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Zu meinen besten Kameraden während der Schulzeit gehörte ein Knabe Namens Percy Phelps; wir standen im gleichen Alter, doch war er mir um zwei Klassen voraus. Wegen seiner großen Begabung fielen ihm alljährlich die Preise zu, welche die Schule zu vergeben hatte, und noch beim Abgang verschaffte ihm sein vorzügliches Examen ein Stipendium, in dessen Besitz er seine Studien auf der Universität Cambridge mit Glanz fortsetzen konnte.
Ich erinnere mich, daß er vornehme Verwandte hatte; sein Oheim mütterlicherseits war Lord Holdhurst, der berühmte Abgeordnete der konservativen Partei. Das wußten wir schon als ganz kleine Knaben, doch brachte es Phelps in der Schule keinerlei Vorteil; es war für uns nur ein Grund mehr, ihn tüchtig auf dem Spielplatz herumzuhetzen oder ihm, wenn sich die Gelegenheit bot, den großen Ball ans Schienbein zu werfen.
Bei seinem Eintritt in die Welt wurde das natürlich anders. Ich hörte noch gerüchtweise, er habe auf Verwendung einflußreicher Personen eine gute Anstellung im Auswärtigen Amt erhalten, für die ihn seine Begabung befähigte; dann verlor ich ihn jahrelang ganz aus dem Gesicht, bis er sich mir eines Morgens durch den folgenden Brief wieder ins Gedächtnis zurückrief:
Brierbrae, Woking.
Mein lieber Watson!
Ohne Zweifel erinnerst Du Dich noch von der Schulzeit her an Phelps, genannt ›Kaulquappe‹, der in der fünften Klasse war, als Du die dritte besuchtest. Möglicherweise hast Du auch erfahren, daß mir mein Onkel eine Stelle im Auswärtigen Amte verschafft hat. Diesen ehrenvollen Vertrauensposten habe ich seither bekleidet, aber ein entsetzliches Mißgeschick hat mit einem Schlage meine ganze Zukunft vernichtet.
Es würde zu weit führen, wollte ich Dir mein Unglück schriftlich auseinandersetzen; falls Du auf meine Bitte eingehst, wirst Du ohnehin alle Einzelheiten aus meinem Munde hören müssen. Ich bin eben erst von einem Nervenfieber genesen, das mich neun Wochen lang ans Bett gefesselt hat, und ich fühle mich noch recht schwach. Könntest Du mich wohl besuchen und Deinen Freund Holmes veranlassen Dich zu begleiten? Ich möchte gerne seine Ansicht über den Fall hören, trotz der Versicherung der Polizei, daß sich nichts mehr thun läßt. Bitte, bringe ihn so bald wie möglich hierher; jede Minute wird mir zur Ewigkeit, solange ich noch in dieser entsetzlichen Spannung lebe. Sage ihm, daß es nicht ein Beweis von mangelndem Vertrauen ist, wenn ich ihn erst jetzt um Rat frage; ich war seit jenem Schicksalsschlag wie von Sinnen. Jetzt bin ich zwar wieder zu mir selbst gekommen, doch wage ich kaum an die Geschichte zu denken, weil ich einen Rückfall fürchte. Noch fühle ich mich nicht einmal stark genug, um selber zu schreiben, und muß diese Zeilen diktieren.
Nicht wahr, Du kommst zu Deinem Freunde,
zu Deinem alten Schulkameraden
Percy Phelps.
Es lag etwas so Hilfloses und Rührendes in der Art, wie er mich wiederholt anflehte, Holmes zu ihm zu bringen, daß ich nichts unversucht gelassen hätte, um seinen Wunsch zu erfüllen. Doch kannte ich Holmes gut genug, um zu wissen, daß er jedem Klienten seine Dienste aufs bereitwilligste zur Verfügung stellte, wenn es galt, seine Kunst auszuüben. So beschloß ich denn, ihn ohne Zögern aufzusuchen, und betrat schon eine Stunde nach dem Frühstück meine frühere Wohnung in der Bakerstraße.
Sherlock Holmes saß im Schlafrock an einem Seitentisch und war eifrig mit einer chemischen Analyse beschäftigt. Ueber der bläulichen Flamme des Bunsenbrenners siedete und brodelte in der Retorte eine Flüssigkeit, deren destillierte Tropfen sich in einem Zweilitermaße sammelten. Als ich eintrat, hob mein Freund kaum den Blick; das Experiment, welches er vorhatte, mochte wohl sehr wichtig sein. Ich setzte mich in einen Lehnstuhl und wartete, während er seine Pipette bald in diese, bald in jene Flasche eintauchte. Endlich trat er mit der fertigen Lösung im Reagensglas vor mich hin, in der Rechten einen Streifen Lackmuspapier haltend.
»Du kommst gerade in einem kritischen Moment, Watson,« sagte er. »Behält dies Papier seine blaue Farbe, so ist alles gut; wird es rot, so kostet es ein Menschenleben.« Er tauchte es in das Glas, und sofort nahm es eine schmutzige feuerrote Färbung an. »Hm, ich dachte es mir wohl,« sagte er. »In einem Augenblick stehe ich dir zu Diensten, Watson. Nimm dir Tabak aus dem persischen Pantoffel.« Er setzte sich an das Pult, schrieb mehrere Depeschen und übergab sie seinem kleinen Diener. Dann warf er sich in den Stuhl, der mir gegenüber stand, schlug seine langen, dünnen Beine übereinander und faltete die Hände über dem Knie.
»Ein sehr alltäglicher kleiner Mord,« sagte er. »Vermutlich bringst du mir etwas Besseres. Du bist der Sturmvogel, der ein Verbrechen ankündigt, Watson. Was giebt's denn?«
Ich reichte ihm den Brief, den er mit großer Aufmerksamkeit durchlas. »Sehr viel läßt sich nicht daraus entnehmen, wie mir scheint,« sagte er.
»So gut wie nichts.«
»Doch interessiert mich die Handschrift.«
»Es ist nicht seine eigene.«
»Eben darum. Eine Frau hat den Brief geschrieben.«
»Bewahre, es ist eine Männerhand,« rief ich.
»Nein, die Schrift einer Frau von seltener Charakterstärke. Es ist beim Beginn einer Untersuchung von Wichtigkeit zu wissen, daß der betreffende Klient in naher Beziehung zu einer Person steht, welche hervorragende Gaben besitzt, im guten oder bösen Sinne. Ich fange schon an, mich für den Fall zu interessieren. Wenn du nichts anderes vorhast, wollen wir gleich nach Woking fahren, um den Herrn Diplomaten aufzusuchen, der in solcher Klemme steckt, und uns die Dame anzusehen, der er seine Briefe diktiert.«
Wir hatten gerade noch Zeit, den Vormittagszug auf der Waterloo-Station zu erreichen; eine etwa einstündige Fahrt brachte uns nach den Fichtenwäldern und dem Heideland von Woking. Brierbrae erwies sich als der Name eines Hauses, das inmitten weitläufiger Anlagen in geringer Entfernung vom Bahnhof dalag. Als wir unsere Karten abgegeben hatten, wurden wir in ein vornehm ausgestattetes Empfangszimmer geführt, wo uns schon nach kürzester Frist ein etwas wohlbeleibter Mann aufs gastfreundlichste begrüßte. Er mochte eher vierzig als dreißig Jahre alt sein, aber seine roten Pausbacken und munteren Augen gaben ihm das Aussehen eines dicken, durchtriebenen Jungen.
