Arthur Conan Doyle
Der Bund der Rothaarigen und andere Detektivgeschichten
Arthur Conan Doyle

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Eine sonderbare Anstellung

»Ach ja, ich weiß«, sagte Watson lächelnd. »Sie meinte die Geschichte mit der sonderbaren Anstellung. Das war kurz nach unserer Verheiratung. Ich hatte eben die Praxis des alten Farquhar hier im Stadtteil Paddington übernommen. Farquhar war früher ein sehr gesuchter Arzt gewesen, bis sein hohes Alter und das Nervenübel, an dem er litt – eine Art Veitstanz – ihm viele Patienten abwendig machten. Das Publikum urteilt begreiflicherweise nach dem Grundsatz, daß, wer andere kurieren will, selbst gesund sein sollte; es setzt wenig Vertrauen in die Kenntnisse eines Doktors, der für sein eigenes Leiden kein Heilmittel weiß.

So schwanden die Einnahmen meines Vorgängers mit seinen Kräften, und als ich die Praxis übernahm, war deren früherer Ertrag von 1200 Pfund auf etwa 300 jährlich herabgesunken. Im Vertrauen auf meine Jugend und Tatkraft zweifelte ich jedoch nicht, daß das Geschäft in wenig Jahren wieder so blühend sein würde, als es je gewesen.

Während der ersten drei Monate nach Übernahme der Praxis war ich tüchtig in Anspruch genommen und sah daher wenig von meinem Freunde Holmes; ich hatte zu viel zu tun, um ihn in der Bakerstraße aufzusuchen, und er ging überhaupt selten irgendwohin, außer in Berufsgeschäften.

An einem Julimorgen saß ich noch beim Frühstück, in eine medizinische Zeitung vertieft, behaglich im Studierzimmer, als es klingelte und ich zu meiner Überraschung gleich darauf die etwas scharfe Stimme meines ehemaligen Gefährten hörte.

»Mein lieber Watson«, sagte er eintretend, »wie freue ich mich, dich wiederzusehen! Ich hoffe, deine Frau hat sich von allen Aufregungen bei unserem Abenteuer mit dem ›Zeichen der Vier‹Ein weiterer Band der Sherlock-Holmes-Serie. (Franckh'sche Verlagshandlung, Stuttgart.) vollkommen erholt.«

»Danke – wir sind beide wohlauf!« sagte ich, ihm herzlich die Hand schüttelnd.

»Ich hoffe aber auch ferner«, fuhr er fort und setzte sich in den Schaukelstuhl, »daß du über die Sorgen des ärztlichen Berufes nicht alles Interesse an unseren kleinen Problemen und Schlußfolgerungen verloren hast.«

»Ganz im Gegenteil. Erst gestern abend habe ich meine alten Notizen durchblättert und einige unserer früheren Erlebnisse hinzugefügt.«

»Du hältst aber deine Sammlung doch nicht für abgeschlossen?«

»Durchaus nicht – ich wünsche mir recht bald noch mehr derartige Abenteuer.«

»Vielleicht heute?«

»Jawohl heute, wenn du willst.«

»Auch wenn die Reise bis nach Birmingham geht?«

»Gewiß, wohin es dir beliebt.«

»Und die Praxis?«

»Ich übernehme die Kranken eines Kollegen, so oft er verreist, und er ist immer bereit, mir Gegendienste zu leisten.«

»Das trifft sich ja vortrefflich«, rief Holmes. Dann lehnte er sich in den Stuhl zurück und sah mich unter seinen halbgeschlossenen Augenlidern scharf an. »Mir scheint, du bist kürzlich unpäßlich gewesen? Eine Erkältung im Sommer ist immer etwas angreifend.«

»Ich habe letzte Woche wegen eines riesigen Schnupfens drei Tage das Haus hüten müssen; aber ich meinte doch, jede Spur davon abgeschüttelt zu haben.«

»Jawohl! – Du siehst vortrefflich aus.«

»Nun woher weißt du es denn?«

»Mein lieber Freund, du kennst doch meine Methoden.«

»Also, mittels einer Schlußfolgerung?«

»Gewiß.«

»Und was brachte dich darauf?«

»Deine Pantoffeln.«

Ich blickte auf meine Glanzlederschuhe. »Wie in aller Welt –?« begann ich; aber Holmes beantwortete meine Frage, ehe sie ausgesprochen war.

»Deine Pantoffeln sind neu«, sagte er; »die Sohlen, welche du mir eben so freundlich zur Schau stellst, sind aber leicht angesengt. Zuerst meinte ich, sie seien vielleicht naß geworden und beim Trocknen verbrannt; aber in der Mitte klebt noch eine kleine runde Papiermarke mit der Firma des Fabrikanten. Durch die Feuchtigkeit hätte sie sich natürlich abgelöst – also hast du mit ausgestreckten Füßen am Feuer gesessen, was ein vernünftiger Mensch doch nicht einmal in einem so nassen Sommer wie diesem tun würde, wenn er vollständig gesund ist.«

Wie bei allen merkwürdigen Schlüssen meines Freundes schien die Sache auch diesmal die Einfachheit selbst, sobald Holmes sie auseinandersetzte. Er las mir diesen Gedanken vom Gesicht ab und lächelte mit einem Anflug von Bitterkeit. »Ja, ja«, sagte er, »ich schade mir immer selbst, wenn ich mich auf Erklärungen einlasse. Eine Wirkung, deren Ursache man nicht kennt, macht viel mehr Eindruck. – Du kommst also mit nach Birmingham?«

»Gewiß. Was ist's für ein Fall?«

»Das sollst du in der Bahn hören. Mein Klient wartet draußen in dem Wagen. Du bist wohl schnell fertig?«

»Im Augenblick.«

Ich schrieb einen Zettel an meinen Kollegen, lief die Treppe hinauf, um meiner Frau die Mitteilung zu machen, und traf mit Holmes an der Haustür zusammen.

»Dein Nachbar ist auch Doktor?« fragte er und deutete nach dem Messingschild hin.

