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Die Uhr im Zimmer zeigte ein Viertel nach zehn, als mein Vater auf sein Zimmer ging und Esther und mich allein ließ. Wir hörten das Geräusch seiner langsamen Schritte auf den ächzenden Treppenstufen ersterben, bis das Zuschlagen einer Tür uns verkündete, daß er sein Heiligtum erreicht hatte. Die einfache Öllampe auf dem Tische verbreitete in dem alten Gemach ein ungewisses, unheimliches Licht, das auf dem geschnitzten Eichengetäfel umherflackerte und phantastische Schatten hinter den hohen geradrückigen Stühlen bildete.
Das weiße, ängstliche Gesicht meiner Schwester hob sich von der Dunkelheit wie ein Rembrandtsches Porträt mit scharfgezeichnetem Profil ab. Wir saßen zu beiden Seiten des Tisches einander gegenüber; kein Laut störte das Schweigen! Man hörte nur das eintönige Ticken der Uhr und das Zirpen der Heimchen auf dem Herde.
Es lag etwas Schauriges in dieser Ruhe. Das Pfeifen eines verspäteten Bauern auf der Landstraße war uns eine Erleichterung, und wir strengten unsere Ohren an, um seine letzten Töne zu vernehmen, als er stetig weiterstakte.
Anfänglich hatten wir versucht, uns den Anschein einer Beschäftigung zu geben. Esther häkelte und ich las; wir gaben dieses nutzlose Trugspiel aber bald auf und saßen in banger Erwartung da, auffahrend und einander mit fragenden Augen anstarrend, wenn nur ein Scheit im Kamin knisterte oder eine Maus hinter dem Getäfel raschelte.
Die Luft war wie elektrisch geladen und bedrückte uns mit dem Vorgefühl eines drohenden Unheils.
Ich erhob mich und öffnete die Dielentür, um die frische Nachtbrise hereinzulassen. Zerfetzte Wolken fegten am Himmel entlang. Dann und wann lugte der Mond hindurch und badete die ganze Landschaft in seinem kalten bleichen Lichte.
Von meinem Standpunkte auf der Türschwelle aus konnte ich den Saum des Cloomber Gehölzes sehen; das Haus selbst wurde erst von der kleinen Anhöhe, eine kurze Strecke von unserem Hause entfernt, sichtbar. Auf meiner Schwester Vorschlag gingen wir zusammen, sie mit einem Schal über dem Kopfe, bis zu der Spitze der Anhöhe und schauten nach dem Schloß hinüber.
Es war heute kein Licht hinter den Fenstern. Vom Giebel bis zum Keller schimmerte nicht ein einziges Licht in irgendeinem Teile des großen Gebäudes. Düster ragte der alte Bau hinter den ihn umgebenden Bäumen empor und sah mehr einem Riesensarge als einer menschlichen Wohnung ähnlich. Für unsere überreizten Nerven lag schon in seiner dunklen Masse und Ruhe etwas Schreckliches. Eine Zeitlang standen wir und spähten in die Dunkelheit hinaus; dann kehrten wir ins Haus zurück, wo wir warteten und warteten, ohne selbst zu wissen, auf was, und doch mit der felsenfesten Überzeugung, daß uns etwas Furchtbares bevorstand. Es war zwölf Uhr oder nahe daran, als meine Schwester plötzlich aufsprang und mir mit erhobenem Finger bedeutete, zu horchen.
»Hörst du nichts?« fragte sie.
Ich strengte meine Ohren an, aber ohne Erfolg.
»Komm an die Tür!« rief sie mit zitternder Stimme.
Ich folgte ihr an die Haustür, die sie öffnete, und horchte in die Finsternis hinaus.
»Kannst du jetzt etwas hören?« fragte mich Esther.
In dem tiefen Schweigen der Nacht hörte ich von weitem deutlich ein dumpfes Geräusch, sehr schwach und leise, aber andauernd.
»Was ist das?« fragte ich gedämpft.
»Es ist ein Mensch, der auf uns zu gelaufen kommt!« antwortete sie. Dann fiel sie, den letzten Schein von Selbstbeherrschung abwerfend, auf die Knie und fing an laut zu beten, mit dem halb wahnsinnigen Ernste, den die höchste, übermächtige Furcht in uns hervorrufen kann, von Zeit zu Zeit in ein hysterisches Weinen verfallend.