»Wie froh bin ich, daß Sie da sind,« sagte er, uns die Hände schüttelnd. »Percy hat den ganzen Morgen über nur immer nach Ihnen gefragt. Der Aermste klammert sich an jeden Strohhalm. Ich soll Sie auch im Namen seiner Eltern willkommen heißen; schon die bloße Erwähnung der Angelegenheit ist ihnen äußerst peinlich.«
»Wir haben noch gar nichts Näheres darüber gehört,« versetzte Holmes. »Sie selbst sind offenbar kein Mitglied der Familie.«
Der Herr sah überrascht auf, dann erwiderte er lachend:
»Sie werden wohl das J. H. auf meinem Siegelring bemerkt haben. Ich wollte schon über Ihren Scharfsinn staunen. Mein Name ist Josef Harrison, und da Percy mit meiner Schwester Anna verlobt ist, zähle ich bald wenigstens zu den angeheirateten Verwandten. Sie werden meine Schwester bei ihm im Zimmer finden; sie pflegt ihn seit zwei Monaten ohne Rast und Ruhe. Gehen Sie lieber gleich zu ihm, ich weiß, mit welcher Ungeduld er auf Sie wartet.«
Das Gemach, in das man uns wies, lag im nämlichen Stockwerk und diente zugleich als Wohn- und Schlafzimmer; zierlich geordnete Blumen, die auf Gesimsen und hier und da in den Ecken standen, gaben ihm ein freundliches Aussehen. Auf einem Sofa am offenen Fenster, durch das die laue Sommerluft und die Wohlgerüche des Gartens hereinströmten, lag ein junger Mann mit bleichen, eingefallenen Wangen. Ein Mädchen, das neben ihm saß, stand auf, als wir eintraten.
»Soll ich fortgehen, Percy?« fragte sie.
Er hielt ihre Hand fest, so daß sie bleiben mußte, und begrüßte mich herzlich. »Wie geht's dir, Watson?« fragte er. »Du hast dich sehr verändert, das macht der Bart. Mich hattest du wohl auch kaum wiedererkannt. Der Herr ist vermutlich dein berühmter Freund Sherlock Holmes?«
Ich stellte ihn mit kurzen Worten vor, und wir setzten uns beide. Der dicke junge Mann hatte sich entfernt, aber seine Schwester nahm neben dem Kranken Platz, der ihre Hand nicht losließ. Sie war eine ungewöhnliche Erscheinung mit den großen, dunkeln, italienischen Augen, der schönen Olivenfarbe des Gesichts und der reichen Fülle tiefschwarzen Haares, nur die Gestalt war etwas zu kurz und gedrungen. Ihre blühenden Farben machten die Blässe und Magerkeit des armen Phelps nur noch auffallender.
»Um so wenig wie möglich von Ihrer Zeit in Anspruch zu nehmen, will ich Ihnen die Sache ohne alle Umschweife vortragen,« sagte er, sich auf dem Sofa in die Höhe richtend. »Ich war ein lebensfroher, vom Glück begünstigter Mann und stand im Begriff, mich zu verheiraten, als ein unerwartetes furchtbares Mißgeschick plötzlich meine ganze Zukunft zerstörte.
»Watson hat Ihnen vielleicht mitgeteilt, daß ich eine Stelle im Auswärtigen Amt bekleidete. Durch Lord Holdhursts, meines Onkels, Einfluß war ich rasch auf einen verantwortlichen Posten gestellt worden. Als mein Onkel Minister des Aeußeren wurde, gab er mir verschiedene wichtige Aufträge, die ich stets so glücklich zum Abschluß brachte, daß er zuletzt ein unbegrenztes Vertrauen in meine Umsicht und Leistungsfähigkeit setzte.
»Vor etwa zehn Wochen – oder um ganz genau zu sein, am 23. Mai – rief er mich in sein Privatzimmer, lobte mich wegen der guten Dienste, die ich ihm bisher geleistet, und teilte mir mit, daß er mir wieder die Ausführung eines wichtigen Geschäfts anvertrauen wolle.
»›Dies hier,‹ sagte er und nahm eine graue Papierrolle aus seinem Schreibtisch, ›ist das Original eines geheimen Vertrages zwischen England und Italien. Zu meinem größten Bedauern sind schon Gerüchte über den Inhalt desselben durch die Presse an die Öffentlichkeit gedrungen, und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, daß nichts Näheres bekannt wird. Die französische und russische Gesandtschaft würden gern große Summen bezahlen, um sich einen Einblick in diese Schrift zu verschaffen. Am liebsten behielte ich die Papiere ganz bei mir im Schreibtisch, wäre es nicht unumgänglich nötig, eine Kopie davon anfertigen zu lassen. Du hast doch ein Pult mit gutem Verschluß in deinem Bureau?‹
»›Jawohl.‹
»›Dann nimm den Vertrag und schließe ihn sorgfältig ein. Ich werde es einzurichten wissen, daß du nach Schluß der Geschäftsstunden allein zurückbleiben und die Abschrift ungestört machen kannst, ohne zu fürchten, daß man dich dabei beobachtet. Wenn du fertig bist, schließe Original und Kopie wieder in das Pult und händige mir beides morgen früh persönlich ein.‹
»Ich nahm die Papiere –«
»Bitte, einen Augenblick,« unterbrach ihn Holmes, »waren Sie beide allein während dieser Unterredung?«
»In einem großen Raum?«
»Das Zimmer mag etwa dreißig Fuß lang sein und ebenso breit.«
»Sie standen in der Mitte?«
»Ja, ungefähr.«
»Und sprachen nicht laut?«
»Mein Onkel spricht gewöhnlich mit sehr leiser Stimme, und ich habe fast nichts gesagt.«
»Danke sehr,« versetzte Holmes und schloß die Augen. »Bitte, fahren Sie fort.«
»Ich that alles, wie er es mir vorgeschrieben hatte, und wartete, bis die andern Angestellten sich entfernten. Einer von ihnen, Charles Gorot, der mit mir im selben Zimmer arbeitete, hatte noch einige Rückstände zu erledigen; ich ließ ihn da und ging zum Essen. Als ich zurückkam, war er fort. Nun machte ich mich gleich ans Werk, denn ich wünschte so schnell wie möglich mit der Arbeit fertig zu werden. Josef Harrison, den Sie hier gesehen haben, war in der Stadt; ich wußte, daß er mit dem Elfuhr-Zug nach Woking fahren wollte, und hätte ihn gern begleitet.
»Als ich den Vertrag in Augenschein nahm, erkannte ich sofort, daß mein Onkel die Wichtigkeit des Dokuments keineswegs übertrieben hatte. Ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, will ich nur erwähnen, daß darin die Stellung Großbritanniens zum Dreibund klar gelegt und auseinander gesetzt war, welchen politischen Standpunkt England einnehmen würde, falls die französische Flotte im Mittelländischen Meer ein vollkommenes Uebergewicht über die italienische Seemacht erringen sollte. Es handelte sich überhaupt ausschließlich um Fragen, welche die Marine betrafen. Rasch überflog ich noch die Namen der hohen Würdenträger, die den Vertrag unterzeichnet hatten, und machte mich dann an die Abschrift.
»Das umfangreiche Dokument enthielt sechsundzwanzig Artikel und war in französischer Sprache abgefaßt. Ich schrieb, so schnell ich konnte, doch hatte ich, als es neun Uhr schlug, nicht mehr als neun Artikel fertig; daß ich den Zug noch erreichen würde, schien aussichtslos. Von dem Abendessen war ich schläfrig geworden, auch hatte ich nach der langen Tagesarbeit ein dumpfes Gefühl im Kopf und glaubte, eine Tasse Kaffee würde mich auffrischen. Am Fuß der Treppe hat der Thürhüter eine kleine Kammer, wo er die Nacht über bleibt; die Beamten, welche Ueberstunden haben, lassen sich häufig von ihm auf seiner Spirituslampe Kaffee kochen. Ich klingelte, damit er heraufkommen sollte.
