe und die nie mehr von Menschenaugen gelesen werden sollen, wie die Worte eines bereits Gestorbenen erscheinen. So nahe bin ich der Grenze jenes Schattenreiches, das alle, die sich außerhalb unseres Zufluchtsortes befanden, schon betreten haben. Jetzt erst erkenne ich, wie weise und wahr Challenger gesprochen hatte, als er sagte, die wahre Tragödie bestehe darin, Alles zu überleben – alles, was schön und gut und edel gewesen. Aber diese Gefahr besteht nicht. Schon geht unser zweiter Sauerstoffbehälter zu Ende. Wir können fast auf die Minute berechnen, welches armselige Restchen von Leben uns noch bleibt. Soeben hat Challenger uns den Text gelesen, wohl eine gute Viertelstunde lang – er war so aufgeregt, daß er uns anbrüllte und heulte, als richte er in Queens Hall das Wort an seine alten Zuhörerreihen von wissenschaftlichen Skeptikern. Er sprach zu einem merkwürdigen Auditorium: zu seiner Frau, die fügsam zu allem Ja sagte, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte; zu Summerlee, der verdrießlich und nörgelnd am Fenster saß, aber interessiert zuhörte; zu Lord John, der sich gelangweilt in eine Ecke lehnte und zu mir, der ich, am Fenster stehend, die Szene mit der losgelösten Aufmerksamkeit eines Menschen betrachtete, der zu träumen glaubt, oder Vorgänge sich abspielen sieht, an denen er keinen Teil mehr hat. Challenger saß am Mitteltische und eine elektrische Flamme beleuchtete die Spiegelplatte unter dem Mikroskop, das er aus seinem Ankleidezimmer geholt hatte. Der helle Lichtschimmer, von der Platte zurückgeworfen, ließ einen Teil seines verwitterten, bärtigen Gesiebtes in schärfster Beleuchtung sichtbar werden, während der andere Teil in tiefsten Schatten getaucht war. Wie es scheint, hatte er kürzlich mit einer Arbeit über die niedrigsten Lebensorganismen begonnen und momentan erregte ihn die Tatsache ganz außerordentlich, daß er die am Vortage unter das Mikroskop gebrachte Amöbe noch lebend vorfand.

»Seht nur her«, wiederholte er aufgeregt. »Summerlee, wollen Sie herüberkommen und sich davon selbst überzeugen? Bitte, Malone, wollen Sie bestätigen, was ich sage. Die kleinen spindelförmigen Körper in der Mitte sind Diatomeen und nicht weiter zu beachten, da sie ja wahrscheinlich eher vegetabilische als animalische Wesen sein dürften. Rechts aber sehen Sie eine ganz ausgesprochene Amöbe, welche träge über das Lichtfeld kriecht Die obere Schraube hier dient zur scharfen Einstellung, Sie können sich sie nach Bedarf richten.«

Summerlee folgte seiner Weisung und stimmte zu. Auch ich blickte hindurch und sah ein kleines Geschöpf, das – einem Räupchen aus Glas gleich – seine klebrigen Spuren auf dem belichteten Feld hinterließ.

Dem Lord war die Sache anscheinend sehr gleichgültig.

»Wozu soll ich mir den Kopf zerbrechen, ob sie lebt oder nicht«, sagte er. »Wir kennen uns ja nicht einmal vom Sehen aus, warum also soll ich mich besonders aufregen? Sie wird sich ja wegen unseres Gesundheitszustandes auch nicht aus der Ruhe bringen lassen?«

Darüber mußte ich lachen und Challenger sah mit seinem kältesten und mißbilligendsten Blick zu uns herüber – geradezu versteinernd.

»Die Leichtfertigkeit der Halbgebildeten ist noch lästiger als der beschränkte Eigensinn der gänzlich Ungebildeten«, sagte er. »Wenn sich Lord John Roxton vielleicht herablassen würde – – –«

»Mein lieber George, sei nicht so bissig« – meinte seine Frau und legte begütigend die Hand auf seine schwarze Mähne, die über das Mikroskop herabhing. »Ist es denn nicht ganz gleichgültig, ob die Amöbe noch lebt oder nicht?«

»Nein, der Unterschied bedeutet sogar sehr viel«, antwortete mürrisch ihr Gatte.