Ich konnte das Geräusch jetzt deutlich genug unterscheiden, um gewiß zu sein, daß ihre scharfe, weibliche Wahrnehmungskraft sie nicht getäuscht hatte und daß es wirklich von einem laufenden Menschen herrührte. Näher und näher kam er, die Landstraße herunter. Seine Schritte wurden mit jedem Augenblick lauter und lauter hörbar. Ein eiliger Bote mußte es sein, denn er ruhte weder noch verlangsamte er seinen Lauf.
Das schnelle, scharfe Geklapper wurde plötzlich zu einem dumpfen Stampfen; er hatte zweifelsohne die Stelle erreicht, wo kürzlich auf eine Strecke von etwa hundert Ruten Sand geschüttet worden war. In wenigen Augenblicken war er jedoch wieder auf hartem Boden, und näher und näher stürmten seine eilenden Füße.
Er muß jetzt, dachte ich, am Ende des Gartenweges sein. Würde er anhalten? Würde er sich nach Branksome wenden?
Der Gedanke war mir kaum gekommen, als ich an dem veränderten Geräusch hören konnte, daß der Läufer um die Ecke gebogen war und daß sein Ziel ohne Zweifel das Gutshaus zu sein schien.
Auf die Gartentür losstürzend, erreichte ich diese gerade, als unser Besucher sie aufriß und mir in die Arme fiel. Ich konnte in dem Mondenschein jetzt sehen, daß der Ankömmling kein anderer war als Mordaunt Heatherstone.
»Mein Gott,« rief ich aus, »was ist geschehen? Was fehlt dir, Mordaunt?«
»Mein Vater!« war alles, was er hervorzukeuchen imstande war. »Mein Vater!«
Nie in meinem Leben werde ich den Eindruck vergessen, den der Anblick des Sohnes des unglücklichen General Heatherstone in dieser furchtbaren Nacht auf mich machte. Ohne Hut, mit vor Angst weit aufgerissenen Augen und blutleerem Gesicht stand er vor uns.
»Du bist erschöpft,« sagte ich, indem ich ihn in das Wohnzimmer geleitete. »Ruhe dich einen Augenblick aus, ehe du zu uns sprichst. Beruhige dich! Du bist ja bei deinen besten Freunden!«
Ich legte ihn auf das alte Pferdehaarsofa, während Esther, deren Angst jetzt, da es galt, schneller Entschlossenheit gewichen war, etwas Kognak in ein Glas schenkte und ihn nötigte, davon zu trinken.
Das Getränk übte eine wunderbare Wirkung auf ihn, die Farbe kehrte sofort in seine bleichen Wangen zurück. Er richtete sich auf und erfaßte Esthers Hand wie ein Mann, der aus einem schweren Traum erwacht und sich vergewissern will, daß er wirklich in Sicherheit ist.«
»Dein Vater?« fragte ich. »Nun sprich! – Was ist mit ihm?«
»Er ist fort!« stieß Mordaunt aus.
»Fort?« wiederholten Esther und ich zugleich.
»Ja!« antwortete Mordaunt kopfnickend. »Er ist fort und der Korporal Rufus Smith mit ihm! Wir werden sie nie wiedersehen!«
»Aber wohin sind sie gegangen?« rief ich. »Haben wir ein Recht, hier zu sitzen und uns persönlichen Gefühlen zu überlassen, während eine Möglichkeit besteht, deinem Vater zu Hilfe zu eilen? Folgen wir ihm! Sage mir nur, welche Richtung er genommen hat!«
»Es hat keinen Zweck!« entgegnete der junge Heatherstone, sein Gesicht mit beiden Händen verbergend. »Tadle mich nicht, West, denn du kennst die näheren Umstände noch nicht. Wir können uns den furchtbaren, unbekannten Gewalten, die uns gegenübertreten, nicht widersetzen. Das Schwert hat lange über uns gehangen, und jetzt ist es gefallen. Gott helfe uns.«
»Um des Himmels willen, sage mir doch wenigstens, was geschehen ist!« rief ich aufgeregt. »Wir dürfen uns nicht der Verzweiflung hingeben!«
»Wir können vor Tagesanbruch nichts tun,« entgegnete er. »Wir werden dann versuchen, Spuren von ihnen zu entdecken – augenblicklich, in der Dunkelheit, ist es hoffnungslos.«
»Und Gabriele und Frau Heatherstone?« fragte ich. »Können wir die nicht sofort vom Schlosse hierher bringen? Deine arme Schwester muß vor Angst außer sich sein!«
»Sie weiß nichts davon,« antwortete Mordaunt. »Sie schläft auf der anderen Seite des Hauses und hat nichts von allem gehört und gesehen. Was aber meine arme Mutter anbelangt, so hat sie ein ähnliches Ereignis so lange erwartet, daß es sie nicht mehr überrascht. Sie ist natürlich vor Kummer außer sich, aber ich glaube, daß sie gerade jetzt am liebsten allein bleibt. Ihre Festigkeit und Ruhe sollten mir als Vorbild dienen; aber ich bin von Natur aus leicht aufgeregt, und diese Katastrophe, die nach jahrelangem Warten endlich eingetroffen ist, hat mich in ihrer bloßen Erwartung zeitweilig schon aller meiner Vernunft beraubt!«
»Wenn wir wirklich bis morgen früh nichts tun können, so hast du Zeit, uns jetzt alles zu erzählen,« warf ich ein.