»Zu meiner Verwunderung erschien statt seiner eine große ältliche Frau mit groben Gesichtszügen. Sie hatte eine Schürze vor und sagte mir, sie sei des Thürhüters Frau und als Putzerin im Hause beschäftigt. So bestellte ich denn meinen Kaffee bei ihr.
»Ich schrieb noch zwei Artikel ab und wurde immer schläfriger, so daß ich, um mich wach zu erhalten, ein paarmal im Zimmer auf- und abging. Warum nur der Kaffee nicht kam? – Ich öffnete die Thür und trat hinaus, um die Ursache der Verzögerung zu ergründen. Aus meinem Arbeitszimmer, das keinen andern Ausgang hat, führte ein gerader, schwach erleuchteter Korridor bis zu einer gewundenen Treppe, welche unten im Hausflur mündete, an dessen Ende man zur Stube des Thürhüters gelangt. Ist man die Treppe zur Hälfte hinuntergegangen, so kommt man an einen Absatz, von dem aus ein zweiter Korridor im rechten Winkel zur Hintertreppe und nach einer Seitenthür führt. Dieser Eingang wird nicht nur von der Dienerschaft benützt, sondern auch von den Angestellten, wenn sie aus der Charlesstraße kommen und ihren Weg abkürzen wollen. Hier ist eine rohe Skizze der ganzen Oertlichkeit.«
»Danke sehr. Ich glaube Ihren Ausführungen gut folgen zu können,« sagte Sherlock Holmes.
»Ich empfehle diesen Punkt Ihrer besonderen Beachtung, er ist von größter Wichtigkeit. – Die Treppe hinuntergehend, kam ich in den Flur und fand den Thürhüter in seiner Kammer fest eingeschlafen. Im Kessel neben ihm kochte das Wasser so stark, daß es bis auf die Diele spritzte. Eben streckte ich die Hand aus, um den Mann aus dem Schlaf zu wecken, als eine Glocke, die über meinem Haupte hing, zu läuten begann, und er erschrocken auffuhr.
»›Ach, Sie sind's, Herr Phelps,‹ sagte er, verwirrt um sich blickend.
»›Ich bin heruntergekommen, um zu sehen, ob mein Kaffee fertig ist.‹
»›Während das Wasser ins Kochen kam, bin ich eingeschlafen.‹ Er sah mich an und blickte dann mit wachsender Verwunderung nach der Glocke hinauf, die noch immer in zitternder Bewegung war.
»›Wer hat denn aber geläutet, wenn Sie hier waren, Herr Phelps?‹
»›Geläutet? – Was für eine Glocke ist das?‹ fragte ich.
»›Die Glocke von Ihrem Bureau.‹
»Mir stand das Herz still. – Also war jemand dort im Zimmer, wo das kostbare Schriftstück auf dem Tische lag. – Wie wahnsinnig stürzte ich die Treppe hinauf und durch den Gang. Kein Mensch war im Korridor, Herr Holmes – kein Mensch war im Bureau. Ich fand alles genau so, wie ich es verlassen – nur die mir anvertrauten Papiere waren von dem Schreibpult verschwunden, auf dem sie gelegen hatten. Die Abschrift war noch da, aber das Original war fort.«
Holmes saß aufrecht in seinem Stuhl und rieb sich die Hände. Dies Rätsel war so recht nach seinem Herzen, das sah ich wohl. »Nun, und was thaten Sie?« murmelte er.
»Ich wußte sofort, daß der Dieb die Hintertreppe heraufgekommen sein müsse. Auf dem Wege vom Haupteingang her wäre ich ihm natürlich begegnet.«
»Sie sind überzeugt, daß er nicht die ganze Zeit über im Zimmer verborgen war oder im Korridor, von dem Sie sagten, er sei nur schwach erleuchtet gewesen?«
»Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Weder das Zimmer noch der Korridor bietet das geringste Versteck.«
»Ich danke Ihnen. Bitte fahren Sie fort.«
»Der Thürhüter hatte meine entsetzte Miene gesehen und kam hinter mir die Treppe hinauf. Wir liefen nun beide durch den Gang und die steile Stiege hinunter, die nach der Charlesstraße führt. Die Thür unten war nicht verschlossen; wir stießen sie auf und eilten hinaus. Im selben Augenblick hörte ich, wie die Uhr vom nahen Kirchturm drei Schläge that. Es war dreiviertel auf zehn.«
»Das ist ein höchst wichtiger Umstand,« sagte Holmes, wahrend er die Zahl auf seiner Manschette notierte.
»Draußen war dunkle Nacht, und es fiel ein feiner, warmer Regen. Auf der Charlesstraße ging kein Mensch, aber wo sie ganz am Ende mit Whitehall zusammenstößt, war wie gewöhnlich ein dichtes Gedränge. Barhäuptig liefen wir die Straße hinunter und trafen an der Ecke einen Polizisten.
»›Ein Diebstahl!‹ stieß ich keuchend heraus. ›Aus dem Ministerium des Aeußeren ist ein Schriftstück von unermeßlichem Wert entwendet worden. – Ist hier irgend jemand vorbeigekommen?‹
»›Ich stehe seit einer Viertelstunde hier,‹ entgegnete er; ›während dieser Zeit ist nur eine Person hier vorübergegangen – ein großes, schon bejahrtes Frauenzimmer mit einem Umschlagetuch.‹
»›Ach, das ist gewiß nur meine Frau gewesen,‹ meinte der Thürhüter, ›sonst haben Sie niemand gesehen?‹
»›Keinen Menschen.‹
»›Dann muß der Dieb nach der andern Seite entkommen sein,‹ rief der Thürhüter, mich am Aermel fassend.
»Doch ich gab mich nicht so leicht zufrieden, und je mehr er versuchte, mich mit sich fortzuziehen, um so argwöhnischer wurde ich.
»›Welche Richtung hat die Frau eingeschlagen?‹ fragte ich.
»›Das weiß ich nicht,‹ antwortete der Polizist. ›Ich sah sie vorbeigehen, hatte aber keinen besonderen Grund, ihr nachzuspüren. Sie schien es sehr eilig zu haben.‹
»›Wie lange ist es her?‹
»›Höchstens ein paar Minuten.‹
»›Wie viele denn – etwa fünf?›
»›Sicherlich nicht mehr.‹
»›Sie verlieren nur unnütz Zeit, Herr Phelps‹ rief der Thürhüter. Meine Alte hat nichts mit der Sache zu thun, verlassen Sie sich darauf. Sie ist nach unserer Wohnung gegangen, wo Sie sie finden werden.‹
»›Wo wohnen Sie?‹ fragte ich.