»Nun gut, so sprechen wir eben darüber«, sagte mit heiterem Lächeln Lord John. »Schließlich können wir hierüber gerade so gut sprechen wie von etwas anderem und sollten Sie der Meinung sein, daß ich das Ding zu leicht genommen habe oder etwa seine Gefühle irgendwie verletzt habe, will ich mich gern entschuldigen.«

»Ich für meine Person«, bemerkte Summerlee in seiner knarrenden, streitsüchtigen Weise, »begreife überhaupt nicht, weshalb Sie so viel Wesens davon machen, ob das Ding lebt oder nicht. Das Tier befindet sich ja in derselben Luft wie wir und bleibt einfach deshalb am Leben, weil es der Giftwirkung nicht ausgesetzt war. Wäre es draußen geblieben, so wäre es eben so tot wie alle anderen tierischen Geschöpfe.«

Zeichnung: Otto Dely

»Ihre Bemerkungen, mein lieber Summerlee«, sagte Challenger mit dem Ausdrucke ungeheurer Überlegenheit (könnte ich nur dieses selbstbewußte, hochmütige, von dem Reflektor des Mikroskops grell beleuchtete Antlitz malen!) »Ihre Bemerkungen beweisen, daß Sie die Lage nicht richtig erfassen. Dieses Exemplar wurde gestern präpariert und hermetisch abgeschlossen. Daher hat unser Sauerstoff dazu keinen Zutritt. Der Äther ist ebenso hinzu gedrungen wie an jede andere Stelle des Weltalls. Daher hat das Tier dem Gift offenbar widerstanden. Daraus können wir weiter folgern, daß jede andere Amöbe außerhalb dieses Zimmers nicht gestorben ist, wie Sie irrtümlich vermutet haben, sondern die Katastrophe überlebt hat.«

»Nun gut, auch jetzt bin ich noch nicht in der Laune, deshalb hipp hipp hurra zu schreien«, sagte Lord John. »Was für einen Wert hat diese Tatsache denn für uns?«

»Sie beweist eben, daß die Welt nicht tot ist, wie wir angenommen hatten, sondern daß in ihr weiter tierisches Leben besteht. Wenn Sie wissenschaftliche Einbildungskraft besitzen würden, könnten Sie, von dieser einen Tatsache ausgehend, sich die Welt nach einigen Millionen Jahren vorstellen – ein flüchtiger Augenblick nur im ungeheuren Strome der Zeiten – und dann würden Sie die Welt abermals von tierischem und menschlichem Leben erfüllt sehen, welches dieser winzigen Wurzel hier seinen Ursprung verdankt. Sie haben schon einen Prairiebrand mit angesehen, bei welchem die Flammen jede Spur von Gras und Pflanzen von der Erdoberfläche vertilgt und nur eine rauchgeschwärzte Wüste übriggelassen hatten. Man hätte nun glauben können, daß es in alle Ewigkeit so bleiben würde – aber die Wurzeln des Wachstums waren zurückgeblieben und wenn Sie nach wenigen Jahren dieselbe Stelle wieder aufsuchen würden, konnten Sie nirgends mehr Spuren des Brandes erkennen. Dieses winzige Geschöpf hier birgt die Wurzel für das Wachstum allen animalischen Lebens in sich und infolge der stets fortschreitenden Entwicklung und Umwandlung wird in einem gewissen Zeitraume jegliche Spur dieser Weltkatastrophe verschwunden sein.«

»Riesig interessant«, sagte Lord John, der sich über den Tisch lehnte und durch das Mikroskop blickte. »Ein drolliger kleiner Kerl. Nummer Eins der künftigen menschlichen Ahnen-Galerie. Hat einen schönen, großen Hemdknopf am Leib!«

»Der dunkle Gegenstand ist sein Zellkern«, sagte Challenger in der Art und Weise einer Kinderfrau, die ihrem Pflegebefohlenen das ABC beibringen will.

