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Zehntes Kapitel.
Auszug dem Tagebuch von Dr. Watson

Bis zu diesem Punkt meiner Erzählung brauchte ich nur die Berichte abzuschreiben, die ich am Anfang meines Aufenthaltes auf Baskerville Hall an Sherlock Holmes sandte. Jetzt bin ich jedoch an einer Stelle, wo diese Methode sich nicht mehr anwenden läßt; ich muß von nun an wieder aus meinen Erinnerungen schöpfen, habe dabei aber als Unterlage die Aufzeichnungen, die ich damals in mein Tagebuch eintrug. Ich gebe zunächst einige Auszüge daraus und komme dann sofort zu jenen Ereignissen, die sich in unauslöschlichen Zügen meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Ich beginne mit dem Morgen, der auf unsere ergebnislose Jagd nach dem Sträfling und auf die anderen seltsamen Erscheinungen in der Mooreinsamkeit folgte.

Den 16. Oktober. Ein trüber, nebeliger Tag mit unaufhörlichem feinen Sprühregen. Das Haus ist in schwere Wolken gehüllt, die sich von Zeit zu Zeit lichten und dann einen Blick auf die öden Wellenlinien der Moorlandschaft eröffnen; auf den Flanken der Hügel sieht man dünne, silberweiße Adern, und die Granitblöcke leuchten in der Ferne auf, wenn ein Lichtschein auf ihr nasses Gestein fällt. Melancholische Stimmung draußen und drinnen. Der Baronet ist nach den Aufregungen der letzten Nacht abgespannt und in düsterer Laune. Mir selber ist das Herz schwer, und ich habe das Gefühl, daß eine Gefahr droht – eine immer gegenwärtige Gefahr, die um so furchtbarer ist, da ich nicht angeben kann, worin sie besteht.

Und habe ich nicht Ursache zu solchen Befürchtungen? Wir blicken jetzt auf eine lange Reihenfolge einzelner Ereignisse zurück, die alle ohne Ausnahme darauf schließen lassen, daß irgend eine unheimliche Macht in unserer Nähe am Werk ist. Da ist zunächst der Tod des vorigen Schloßherrn, ein Ereignis, das so genau mit den Überlieferungen der alten Familiensage übereinstimmt. Dann haben wir die Berichte zahlreicher Landleute, die alle eine grausige Kreatur auf dem Moor gesehen haben. Zweimal hörte ich mit meinen eigenen Ohren jenen Laut, der dem fernen Gebell eines großen Hundes gleicht. Es ist unglaublich, ja unmöglich, daß dieser Laut wirklich dem Gebiet des Übernatürlichen angehört. Einen Gespensterhund, der körperliche Fußspuren zurückläßt und die Luft mit seinem Geheul erfüllt, den gibt es nicht, ganz gewiß nicht. Mag Stapleton sich solchem Aberglauben hingeben und Doktor Mortimer sich ihm anschließen – aber wenn ich überhaupt irgend eine hervorstechende Eigenschaft habe, so ist es nüchterner, gesunder Menschenverstand, und nichts wird mich dazu bringen, an so etwas zu glauben. Damit würde ich ja zu dem Niveau der armen Bauersleute herabsteigen, die nicht einmal mit einem gewöhnlichen Gespensterhund zufrieden sind, sondern ihn als ein Tier beschreiben, dem höllisches Feuer aus Maul und Augen sprüht. Von solchen Phantastereien würde Holmes nichts wissen wollen, und ich bin hier als sein Vertreter. Aber Tatsachen sind und bleiben Tatsachen, und ich habe zweimal sein Geheul auf dem Moor gehört. Nehmen wir an, es triebe sich wirklich irgendein riesiger Hund auf dem Moor herum – damit ließe sich ja alles erklären. Aber wo könnte ein solcher Hund verborgen liegen, wo bekäme er zu fressen, woher wäre er gekommen, und wie ginge es zu, daß kein Mensch ihn je bei Tage gesehen hat? Ich muß zugeben, daß die natürliche Erklärung fast ebenso viele Schwierigkeiten bietet wie die andere. Und ganz abgesehen vom Hund – es bleibt die Tatsache bestehen, daß in London irgendeine menschliche Hand im Spiel war; wir hatten den Mann in der Droschke und den Warnbrief, der Sir Henry aufforderte, dem Moor fernzubleiben. Dieser Brief zum mindesten existierte tatsächlich, aber er konnte ebenso von einem wohlgesonnenen Freund, wie von einem Feind ausgehen. Wo war in diesem Augenblick dieser Freund oder Feind? War er in London geblieben oder war er uns hierher gefolgt? Konnte er – konnte er der Fremde sein, den ich auf dem Moor gesehen hatte?