»›In Brixton, Epheugasse Nr. 16; aber folgen Sie nicht der falschen Fährte, Herr Phelps; Sie verlieren nur unnütz Zeit.‹
»Wir kehrten nun in das Ministerium zurück und durchsuchten die Treppen und Gänge, jedoch ohne Erfolg. Der Korridor, der zu meinem Arbeitszimmer führt, war mit einem hellfarbenen Linoleum belegt, auf dem jeder Tritt zu sehen ist. Obwohl wir es sorgfältig besichtigten, fanden sich keine Fußspuren.«
»Hatte es den ganzen Abend geregnet?«
»Etwa von sieben Uhr an.«
»Wie kam es dann, daß die Frau, die gegen neun Uhr bei Ihnen im Zimmer war, dort keine Spur ihrer schmutzigen Stiefel zurückließ?«
»Es ist mir lieb, daß Sie den Umstand erwähnen; auch mir fiel das damals auf. Die Putzfrauen pflegen in der Stube des Thürhüters die Stiefel zu wechseln und Salbandschuhe anzuziehen.«
»Das erklärt die Sache. Also Sie fanden keinen Abdruck auf dem Fußboden, trotz der Nässe draußen? Der Thatbestand ist wirklich höchst merkwürdig. Bitte, erzählen Sie weiter.«
»Nun untersuchten wir das Zimmer. An eine geheime Thür war nicht zu denken, und die Fenster sind wohl dreißig Fuß hoch über der Straße; beide waren geschlossen und verriegelt. Eine etwaige Fallthür ließe sich schon des Teppichs wegen nicht öffnen, und die Decke ist weißgetüncht. Ich möchte meinen Kopf wetten, daß der Dieb, der das Schriftstück gestohlen hat, nur zur Stubenthür hereingekommen sein kann.«
»Wie steht's mit dem Kamin?«
»Es ist keiner vorhanden, nur ein Ofen ist da. Die Klingelschnur hängt am Draht, rechter Hand von meinem Schreibpult. Wer geläutet hat, muß dicht am Pult gestanden haben. Aber warum sollte ein Dieb die Glocke ziehen? Es ist ein ganz unergründliches Geheimnis.«
»Freilich, der Umstand ist verwunderlich. – Was thaten Sie nun für Schritte? Hatte der Eindringling nichts im Zimmer zurückgelassen – sahen Sie keinen Zigarrenstumpf, keine Haarnadel oder sonst eine Kleinigkeit herumliegen?«
»Nicht das geringste.«
»Sie bemerkten auch keinen Geruch?«
»Darauf haben wir nicht geachtet.«
»Bei solcher Untersuchung wäre es von Wichtigkeit, wenn das Zimmer zum Beispiel nach Tabak gerochen hatte.«
»Ich bin selbst kein Raucher, und ein Tabakgeruch wäre mir gewiß aufgefallen. Wir fanden nicht den geringsten Aufschluß. Die einzig greifbare Thatsache war, daß des Thürhüters Weib – Frau Tangey ist ihr Name – sich eilig davon gemacht hatte. Trotzdem ihr Mann erklärte, seine Frau gehe um diese Zeit gewöhnlich nach Hause, kam ich mit dem Polizisten überein, daß wir suchen müßten, der Frau habhaft zu werden, ehe sie Zeit hätte, sich der Papiere zu entledigen – vorausgesetzt, daß diese überhaupt in ihrem Besitz waren.
»Inzwischen hatte man das Polizeiamt benachrichtigt, und Forbes, der Geheimpolizist, fand sich sofort ein, übernahm den Fall und entwickelte die größte Thatkraft. Wir bestiegen eine Droschke, sagten dem Kutscher die Adresse, und eine halbe Stunde später hielten wir vor Frau Tangeys Wohnung. Ein junges Mädchen, ihre älteste Tochter, wie wir später erfuhren, öffnete uns. Die Mutter war noch nicht zurück, und wir mußten im Wohnzimmer warten.
»Etwa zehn Minuten später klopfte es an der Hausthür, und nun begingen wir einen unverzeihlichen Mißgriff. Statt selbst zu öffnen, überließen wir dies dem Mädchen. ›Mutter,‹ hörten wir sie sagen, ›drinnen sind zwei Männer, die auf dich warten.‹ Sogleich vernahmen wir eilige Fußtritte im Gang; Forbes stieß die Thür auf, und wir stürzten beide nach dem Hinterzimmer, das als Küche diente; aber die Frau war schon vor uns da. Sie sah uns mit herausfordernden Blicken an, plötzlich aber erkannte sie mich, und ihr Gesicht verriet maßloses Erstaunen.
»›Aber, das ist ja Herr Phelps aus dem Bureau,‹ rief sie.
»›Vor wem sind Sie denn so davongelaufen – wer glaubten Sie, daß wir waren?‹ fragte mein Gefährte.
»›Die Gerichtsdiener,‹ sagte sie. ›Wir haben mit einem Händler Streit gehabt.‹
»›Das machen Sie einem andern weiß,‹ versetzte Forbes. ›Wir haben allen Grund zu glauben, daß Sie ein wichtiges, Schriftstück aus dem Bureau mitgenommen haben und es jetzt hier beiseite bringen wollten. Es hilft nichts, Sie müssen mit uns zur Polizei, um sich durchsuchen zu lassen.‹
»All ihr Bitten und Widerstreben war umsonst. Wir besichtigten noch die ganze Küche und besonders den Herd genau, um zu sehen, ob sie den Augenblick, als sie allein war, nicht benutzt hatte, um die Papiere zu verbrennen; aber wir konnten weder Asche noch Papierfetzen entdecken. Dann fuhren wir beide mit ihr in der Droschke nach dem Polizeiamt, wo sie sogleich einer dazu angestellten Frau übergeben wurde. Ich wartete in wahrer Todesangst, bis diese kam, um Bericht zu erstatten. Von den Papieren hatte sich keine Spur gefunden.
»Da überkam mich zum erstenmal das Bewußtsein meiner entsetzlichen Lage mit voller Gewalt. Bisher hatte ich handeln können, und mir war keine Zeit zum Ueberlegen geblieben. Ich hatte fest darauf gerechnet, den Vertrag auf der Stelle wiederzufinden; was aus mir werden sollte, wenn unsere Bemühungen fehlschlugen, daran wagte ich nicht zu denken. Doch jetzt ließ sich nichts mehr thun, und ich hatte Muße, mir meine Lage klar zu machen. Sie war fürchterlich. – Watson kann Ihnen sagen, daß ich schon in der Schule ein nervöser, leicht erregbarer Knabe war; das liegt in meiner Natur. Ich dachte an meinen Onkel und die anderen Minister, an die Schande, die ich ihm, mir und allen meinen Angehörigen bereitet hatte. Freilich war ich das Opfer eines außergewöhnlichen Mißgeschicks; aber wer fragt danach, wo diplomatische Interessen auf dem Spiele stehen? Kein Zweifel – ich war hoffnungslos zu Grunde gerichtet und mit Schmach bedeckt. – Was ich damals that, weiß ich nicht mehr, meine Aufregung war zu groß. Ich erinnere mich noch dunkel, daß die Beamten sich um mich versammelten und mich zu beruhigen suchten. Einer von ihnen fuhr mit mir bis zur Waterloo-Station und brachte mich in den Zug nach Woking. Wahrscheinlich hätte er mich bis hierher begleitet, wäre nicht Doktor Ferrier, der in unserer Nachbarschaft wohnt, zufällig auf der Bahn gewesen. Der Doktor hatte die Güte, mich in seine Obhut zu nehmen, und das war mein Glück, denn kurz nach der Abfahrt verfiel ich in Krämpfe, und bevor wir daheim ankamen, raste ich im Fieberwahn.
»Sie können sich den Schrecken meiner Angehörigen vorstellen, als sie, durch das Klingeln des Doktors aus dem Schlaf geweckt, mich in diesem Zustand sahen. Der armen Annie hier und meiner Mutter brach es fast das Herz. Doktor Ferrier hatte von dem Polizisten auf der Bahn gerade genug erfahren, um einigermaßen erklären zu können, was vorgefallen sei, und sein Bericht war wenig geeignet, die Gemüter zu beruhigen. Jedenfalls war eine lange Krankheit bei mir im Anzuge; Josef mußte daher rasch aus seinem freundlichen Schlafzimmer im Erdgeschoß ausziehen, das in ein Krankenzimmer umgewandelt wurde. Mehr als neun Wochen habe ich hier bewußtlos und in Fieberraserei an einer Gehirnentzündung darniedergelegen. Nur dem Doktor und Fräulein Harrison verdanke ich es, wenn ich noch am Leben bin. Sie hat mich den Tag über gepflegt, und eine gemietete Wärterin wachte des Nachts bei mir; ich war gänzlich unzurechnungsfähig, man konnte mir alles zutrauen. Nur langsam wich meine Geistesumnachtung, und erst in den letzten drei Tagen ist mein Gedächtnis wieder ganz zurückgekehrt. Ach, ich wünsche manchmal, daß ich überhaupt nicht wieder zum Bewußtsein erwacht wäre!