»Ich werde es tun,« erwiderte er mit müdem Tonfall, sich erhebend und seine bebenden Hände ans Feuer haltend. »Ihr wißt, daß wir schon seit langer Zeit – seit vielen Jahren schon – Grund hatten, zu fürchten, daß eine schreckliche Vergeltung über dem Haupte meines Vaters hinge, für irgendeine Untat, die er in seiner Jugend begangen haben mußte. Bei diesem Verbrechen hatte er den unter dem Namen Korporal Rufus Smith bekannten Mann zum Genossen. Das Auffinden meines Vaters durch letzteren war deshalb für ihn eine Warnung, daß seine Zeit abgelaufen wäre, und daß der diesmalige 5. Oktober, der Jahrestag des Verbrechens, der Tag der Vergeltung sein würde. Ich habe euch von unseren Befürchtungen in meinem Briefe erzählt, und wenn ich nicht irre, hatte mein Vater eine Unterredung mit dir, West. Als ich gestern morgen sah, daß er die alte Uniform, die er seit dem Afghanenkriege aufbewahrte, wieder hervorgestöbert hatte, war ich gewiß, daß das Ende nahe sein müsse und daß unsere Befürchtungen diesmal verwirklicht werden würden. Nachmittags erschien er gefaßter, als ich ihn seit Jahren gesehen habe, und erzählte allerlei von seinem Leben in Indien und von seinen Jugenderlebnissen. Um neun Uhr schon schickte er uns auf unsere Zimmer und schloß uns ein – eine Vorsichtsmaßregel, die er häufig traf, wenn er an seinen finsteren Anfällen litt. Es war immer sein Bestreben, den Fluch, der auf sein eigenes unseliges Haupt gefallen war, von uns fernzuhalten. Ehe er von uns schied, umarmte er meine Mutter und Gabriele zärtlich und folgte mir dann auf mein Zimmer, wo er mir liebevoll die Hand schüttelte und mir ein kleines Paket übergab, das an dich adressiert ist.«
»An mich?« unterbrach ich ihn erstaunt.
»An dich, ja!« bestätigte Mordaunt. »Ich werde meinen Auftrag, es dir zu geben, ausführen, nachdem ich euch meine Geschichte erzählt habe. Ich beschwor ihn, mir zu erlauben, bei ihm zu bleiben und etwaige Gefahren mit ihm zu teilen; aber er flehte mich mit unwiderstehlicher Gewalt an, sein Elend nicht noch zu vergrößern, indem ich seine Vorkehrungen durchkreuze. Als ich sah, daß ich ihn durch meine Hartnäckigkeit wirklich bekümmerte, gab ich endlich nach. Er schloß darauf meine Tür von außen zu und zog den Schlüssel hinter sich ab. Ich werde mir zeitlebens meiner Willensschwäche wegen Vorwürfe machen. Aber was konnte ich tun, wenn mein eigener Vater sich meinen Beistand und meine Hilfe verbat? Ich konnte sie ihm nicht aufzwingen.«
»Ich bin gewiß, daß du alles, was in deiner Kraft lag, getan hast!« sagte meine Schwester zu ihm.