Allerdings habe ich nur jenen einzigen flüchtigen Blick auf ihn geworfen – und doch, es sind bei diesem Erlebnis verschiedene Umstände vorhanden, deren ich so sicher bin, daß ich darauf schwören kann. Der Fremde gehört nicht zu den Leuten, mit denen ich hier bekannt geworden bin – und ich habe jetzt sämtliche Leute der ganzen Gegend gesehen. Er war der Gestalt nach viel größer als Stapleton, viel schlanker als Frankland. Barrymore hätte es möglicherweise sein können, aber diesen hatten wir im Haus zurückgelassen, und ich bin sicher, daß er uns nicht unbemerkt hätte folgen können. Also verfolgt uns hier ein Fremder auf Schritt und Tritt, gerade wie ein Fremder uns in London beschattet hat. Wir sind ihn die ganze Zeit über nicht losgeworden. Könnte ich meine Hand auf diesen Mann legen, so wären wir vielleicht am Ende aller unserer Schwierigkeiten. Zur Erreichung dieses Ziels muß ich jetzt alle meine Kräfte anspannen.

Mein erster Gedanke war, Sir Henry von allen meinen Plänen in Kenntnis zu setzen; ein zweiter und klügerer Gedanke jedoch brachte mich zum Entschluß, auf eigene Faust zu handeln und so wenig wie möglich von meinen Gedanken verlauten zu lassen. Sir Henry ist schweigsam und zerstreut. Seine Nerven haben einen seltsamen Stoß erlitten, seitdem er jenes Geheul auf dem Moor hörte. Ich will nichts sagen, was seine Beängstigungen womöglich noch bestärken könnte, aber ich will meine Vorkehrungen treffen, um mein Ziel zu erreichen.

Heute morgen nach dem Frühstück hatten wir eine kleine Szene. Barrymore bat Sir Henry um eine Unterredung, und sie verweilten kurze Zeit unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer. Ich saß im Billardzimmer und hörte mehrere Mal, daß sie ihre Stimmen erhoben; ich konnte mir wohl denken, was den Gegenstand ihres Gespräches bildete. Nach einer Weile öffnete der Baronet die Thür und bat mich, hereinzukommen.

»Barrymore glaubt Grund zu einer Beschwerde zu haben,« sagte er. »Er meint, es sei unredlich von uns gewesen, auf seinen Schwager Jagd zu machen, nachdem er uns freiwillig das Geheimnis mitgeteilt hatte.«

Der Schloßverwalter stand, sehr bleich, jedoch vollkommen gefaßt, vor uns.

»Ich mag vielleicht zu heftig gesprochen haben, Herr,« sagte er, »und wenn dies der Fall sein sollte, so bitte ich recht sehr um Vergebung. Ich war eben sehr überrascht, als ich die beiden Herren heute früh zurückkommen hörte und erfuhr, daß sie Selden verfolgt hatten. Der arme Kerl hat gerade genug durchzumachen und es war nicht nötig, daß sich ihm noch jemand auf die Hacken setzte.«

»Wenn Sie es uns freiwillig verraten hätten, so wäre es allerdings etwas anderes,« antwortete der Baronet. »Sie sprachen aber erst – oder vielmehr Ihre Frau tat es – als Sie nicht mehr anders konnten.«

»Ich glaubte aber nicht, daß Sie von meiner Mitteilung Gebrauch machen würden, Sir Henry – wirklich, dieser Gedanke lag mir völlig fern.«