Gleich zuerst telegraphierte ich an Forbes, der den Fall in Händen hat. Er kam und versicherte mir, es sei alles Mögliche geschehen, doch habe man nicht die geringste Spur entdeckt. Der Thürhüter und seine Frau waren wiederholt ins Verhör genommen worden, ohne daß dadurch Licht in das Dunkel kam. Auch der Verdacht der Polizei gegen den jungen Gorot erwies sich als hinfällig. Daß er nach den Geschäftsstunden im Bureau geblieben war und einen französischen Namen trug, hatte den Argwohn auf ihn gelenkt. Doch ist er, obgleich aus einer Hugenottenfamilie stammend, mit Leib und Seele Engländer, auch hatte ich ja die Arbeit erst begonnen, als er fort war. – Auf Ihnen, Herr Holmes, ruht jetzt meine letzte Hoffnung; versagt auch diese, dann habe ich mein Ansehen und meine Stellung in der Welt auf immer verloren.«
Erschöpft von dem langen Bericht, sank der Kranke wieder in die Kissen, und seine Pflegerin beeilte sich, ihm eine Stärkung zu reichen. Holmes saß mit geschlossenen Augen und zurückgelehntem Kopf still da; einem Fremden wäre er vielleicht teilnahmslos erschienen, aber ich erkannte an seiner ganzen Haltung, daß er vollständig in den Fall vertieft war.
»Ihre Angaben sind so ausführlich gewesen,« sagte er endlich, »daß ich nur noch wenige Fragen zu stellen habe. Ein Umstand erscheint mir jedoch besonders wichtig: Haben Sie irgend jemand mitgeteilt, daß Ihnen diese geheime Arbeit anvertraut war?«
»Keinem Menschen.«
»Zum Beispiel, auch nicht Fräulein Harrison hier?«
»Nein; nachdem mir der Auftrag erteilt wurde, bin ich bis zu seiner Ausführung nicht in Woking gewesen.«
»Und es hat Sie auch keiner Ihrer Angehörigen zufällig besucht?«
»Niemand.«
»Aber Ihre Verwandten hätten sich in dem Gebäude zurecht finden können?«
»O ja, sie haben es alle gelegentlich besichtigt.«
»Wenn Sie niemand etwas von dem Vertrag gesagt haben, so sind das natürlich ganz müßige Fragen.«
»Ich habe nicht davon gesprochen.«
»Wissen Sie etwas Näheres über den Thürhüter?«
»Nur, daß er ein alter Soldat ist.«
»Von welchem Regiment?«
»Ich glaube, er stand bei der Garde.«
»Gut – darüber kann mir Forbes gewiß noch genauer berichten. Die Polizei versteht sich trefflich darauf, Thatsachen zu ermitteln, nur weiß sie nicht immer Nutzen daraus zu ziehen. – O, was für eine schöne Rose!« Mit diesem Ausrufe ging er an dem Lager des Kranken vorbei und trat ans Fenster, um eine abgeschnittene Moosrose zu betrachten, deren zartes Rot reizend von dem Grün der Blätter abstach. Daß er sich für Blumen interessierte, war mir ganz neu; jedenfalls hatte er mir seine Freude daran noch nie gezeigt.
»Mir scheint, die Deduktion ist nirgends so sehr am Platze,« sagte er, sich an das Fensterkreuz lehnend, »als in der Religion. Diese läßt sich durch Vernunftschlüsse entwickeln, wie eine exakte Wissenschaft. Als unsere sicherste Bürgschaft für die Güte der Vorsehung gelten mir die Blumen. Alles andere – unsere Kräfte, unsere Triebe, unsere Nahrung – ist zum Leben absolut notwendig. Doch diese Rose ist etwas Apartes. Ihr Duft, ihre Farbe, dient nicht zur Erhaltung, sondern zum Schmuck des Daseins. Nun wissen wir aber, daß es nur die Güte ist, welche Extrafreuden gewährt, und deshalb sage ich, daß die Blumen ein verheißungsvolles Unterpfand für uns sind.«
Während Holmes diese Betrachtungen anstellte, malte sich in Percy Phelps' Gesicht und in den Mienen seiner Pflegerin große Verwunderung und Enttäuschung. Er hielt noch immer die Rose in der Hand und schien in Sinnen versunken. Endlich weckte ihn das Fräulein aus seiner Träumerei. »Haben Sie irgend welche Aussicht, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen, Herr Holmes?« fragte sie mit etwas scharfem Ton.
»Ja so – das Geheimnis!« Er war plötzlich wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt. »Es läßt sich keineswegs leugnen, daß der Fall höchst sonderbar und verwickelt ist, doch verspreche ich Ihnen, daß ich die Sache untersuchen und Sie davon in Kenntnis setzen will, wenn ich etwas Wesentliches entdecke.«
»Haben Sie irgend welche Anhaltspunkte gefunden?«
»Sie haben mir deren sieben geliefert, aber ich muß sie natürlich erst prüfen, ehe ich sagen kann, ob sie etwas taugen.«
»Haben Sie Argwohn gegen jemand?«
»Ja, gegen mich selbst –«
»Was! –«
»Ich fürchte vorschnelle Schlüsse zu ziehen.«
»Dann gehen Sie nach London, um Ihre Anhaltspunkte zu prüfen.«
»Ein sehr guter Rat, mein Fräulein,« sagte Holmes und stand auf. »Ich glaube, wir können nichts Besseres thun, Watson. Schmeicheln Sie sich mit keinen falschen Hoffnungen, Herr Phelps; die Angelegenheit ist sehr verwickelt.«
»Ich werde in fieberhafter Unruhe sein, bis ich Sie wiedersehe,« sagte der junge Diplomat seufzend.
»Erwarten Sie mich morgen mit demselben Zuge; ich will kommen, auch wenn ich nur negative Ergebnisse zu melden habe.«
»Gott segne Sie für Ihr Versprechen,« rief unser Klient. »Schon der Gedanke, daß etwas in der Sache geschieht, giebt mir neues Leben. – Was ich noch sagen wollte: Lord Holdhurst hat mir geschrieben!«
»So? Und wie äußerte er sich?«
»Sein Brief ist kühl, aber nicht unfreundlich. Wahrscheinlich hat ihn meine lange Krankheit milde gestimmt. Er wiederholt, daß die Sache von größter Wichtigkeit ist, doch werde man keine Schritte in betreff meiner Zukunft thun – er meint natürlich die Entlassung aus dem Staatsdienst – bis meine Gesundheit wiederhergestellt ist und ich Gelegenheit gehabt habe, die Scharte auszuwetzen.«
»Nun, das nenne ich vernünftig und rücksichtsvoll,« sagte Holmes. »Komm jetzt, Watson, wir haben heute in der Stadt noch viele Arbeit vor uns.«
Josef Harrison fuhr uns selbst auf den Bahnhof, und bald sausten wir mit dem Portsmouth-Zuge davon. Holmes saß ganz in Gedanken vertieft da und öffnete erst den Mund, als wir über Clapham hinaus waren.