»Ja, er übernahm seine Praxis zur selben Zeit wie ich.«

»Eine alte Praxis?«

»Nicht älter als die meinige; beide bestehen, seitdem die Häuser erbaut sind.«

»Da ist dir der bessere Teil zugefallen.«

»Das meine ich auch, aber woher weißt du es?«

»Ich sehe es an den Türschwellen, alter Junge. Bei dir sind die Stufen erheblich tiefer ausgetreten als bei ihm. – Aber hier, dieser Herr im Wagen ist mein Klient, Herr Hall Pycroft. Erlaube, daß ich dich ihm vorstelle. – Nun vorwärts, Fahrer. Wir haben gerade noch Zeit, den Zug zu erreichen.«

Der Herr, dem ich im Wagen gegenüber saß, war ein hochgewachsener junger Mann mit offenem, ehrlichem Gesicht, blühenden Farben und einem krausen, blonden Bärtchen. Sein sorgfältig gebürsteter Hut und der saubere schwarze Anzug, den er trug, verrieten den ehrsamen Londoner Bürger aus der Klasse, welche die strammsten Freiwilligen und besten Turner zu liefern pflegt. Von Natur besaß sein rundes, frisches Gesicht den Ausdruck jugendlicher Heiterkeit, doch jetzt ließ er die Mundwinkel vor Verzweiflung herabhängen, und das nahm sich wirklich bei ihm ganz komisch aus. Was ihn in seiner Not zu Sherlock Holmes getrieben hatte, erfuhr ich übrigens nicht eher, als bis wir in unserem Abteil erster Klasse die Fahrt nach Birmingham angetreten hatten.

»Jetzt bleiben wir siebzig Minuten ganz ungestört«, erklärte Holmes, »und ich bitte Sie, Herr Pycroft, meinem Freunde hier Ihre interessanten Erlebnisse, genau wie Sie sie mir mitgeteilt haben, oder womöglich noch ausführlicher, zu wiederholen. Es wird mir von Nutzen sein, die Ereignisse noch einmal der Reihe nach zu hören. Der Fall mag von Bedeutung sein oder nicht, Watson, jedenfalls hat er etwas Ungewöhnliches, Fremdartiges an sich, was dich vermutlich ebenso reizen wird wie mich. – Nun also, wenn's beliebt, Herr Pycroft! Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.«

Unser junger Gefährte streifte mich mit einem etwas befangenen Seitenblick und begann:

»Das Schlimmste bei der Geschichte ist, daß ich mich so verdammt habe zum Narren machen lassen. Es kann ja natürlich noch alles ausgeglichen werden, und ich sehe auch nicht ein, wie ich's hätte anders anfangen sollen. Wenn ich aber meine Stelle verliere und nichts als das leere Nachsehen behalte, wird's mich gehörig wurmen, daß ich ein solcher Dummkopf gewesen bin. – Ich habe kein Erzählertalent, Doktor Watson, aber Sie sollen hören, wie mir's ergangen ist:

Ich hatte eine Anstellung bei Coxon & Woodhouse; allein in diesem Frühjahr ließ sich die Firma mit der Venezuela-Anleihe hinters Licht führen, Sie erinnern sich wohl daran – und da ging das Geschäft in die Brüche. Fünf Jahre war ich dort gewesen, und der alte Coxon gab mir ein famoses Zeugnis, als der Krach kam; aber natürlich wurden wir Gehilfen, alle siebenundzwanzig, entlassen. – Ich versuchte es hier und dort; doch weil, wie Sie sich denken können, die jungen Leute haufenweise in der gleichen Patsche waren wie ich, konnte man lange Zeit nirgends ankommen. Bei Coxon hatte ich drei Pfund die Woche gehabt und alles in allem etwa siebzig Pfund zurückgelegt, aber mein Schatz war bald aufgezehrt. Schließlich saß ich gründlich in der Klemme und wußte kaum noch, woher ich Briefpapier und Freimarken nehmen sollte, um die verschiedenen Anzeigen zu beantworten. Die Stiefelsohlen hatte ich mir schon auf den vielen Bürotreppen abgelaufen, und noch immer war keine Aussicht auf einen Posten für mich vorhanden.

Endlich las ich, daß Mawson & Williams, die große Maklerfirma in der Lombardstraße, eine Stelle ausgeschrieben hatte. Wahrscheinlich halten Sie nicht viel von dieser Stadtgegend; aber das kann ich Ihnen sagen, es ist eins der reichsten Häuser in London. Etwaige Bewerber sollten sich nur schriftlich melden. Das tat ich denn und schickte auch meine Zeugnisse ein, aber ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg. Da kam jedoch umgehend der Bescheid, daß ich mich am nächsten Montag einstellen und mein neues Amt sogleich übernehmen könne, falls meine Persönlichkeit nicht mißfiele.

Weiß der liebe Himmel, wie es bei solchen Bewerbungen zugeht. Manche Leute behaupten, der Geschäftsherr greife aufs Geratewohl in den Haufen von Anerbietungen und wähle die erste beste, die ihm in die Hand kommt. Wie dem auch sein mag, diesmal hatte es mich getroffen, und wer war glücklicher als ich! – Mein Gehalt betrug ein Pfund mehr die Woche als bei Coxon und die Arbeit war ungefähr dieselbe.

Nun komme ich aber zu dem absonderlichen Teil der Angelegenheit: Ich wohnte zur Miete draußen auf dem Wege nach Hampstead, Potters Terasse Nr. 17 war meine Adresse. Am selben Abend, nachdem mir die Stelle versprochen war, sitze ich in meiner Stube und lasse mir vergnügt eine Pfeife schmecken; da bringt mir die Wirtin eine Karte herein, auf der »Arthur Pinner, Geschäftsagent,« gedruckt stand. Diesen Namen hatte ich niemals gehört und konnte mir nicht denken, was der Mann von mir wollte; aber natürlich sagte ich der Wirtin, sie möge den Herrn bitten heraufzukommen. Ein mittelgroßer Mann trat ein, schwarz von Haar und Bart und mit stark gebogener Nase; er sprach lebhaft und in bestimmtem Ton, wie jemand, der keine Zeit verlieren will.

»Herr Pycroft, wenn ich nicht irre?«

»Der bin ich«, antwortete ich und schob ihm einen Stuhl hin.