»Ich versuchte es, liebe Esther,« versetzte Mordaunt, »aber Gott weiß, es war schwer, das Richtige zu treffen. Er verließ mich, und ich hörte seine Schritte auf dem langen Korridor verhallen. Es war vielleicht um zehn Uhr oder etwas später. Eine Zeitlang ging ich im Zimmer auf und ab; dann setzte ich die Lampe an das Kopfende meines Bettes und warf mich, angekleidet wie ich war, auf das letztere, um in Thomas a Kempis zu lesen und von ganzem Herzen zu beten, daß diese bedeutungsvolle Nacht trotz unserer Angst glücklich vorübergehen möge. Ich war schließlich in einen unruhigen Schlummer verfallen, als ich plötzlich durch einen lauten, hallenden Schrei, der mir gellend in den Ohren klang, geweckt wurde. Ich fuhr verwirrt in die Höhe, aber tiefes Schweigen herrschte wieder. Die Lampe brannte niedrig und meine Uhr zeigte mir, daß Mitternacht nahe war. Ich stolperte aus dem Bette und war eben im Begriff, ein Zündholz anzustecken, um die Kerzen anzuzünden, als der scharfe, gellende Schrei sich wiederholte, so laut, so klar, als ob er in meinem eigenen Zimmer erklänge. Meine Kammer liegt vorn im Schlosse, während die Zimmer meiner Mutter und meiner Schwester Fenster nach hinten hinaus haben, so daß ich der einzige bin, der einen freien Ausblick auf die Allee hat. Ich stürzte ans Fenster, warf die Läden zurück und starrte hinaus. Ihr wißt, daß der Fahrweg sich verbreitert und unmittelbar vor dem Hause einen weiten Platz bildet. In der Mitte dieses leeren Platzes standen drei Männer, welche zu dem Schlosse hinaufschauten. Der Mond beschien sie voll; sein Licht glitzerte in ihren emporgehobenen Augen, und ich konnte sehen, daß sie von bräunlicher Gesichtsfarbe und ganz schwarzhaarig waren, von einem Typus, wie ich ihn bei den Sikhs und Afreedees genugsam kennen gelernt habe. Zwei von ihnen waren von abgezehrtem, asketischem Aussehen, während der dritte königlich und hoheitsvoll dastand mit seiner edlen Gestalt und seinem langen Barte.«
»Ram Singh,« stieß ich hervor.
»Was, du kennst sie?« rief Mordaunt überrascht.
»Ich kenne sie. Es sind Buddhistenpriester,« antwortete ich. »Aber – fahre fort!«
»Sie standen in einer Reihe,« erzählte er weiter, »und schwenkten ihre Arme auf und ab, während ihre Lippen sich wie in einem Gebet oder bei einer Beschwörung bewegten. Plötzlich hörten sie auf zu gestikulieren und stießen zum drittenmal den wilden, grausigen Schrei aus, der mich aus dem Schlummer geweckt hatte. Nimmer werde ich jenen schrillen, schaurigen Ruf vergessen, wie er anschwellend durch die stille Nacht erklang. Jetzt noch schallt mir sein Echo in den Ohren, gleichwie alles, was nun folgte.«
Die Allgewalt des soeben erst Erlebten ließ den jungen Erzähler unter einem heftigen Schauder erbeben, bevor er fortfuhr: »Sobald der Schrei erstarb, ward ein Rasseln und Kreischen wie von Schlüsseln und Riegeln, gefolgt von dem Zuschlagen einer Tür und dem Getrappel eilender Füße, hörbar. Von meinem Fenster aus sah ich meinen Vater und Korporal Rufus Smith hastig aus dem Hause stürzen, ohne Hut und mit wirrem Haar, wie Männer, die einem plötzlichen, übermächtigen Antrieb gehorchen. Die drei Fremdlinge legten keine Hand an sie, aber alle fünf schritten eilig die Allee entlang und verschwanden hinter den Bäumen. Ich bin gewiß, daß keine Gewalt gebraucht oder irgendein sichtbarer Zwang ausgeübt wurde; aber ebenso sicher bin ich, daß mein Vater und sein Begleiter gerade so hilflos waren, wie wenn sie gefangen in Handschellen fortgeschleppt worden wären. Alles das nahm nur wenig Zeit in Anspruch. Zwischen dem ersten Ruf, der mich aus dem Schlafe weckte, und ihrem schattenhaften Verschwinden hinter den Baumstämmen konnten kaum fünf Minuten verflossen sein. So plötzlich war es und so seltsam, daß ich, als das Drama sich abgespielt hatte und sie fort waren, das ganze Ereignis als einen schrecklichen Traum betrachtet hätte, wenn der Eindruck nicht zu wirklich, zu lebhaft gewesen wäre, um lediglich erregter Einbildungskraft zugeschrieben werden zu können. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht gegen meine Kammertür, in der Hoffnung, das Schloß losbrechen zu können. Es bot eine Zeitlang Widerstand, aber immer und immer wieder warf ich mich dagegen, bis es krachend zerbrach und ich mich auf dem Korridor befand. Mein erster Gedanke galt meiner Mutter. Ich lief nach ihrer Kammer und öffnete die Tür. In demselben Augenblick trat sie auch schon völlig angekleidet aus den Flur hinaus und hielt warnend ihren Finger empor. Kein Geräusch! sagte sie. Gabriele schläft. Hat man sie fortgerufen?