»Es wirkt sehr erheiternd, wenn man auf solcher Hochbahn nach London hineinfährt, wie wir jetzt, und auf die Häuser hinabsieht.«
Ich glaubte, er spräche im Scherz, denn die Aussicht war ganz abscheulich, aber er fuhr unbeirrt fort:
»Sieh nur die großen ziegelroten Häuservierecke, die über die Schieferdächer emporragen, wie Inseln aus einer bleifarbenen See.«
»Das sind die Volksschulen.«
»Die wahren Leuchttürme der Zukunft, mein Junge! Es sind Samenkapseln, von denen jede viele Hunderte von kleinen, lebendigen Körnern enthält, aus denen das bessere, weisere England der Zukunft entsprießen wird. – Was meinst du – ob Herr Phelps wohl trinkt?«
»Das glaube ich kaum.«
»Ich auch nicht. Aber man muß eben jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Der arme Teufel ist in eine tiefe Grube gefallen, und ob wir ihn herausholen können, ist sehr fraglich. – Was hältst du von Fräulein Harrison?«
»Sie ist ein sehr starker Charakter.«
»Aber auch gut, wenn mich nicht alles täuscht. Sie und ihr Bruder sind die einzigen Kinder eines Hüttenbesitzers irgendwo oben in Northumberland. Phelps hat sich letzten Winter auf der Reise mit ihr verlobt, und sie ist in Begleitung ihres Bruders auf Besuch hergekommen, um die Verwandten des Bräutigams kennen zu lernen. Als dann der Krach kam, ist sie zur Pflege dageblieben, und Bruder Josef, der sich sehr behaglich fühlte, wollte auch nicht fort. Du siehst, ich habe schon unter der Hand verschiedene Erkundigungen eingezogen. Aber heute müssen wir noch viel zu erfahren suchen.«
»Meine Praxis –« begann ich.
»O, wenn dir deine Fälle mehr am Herzen liegen als meiner –« unterbrach mich Holmes etwas hitzig.
»Ich wollte nur sagen, daß mich meine Praxis einen oder zwei Tage entbehren kann, da es gerade die flauste Zeit im Jahre ist.«
»Vortrefflich,« sagte er mit wiedergewonnener guter Laune. »Dann wollen wir die Sache zusammen ergründen. Ich denke, wir suchen zuerst Forbes auf. Er kann uns wahrscheinlich über alle Einzelheiten unterrichten, die wir brauchen, bis sich herausstellt, von welcher Seite der Geschichte eigentlich beizukommen ist.«
»Hattest du nicht schon einen Anhaltspunkt?«
»Sogar mehrere. Aber erst bei genauerer Erkundigung wird sich finden, was sie wert sind. Zwecklose Verbrechen lassen sich am schwersten aufspüren. Doch dieses ist nicht zwecklos. Wer könnte Nutzen daraus ziehen? – Der französische Gesandte, der russische Gesandte und jeder, der einem von beiden den Vertrag verkauft, ferner Lord Holdhurst.«
»Lord Holdhurst!«
»Unmöglich ist es nicht, daß ein Staatsmann einmal in eine Lage gerät, die es ihm wünschenswert erscheinen läßt, wenn ein solches Schriftstück durch Zufall vernichtet wird.«
»Aber kein Ehrenmann wie Lord Holdhurst.«
»Ich spreche nur von einer Möglichkeit, die wir nicht aus den Augen lassen dürfen. Wir werden den edlen Lord noch heute sehen und erfahren, ob er uns etwas mitzuteilen hat. Inzwischen habe ich schon allerlei Schritte gethan.«
»Schon jetzt?«
»Ja, ich habe auf dem Bahnhof in Woking an die Zeitungsredaktionen in London telegraphiert. Diese Anzeige hier wird in den Abendblättern erscheinen.«
Er reichte mir ein Blatt, das aus einem Notizbuch gerissen war und folgende, mit Bleistift gekritzelte Worte enthielt:
»Zehn Pfund Belohnung – Für Angabe der Nummer derjenigen Droschke, welche einen Fahrgast an der Thür des Ministeriums des Aeußeren in der Charlesstraße oder nicht weit davon um dreiviertel auf zehn Uhr am Abend des 23. Mai abgesetzt hat. Näheres Bakerstraße 221 b.«
»Du glaubst also, daß der Dieb in einer Droschke vorgefahren ist?«
»Ich kann mich irren, doch das schadet nichts. Wenn, wie Phelps versichert, weder im Zimmer noch auf dem Gang ein Versteck ist, so kann der Dieb nur von außen gekommen sein. Kam er aber bei so nassem Wetter von der Straße, ohne auf dem Linoleum, das bald nachher besichtigt wurde, Fußspuren zu hinterlassen, so hat er höchst wahrscheinlich eine Droschke benutzt. Ja, mir scheint, man kann mit Sicherheit auf eine Droschke schließen.«
»Du wirst wohl recht haben.«
»Das ist einer der Punkte, von denen ich sprach; vielleicht erfolgt etwas auf die Anzeige. Ferner die Glocke – sie spielt die bedeutsamste Rolle bei der Sache. Warum ist sie geläutet worden? Hat es der Dieb in frechem Uebermut gethan? Oder war jemand bei ihm, der dadurch das Verbrechen vereiteln wollte? Geschah es aus Zufall? Oder könnte es –?« Er versank wieder ganz in Nachdenken wie zuvor; mir aber, der ich jede seiner Stimmungen so genau kenne, wollte es fast scheinen, als sei ihm plötzlich eine neue Möglichkeit aufgegangen.
Gegen halb vier Uhr erreichten wir die Endstation, speisten rasch im Bahnhofrestaurant und fuhren sofort aufs Polizeiamt. Holmes hatte schon dorthin telegraphiert, und Forbes erwartete uns. Der kleine Mann bereitete uns einen sehr frostigen Empfang, sobald er hörte, was wir von ihm wollten; sein scharfes Fuchsgesicht nahm einen wenig liebenswürdigen Ausdruck an.
»Ich habe schon von Ihrer Methode gehört, Herr Holmes,« sagte er mit spitzem Ton. »Erst lassen Sie sich von der Polizei alle Auskunft geben, über die sie verfügt, und führen dann die Angelegenheit auf eigene Hand weiter, um die Beamten in Mißkredit zu bringen.«
»Im Gegenteil,« versetzte Holmes, »nur in vier Fällen von den letzten dreiundfünfzig, bei denen ich beteiligt war, ist mein Name überhaupt genannt worden; bei den übrigen neunundvierzig Fällen hatte man alles Verdienst der Polizei zugeschrieben. Sie können das nicht wissen, denn Sie sind noch jung und unerfahren; wollen Sie aber vorwärts kommen in Ihrem neuen Beruf, so werden Sie gut thun, gemeinsame Sache mit mir zu machen, anstatt mir entgegen zu handeln.«
»Einige Winke wären mir sehr willkommen,« sagte der Geheimpolizist in verändertem Ton. »Bis jetzt habe ich allerdings keine Lorbeeren bei dem Fall geerntet.«
»Was für Schritte haben Sie gethan?«
»Wir haben den Thürhüter Tangey überwacht. Bei der Garde hat er sich nichts zu Schulden kommen lassen, und es liegt nichts gegen ihn vor. Seine Frau ist aber eine schlechte Person. Vermutlich weiß sie mehr von der Sache, als es den Anschein hat.«
»Ist sie beobachtet worden?«
»Eine Polizistin hat ein Auge auf sie. Frau Tangey ist dem Trunk ergeben, und unsere Angestellte hat ihr zweimal Gesellschaft geleistet, bis ihr der Branntwein die Zunge löste, doch bekam sie nichts aus ihr heraus.«
»Ich hörte, daß der Gerichtsvollzieher bei den Leuten im Hause war.«
»Ja, aber sie haben Zahlung geleistet.«
»Woher kam das Geld?«
»Das ging ganz mit rechten Dingen zu. Er hatte seine Pension zu fordern. Nichts deutet darauf hin, daß sie andere Mittel besitzen.«
»Weshalb ist sie heraufgekommen, als Phelps nach dem Kaffee klingelte? Welchen Grund giebt sie dafür an?«
»Sie sagt, ihr Mann wäre sehr müde gewesen; sie hätte ihm helfen wollen.«
»Das stimmt zu dem Umstand, daß er bald darauf im Stuhl eingeschlafen ist.«
»Es liegt also nichts gegen die Leute vor, außer, daß die Frau in schlechtem Rufe steht.«
»Warum ist sie an jenem Abend in so großer Eile davongegangen, daß es dem Schutzmann aufgefallen ist?«
»Sie hatte sich verspätet und wollte rasch nach Hause kommen.«
»Herr Phelps und Sie sind wenigstens zwanzig Minuten nach ihr fortgefahren, und doch waren Sie vor ihr dort; wie erklärt sie das?«
»Ein Omnibus fährt um so viel langsamer als die Droschke.«
»Weshalb ist sie aber gleich so eilig in die Küche gelaufen?«
»Weil sie dort das Geld für den Gerichtsvollzieher verwahrt hatte.«
»Sie ist wenigstens um keine Antwort verlegen. Haben Sie sie gefragt, ob ihr nicht, als sie das Haus verließ, irgend jemand in der Charlesstraße begegnet ist?«
»Niemand, außer dem Schutzmann.«
»Sie haben ja ein recht gründliches Kreuzverhör mit ihr angestellt. Ist sonst noch etwas seitens der Polizei geschehen?«
»Der Schreiber Gorot ist seit neun Wochen genau beobachtet worden, aber ohne Erfolg. Wir können ihm nichts nachweisen.«
»Ist das alles?«
»Ja – es hat sich kein neuer Anhaltspunkt gefunden – keine Verdachtsgründe irgend welcher Art.«
»Was ist Ihre Ansicht über das Läuten der Glocke?«
»Ich gestehe, das geht über mein Verständnis. Der Thäter muß ein bodenlos frecher Mensch sein, auch noch Lärm zu schlagen.«
»Ja, das ist und bleibt sonderbar. Besten Dank für Ihre Mitteilungen, Herr Forbes. Wenn ich Ihnen den Mann ausliefern kann, sollen Sie von mir hören. – Aber nun vorwärts, Watson!«
»Wohin jetzt?« fragte ich, als wir das Polizeibureau verließen.