»Sehr gut, da braucht uns ja gar nicht bange zu sein«, meinte lachend Lord John. »Es lebt außer uns ja noch jemand auf dieser Erde.«

»Sie scheinen also als sicher anzunehmen, Challenger,« sagte Summerlee, »daß die Welt ausschließlich zu dem Zwecke erschaffen wurde, menschliches Leben zu erzeugen und zu erhalten.«

»Gewiß, Herr, zu welchem Zwecke denn sonst?« fragte Challenger, den schon die Möglichkeit eines Widerspruches reizte.

»Manchmal neige ich zu der Ansicht, daß allein die ungeheure Anmaßung der Menschen sie denken läßt, daß dieses unermeßliche Weltall nur als Bühne erschaffen worden ist, damit sie darauf herum, stolzieren können.«

»Darüber lassen sich keine Theorien aufstellen, doch können wir auch ohne jene ungeheure Anmaßung, die Sie uns zum Vorwurfe machen, ruhigen Gewissens sagen, daß wir das höchstentwickelte Geschöpf in der ganzen Natur sind.«

»Das höchste uns bekannte Wesen.«

»Das ist selbstverständlich, Herr!«

»Gedenken Sie all der Millionen und vielleicht auch Billionen Jahre, während welcher die Erde unbewohnt durch den Weltenraum kreiste – oder, wenn auch nicht gänzlich unbewohnt, so doch ohne die leiseste Spur eines Menschengeschlechtes – ohne den Gedanken daran. Bedenken Sie, vom Regen überschüttet, von der Sonne ausgedörrt und von Stürmen umtost – all die ungezählten Epochen hindurch. Nach geologischer Zeitrechnung ist der Mensch sozusagen erst gestern in Erscheinung getreten. Warum sollte dann als erwiesen angenommen werden, daß all diese gigantischen Vorbereitungen ausschließlich zu seinem Nutzen getroffen wurden?«

»Für wen denn sonst, wofür denn sonst?«

Summerlee zuckte mit den Achseln:

»Was läßt sich da sagen? Aus irgend einem Grunde weit jenseits unseres Begriffsvermögens. Vielleicht ist der Mensch auch nur so eine Art Nebenprodukt, das vielleicht durch bloßen Zufall in diesem Prozeß mitentstanden ist. Es ist genau so, wie wenn der Schaum auf der Oberfläche des Meeres sich einbilden wollte, daß der Ozean allein dem Zwecke dienen soll, ihn hervorzubringen und zu erhalten oder wenn eine Maus in einer Kathedrale glauben wollte, das Gebäude sei ausschließlich als Wohnort für sie hergestellt.«

Ich habe bisher diese Auseinandersetzung wörtlich festgehalten, doch artet sie nunmehr in ein lärmendes Wortgefecht aus, mit vielsilbigen wissenschaftlichen Fachausdrucken beiderseits. Gewiß ist es eine Auszeichnung, wenn man Gelegenheit hat, zwei so hervorragende Geister die höchsten Fragen erörtern zu hören; herrscht aber fortwährend ein Gegensatz der Meinungen vor, so können einfache Menschen wie Lord John und ich daraus keinerlei positiven Gewinn ziehen. Jeder widerlegt, was der andere gesagt hat und wir wissen zum Schlusse erst recht nichts. Nun hat der Wortwechsel geendet; Summerlee kauert in seinem Sessel und Challenger, der noch immer an seinem Mikroskope fingert, gibt unausgesetzt ein tiefes, volles, unartikuliertes Grollen von sich, wie das Meer nach dem Sturm. Lord John kommt zu mir herüber und wir beide blicken in die Nacht hinaus.