»Der Mann ist eine Gefahr für die Menschheit. Überall über das Moor verstreut liegen einsame Häuser, und er ist ein Bursche, der vor nichts zurückschreckt. Man braucht nur mal einen Augenblick sein Gesicht zu sehen, um das zu wissen. Nehmen Sie zum Beispiel Herrn Stapletons Haus; da ist bloß er allein, der die Bewohner verteidigen könnte. Nein, die ganze Gegend ist unsicher, so lange Selden nicht wieder hinter Schloß und Riegel ist.«

»Er bricht in kein Haus ein, Herr. Darauf gebe ich Ihnen mein heiliges Wort. Aber er wird überhaupt keinen Menschen mehr in dieser Gegend belästigen. Ich versichere Ihnen, Sir Henry, in ganz wenig Tagen werden die nötigen Vorkehrungen getroffen und mein Schwager wird nach Südamerika unterwegs sein. Um Himmels Willen, Herr, ich bitte Sie, teilen Sie der Polizei nicht mit, daß er noch auf dem Moor ist. Sie haben es aufgegeben, ihn dort zu suchen, und wenn er sich ruhig verhält, so kann er es aushalten, bis sein Schiff abgeht. Wenn Sie ihn anzeigen, so bringen Sie damit unbedingt auch meine Frau und mich in Ungelegenheiten. Ich bitte Sie, Herr, sagen Sie der Polizei nichts davon!«

»Was meinen Sie dazu, Watson?«

Ich zuckte die Achseln und erwiderte:

»Wenn er außer Landes wäre, so wäre der Steuerzahler eine Last los.«

»Aber wenn er nun noch jemanden überfällt, ehe er abreist?«

»So eine Wahnsinnstat wird er nicht begehen, Herr. Wir haben ihn mit allem versorgt, was er nur braucht. Wenn er ein Verbrechen beginge, so würde dadurch ja bekannt werden, daß er sich hier im Moor versteckt.«

»Da haben Sie recht,« sagte Sir Henry. »Nun, Barrymore ...«

»O, Gott segne Sie, Herr! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Es wäre meiner armen Frau Tod gewesen, hätte man ihren Bruder wieder ergriffen.«

»Ich glaube, Watson, wir machen uns da einer Begünstigung schuldig. Aber nach dem, was ich gehört habe, glaube ich, ich könnte es nicht übers Herz bringen, den Mann anzuzeigen, – und damit basta! – Es ist gut, Barrymore, Sie können gehen.«

Der Mann stammelte noch einige Worte des Dankes und ging. Plötzlich aber blieb er zögernd stehen, kam zurück und sagte:

»Sie sind so freundlich gegen uns gewesen, Herr, daß ich es gern vergelten möchte, so gut ich's nur kann. Ich weiß etwas, Sir Henry, und hätte es vielleicht früher sagen sollen, aber als ich Kenntnis davon erhielt, war seit Sir Charles' Leichenschau schon lange Zeit verstrichen. Ich habe bis jetzt zu keiner Menschenseele ein Wort davon verlauten lassen. Es betrifft den Tod meines armen früheren Herrn.«

Der Baronet und ich sprangen beide gleichzeitig von unseren Stühlen auf und riefen:

»Wissen Sie, wie er ums Leben kam?«

»Nein, Herr, davon weiß ich nichts.«

»Was wissen Sie denn?«

»Ich weiß, warum er um jene Stunde an der Pforte war. Er hatte eine Verabredung mit einer Frau.«

»Mit einer Frau? Was?«

»Ja.«

»Und wie hieß sie?«

»Den Namen kann ich Ihnen nicht angeben, wohl aber seine Anfangsbuchstaben. Diese sind L. L.«

»Woher wissen Sie das, Barrymore?«

»Sehen Sie, Sir Henry, Ihr Onkel bekam an jenem Morgen einen Brief. Für gewöhnlich bekam er sehr viele Briefe, denn er war eine hervorragende Persönlichkeit hier in der Gegend, und seine Gutherzigkeit war allgemein bekannt; deshalb wandte sich jeder, der in Verlegenheit war, mit Vorliebe an Sir Charles. Aber an jenem Morgen war nur der einzige Brief angekommen; deshalb fiel er mir umsomehr auf. Der Brief war in Coombe Tracey aufgegeben und die Adresse von einer Frauenhand geschrieben.«