»Bisher bei Coxon & Woodhouse im Geschäft?«

»Jawohl.«

»Und jetzt bei Mawson angestellt?«

»Ganz recht.«

»Was mich zu Ihnen führt, geehrter Herr, ist, daß ich viel Rühmliches von Ihrer kaufmännischen Begabung gehört habe. Sie erinnern sich wohl an Parker, der Geschäftsführer bei Coxon war? Er ist voll des höchsten Lobes für Sie.«

Natürlich hörte ich das sehr gern. Ich war zwar immer recht tüchtig im Kontor gewesen, aber doch hätte ich mir nie träumen lassen, daß man in der Kaufmannswelt so von mir spräche.

»Sie haben ein gutes Gedächtnis?« fragte er weiter.

»Das geht wohl an«, erwiderte ich bescheiden.

»Sind Sie, während Sie außer Stellung waren, mit dem Börsenkurs auf dem laufenden geblieben?«

»Jawohl, ich lese jeden Morgen den Kurszettel.«

»Wirklich – nun, das zeugt von wahrem Eifer; dabei können Sie es zu etwas bringen. Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich Sie ein wenig auf die Probe stellen. – Warten Sie einmal: Wie stehen die Ayrshire-Pfandbriefe?«

»Einhundertfünf bis fünfeinhalb.«

»Und die Neuseeland-Konsols?«

»Einhundertundvier.«

»Die britischen Hügellose?«

»Sieben bis sieben und ein halb.«

»Wunderbar!« rief er und schlug die Hände zusammen. »Das stimmt zu allem, was ich von Ihnen gehört habe. Junger Mann, junger Mann, Sie sind viel zu gut, um Schreiber bei Mawson zu werden.«

Dieser Ausspruch setzte mich einigermaßen in Erstaunen, wie Sie sich denken können. »Hm«, sagte ich, »andere Leute scheinen doch keine so hohe Meinung von mir zu haben, wie Sie, Herr Pinner. Es ist mir sauer genug geworden, wieder eine Stellung zu finden, und ich bin gottfroh, daß ich sie bekommen habe.«

»Oho, junger Mann, Sie sollten höher hinauf streben«, fing er wieder an. »Sie sind noch gar nicht in Ihrer rechten Sphäre. Hören Sie auf mich! – Was ich Ihnen bieten kann, ist im Verhältnis zu Ihren Fähigkeiten wenig genug, aber mit Mawsons Stelle verglichen ist es wie Tag und Nacht. Lassen Sie uns noch einmal überlegen. – Wann gehen Sie zu Mawson?«

»Nächsten Montag.«

»Ha, ha!« lachte er. »Ich möchte wohl eine kleine Wette wagen, daß Sie gar nicht eintreten.«

»Ich – nicht bei Mawson?« –

»Nein, bester Herr. An dem Tage werden Sie Geschäftsführer der Anglo-französischen Aktiengesellschaft für Eisen- und Stahlwaren sein, die hundertundvier Zweiggeschäfte in verschiedenen Städten und Dörfern Frankreichs hat, eins in Brüssel und eins in San Remo gar nicht zu rechnen.«

Das benahm mir fast den Atem. »Davon habe ich noch nie gehört«, sagte ich.

»Ganz natürlich«, erwiderte er. Man hat es nicht an die große Glocke gehängt; die Kapitalien wurden alle unter der Hand gezeichnet, solche Werte braucht man nicht erst öffentlich auszuschreiben. Mein Bruder, Harry Pinner, ist Mitbegründer der Gesellschaft und tritt sofort nach Zeichnung der Aktien als Direktor in den Vorstand. Er wußte, daß ich mit den hiesigen Verhältnissen vertraut bin, und bat mich, ihm einen tüchtigen Mann unter billigen Bedingungen zu verschaffen – einen jungen, strebsamen, schneidigen Menschen. Parker sprach von Ihnen, und das hat mich heute abend hergeführt. Als Anfangsgehalt können wir Ihnen zwar nur lumpige fünfhundert Pfund bieten –«

»Fünfhundert das Jahr!« rief ich.

»Anfangs nicht mehr; aber Sie würden obendrein eine Provision von 1 Prozent bei jedem Geschäft erhalten, das durch ihre Vermittlung zustande kommt. Diese Einnahme wird Ihr Gehalt übersteigen; Sie können mir das aufs Wort glauben.«

»Ich verstehe aber nichts von Stahlwaren.«

»Tut nichts, mein Lieber! Sie verstehen desto mehr von Zahlen.«

Mir schwirrte es im Kopfe; kaum konnte ich noch still sitzen auf meinem Stuhl. Aber plötzlich durchschauerten mich allerlei Zweifel. »Ich muß ganz offen mit Ihnen reden«, sagte ich. »Mawson gibt mir nur zweihundert Pfund – aber, Mawson ist sicher. Von Ihrer Gesellschaft weiß ich wirklich so wenig, daß –«

»Aha, höchst schlau!« rief er, wie außer sich vor Entzücken. »Sie sind der wahre Mann für uns, Sie lassen sich nicht beschwatzen – und tun auch ganz recht daran. – Hier ist eine Hundertpfundnote; wenn Sie meinen, daß wir uns miteinander verständigen können, so stecken Sie den Schein einfach in die Tasche, als Vorschuß auf Ihr Gehalt.«

Das entwaffnete mich gänzlich. »Sehr wohl«, sagte ich, »und wann würde ich mein neues Amt antreten müssen?«

»Seien Sie morgen um ein Uhr in Birmingham«, versetzte er; »ich habe hier ein Briefchen an meinen Bruder, das Sie ihm bringen sollen. Sie finden ihn in der Korporationsstraße 126 B, wo die Gesellschaft vorläufig ihr Büro hat. Er muß natürlich Ihre Anstellung bestätigen, aber – unter uns gesagt – es ist alles so gut wie abgemacht.«

»Ich weiß wirklich nicht, Herr Pinner, wie ich Ihnen danken soll«, rief ich.

»Nicht doch, mein Bester. Sie erhalten nur, was Sie verdienen. – Nun noch zwei Kleinigkeiten – nur der Form wegen – über die wir uns einigen müssen. Dort neben Ihnen liegt ein Blatt Papier. Schreiben Sie gefälligst: »Ich erkläre mich hierdurch bereit, in die Anglofranzösische Aktiengesellschaft für einen Anfangsgehalt von 500 Pfund als Geschäftsführer einzutreten.«

Ich tat, wie er verlange, und er steckte das Papier ein.