Ja, antwortete ich.
Gottes Wille geschehe! rief sie. Dein Vater wird in der anderen Welt glücklicher sein als er jemals in dieser gewesen ist. Gott sei Dank, daß Gabriele schläft. Ich tat Chloral in ihren Kakao.
Was soll – was kann ich tun? fragte ich außer mir. Wohin sind sie gegangen? Wie kann ich ihnen helfen? Wir dürfen ihn nicht so von uns gehen oder jene Männer nach Belieben mit ihm verfahren lassen. Soll ich nach Wigtown reiten und die Polizei rufen?
Alles andere eher als das, entgegnete meine Mutter ernst. Er hat mich oft genug gebeten, das zu vermeiden. Mein Sohn, wir werden deinen Vater nicht wiedersehen. Du magst dich über meine trockenen Augen wundern, aber wenn du nur wie ich wüßtest, welchen Frieden der Tod ihm bringen wird, du würdest nicht das Herz haben, ihn zu betrauern. Alles Verfolgen ist, ich fühle es, vergebens; trotzdem muß etwas Derartiges geschehen; laß es aber so geheim wie möglich sein. Wir können ihm nicht besser dienen, als wenn wir seinen Wünschen Folge leisten.
Aber jede Minute ist kostbar! rief ich. Gerade jetzt ruft er vielleicht nach uns, um ihn aus den Krallen jener dunkelhäutigen Teufel zu befreien.
Der Gedanke machte mich so rasend, daß ich aus dem Hause und auf die Landstraße stürzte. Aber dort angelangt, hatte ich keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Das ganze weite Moor lag vor mir ohne ein Zeichen von Bewegung auf seiner breiten Fläche. Ich horchte, aber kein Laut durchbrach die Stille der Nacht. Als ich dann dort stand und nicht wußte, nach welcher Richtung ich gehen sollte, dämmerte mir der ganze Schrecken und meine Verantwortlichkeit auf. Ich fühlte, daß ich gegen Mächte kämpfte, von denen ich nichts wußte. Alles war fremdartig und düster und schaurig. Der Gedanke an dich und an die Hilfe, die ich von dir und deinem Rate zu erwarten hatte, war mein einziger Hoffnungsstrahl. Meine Mutter war zufrieden, allein gelassen zu werden; meine Schwester schlief, und es war ganz undenkbar, daß vor Tagesanbruch etwas getan werden konnte. Was war unter solchen Umständen natürlicher, als daß ich zu euch hierher lief, so schnell meine Füße mich tragen wollten? Du hast einen klaren Kopf, John. Sprich und sage mir, was ich tun soll. Oder, Esther, sage du mir, was soll ich tun?« Er wandte sich von einem zum andern mit ausgestreckten Händen und eifrig fragenden Augen.
»Du kannst nichts tun, solange es dunkel ist,« antwortete ich. »Wir müssen die Sache der Wigtowner Polizei berichten, damit dem Gesetz Genüge geleistet werde: aber wir brauchen ihnen die Botschaft nicht zu senden, bevor wir nicht unseren Marsch angetreten und geheime Untersuchungen angestellt haben. John Fullerton, jenseits des Hügels, hat einen Spürhund, der so gut wie ein Bluthund ist. Wenn wir den auf die Spur des Generals setzen, so wird er ihn finden, und wenn er ihm bis nach John o'Groats folgen muß.«
»Aber es ist zu schrecklich, hier stillsitzen zu müssen, während er vielleicht unserer Hilfe bedarf!« stöhnte Mordaunt.