»Zu Lord Holdhurst, dem großen Staatsmann und künftigen Premierminister von England.«
Es traf sich günstig, daß der edle Lord noch im Ministerium anwesend war; Holmes gab seine Karte ab, und wir wurden sogleich vorgelassen. Lord Holdhurst empfing uns mit der ihm eigenen altmodischen Verbindlichkeit und bat uns, auf den kostbaren Lehnstühlen Platz zu nehmen, die an beiden Seiten des Kamins standen. Er selbst blieb zwischen uns auf dem Teppich stehen.
»Ein echter Edelmann!« mußte ich denken, als ich seine hohe, schlanke Gestalt, das kluge Gesicht mit den scharfen Zügen, das frühzeitig ergraute lockige Haupthaar – mit einem Wort, seine ganze vornehme Erscheinung sah.
»Ihr Name ist mir sehr wohlbekannt, Herr Holmes,« sagte er lächelnd. »Und auch über den Zweck Ihres Besuchs bin ich nicht im Zweifel. Außer einem einzigen Vorfall hat sich hier im Ministerium nichts ereignet, was Ihr Interesse in Anspruch nehmen könnte. Darf ich fragen, wer Sie mit der Sache betraut hat?«
»Herr Percy Phelps,« erwiderte Holmes.
»Ach, mein unglücklicher Neffe! Sie begreifen, daß ich schon wegen unseres Verwandtschaftsverhältnisses ganz außer stande bin, ihn in Schutz zu nehmen. Der Vorfall wird ihm in seiner Laufbahn sehr hinderlich sein, fürchte ich.«
»Aber wenn sich das Schriftstück wiederfände?«
»Das würde die Sache freilich ändern.«
»Ich möchte mir erlauben, ein paar Fragen an Sie zu richten, Lord Holdhurst.«
»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, werde ich mich glücklich schätzen.«
»War dies das Zimmer, in dem Sie Ihre Anordnungen betreffs der Abschrift des Dokuments gaben?«
»Jawohl.«
»Dann könnten Sie kaum belauscht worden sein.«
»Daran ist nicht zu denken.«
»Haben Sie Ihr Vorhaben, den Vertrag abschreiben zu lassen, gegen irgend jemand erwähnt?«
»Mit keiner Silbe.«
»Sie wissen das ganz bestimmt?«
»Es unterliegt keinem Zweifel.«
»Wenn also weder Herr Phelps noch Sie sich darüber irgendwie geäußert haben und sonst kein Mensch um die Sache wußte, dann ist der Dieb rein zufällig in das Zimmer gekommen. Die Gelegenheit war ihm günstig und er benutzte sie.«
Der Staatsmann lächelte. »Das liegt außerhalb meines Bereichs; Sie können recht haben.«
Holmes überlegte einen Augenblick. »Noch einen andern wichtigen Punkt möchte ich mit Ihnen besprechen,« sagte er. »Ich höre, Sie fürchteten, das Bekanntwerden dieses Vertrags möchte sehr ernste Folgen nach sich ziehen.«
Ein Schatten flog über Lord Holdhursts ausdrucksvolles Gesicht. »Die allerernstesten Folgen.«
»Und sie sind eingetreten?«
»Noch nicht.«
»Wenn der Vertrag zum Beispiel in das französische oder russische Ministerium des Aeußeren gelangt wäre, so würde es Ihnen vermutlich zu Ohren gekommen sein.«
»Das steht zu erwarten,« sagte der Lord mit finsterer Miene.
»Da nun fast zehn Wochen vergangen sind und keine Aussprache erfolgt ist, so dürfen wir mit Fug und Recht annehmen, daß der Vertrag nicht ausgeliefert worden ist.«
Holdhurst zuckte die Achseln. »Es läßt sich doch kaum denken, Herr Holmes, daß der Dieb den Vertrag gestohlen hat, um ihn bei sich unter Glas und Rahmen aufzuhängen.«
»Vielleicht wartet er noch, um einen besseren Preis zu erzielen.«
»Wenn er noch lange wartet, wird er nur das leere Nachsehen haben. In wenigen Monaten ist der Vertrag kein Geheimnis mehr.«
»Ein höchst wichtiger Umstand,« sagte Holmes. »Der Dieb könnte ja plötzlich von einer Krankheit befallen worden sein –«
»Zum Beispiel von einer Gehirnentzündung?« fragte der Staatsmann, ihn mit raschem Blicke musternd.
»Das habe ich nicht gesagt,« erwiderte Holmes voll unerschütterlicher Ruhe. »Aber wir dürfen Ihre kostbare Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen, Lord Holdhurst; erlauben Sie, daß wir uns empfehlen.«
»Ich wünsche Ihrer Untersuchung den besten Erfolg, mag der Verbrecher sein, wer er will,« sagte der Edelmann noch beim Abschied, während er uns bis zur Thür begleitete.
»Ein wackerer Herr,« meinte Holmes, als wir wieder auf der Straße standen; »aber es wird ihm nicht leicht, seine Stellung zu behaupten. Er ist nicht reich, und es werden viele Ansprüche an ihn gemacht. Du hast wohl auch bemerkt, daß er neubesohlte Stiefel trägt. – Nun will ich dich aber nicht länger von deiner eigenen Berufsarbeit abwendig machen, Watson. Heute unternehme ich so wie so nichts mehr, außer wenn ich Antwort auf meine Droschken-Anzeige erhalte. Einen großen Gefallen könntest du mir aber thun, wenn du mich morgen um dieselbe Zeit nach Woking begleiten wolltest.«
*
So fuhren wir denn am nächsten Morgen wieder zusammen nach Woking. Es war keinerlei Licht in das Dunkel gekommen, und Holmes hatte keine Nachricht auf seine Anzeige. Seine Gesichtszüge konnten so unbeweglich sein, wie die einer indianischen Rothaut, wenn es ihm gut dünkte; auch jetzt war ich außer stande, in seinen Mienen zu lesen, ob ihn die Lage der Angelegenheit befriedigte oder nicht. Unsere Unterhaltung drehte sich, soviel ich mich erinnere, um Bertillons treffliches Messungssystem, und er rühmte das Verdienst dieses französischen Gelehrten in begeisterten Worten.