»Und nun noch eins«, sagte er. »Was denken Sie wegen Mawson zu tun?«

Ich hatte Mawson in meiner Freude ganz vergessen. »Ich werde ihm sogleich schreiben und mich abmelden.«

»Wissen Sie, davon würde ich entschieden abraten. Ich habe nämlich Ihretwegen mit Mawsons Geschäftsführer einen kleinen Wortwechsel gehabt. Als ich dort war, um Erkundigungen über Sie einzuziehen, wurde er sehr unverschämt, beschuldigte mich, Sie seiner Firma abspenstig machen zu wollen und dergleichen. Schließlich verlor ich die Geduld und sagte ihm: »Wenn Sie tüchtige Leute haben wollen, so müssen Sie sie auch anständig bezahlen.« Darauf erwiderte er: »Pycroft wird lieber unser kleines Gehalt nehmen als Ihr großes« – »Und ich wette eine Fünfpfundnote, daß Sie nichts mehr von ihm zu hören bekommen, wenn ich ihm mein Anerbieten mache«, rief ich. – »Gut, es gilt«, sagte er, »wir haben ihn von der Straße aufgelesen, und er wird uns anhängen wie eine Klette.« Das waren seine eigenen Worte.«

»Der unverschämte Mensch«, rief ich. »Ich habe ihn nie im Leben mit Augen gesehen, und brauche auch keine besondere Rücksicht auf ihn zu nehmen. Unter solchen Umständen werde ich also nicht an ihn schreiben.«

»Recht so – ich nehme Sie beim Wort«, sagte er und stand auf. »Hier ist Ihr Vorschuß von hundert Pfund und hier der Brief. Notieren Sie sich die Adresse: Korporationsstraße 126 B und versäumen Sie nicht, morgen um ein Uhr an Ort und Stelle zu sein. Gute Nacht! Ich wünsche Ihnen alles Glück, das Sie verdienen.« – Weiter ist nichts zwischen uns verhandelt worden, soviel ich mich erinnere. Sie können sich denken, Herr Doktor, wie aufgeregt ich über einen so außergewöhnlichen Glücksfall war. Ich tat vor lauter Entzücken die halbe Nacht hindurch kein Auge zu. Am nächsten Tage fuhr ich mit dem Frühzug nach Birmingham und kam lange vor der verabredeten Zeit dort an. Meine Sachen schaffte ich in ein Hotel und sah mich dann nach der bezeichneten Adresse um. Es war noch eine Viertelstunde zu früh, doch meinte ich, das würde nichts schaden. Die Nummer 126 B stand über einem Durchgang zwischen zwei großen Kaufläden, welcher zu einer steinernen Wendeltreppe führte; auf dieser gelangte man in die oberen Stockwerke, in denen Büros an Geschäftsleute und Anwälte vermietet waren. Alle Namen der Inhaber konnte man unten auf einer Tafel an der Wand lesen; aber die Anglo-französische Aktiengesellschaft war nicht darunter! Ein paar Minuten stand ich starr da, und mir sank aller Mut. War etwa die ganze Sache nichts als ein riesiger Schwindel? – Da trat ein Herr auf mich zu. Er sah meinem Besucher vom vorhergehenden Abend sehr ähnlich – dieselbe Gestalt, dieselbe Stimme, nur war er glatt rasiert und hatte helleres Haar.

»Sind Sie vielleicht Herr Hall Pycroft?« fragte er.

»Zu dienen.«

»Ah, ich erwartete Sie; aber Sie kommen etwas vor der bestimmten Stunde. Ich erhielt heute früh einen Brief von meinem Bruder; er singt Ihr Lob aus allen Tonarten.«

»Ich sah mich vergebens nach einem Schild der Gesellschaft um, als Sie kamen.«

»Der Name ist noch nicht angeschlagen; wir haben diese Geschäftsräume erst letzte Woche vorläufig gemietet. – Kommen Sie jetzt mit mir und lassen Sie uns die Angelegenheit besprechen.«

Ich folgte ihm eine sehr hohe Treppe bis dicht unter das Dach hinauf, wo er mich in ein paar leere, staubige, kleine Zimmer ohne Teppich und Vorhänge führte. Mir hatte ein großer Raum mit polierten Pulten und einer Reihe von Gehilfen vorgeschwebt, wie ich es gewohnt war; so starrte ich denn etwas verblüfft auf die beiden tannenen Holzstühle und den kleinen Tisch, welche nebst einem Hauptbuch und einem Papierkorb fast die ganze Einrichtung ausmachten.

»Lassen Sie sich nicht entmutigen, Herr Pycroft«, sagte mein neuer Bekannter, als er sah, was ich für ein langes Gesicht machte. »Rom ist nicht in einem Tage erbaut worden, und wir besitzen reiche Geldmittel, wenn wir auch mit unseren Geschäftsräumen noch keinen Staat machen können. Setzen Sie sich und geben Sie mir Ihren Brief.«

Er las das Schreiben sehr aufmerksam durch. »Sie müssen einen gewaltigen Eindruck auf meinen Bruder gemacht haben«, sagte er, »und ich weiß, daß Arthur ziemlich scharf urteilt. Freilich läßt er nichts gelten, was nicht aus London kommt – und ich bin ganz für Birmingham; aber diesmal werde ich seinem Rate folgen. Betrachten Sie sich gefälligst als fest angestellt.«

»Und was sind meine Obliegenheiten?« fragte ich.

»Sie werden wahrscheinlich sehr bald die Leitung der großen Niederlage in Paris übernehmen müssen, die mit ihren Sendungen englischer Stahlwaren die Läden unserer hundertvierunddreißig Agenten in Frankreich zu versorgen hat. Der Einkauf soll in der nächsten Woche beendet sein. Einstweilen bleiben Sie in Birmingham und machen sich hier nützlich.«

»Auf welche Weise?«

Statt der Antwort nahm er ein dickes rotes Buch aus der Schublade. »Hier ist ein Adreßbuch von Paris; die Geschäfte stehen immer hinter den Namen. Nehmen Sie es mit nach Hause und machen Sie mir einen Auszug von allen Eisenwarenhandlungen. Es wird mir von größtem Nutzen sein, das Verzeichnis zu haben.«

»Es muß aber doch fertige Geschäftsadressen geben«, erlaubte ich mir zu bemerken.