Am Himmel steht ein blasser Mond – der letzte Mond, auf den Menschenaugen blicken – und die Sterne erstrahlen in schimmerndem Glanze. Selbst in der reinen Luft der südamerikanischen Ebene habe ich keinen helleren Sternenglanz bewundern können. Es ist möglich, daß die Veränderung des Äthers einen Einfluß auf das Licht ausübt. In Brighton glüht der tödliche Scheiterhaufen weiter und am westlichen Himmel sieht man in großer Entfernung einen scharlachroten Fleck, welcher darauf schließen läßt, daß über Arundel oder Chichester, vielleicht auch über Portsmouth, Unheil hereingebrochen ist. Ich sitze da, grüble vor mich hin und mache hie und da Anmerkungen. Eine milde Melancholie liegt in der Luft. Soll denn alles zu Ende sein – Jugend, Schönheit, Mut und Liebe? Die sternenerleuchtete Erde gleicht einem Traumreich voll sanften Friedens. Wer könnte glauben, daß diese Erde das furchtbarste Golgatha ist, bestreut mit den Trümmern des toten Menschengeschlechtes? Plötzlich höre ich mich lachen.

»Hallo, mein Junge, was ist denn geschehen?« fragte erstaunt Lord John. »Ein wenig Frohsinn würde uns ganz wohl tun. Was gibt es denn?«

»Ich habe an all die wichtigen Fragen denken müssen«, antwortete ich, »an deren Lösung wir so viel Geist und Mühe gewendet haben. Denken Sie an den englisch-deutschen Wettbewerb zum Beispiel oder an den persischen Golf, für den mein alter Chef sich so sehr interessiert hat. Wer hätte wohl geahnt, daß die schließliche Lösung in dieser Art erfolgen würde, während wir so viel Mühe und Ärger daran wandten.«

Wieder verfallen wir in tiefes Schweigen. Ich glaube, jeder von uns denkt an die Lieben, die uns im Tode vorausgegangen sind. Frau Challenger weint still vor sich hin und ihr Gatte flüstert ihr Worte des Trostes zu. Ich denke an Menschen, an welche ich all die Zeit her nie gedacht habe und sehe im Geiste jeden von ihnen weiß und steif vor mir liegen, wie im Hofe den armen Austin. Da ist zum Beispiel Mac Ardle. Ich weiß genau, wo er liegt, das Gesicht auf dem Schreibtisch, die Hand an der Hörmuschel, so wie ich ihn fallen gehört habe. Auch Bearmont, der Redakteur – gewiß liegt er auf dem rot-blauen türkischen Teppich, welcher sein Allerheiligstes schmückt. Und die Kollegen im Reporterzimmer – Macdonna und Murray und Bond. Sie sind sicher in voller Tätigkeit gestorben, in den Händen die Notizbücher voll von lebendigen Eindrücken und seltsamen Begebenheiten. Ich stelle mir vor, wie man den einen zu den Ärzten im Medizinischen Institut, den andern nach Westminster und den dritten in die St. Pauls-Kirche geschickt haben wird. Ihre letzte herrliche Vision war wohl eine prachtvolle Reihe fabelhafter Überschriften, die jedoch niemals ihre Auferstehung in Druckerschwärze feiern würden. Ich sehe Macdonna vor mir bei den Medizinern. – » Hoffnung in Harley Street«. – Mac hatte immer eine große Vorliebe für Alliterationen gehabt. – »Interview mit Mr. Soley Wilson. – Der berühmte Spezialist sagt: ›Nur nicht verzweifeln!‹ Unser Spezialberichterstatter fand den berühmten Gelehrten auf dem Dachboden seines Hauses, wohin er sich geflüchtet hatte, um dem Ansturm seiner geängstigten Klienten zu entgehen, die seine Wohnung gestürmt hatten. In einer Art und Weise, aus der deutlich hervorging, daß er sich des Ernstes der Lage vollkommen bewußt war, weigerte sich der berühmte Arzt, zuzugeben, daß er die Situation für absolut hoffnungslos halte.« – So würde Mac begonnen haben. Dann kam Bond; sicher würde er St. Paul's absolvieren. Er war nicht wenig stolz auf seine schriftstellerische Größe. Weiß Gott, das Thema wäre geeignet für ihn gewesen! »Als ich auf der kleinen Galerie unter dem Dome stand und hinabblickte auf die dichten Massen verzweifelnder Menschen, welche in diesem letzten Augenblicke vor einer Macht, deren Vorbandensein sie bisher so hartnäckig abgeleugnet, im Staube krochen, stieg aus dieser Menge zu meinen lauschenden Ohren ein so tiefes Seufzen, flehend, grauenerfüllt, empor – ein so schauriger Hilferuf vor dem Unbekannten, daß – –« und so weiter.