»Ich fürchte, unsere Hilfe würde ihm unter den von dir geschilderten Umständen wenig nützen,« versetzte ich. »Es sind hier Mächte im Spiele, die über menschliches Eingreifen erhaben sind. Außerdem bleibt uns keine Wahl. Wir besitzen kein Anzeichen, wohin sie gegangen sein können; und ziellos in der Dunkelheit über das Moor zu streifen, wäre eine Vergeudung der Kräfte, die wir morgen früh werden besser gebrauchen können. Um fünf Uhr wird es hell sein. In etwa einer Stunde können wir zusammen über den Hügel gehen und Fullertons Hund holen!«
»Noch eine Stunde!« stöhnte Mordaunt wieder. »Und jede Minute kommt mir wie eine Ewigkeit vor!«
»Lege dich aufs Sofa und ruhe dich aus,« sagte ich. »Du kannst deinem Vater nicht besser dienen, als indem du alle deine Kräfte sammelst. Wir haben vielleicht einen mühseligen Marsch vor uns. Aber du erwähntest vorhin ein Paket, das der General dir gegeben und für mich bestimmt hätte.«
»Hier ist es!« antwortete Mordaunt, ein kleines, plattes Paket aus der Tasche ziehend und es mir reichend. »Du wirst zweifelsohne finden, daß es alles erklärt, was dir bisher geheimnisvoll vorkam.«
Das Paket war an beiden Enden zugesiegelt, und auf dem Siegel war ein fliegender Drache, des Generals Wappen, sichtbar. Es war ferner mit einem breiten Bande verschlossen, das ich mit meinem Taschenmesser zerschnitt. Auf der Außenseite stand in kühnen Zügen geschrieben: »J. Fothergill West, Esq.«, und darunter »Diesem Herrn im Falle des Verschwindens oder Todes des Generalmajors J. B. Heatherstone, ehemaligen Offiziers der indischen Armee, einzuhändigen«.
Endlich sollte ich also das dunkle Geheimnis kennen lernen, das seine Schatten auch auf mein Leben geworfen hatte. Ich hielt die Lösung in meinen Händen.
Eifrig erbrach ich das Siegel und entfernte die Umhüllung. Ein Brief und ein kleines Bündel verblaßter Papiere lagen darin. Ich zog die Lampe zu mir herüber und öffnete den Brief. Er war vom vorigen Nachmittag datiert und lautete folgendermaßen:
»Mein lieber West! Ich hätte Ihre leicht erklärliche Neugierde schon eher befriedigen sollen, aber ich enthielt mich dessen um Ihretwillen. Ich weiß aus eigener trauriger Erfahrung, wie entnervend es ist, immer auf eine Katastrophe zu warten, von deren Eintreten man überzeugt ist, das man aber weder beschleunigen noch verzögern kann. Obwohl es mich als die meistinteressierte Person besonders hart trifft, bin ich doch gewiß, daß die natürliche Sympathie, welche ich an Ihnen bemerkt habe, sowie Ihre Zuneigung zu Gabriele dahin wirken müßten, Sie beide unglücklich zu machen, wenn Sie von dem hoffnungslosen und doch unbestimmten Schicksal wüßten, das mich bedroht. Ich fürchtet, Ihre Seelenruhe zu zerstören, und schwieg deshalb, wenn auch widerwillig, denn Alleinsein ist nicht der geringste Kummer, der mich bedrückt. Viele Anzeichen aber, und vor allem die Anwesenheit der Buddhisten an der Küste, von der Sie mir heute morgen erzählt haben, haben mich überzeugt, daß des langen Wartens jetzt ein Ende und die Stunde der Vergeltung gekommen ist. Weshalb man mir gestattet haben mag, noch fast vierzig Jahre nach meinem Vergehen zu leben, geht über meine Fassungskraft; aber möglicherweise wissen diejenigen, in deren Händen mein Schicksal liegt, daß ein solches Leben die größte aller Strafen für mich sein mußte. Nicht eine Stunde bei Tag oder Nacht haben sie mich vergessen lassen, daß sie mich als ihr Opfer gezeichnet hatten, das ihnen nie mehr sollte entrinnen können; ihre verwünschte Geisterglocke