»Keine zuverlässigen. Das französische System ist nicht wie unseres. – Machen Sie sich an die Arbeit, damit ich die Liste bis Montag um zwölf Uhr haben kann. – Und nun leben Sie wohl, Herr Pycroft. Wenn Sie auch ferner Eifer und Verständnis zeigen, werden Sie sich über die Gesellschaft nicht zu beklagen haben.«

Mit dem dicken Buch unter dem Arm ging ich, von sehr widerstreitenden Gefühlen bewegt, in mein Hotel zurück. Einerseits war ich angestellt und trug meine Hundertpfundnote in der Tasche; andererseits aber hatten auf mich das armselige Aussehen des Büros, der fehlende Namen der Firma und noch einige Punkte, die einem Geschäftsmann befremdlich vorkommen mußten, einen recht schlechten Eindruck gemacht. Indessen, was auch daraus werden mochte, ich hatte das Geld und meine Aufgabe. Den ganzen Sonntag über blieb ich bei der Arbeit, und doch war ich am Montag nur bis zum H gelangt. Ich ging zu meinem Prinzipal, fand ihn in demselben kahlen Zimmer und erhielt die Anweisung, bis Mittwoch fortzuarbeiten und dann wiederzukommen. Beenden konnte ich die Liste auch bis zum Mittwoch nicht, und so trieb ich's weiter bis Freitag – das heißt bis gestern. Dann brachte ich Herrn Harry Pinner das fertige Verzeichnis.

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte er, »vermutlich habe ich die Schwierigkeit der Aufgabe unterschätzt. Die Liste wird aber von wesentlichem Wert für mich sein.«

»Sie hat viel Zeit gekostet«, bemerkte ich.

»Nun bitte ich Sie, mir ein Verzeichnis der Möbelhandlungen anzufertigen, die zugleich auch Stahlwaren verkaufen.«

»Sehr wohl.«

»Sie können sich morgen abend um sieben Uhr hier einstellen und mir sagen, ob Sie gut vorwärts kommen. Strengen Sie sich aber nicht zu sehr an. Ein paar Abendstunden in einem Varieté werden Ihnen nach der Arbeit wohl tun.« Bei diesen Worten lachte er, und ich sah, daß sein zweiter Zahn auf der linken Seite schlecht mit Gold gefüllt war – das fuhr mir durch alle Glieder.«

Sherlock Holmes rieb sich die Hände vor Vergnügen, während ich unsern Klienten verwundert anstarrte.

»Ich begreife Ihr Erstaunen, Herr Doktor«, fuhr er fort; »die Sache verhält sich nämlich folgendermaßen: als der andere Herr in London während unserer Unterhandlung darüber lachte, daß ich nicht bei Mawson eintreten würde, hatte ich zufällig bemerkt, daß derselbe Zahn bei ihm ganz auf die nämliche Art plombiert war. Damals wie jetzt war mir das Blinken des Goldes aufgefallen. Bedachte ich nun, daß die beiden sich auch in Stimme und Gestalt genau glichen und nur in dem verschieden waren, was sich mit Hilfe von Rasiermesser und Perücke leicht verwandeln ließ, so mußte mir einleuchten, daß derselbe Mann vor mir stand. Zwei Brüder können sich freilich ähnlich sehen – aber doch kaum in der Füllung ihrer Zähne.

»Als ich mich von ihm verabschiedet hatte und wieder auf der Straße war, wußte ich kaum noch, ob ich bei Sinnen sei. Im Hotel angekommen, goß ich mir einen Krug kaltes Wasser über den Kopf und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Weshalb hatte er mich nach Birmingham geschickt? Weshalb war er dort vor mir eingetroffen? – Weshalb hatte er einen Brief an sich selber geschrieben? – Es überstieg meine Fassungskraft; ich konnte weder Sinn noch Verstand darin finden. Da fiel mir plötzlich ein, daß, was mir unergründlich war, Herrn Holmes vielleicht ganz erklärlich sein könne. Ich hatte gerade noch Zeit, mit dem Nachtzug London zu erreichen, Sie am Morgen aufzusuchen und mit Ihnen beiden nach Birmingham zurückzufahren.«

Als der Gehilfe mit dem Bericht über seine merkwürdigen Erlebnisse zu Ende war, entstand eine Pause. Holmes lehnte sich in die Kissen zurück und sah mich mit wohlgefälligem und doch prüfendem Blicke an, wie ein Kenner, der den ersten Becher eines Kometen-Jahrgangs kostet.

»Prächtig, Watson, nicht wahr?« rief er. »Einige Punkte gefallen mir ganz besonders. Meinst du nicht auch, daß eine Zusammenkunft mit Herrn Arthur Harry Pinner in dem Büro der Anglo-französischen Aktiengesellschaft für uns beide recht interessant sein würde?«

»Aber wie ließe sich das ausführen?« fragte ich.

»Oh, ganz bequem«, versicherte Pycroft vergnügt. »Sie sind ein paar Freunde von mir, die eine Stellung suchen, und was kann natürlicher sein, als daß ich Sie dem Direktor vorstelle?«

»Jawohl! Selbstverständlich! –« rief Holmes. »Ich möchte den Herrn wohl von Angesicht sehen und versuchen, ob ich ihm nicht bei seinem Spiel in die Karten gucken kann. Nun, mein Freund, zu was für Diensten könnten wir uns denn etwa anbieten – oder wäre es möglich –?« Damit versank er in tiefes Nachdenken, kaute an seinen Nägeln und starrte aus dem Fenster. Wir bekamen kaum noch den Laut seiner Stimme zu hören, bevor wir Birmingham und das Hotel erreicht hatten.

Um sieben Uhr abends gingen wir alle drei zusammen in die Korporationsstraße nach dem Büro der Gesellschaft.

»Es ist ganz unnütz«, bemerkte unser Klient, »wenn wir vor der Zeit dort sind. Er kommt offenbar nur meinetwegen hin, denn bis zu der von ihm bestimmten Stunde ist der Ort völlig verlassen.«

»Das gibt zu denken«, meinte Holmes.

»Meiner Treu«, rief jetzt Pycroft, »sagte ich's nicht – da geht er vor uns.«

Er zeigte auf einen schmächtigen, wohlgekleideten Mann mit hellbraunem Haar, der eilig auf der andern Seite der Straße hinschritt. Während wir ihn beobachteten, sah er nach einem Jungen hinüber, der gerade die neueste Abendzeitung ausrief. Rasch drängte er sich zwischen den Fahrzeugen und Omnibussen hindurch, kaufte ein Blatt, ergriff es hastig und verschwand damit in einem Torweg.