Ja, es war ein glorreicher Abgang für einen Berichterstatter, obwohl jeder von ihnen, ebenso wie ich, angesichts ungenützter Schätze sterben mußte. Was hätte zum Beispiel Bond, der arme Bursche, darum gegeben, wenn er zum Schlusse einer solchen Spalte sein »J. H. B.« gedruckt hätte sehen können!

Was für Unsinn schreibe ich da nieder! Es ist wohl nur die Sucht, die ermüdende Langeweile nicht aufkommen zu lassen. Frau Challenger hat sich in das innere Ankleidezimmer zurückgezogen und schläft fest, wie der Professor berichtet. Er sitzt am Mitteltisch, macht sich Notizen oder schlägt in Büchern nach, als ob noch Jahre friedlicher Arbeit vor ihm lägen. Er schreibt mit einer kreischenden Feder und scheint durch dieses laute Kreischen allen jenen seine Verachtung auszudrücken, welche nicht seiner Meinung sind.

Summerlee ist in seinem Sessel eingenickt und schnarcht von Zeit zu Zeit in geradezu aufreizender Art. Lord John liegt zurückgelehnt da, die Hände in die Taschen vergraben und die Augen geschlossen. Wie Menschen unter solchen Verhältnissen überhaupt einschlafen können, ist mir rätselhaft.

Zeichnung: Otto Dely

Drei Uhr dreißig Morgen. Eben bin ich aus dem Schlafe aufgeschreckt. Es war fünf Minuten nach Elf, als ich meine letzte Eintragung machte. Ich erinnere mich daran, da ich um diese Zeit meine Uhr aufzog und mir die Stunde einprägte. So habe ich von der kurzen Spanne Zeit, die uns noch geblieben ist, fünf Stunden vergeudet. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Aber ich fühle mich viel frischer und in mein Geschick ergeben – oder will mir einreden, daß ich es bin. Und doch, je lebenstüchtiger ein Mensch ist und je mehr er sich dem Zenithe seines Lebens nähert, umsomehr muß er den Tod fürchten. Wie weise und mitleidig ist die Vorkehrung der Natur, daß sie den Lebensanker unmerkbar durch viele kleine Erschütterungen nach und nach lockert, bis das Bewußtsein so aus dem schwankenden irdischen Hafen in die offene See getrieben ist.

Frau Challenger liegt noch im Ankleidezimmer. Challenger ist in einem Sessel eingeschlafen. Welcher Anblick! Sein ungeheurer Körper ist zurückgelehnt, die mächtigen, haarigen Hände hat er auf dem Magen verschränkt und den Kopf hält er derart zurückgebogen, daß ich oberhalb seines Kragens nur eine Stachelwildnis von dichtem, verwirrtem Bart erblicken kann. Er schnarcht, daß es ihn schüttelt und Summerlee stimmt hie und da in hohem Tenor zu Challengers tiefem Baß ein. Auch Lord John ist eingeschlafen, seine lange Gestalt ruht seitwärts zusammengekrümmt in einem Korbsessel. Das erste kalte Licht der frühen Morgendämmerung stiehlt sich eben in das Zimmer. Hier und draußen ist alles grau und traurig. Ich sehe nach dem Aufgang der Sonne diesem schrecklichen Sonnenaufgang, der eine ausgestorbene Welt mit seinen Strahlen erfüllen wird. Das Menschengeschlecht ist verschwunden, an einem einzigen Tage ausgestorben, die Planeten aber kreisen weiter und die Gezeiten steigen und fallen, der Wind flüstert und die Natur geht ihren Gang wie sonst bis zur Amöbe herab und bald wird jede Spur dafür verschwunden sein, daß jene, die sich Herren der Schöpfung genannt, jemals auf Erden geweilt. Unten im Hofe liegt Austin mit gespreizten Gliedern, sein Gesicht schimmert in der Dämmerung weiß herauf und der Spritzschlauch ruht noch immer in seiner erkalteten Hand. Das Wesen der ganzen Rasse ist gekennzeichnet in dieser stillen Gestalt des Mannes, welcher in halb ergreifender, halb lächerlicher Stellung neben der Maschine liegt, die er zu beherrschen pflegte.