»Weiter?«

»Nun, Herr, ich dachte nicht mehr daran und würde überhaupt nicht mehr daran gedacht haben. Vor ein paar Wochen jedoch räumte meine Frau Sir Charles' Arbeitszimmer auf – es war seit seinem Tod nichts darin angerührt worden –, und da fand sie hinten am Kaminrost die Asche von einem verbrannten Brief. Sein größerer Teil war in kleine Stückchen zerfallen, aber ein kleiner Streifen vom unteren Ende einer Seite hing noch zusammen, und die Schriftzüge waren zu lesen, weil sie sich grau von dem schwarzen Grunde abhoben. Wir hielten es für eine Nachschrift zu dem Brief, und die Worte lauteten folgendermaßen: ›Bitte, bitte! Da Sie ein Gentleman sind, so verbrennen Sie diesen Brief und seien Sie um zehn an der Pforte!‹ Unterzeichnet war dieser Satz mit den Buchstaben L. L.«

»Haben Sie den Streifen aufbewahrt?«

»Nein, Herr, er zerfiel uns unter den Händen zu Asche.«

»Hatte Sir Charles schon früher Briefe mit derselben Handschrift erhalten?«

»Ich sah mir sonst seine Briefe nicht an und achtete nicht besonders darauf. Ich hätte auch auf diesen Brief nicht geachtet, wenn er nicht allein gekommen wäre.«

»Und Sie haben keine Ahnung, wer L. L. ist?«

»Nein, Herr – so wenig wie Sie selber. Aber ich nehme an, wenn wir die Dame ausfindig machen könnten, so würden wir mehr über Sir Charles' Ende erfahren.«

»Ich begreife nicht, Barrymore, wie Sie dazu kamen, einen so wichtigen Umstand zu verheimlichen.«

»Nun, Sir Henry, wir fanden den Brief gerade in jenen Tagen, als wir selber durch meinen Schwager in eine so fatale Verlegenheit versetzt wurden. Und dann, Herr – wir hatten alle beide Sir Charles sehr lieb gehabt – wie es ja nach allem, was er für uns getan hat, gar nicht anders sein konnte. Wenn wir die Geschichte wieder aufrührten, so konnte das unserem armen alten Herrn nichts nützen – und wenn irgendwo eine Dame im Spiel ist, so ist es besser, vorsichtig zu sein. Auch der beste Mensch ...«

»Sie meinten, es könnte seinem guten Ruf schaden?«

»Nun, jedenfalls dachte ich, es könnte nichts Gutes daraus entstehen. Aber jetzt sind Sie so gut zu uns gewesen, und ich fühle, es wäre nicht recht von mir, Ihnen nicht alles gesagt zu haben, was ich von der Geschichte weiß.«

»Sehr gut, Barrymore! Sie können gehen.«

Nachdem der Mann hinausgegangen war, wandte Sir Henry sich zu mir und sagte:

»Nun, Watson, was meinen Sie zu diesem neuen Licht, das auf meines Onkels Ende fällt?«

»Mir scheint, die Dunkelheit ist nur noch tiefer geworden, als sie schon war.«

»Das ist auch meine Meinung. Aber wenn wir nur L. L. aufspüren könnten, so würde sich die ganze Sache aufklären. Was sollen wir nach Ihrer Meinung tun?«

»Vor allem sofort Holmes in Kenntnis setzen. Für ihn wird dies der Anhaltspunkt sein, nach dem er so lange gesucht hat.«

Ich begab mich sogleich auf mein Zimmer, um für Holmes einen Bericht über das Gespräch dieses Morgens niederzuschreiben. Augenscheinlich mußte er in der letzten Zeit mit Arbeit überhäuft gewesen sein, denn ich hatte aus der Bakerstraße nur ein paar ganz kurze Notizen erhalten, worin von meinen Berichten überhaupt nicht die Rede war; sogar die Aufgabe, die ich auf Baskerville Hall zu erfüllen hatte, war nur ganz obenhin erwähnt. Ohne Zweifel nimmt die Untersuchung wegen der Erpressung alle seine Geisteskräfte in Anspruch.

Aber der heute neu hinzugekommene Umstand muß ganz gewiß seine Aufmerksamkeit fesseln und seine Teilnahme neu beleben. Ich wollte, er wäre hier ...