»Jetzt geht er ins Büro«, sagte der Schreiber, »das ist der Eingang. Kommen Sie nur, ich will schon dafür sorgen, daß Sie keinerlei Schwierigkeiten haben.«

Seiner Führung folgend, stiegen wir bis zum fünften Stock hinauf, wo unser Klient an eine halb offen stehende Tür klopfte. Eine Stimme rief »Herein!« und wir betraten das kahle, unmöblierte Zimmer, welches wir aus Pycrofts Beschreibung kannten.

An dem einzigen Tisch saß der Mann, den wir auf der Straße gesehen hatten; die Abendzeitung lag vor ihm ausgebreitet. Als er den Kopf erhob, glaubte ich noch nie ein Gesicht gesehen zu haben, das solchen Kummer ausdrückte und ein Entsetzen verriet, wie es nur wenige Menschen einmal im Leben befällt. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, sein Gesicht war kreideweiß, und die Augen starrten wild umher. Er schien den Schreiber nicht gleich zu erkennen, und auch an Pycrofts verwunderter Miene merkte man leicht, daß dies keineswegs das gewöhnliche Aussehen seines Vorgesetzten war.

»Was fehlt Ihnen, Herr Pinner?« rief er.

»Ich fühle mich allerdings nicht ganz wohl«, erwiderte dieser, sich mit großer Anstrengung zusammenraffend; »wer sind denn die Fremden, die Sie mitbringen?«

»Herr Harris aus Bermondsey, und Herr Price von hier«, stellte uns Pycroft mit geläufiger Zunge vor; »zwei meiner Freunde, sehr gewiegt im Geschäft, aber seit langer Zeit ohne Anstellung. Vielleicht ließe sich bei der Gesellschaft ein Platz für sie finden.«

»Wohl möglich, wohl möglich! –« rief Pinner mit unheimlichem Lächeln, »kein Zweifel, wir werden etwas für Sie tun können. Was ist denn Ihr besonderes Fach, Herr Harris?«

»Ich bin Buchhalter«, antwortete Holmes.

»Gut – wir werden Ihre Dienste brauchen; und Sie, Herr Price?«

»Korrespondent«, sagte ich.

»Ich hoffe bestimmt, daß Sie bei der Gesellschaft eintreten können; sobald ein Beschluß darüber gefaßt ist, will ich Sie benachrichtigen. Aber bitte, nun gehen Sie wieder. – Lassen Sie mich um Gottes willen allein!« –

Er stieß die letzten Worte heraus, als ob der Zwang, den er sich bisher angetan, plötzlich über seine Kräfte ginge. Holmes und ich sahen einander befremdet an, während Pycroft sich dem Tisch näherte.

»Sie vergessen, Herr Pinner«, sagte er, »daß Sie mich herbestellt haben, um Ihre Aufträge in Empfang zu nehmen.«

»Ja so, versteht sich«, antwortete er in ruhigerem Ton. »Warten Sie, bitte, einen Augenblick; auch Ihre Freunde mögen unterdessen hier bleiben. In drei Minuten stehe ich Ihnen ganz zu Diensten; ich darf wohl Ihre Geduld so lange in Anspruch nehmen.« – Er erhob sich mit sehr höflicher Miene, machte uns eine Verbeugung und verschwand durch eine Tür am anderen Ende des Zimmers, die er hinter sich schloß.

»Was nun?« – flüsterte Holmes. »Geht er auf und davon?«

»Unmöglich«, erwiderte Pycroft.

»Weshalb?«

»Die Tür führt in ein inneres Zimmer ohne Ausgang.«

»Ist es möbliert?«

»Gestern war es leer.«

»Was in aller Welt tut er dann drinnen? – Die Geschichte ist mir höchst rätselhaft. Wenn jemals ein Mensch halb wahnsinnig vor Entsetzen ausgesehen hat, so ist's dieser Pinner. Was kann ihm solche Angst einjagen?«

»Er hält uns für Geheimpolizisten«, meinte ich.

»Das wird's sein«, stimmte mir Pycroft bei; aber Holmes schüttelte den Kopf.

»Er wurde nicht erst so leichenblaß, als wir eintraten, er war es schon vorher. Es könnte wohl sein –«

Holmes' Worte wurden durch ein lautes Klopfen unterbrochen, das aus dem Nebenzimmer zu kommen schien.

»Was zum Henker pocht er denn an seine eigene Tür?« rief Pycroft.

Wieder kam das rat – tat – tat, aber diesmal lauter und lauter.

Wir blickten verdutzt auf die geschlossene Tür. Holmes stand mit starren Zügen, aber in heftigster Aufregung weit vorgebeugt da. Dann hörte man plötzlich einen glucksenden, gurgelnden Ton und ein schnelles Trommeln gegen eine Holzwand. Wie rasend sprang Holmes durchs Zimmer und rannte gegen die Tür. Sie war von innen verschlossen. Seinem Beispiel folgend, warfen wir uns mit aller Macht dagegen. Die Tür krachte in den Angeln und fiel bald mit lautem Gepolter zu Boden. Wir stürmten darüber hinweg, ins Zimmer hinein – es war leer.

Doch schon im nächsten Augenblick erkannten wir unsern Irrtum. In einem Winkel, dicht neben dem Zimmer, aus dem wir kamen, war ein zweite Tür. Holmes sprang herzu und stieß sie auf. Ein Rock und eine Weste lagen am Boden, und an einem Haken hinter der Tür hatte sich der Direktor der Anglo-französischen Aktiengesellschaft an seinem eigenen Hosenträger aufgehängt. Seine Kniee waren emporgezogen, sein Kopf steckte in der Schlinge, und mit den Fersen, die gegen die Holztür schlugen, verursachte er den Lärm, der uns zuerst stutzig gemacht hatte.

Augenblicklich faßte ich ihn um den Leib und hielt ihn empor, während Holmes und Pycroft die elastischen Tragbänder lösten, die sich ihm fest in die Haut eingeschnürt hatten. Dann trugen wir ihn in das Nebenzimmer, wo er aschgrau im Gesicht, mit blauroten Lippen keuchend dalag – nur noch ein elendes Wrack des Menschen, der er vor fünf Minuten gewesen war.