*

Hier enden die Aufzeichnungen, die ich damals gemacht habe. Von diesem Zeitpunkte an haben sich die Ereignisse mit derartiger Schnelligkeit abgespielt und waren derart eindrucksvoll, daß ich sie nicht notieren konnte; aber sie stehen mit solcher Klarheit in meinem Gedächtnis, daß mir nicht das kleinste Detail davon entfallen kann.

Ein würgendes Gefühl im Halse veranlaßte mich, nach den Sauerstoffbehältern zu sehen und das, was ich sah, war erschreckend. Kurze Zeit noch dann war die Sanduhr unseres Lebens abgelaufen. Während der Nacht hatte Challenger den Schlauch vom dritten zum vierten Behälter verlegt und auch dieser war wohl schon verbraucht. Ein qualvolles Gefühl der Beklemmung hielt mich umfaßt. Ich ging hinüber, schraubte den Schlauch los und verband ihn mit der Mündung des letzten Behälters. Während ich dies tat, fühlte ich Gewissensbisse, denn ich dachte daran, daß alle im Schlafe schmerzlos hinübergegangen wären, wenn ich mich beherrscht hätte. Der Gedanke verflog im nächsten Augenblick, als ich Frau Challenger aus dem inneren Räume rufen hörte: »George, George, ich ersticke!«

»Es ist schon alles in Ordnung, Frau Challenger«, antwortete ich, während die andern aufsprangen, »ich habe soeben einen frischen Behälter geöffnet.«

Selbst in diesem Augenblicke konnte ich mich nicht enthalten, über Challenger zu lachen, der, sich mit den großen, haarigen Fäusten den Schlaf aus den Augen reibend, wie ein ungeheures Riesenbaby aussah, das eben jäh aus dem Schlaf geweckt wurde. Summerlee schauerte wie ein Mensch, der im Fieber liegt; die Todesfurcht siegte für kurze Zeit über den Stoizismus des Gelehrten, als er sich seine Lage vergegenwärtigte. Lord John dagegen war so kühl und elastisch, als hätte man ihn zu einem Jagdausflug geweckt.

»Der fünfte und letzte«, sagte er, nach dem Schlauch am Zylinder blickend. »Sagen Sie, junger Freund, Sie haben doch nicht etwa die Eindrücke dieser Nacht auf das Papier da auf Ihren Knien niedergeschrieben?«

»Nur einige kurze Aufzeichnungen, um die Zeit auszufüllen.«

»Nun, so etwas kann auch nur ein Irländer fertig bringen. Ich glaube nur, Sie werden warten müssen, bis Brüderchen Amöbe herangewachsen ist, bis Sie einen Leser finden werden. Er scheint vorläufig noch nicht das genügende Interesse für die Angelegenheit zu haben. Nun, Herr Professor, wie steht es mit unseren Aussichten?«

Challenger betrachtete die mächtigen Nebelschwaden, welche über der Gegend lagerten. Hier und dort erhoben sich die waldbedeckten Hügel gleich kegelförmigen Inseln aus dem Wolkenmeer.