Den 17. Oktober . – Heute strömte den ganzen Tag der Regen hernieder, raschelte im Epheu des alten Hauses und troff aus den Dachrinnen. Ich dachte an den entsprungenen Sträfling, der obdachlos draußen auf dem öden kalten Moor umherirrt. Der arme Kerl! Wie furchtbar auch seine Verbrechen gewesen sind, er hat gelitten und dadurch wenigstens teilweise gesühnt. Und dann dachte ich an den anderen – den Mann, dessen Gesicht wir in der Droschke sahen, dessen Gestalt sich im Moor gegen die Mondscheibe abhob. War er ebenfalls draußen in der Regenflut – der unsichtbare Späher, der Mann der Finsternis?

Als es Abend wurde, zog ich meinen Regenmantel an und wanderte voll düsterer Gedanken weit hinaus in die regendurchweichte Heide, und ließ mir den kalten Regen ins Gesicht schlagen und den Wind um die Ohren pfeifen. Gott sei bei denen, die jetzt in den großen Morast hineingeraten, denn selbst das feste Land ist beinahe schon ein Sumpf. Ich fand die schwarze Felsspitze, auf deren Höhe ich den einsamen nächtlichen Gesellen gesehen hatte; ich erklomm die schroffe Zacke, und blickte von der Höhe aus über die traurig düstere Hügellandschaft hin. Überall nichts als das öde Land, schwere Regengüsse, die die Flanken der Hügel peitschten, und langsam ziehende schiefergraue Wolken. Fern zur Linken ragten, halb verborgen durch den Nebel, die beiden schlanken Türme von Baskerville über den Bäumen auf. Sie waren die einzigen Anzeichen menschlichen Lebens, die ich erblicken konnte; die einzigen Behausungen weit und breit waren die plumpen prähistorischen Steinhütten auf den Abhängen der Hügel. Nirgends eine Spur von dem einsamen Mann, den ich in der vergangenen Nacht an derselben Stelle sah.

Auf dem Rückweg überholte mich Dr. Mortimer in seinem Wägelchen. Er kam auf holperigem Heideweg von dem einsam liegenden Pachthof Foulmire her. Er hat sich uns gegenüber sehr aufmerksam benommen, und es ist kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht auf Baskerville Hall vorgesprochen und sich nach dem Fortgang unserer Nachforschungen erkundigt hätte. Er bat mich dringend, in seinen Wagen zu steigen, da er mich durchaus nach Hause bringen wollte. Ich fand ihn verstimmt und zerstreut, und die Zerstreutheit rührte von dem Verschwinden seines Hündchens her, das aufs Moor hinausgelaufen und nicht wieder zurückgekommen war. Ich suchte ihn möglichst zu trösten, konnte mich aber innerlich des Gedankens an das Pferd, das ich im Grimpener Sumpf verschwinden sah, nicht erwehren, und ich glaube nicht, daß er seinen kleinen Freund jemals wiedersehen wird.

»Ach, sagen Sie doch mal, Mortimer,« fragte ich, als wir den schlechten Weg entlang rumpelten, »es gibt wohl wenig Leute hier in der Gegend, die Sie nicht kennen?«

»Wohl kaum einen einzigen Menschen.«

»Können Sie mir dann vielleicht den Namen einer weiblichen Person sagen, deren Initialen L. L. sind?«

Er dachte ein paar Minuten nach und antwortete:

»Nein. Es gibt hier ein paar Zigeuner und einige Leute aus dem Arbeiterstand, über die ich nicht genau Bescheid weiß, aber unter dem Landvolk oder den Gebildeten gibt es keine, deren Namen mit diesen Buchstaben anfängt ... Doch halt! Warten Sie mal!« fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Da ist Laura Lyons – das stimmt mit den Buchstaben L. L. – sie wohnt jedoch in Coombe Tracey.«

»Wer ist das?« fragte ich.