hat mir vierzig Jahre lang mein Verdammungsurteil gesungen und mich fortwährend gemahnt, daß ich nirgends auf Erden vor ihnen sicher sei. O, der Frieden, der gesegnete Frieden vollständiger Auflösung! Komme was da wolle jenseits des Grabes, ich werde jedenfalls jene schreckliche Glocke los sein. – Ich brauche nicht noch einmal auf die elende Geschichte zurückzukommen oder weitläufig auf die Ereignisse am 5. Oktober einzugehen und auf die Umstände, die zum Tode Ghoolab Shahs führten. Ich habe eine Anzahl Blätter, die einen knappen Abriß der Vorgänge enthalten, aus meinem Tagebuch gerissen, und Leutnant Sir Edward Elliot von der Artillerie schickte seinerzeit einen eigenen Bericht, in dem jedoch keine Namen genannt waren, an den ›Star of India‹. Ich habe Ursache anzunehmen, daß viele Leute, sogar solche, welche gut mit indischen Verhältnissen vertraut waren, Sir Edwards Erzählung für einen Roman hielten und die verschiedenen Vorgänge als seiner Einbildung entsprossen ansahen. Die wenigen vergilbten Blätter, die ich Ihnen schicke, werden Ihnen beweisen, daß dies nicht der Fall war, und daß unsere Gelehrten Kräfte und Gesetze anerkennen müssen, die von Menschen benutzt werden können und benutzt worden sind, obwohl unsere europäische Zivilisation nichts davon weiß. Ich bin in dieser Welt schwer heimgesucht worden. Ich würde nie, Gott weiß es, kaltblütig irgendeinen Menschen ums Leben bringen können, geschweige denn einen Greis. Ich war jedoch von jeher feuriger und starrköpfiger Natur, und wenn mir im Kampfe das Blut kocht, weiß ich nicht, was ich tue. Weder der Korporal noch ich würden Ghoolab Shah ein Härchen gekrümmt haben, wenn wir nicht gesehen hätten, daß sich seine Stammesgenossen um ihn scharten. Nun, es ist eine alte Geschichte, und es hat keinen Zweck, sie aufzufrischen. Möge keinen Menschen nach mir jemals ein ähnliches Schicksal treffen . . . Ich habe für Sie und andere, die sich für die Sache interessieren, meinem Tagebuche ein kurzes Postskriptum beigefügt. Doch jetzt adieu! Seien Sie gut gegen meine Gabriele; und falls Ihre Schwester tapfer genug ist, in solch eine teufelsbesessene Familie wie die unsrige hineinzuheiraten, lassen Sie sie es tun. Ich habe meiner armen Frau genug hinterlassen, so daß ihr alle Nahrungssorgen ferngehalten sind. Sobald sie mir nachfolgt, wünsche ich das Vermögen gleichmäßig zwischen den Kindern verteilt zu sehen. Wenn Sie hören, daß ich fortgegangen bin, bemitleiden Sie nicht, sondern beglückwünschen Sie Ihren unseligen Freund
John Berthier Heatherstone.«
Ich legte den Brief beiseite und nahm die kleine Rolle blaues Papier, die des Rätsels Lösung enthielt. Es war an der inneren Kante ausgezackt und zerrissen, und Spuren von Gummi und Faden waren daran zu sehen: offenbar waren die Blätter aus einem starkgehefteten Bande herausgerissen. Die Tinte, mit der das Papier beschrieben war, schien etwas verblaßt; aber oben auf der ersten Seite, die jüngeren Datums zu sein schien als die übrigen, stand in kühnen, klaren Zügen: »Tagebuch von Leutnant J. B. Heatherstone im Thul-Tale, Herbst 1841«, und darunter: »Dieser Auszug enthält einen Bericht der Ereignisse in der ersten Oktoberwoche jenes Jahres, einschließlich des Scharmützels in der Teradaschlucht und des Todes Ghoolab Shahs«.
Ich habe die Erzählung vor mir liegen und schreibe sie wörtlich ab, wie der General sie niedergeschrieben hat – zur Erklärung des mysteriösesten Rätsels, das mir jemals vorgekommen ist, und das nun seine Lösung finden sollte.