»Wie ein Totenhemd sieht es aus«, sagte Frau Challenger, welche im Hauskleide in das Zimmer trat. »Das erinnert mich an Dein Lied, George: ›Läutet aus das Alte, läutet ein das Neue!‹ Das war prophetisch. Aber liebe, arme Freunde, Sie zittern ja. Ich lag die ganze Nacht hindurch warm unter meiner Decke und Sie haben in Ihren Sesseln gefroren. Aber es wird gleich besser werden.«

Die tapfere kleine Frau eilte hinaus und bald hörten wir einen Kessel summen. In wenigen Minuten brachte sie auf einer Tasse fünf Schalen mit dampfendem Kakao.

»Trinken Sie«, sagte sie, »und gleich werden Sie sich wohler fühlen.«

Wir tranken. Summerlee bat um die Erlaubnis, seine Pfeife rauchen zu dürfen und wir griffen zu den Zigaretten. Ich dachte, das Rauchen würde unsere Nerven beruhigen; aber wir hatten einen Fehler begangen, denn die Luft in dem abgeschlossenen Raum wurde unerträglich drückend. Challenger mußte die Luftklappe öffnen.

»Wie lange noch?« fragte Lord John.

»Möglicherweise noch drei Stunden«, antwortete jener mit einem Achselzucken.

»Ich hatte vorher Angst«, sagte seine Gattin, »aber je näher der Zeitpunkt heranrückt, umso leichter zu ertragen scheint es mir nun. Glaubst Du nicht, George, daß wir beten sollen?«

»Bete, mein Kind, wenn dies Dein Wunsch ist«, erwiderte Challenger sehr sanft, »Du weißt, daß jeder seine eigene Art zu beten hat. Die meine besteht in einer vollkommenen Ergebung in alles, was auch immer das Schicksal über mich sendet – in einer heiteren Ergebenheit. Die höchste Frömmigkeit und die höchste Wissenschaft scheinen hierin in gleicher Weise zu gipfeln.«

»Ich kann meinen geistigen Zustand wahrhaftig nicht als Ergebenheit bezeichnen, am allerwenigsten als heitere Ergebenheit«, grollte Summerlee, an seiner Pfeife saugend. »Ich füge mich darein, weil mir kein anderer Weg bleibt. Aber ich muß offen gestehen, daß ich gerne noch ein Jahr gelebt hätte, um meine Klassifikation der Kalkfossilien zu beenden.«

»Ihre unvollendete Arbeit ist von geringster Wichtigkeit«, sagte Challenger großartig, »wenn man bedenkt, daß mein eigenes magnum opus, ›Die Lebensleiter‹, kaum richtig begonnen ist. Mein Denkvermögen, alles das, was ich bisher gelesen habe, meine Experimente und Erfahrungen – tatsächlich meine ganz einzeln dastehende Veranlagung sollte in diesem Buch zusammengefaßt werden. Es wäre unbedingt ein epochemachendes Werk geworden. Und dennoch, sage ich, habe ich mich mit Ergebung darein gefunden.«

»Ich vermute, daß wir alle etwas Unvollendetes zurücklassen mußten«, sagte Lord John. »Wie steht es denn mit Ihnen, junger Mann?«

»Ich arbeitete gerade an einem Band von Gedichten«, erwiderte ich.

»Wenigstens bleibt die Welt davon verschont«, meinte der Lord. »Jedes Ding hat seine guten Seiten, man muß sie nur zu finden wissen.«

»Und Sie?« fragte ich.

»Zufällig hatte ich gerade gepackt und war reisefertig, weil ich Merivale versprochen hatte, im Frühjahr mit ihm auf die Schneeleopardenjagd nach Tibet zu gehen. Aber Sie, Frau Challenger, trifft es doch gewiß hart, da sie gerade erst dieses hübsche Heim aufgebaut haben?«

»Mein Heim ist dort, wo George ist, aber ich würde viel darum geben, wenn ich mit ihm einen letzten gemeinsamen Spaziergang in der klaren Morgenluft auf diesen herrlichen Downs machen könnte.«