»Herrn Franklands Tochter.«

»Was? Vom alten Frankland, dem Rechtsverdreher?«

»Ganz recht. Sie heiratete einen Maler Namens Lyons, der hierher aufs Moor kam, um Skizzen zu machen. Nachher stellte sich heraus, daß er ein Lump war, und er verließ sie. Nach allem, was ich gehört habe, mag indessen die Schuld nicht ausschließlich auf seiner Seite gelegen haben. Ihr Vater weigerte sich auch nur das Geringste zu tun; sie hatte nämlich gegen seinen Willen geheiratet, und vielleicht hatte er auch sonst noch einige Gründe. Sie hat sowohl mit dem alten Sünder als auch mit dem jungen einen ziemlich schweren Stand gehabt.«

»Wovon lebt sie?«

»Ich glaube, der alte Frankland hat ihr eine Kleinigkeit ausgesetzt; viel kann das jedenfalls nicht sein, denn seine eigenen Verhältnisse sind ziemlich prekär. Mag sie auch an ihrem Unglück selber schuld sein, jedenfalls konnten wir nicht ruhig mitansehen, daß sie unter die Räder kam. Man beschäftigte sich mit ihrer Lage, und verschiedene von den Leuten hier in der Gegend sprangen ihr bei, um ihr eine anständige Erwerbsmöglichkeit zu schaffen. Stapleton tat etwas und Sir Charles ebenfalls; ich steuerte auch eine Kleinigkeit bei. Sie schaffte sich eine Schreibmaschine an und lebt nun von Schreibarbeiten.«

Er wollte wissen, warum ich frage, doch gelang es mir, seine Neugier zu befriedigen, ohne ihm allzuviel zu sagen, denn wir haben durchaus keinen Anlaß, jedermann ins Vertrauen zu ziehen. Morgen früh werde ich mich nach Coombe Tracey aufmachen, und wenn es mir gelingt, diese Frau Laura Lyons von etwas zweifelhaftem Ruf zu sprechen, so bringt uns dies der Aufklärung von einem der vielen geheimnisvollen Ereignisse um ein gutes Stück näher. Ich kann von mir sagen, daß ich heute klug wie eine Schlange gewesen bin, denn als Dr. Mortimer mit seinen Fragen ein bißchen gar zu unbequem wurde, fragte ich ihn so ganz nebenbei, zu welchem Typus eigentlich Franklands Schädel gehöre. Die Folge davon war, daß ich während des ganzen Restes unserer Fahrt nichts als Schädellehre zu hören bekam. Ja, ich habe nicht umsonst jahrelang mit Sherlock Holmes zusammen gelebt.

Von dem heutigen trüben Regentag habe ich nur noch einen einzigen Vorfall zu verzeichnen. Ich hatte nämlich gerade eine Unterhaltung mit Barrymore und bekam dabei eine Trumpfkarte in die Hand, die sich gewiß als wertvoll erweisen wird, wenn der rechte Zeitpunkt da ist.

Mortimer blieb bei uns zu Tisch, und nach dem Essen spielten der Baronet und er Ecarts. Ich ging ins Bibliothekzimmer und ließ mir von Barrymore meinen Kaffee dorthin bringen. Da die Gelegenheit günstig war, so nutzte ich sie, ein paar Fragen an ihn zu richten.

»Na?« sagte ich. »Ist denn nun der ehrenwerte Schwager fort oder haust er noch auf dem Moor?«

»Ich weiß es nicht, Herr. Ich hoffe zu Gott, daß er fort ist, denn er hat uns nichts als Schwierigkeiten bereitet. Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seitdem ich ihm das letztemal zu essen brachte, und das war vor drei Tagen.«

»Sahen Sie ihn denn damals?«

»Nein; aber das Essen war verschwunden, als ich das nächste Mal zu jener Stelle ging.«

»Dann muß er also ganz bestimmt dagewesen sein?«

»Man sollte das annehmen; indessen wäre es auch möglich, daß der andere es genommen hat.«

Ich wollte gerade die Kaffeetasse an meine Lippen führen, hielt aber auf halbem Wege inne und starrte Barrymore an.

»Der andere? Sie wissen also, daß noch ein anderer Mann dort ist?«

»Ja, Herr; es ist noch einer auf dem Moor.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie denn etwas von ihm?«

»Selden erzählte mir von ihm; es mag etwa eine Woche her sein, vielleicht auch etwas länger. Er hält sich ebenfalls versteckt, ist aber kein entsprungener Sträfling, nach allem, was ich erfahren konnte. Es gefällt mir nicht, Herr Doktor – ich muß Ihnen aufrichtig sagen, die Sache gefällt mir ganz und gar nicht.«

Es lag plötzlich ein seltsam eindringlicher Ernst in dem Ton, mit dem Barrymore sprach.