»Wie steht's mit ihm – was meinst du, Watson?« fragte Holmes.

Ich beugte mich über ihn, um seinen Zustand zu untersuchen. Der Puls war schwach und setzte aus, aber die Atemzüge wurden länger, und bei dem leisen Beben der Lider zeigte sich dann und wann der Augapfel.

»Um ein Haar war's aus mit ihm«, sagte ich; »aber jetzt kommt er durch. Bitte, öffne das Fenster und reiche mir die Wasserflasche.«

Ich lockerte seinen Kragen, goß ihm kaltes Wasser übers Gesicht und hob und senkte seine Arme, bis er einen langen, natürlichen Atemzug tat. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, wie bald er wieder zum Bewußtsein kommen würde.

Holmes stand am Tische, mit den Händen in den Taschen und das Kinn auf die Brust gesenkt. »Jetzt sollten wir eigentlich nach der Polizei schicken«, sagte er, »aber ich gestehe, daß ich ihr, wenn sie kommt, gern den fertigen Fall vorlegen möchte.«

»Ich werde ganz und gar nicht klug daraus«, rief Pycroft und fuhr sich durch das Haar. »Weshalb in aller Welt hat man mich hierher gesprengt, wenn man doch –«

»Pah!« unterbrach ihn Holmes ungeduldig – »das ist alles sonnenklar; nur dieser letzte Schachzug –«

»Sie verstehen also das übrige?«

»Nun, das liegt doch auf der Hand – nicht wahr, Watson?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich muß bekennen, daß ich noch im Dunkeln bin.«

»Aber, wenn man die ganze Sache von Anfang an überlegt, läßt sich doch nur ein Schluß daraus ziehen.«

»Wie erklärst du sie dir denn?«

»Alles dreht sich um zwei Punkte. Erstens sollte Pycroft dazu gebracht werden, seinen Eintritt in den Dienst der angeblichen Aktiengesellschaft schriftlich zu erklären. – Ist das nicht schon ein deutlicher Wink?«

»Was meinst du denn, wozu sie die Erklärung brauchten?«

»Nicht des Geschäfts wegen, denn solche Verabredungen werden meist mündlich getroffen, und hier lag kein erdenklicher Grund vor, eine Ausnahme zu machen. Merken Sie denn nicht, Pycroft, daß den Leuten alles daran lag, eine Probe Ihrer Handschrift zu bekommen, was sich auf keine andere Weise erreichen ließ?«

»Aber wozu denn?«

»Richtig! – Wozu? Wenn wir darauf die Antwort wissen, so sind wir der Lösung unseres Problems um ein gutes Teil näher gerückt. Wozu? – Es kann nur einen genügenden Grund dafür geben: jemand wollte Ihre Handschrift nachmachen und mußte sich zu dem Zweck erst eine Probe verschaffen. – Wenn wir nun zu dem zweiten Punkt übergehen, so finden wir, daß der eine Licht auf den andern wirft. – Dieser zweite Punkt ist Pinners Verlangen, daß Sie Ihre Stellung bei Mawson nicht aufkündigen, sondern den dortigen Geschäftsführer in dem Glauben lassen sollten, ein Herr Hall Pycroft, den er niemals gesehen hatte, werde sich am Montagmorgen im Kontor einstellen.«

»Großer Gott«, rief unser Klient, »wie stockblind bin ich gewesen!«

»Jetzt wird Ihnen auch die Sache mit der Handschrift einleuchten. Jemand, dessen Schrift ganz anders war als die, mit welcher Sie sich um die Stelle bewarben, hätte natürlich gleich sein Spiel verloren. Aber der Spitzbube lernte unterdessen Ihre Schrift nachahmen und sicherte dadurch seine Stellung; vorausgesetzt, daß niemand im Kontor Sie persönlich kannte.«

»Keine Seele«, stöhnte Pycroft.

»Natürlich war es von der größten Wichtigkeit, daß Sie nicht noch Ihren Entschluß änderten, oder in Beziehung zu irgend jemand traten, der Ihnen von Ihrem Doppelgänger bei Mawson erzählen konnte. Deshalb erhielten Sie einen anständigen Vorschuß, mußten nach Birmingham reisen und bekamen genug zu tun, damit Sie sich nicht etwa einfallen ließen, nach London zurückzufahren und den Leuten ihr Spiel zu verderben.«

»Aber weshalb gab der Mensch sich für seinen eigenen Bruder aus?«

»Oh, auch das ist sehr erklärlich. Augenscheinlich sind nur zwei im Komplott. Der andere stellt Sie im Kontor vor. Der erste hatte Sie angeworben; um aber einen Arbeitgeber für Sie zu finden, hätte er eine dritte Person in seinen Plan einweihen müssen, was er womöglich vermeiden wollte. Er veränderte also sein Aussehen, soweit es tunlich war, und verließ sich darauf, daß Sie es der Familienähnlichkeit zuschreiben würden, wenn Ihnen die Gleichheit dennoch auffiele, was kaum ausbleiben konnte. Ohne den glücklichen Zufall mit dem plombierten Zahn hätten Sie vielleicht niemals Verdacht geschöpft.«

Pycroft schüttelte wie verzweifelt seine geballten Fäuste. »Großer Gott«, rief er, »was mag wohl der andere Hall Pycroft dort bei Mawson getan haben, während man mich hier zum Narren hielt! – Was soll aber nun geschehen, Herr Holmes? Sagen Sie mir, was läßt sich tun?«

»Wir müssen an Mawson telegraphieren.«

»Am Sonnabend wird das Geschäft schon um zwölf Uhr geschlossen.«

»Das schadet nichts. Ein Türhüter oder Aufseher ist gewiß da.«

»Ganz richtig. Es ist dort Tag und Nacht ein Wächter angestellt, wegen der hohen Wertpapiere, die Mawson in Verwahrung hat. Ich habe in der Stadt davon sprechen hören.«

»Nun gut – wir telegraphieren dem Wächter und erfahren durch ihn, ob alles in Ordnung ist und ob ein Schreiber Ihres Namens dort arbeitet. Soweit ist alles klar; unverständlich bleibt nur noch, warum der Spitzbube hier, sobald er uns gesehen hatte, hingegangen ist, um sich aufzuhängen.«

»Die Zeitung!« krächzte eine Stimme hinter uns. Der Mensch saß aufrecht da, leichenblaß und grauenhaft anzusehen; in seinen Augen konnte man das zurückkehrende Bewußtsein lesen, und er rieb mit den Händen krampfhaft an dem breiten roten Streifen, der noch seinen Hals umzog.