Ihre Worte fanden in unserem Herzen ein Echo. Die Sonne war inzwischen durch die Nebelwolken gedrungen, die bisher wie Schleier vor ihr gelegen hatten und das ganze weite Tal lag vor unseren Flügen ausgebreitet im goldenen Sonnenlicht gebadet. Uns, die wir in dieser düsteren und vergifteten Atmosphäre schmachteten, erschien diese reine, sonnige, leicht vom Wind bewegte Landschaft traumhaft schön. Frau Challenger streckte voll Sehnsucht darnach die Hand aus. Wir zogen die Sessel heran und setzten uns in einem Halbkreis an das Fenster. Die Luft war schon außergewöhnlich stickig geworden. Es schien, als ob bereits die Todesschatten an uns heranschlichen, an uns, die Letzten des Menschengeschlechtes. Es war wie ein unsichtbarer Vorhang, der von allen Seiten um uns herabglitt.

»Dieser Zylinder reicht nur kurze Zeit«, sagte Lord John, nach Luft schnappend.

»Die in den Zylindern enthaltene Menge ist nicht immer gleich«, sagte Challenger. »Sie hängt von dem Druck bei der Füllung und der Art des Verschlusses ab. Ich bin Ihrer Meinung, daß dieser Ballon irgendwie schadhaft war.«

»So werden wir um die letzten Stunden unseres Lebens betrogen«, bemerkte Summerlee bitter. »Ein bezeichnender Abschluß für dieses niederträchtige Zeitalter, in dem wir gerade leben. Nun, Challenger, bietet sich Ihnen eine günstige Gelegenheit, die subjektiven Erscheinungen der physischen Zersetzung zu beobachten«.

»Setze Dich auf jenen Schemel zu meinen Füßen und gib mir die Hand«, sagte Challenger zu seiner Frau. »Ich glaube, meine Freunde, daß ein weiteres Verweilen in dieser unerträglichen Luft kaum wünschenswert ist. Wünschst Du es etwa, meine Liebe?«

Seine Frau seufzte und legte ihr Antlitz an seine Knie.

»Ich habe im tiefen Winter Menschen in der Serpentine baden sehen«, erzählte Lord John. »Als die Leute im Wasser waren, beneideten die frierend am Ufer Zurückgebliebenen die Schwimmer, welche den Sprung in die Fluten gewagt hatten. Am ärgsten ist es für den Letzten. Ich wäre dafür, mit einem Kopfsprung die Sache zu erledigen.«

»Sie würden also das Fenster öffnen und dem Äther entgegenkommen?«

»Lieber an Vergiftung sterben als ersticken!«

Summerlee nickte in schweigender Zustimmung und streckte Challenger seine magere Hand entgegen.

»Wenn wir uns auch oft gestritten haben, so ist das nun auch alles vorbei«, sagte er. »Wir waren dabei doch immer gute Freunde und haben innerlich für einander stets die größte Hochachtung empfunden. Leben Sie wohl!«

»Leben Sie wohl, mein Junge«, sagte Lord John. – »Das Fenster ist verklebt und Sie können es nicht aufmachen«.

Challenger bückte sich, hob seine Frau auf und drückte sie an seine Brust, während sie die Arme um seinen Hals schlang.

»Reichen Sie mir das Fernrohr, Malone«, sagte er ernst. Ich erfüllte seinen Wunsch.

»Wir befehlen unsere Seelen jener Macht, die sie uns einstens gegeben hat«, rief er mit starker, weithin hallender Stimme. Mit diesen Worten schleuderte er den Feldstecher durch die Scheiben.

Bevor noch das letzte Klirren der herabfallenden Glassplitter verklungen war, strömte reine frische Luft um unsere erhitzten Gesichter in starkem und unendlich süßem Hauch. – – – – – – – – – –

 

Ich weiß nicht, wie lange wir starr vor Staunen dasaßen. Dann, wie im Traume, hörte ich Challengers Stimme.

»Wir sind wieder in die gewohnten Verhältnisse zurückgekehrt«, rief er aus. »Die Welt ist dem Giftstrom entronnen, aber wir sind die einzig Überlebenden des ganzen Menschengeschlechtes!«


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