»Nun, Barrymore, hören Sie mal, was ich Ihnen sage. Ich verfolge bei dieser ganzen Angelegenheit kein Interesse als das Ihres Herrn. Ich bin nur zu dem Zweck hierhergekommen, ihm beizustehen. Sagen Sie mir also frei und offen: Was ist an dieser Sache, das Ihnen nicht gefällt?«

Barrymore zögerte einen Augenblick, als bedauere er, daß er sich zu einem Gefühlsausbruch hatte hinreißen lassen, oder als wisse er nicht die rechten Worte zu finden. Endlich aber rief er, indem er mit der Hand zu dem aufs Moor hinausgehenden Fenster deutete, gegen dessen Scheiben der Regen peitschte:

»Es sind all diese Vorgänge, Herr. Irgendwo ist ein Verbrechen im Spiel, und es wird irgendein fürchterlicher Schurkenstreich ausgebrütet, darauf will ich schwören! Ich wäre wirklich von Herzen froh, wenn ich Sir Henry erst wieder auf der Rückreise nach London wüßte.«

»Aber was ist es denn, das Sie beunruhigt?«

»Nehmen Sie nur Sir Charles' Tod. Die Umstände waren ja schlimm genug, nach allem, was der Vorsitzende bei der Leichenschau sagte. Dann die Töne nachts auf dem Moor. Kein Mensch hier in der Gegend würde wagen, nach Sonnenuntergang übers Moor zu gehen, und wenn er noch so viel dafür bezahlt bekäme. Dann dieser Fremde, der sich da draußen versteckt hält und überall herumschleicht und herumschnüffelt. Was sucht er? Was bedeutet das alles? Sicherlich nichts Gutes für jeden, der den Namen Baskerville trägt – und ich will mich aufrichtig freuen, wenn Sir Henrys neue Dienerschaft hier in Baskerville Hall einzieht und ich nichts mehr damit zu tun habe.«

»Aber was ist's denn mit diesem Fremden?« fragte ich. »Können Sie mir irgend etwas über ihn sagen? Was sagte Selden Ihnen? Hatte er das Versteck des Mannes herausbekommen, oder wußte er, welche Zwecke dieser verfolgte?«

»Er sah ihn ein- oder zweimal – aber er ist ein verschlossener Charakter und durchaus nicht mitteilsam. Zuerst dachte er, es wäre einer von der Polizei, doch merkte er bald, daß jener seine eigenen Absichten verfolgt. Worin die aber bestehen, das konnte er nicht entdecken, nur meinte er, es wäre wohl ein feiner Herr.«

»Und wo haust der Mann nach Seldens Meinung?«

»In den alten Häusern am Hügel – in einer von den Steinhütten aus der Vorzeit.«

»Aber wie verschafft er sich sein Essen?«

»Selden bemerkte, daß er einen Jungen hat, der ihm alles besorgt und ihn mit dem Notwendigsten versieht. Höchstwahrscheinlich holt er es aus Toombe Tracey.«

»Schön, Barrymore. Wir werden gelegentlich wieder darüber sprechen.«

Als der Diener gegangen war, trat ich an das schwarze Fenster und schaute durch die vom Regenwasser trüben Scheiben zu den ziehenden Wolken und den Baumwipfeln, die sich vor dem Sturmwind bogen. Eine unbehagliche Nacht hier drinnen – und wie muß sie erst draußen sein, auf dem Moor in einer Steinhütte! Welch ein leidenschaftlicher Haß muß den Mann beseelen, der sich in dieser Jahreszeit in solchen Verstecken verbirgt. Und welchen Zweck muß einer verfolgen, der sich solchen Strapazen unterzieht? Jedenfalls einen ernsten und wichtigen. Dort, in der Steinhütte auf dem Moor, liegt das wahre Zentrum des Problems, das mich so fürchterlich gemartert hat. Und ich schwöre, es soll kein Tag mehr vergehen, und ich werde alles tun, was in Menschenkräften steht, um dem Geheimnis auf den Grund zu kommen.


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