»Die Zeitung – natürlich!« rief Holmes und schlug sich vor die Stirn. »Narr, der ich war! So voll hatte ich den Kopf von allem, was hier vorging, daß ich keinen Augenblick an die Zeitung gedacht habe, die doch jedenfalls das Geheimnis enthält.«

Er breitete das Blatt auf dem Tisch aus und ließ gleich darauf einen Schrei des Triumphes hören.

»Sieh her, Watson! Es ist eine Londoner Zeitung, das Abendblatt des ›Standard‹. Hier ist, was wir brauchen. Sieh nur die Überschrift: Ein Verbrechen in der City. Mord bei Mawson & Williams. Großer Raubversuch. Der Täter ergriffen. – Bitte, lies es uns laut vor, Watson; wir sind alle begierig, Näheres zu erfahren.«

Der Artikel stand gleich obenan in der Zeitung. Offenbar bildete das Ereignis augenblicklich das Hauptinteresse in der ganzen Stadt. Der Bericht lautete wie folgt:

»Ein verwegener Raubversuch, der den Tod eines Menschen zur Folge hatte und mit der Ergreifung des Mörders endete, ist heute nachmittag in der City unternommen worden. Seit längerer Zeit hat das bekannte Geschäftshaus von Mawson & Williams Wertpapiere in Verwahrung gehabt, deren Gesamtbetrag eine Million Pfund weit überstieg. Zur Sicherung dieses Schatzes waren umfangreiche Vorsichtsmaßregeln getroffen worden. Er befand sich in einem Geldschrank allerneuester Erfindung, und ein bewaffneter Wächter war Tag und Nacht im Dienst. In der vergangenen Woche nun wurde von der Firma ein neuer Schreiber, Namens Hall Pycroft, angestellt, der aber niemand anders zu sein scheint, als der berüchtigte Fälscher und Einbrecher Beddington, der samt seinem Bruder soeben erst eine fünfjährige Zuchthausstrafe abgebüßt hat. Es war ihm gelungen, sich auf bisher unaufgeklärte Weise unter falschem Namen die Stelle zu verschaffen, und er benützte dies, um Abdrücke von verschiedenen Schlössern zu nehmen und sich über die Lage des Kassenzimmers und über die Geldschränke aufs genaueste zu unterrichten.

Bei Mawson pflegen die Gehilfen und Beamten am Sonnabend das Geschäft schon um zwölf Uhr mittags zu verlassen. Als daher der Stadtpolizist Tuson zwanzig Minuten nach ein Uhr einen Herrn mit einer Reisetasche die Stufen herabkommen sah, wunderte ihn das sehr. Sein Verdacht war erregt, er folgte dem Menschen, und es gelang ihm mit Hilfe des Schutzmanns Pollack den Kerl nach verzweifeltem Widerstande festzunehmen. Es zeigte sich sogleich, daß ein großartiger, äußerst frecher Raub begangen worden war. Der Reisesack enthielt amerikanische Eisenbahnaktien, deren Wert sich etwa auf einhunderttausend Pfund belief, nebst Bergwerksobligationen und Pfandbriefen von sehr hohem Betrage.

Bei der Haussuchung fand man den Leichnam des ermordeten Wächters in den größten Kassenschrank hineingezwängt, wo er ohne das tätige Eingreifen des Polizisten Tuson nicht vor Montag früh entdeckt worden wäre. Der Schädel war dem Unglücklichen mit einem Feuerhaken von hinten her eingeschlagen worden. Ohne Zweifel hatte sich Beddington, unter dem Vorwand etwas vergessen zu haben, Eintritt verschafft, hatte den Wächter getötet, schnell den großen Kassenschrank geleert und sich mit der Beute davongemacht. Sein Bruder, der sonst immer mit ihm zu arbeiten pflegt, scheint bei diesem Unternehmen nicht beteiligt zu sein, soviel man bis jetzt weiß; doch ist die Polizei eifrig beschäftigt, nach seinem Aufenthaltsort zu forschen.«

»Da können wir der Polizei einige Mühe ersparen«, sagte Holmes mit einem Blick auf die jämmerlich zusammengekrümmte Gestalt, die im Winkel kauerte. »Die menschliche Natur ist doch ein recht wunderliches Gemisch, Watson! Selbst ein Schurke und ein Mörder kann das größte Mitleid einflößen. Auf die erste Kunde hin, daß er dem Strick verfallen ist, hat sein Bruder hier Selbstmord versucht. – Uns bleibt übrigens keine Wahl; wir wissen, was wir zu tun haben. Der Doktor und ich werden hier Wache halten, und Sie, Pycroft, holen unterdessen gefälligst die Polizei.«

»Es war schade«, meinte einer der Herren, nachdem Doktor Watson geendet hatte, »daß der junge Mann nicht schon früher Verdacht schöpfte und Herrn Holmes in Kenntnis setzte. So wäre vielleicht der Tod des Wächters noch verhindert worden.«

»Es ist, als machten wir alle zusammen einen Spaziergang durch das uns bekannte London. Man lebt jahrelang in einer Stadt – und wie wenig kennt man sie doch im Grunde!« sagte die junge Frau. »Da läuft eine ganze Welt neben der unsern her, von der wir so gut wie nichts wissen. Nur manchmal taucht vor uns plötzlich in den Straßen der Stadt ein Gesicht auf, in dem wir augenblicklich jenes andere London, das auch da ist, erkennen. Manchmal ist es nur das verunstaltete Gesicht eines Bettlers – –«

»Ein Bettler –« sagte Doktor Watson nachdenklich. »Wenn ich durch die Threadneedlestraße gehe, so denke ich unwillkürlich immer an Hugo Boone, der da seinen Streichholzhandel betrieb. Er sitzt nun nicht mehr dort in der Mauerecke. Aber er war für mich das Gesicht jenes zweiten London, von dem wir im allgemeinen so wenig wissen. Ich will Ihnen seine Geschichte erzählen:


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