Wir fanden unsern Klienten noch in der Pflege seiner getreuen Wärterin; er sah jedoch weit besser aus als tags zuvor. Bei unserem Eintritt stand er vom Sofa auf und begrüßte uns lebhaft.
»Was bringen Sie mir?« fragte er begierig.
»Nur Negatives, wie sich voraussehen ließ,« erwiderte Holmes. »Ich habe Forbes gesprochen, Ihren Oheim besucht und verschiedene Erkundigungen eingezogen, die zu etwas führen könnten.«
»Sie haben also nicht den Mut verloren?«
»Durchaus nicht.«
»Gottlob, daß Sie das sagen,« rief Fräulein Harrison. »Wenn wir nur Geduld behalten und die Hoffnung nicht aufgeben, muß die Wahrheit ja doch zuletzt an den Tag kommen.«
»Wir können Ihnen mehr mitteilen als Sie uns,« meinte Phelps, der wieder auf seinem Lager Platz genommen hatte.
»So – das ist mir lieb.«
»Ich habe heute nacht ein Abenteuer erlebt, das recht schlimm hätte ausfallen können.« Seine Miene wurde sehr ernst, und in seinen Augen war förmliche Angst zu lesen. »Wissen Sie,« fuhr er fort, »ich fange wirklich an zu glauben, daß ich der Zielpunkt einer gefährlichen Verschwörung bin. Nicht genug, daß man mir die Ehre abgeschnitten hat, jetzt trachtet man mir auch nach dem Leben.«
»Wahrhaftig?!« rief Holmes.
»Es klingt unglaublich; meines Wissens habe ich auf der Welt keinen Feind. Aber nach der Erfahrung der letzten Nacht muß ich es wirklich annehmen.«
»O bitte, erzählen Sie!«
»Das will ich, doch müssen Sie vor allem wissen, daß ich letzte Nacht zum erstenmal keine Wärterin bei mir im Zimmer hatte. Ich fühlte mich so viel wohler, daß ich glaubte, sie nicht mehr zu brauchen; doch ließ ich mein Nachtlicht brennen. Gegen zwei Uhr morgens lag ich eben in leichtem Schlummer, als ein schwaches Geräusch mich weckte. Es klang, als ob eine Maus am Holzwerk nage. Eine Weile lag ich da und horchte, dann wurde der Ton lauter, und vom Fenster her kam ein scharfes, metallisches Klirren. Entsetzt fuhr ich empor. Was das Geräusch zu bedeuten hatte, war jetzt klar. Die schwächeren Töne rührten von einem Werkzeug her, das in den Schlitz zwischen die Fensterläden hineingepreßt wurde, und dann hatte sich der Riegel in die Höhe geschoben.
»Nun blieb etwa zehn Minuten alles still, als warte der Draußenstehende, ob der Lärm mich aufgeweckt habe. Dann vernahm ich ein leises Knarren und das Fenster ward vorsichtig geöffnet. Länger ertrug ich die Spannung nicht; meine Nerven sind noch nicht so stark wie früher. Ich sprang aus dem Bett und stieß den Laden auf. Ein Mann kauerte vor dem Fenster. Ich konnte nur wenig von ihm sehen, denn er floh davon wie der Blitz. Er war ganz in einen Mantel gewickelt, der den unteren Teil seines Gesichts verhüllte. Eins nur weiß ich mit Bestimmtheit, nämlich, daß er eine Waffe in der Hand trug; wahrscheinlich ein langes Messer, ich sah deutlich die funkelnde Klinge, als er sich zur Flucht wandte.«
»Das ist ja höchst interessant,« sagte Holmes; »und was thaten Sie dann?«
»Wäre ich stärker gewesen, so würde ich ihm durch das offene Fenster nachgesprungen sein. So aber mußte ich mich begnügen, das Haus wach zu klingeln. Das dauerte einige Zeit, da die Glocke in der Küche hängt und die Dienerschaft im oberen Stock schläft. Auf mein Schreien nach Hilfe kam jedoch Josef herbei und weckte die übrigen. Josef und der Stallknecht fanden Fußtritte in dem Blumenbeet unter dem Fenster, aber auf dem Rasen ließ sich die Spur nicht verfolgen, die Witterung ist in letzter Zeit zu trocken gewesen. An dem hölzernen Zaun nach der Straße zu fand sich aber eine Stelle, die aussieht, als sei man dort übergestiegen; das Staket ist oben abgebrochen. Noch habe ich der Ortspolizei keine Anzeige gemacht, da ich es für besser hielt, erst Ihre Ansicht zu hören.«
Die Erzählung unseres Klienten schien auf Sherlock Holmes einen großen Eindruck zu machen. Er stand von seinem Sitz auf und ging in starker Erregung im Zimmer hin und her.
»Ein Unglück kommt selten allein,« sagte Phelps lächelnd, obgleich man ihm wohl ansehen konnte, daß der nächtliche Ueberfall ihn stark mitgenommen hatte.
»Das trifft bei Ihnen wirklich zu,« meinte Holmes. »Wären Sie wohl imstande, mit mir um das Haus herumzugehen?«
»O ja, etwas Sonnenschein würde mir gut thun. Josef wird uns begleiten.«
»Auch ich will mitgehen,« sagte Fräulein Harrison.
»Ich fürchte, das kann ich nicht gestatten,« versetzte Holmes kopfschüttelnd. »Bitte, bleiben Sie hier sitzen, gerade wo Sie sind.«
Die junge Dame nahm mit etwas unzufriedener Miene ihren Platz wieder ein. Ihr Bruder gesellte sich jedoch zu uns, und wir vier gingen miteinander um den Rasenplatz vor dem Fenster des jungen Diplomaten. Die Fußspuren auf dem Blumenbeet waren ganz undeutlich und verwischt. Holmes beugte sich einen Augenblick nieder, um sie zu betrachten, richtete sich aber gleich wieder achselzuckend empor.
»Daraus könnte wohl niemand klug werden,« sagte er. »Lassen Sie uns um das Haus herum gehen und überlegen, warum der Einbrecher gerade dieses Zimmer gewählt hat. Die größeren Fenster im Wohnzimmer und Speisezimmer wären doch besser für seinen Zweck gewesen.«
»Aber sie sind sichtbarer von der Straße aus,« warf Josef Harrison ein.
»Ja so, natürlich. Die Thür dort hätte er aber aufbrechen können. Wohin führt sie?«
»Es ist die Hinterthür für Lieferanten und Dienerschaft. Nachts wird sie regelmäßig verschlossen.«
»Ist schon früher hier einmal eingebrochen worden?«
»Nein, nie,« antwortete Phelps.
»Haben Sie viel Silberzeug im Hause, oder andere Kostbarkeiten, von denen die Diebe angelockt werden?«
»Keine Wertgegenstände.«
Holmes schlenderte mit den Händen in den Taschen um das Haus herum; er trug ein nachlässiges Wesen zur Schau, das ihm sonst fremd war.
»Sie sollen ja den Platz gefunden haben, wo der Kerl über den Zaun gestiegen ist,« wandte er sich an Josef Harrison. »Wir wollen uns das doch einmal ansehen.«
Der junge Mann führte uns an eine Stelle, wo der obere Teil des Stakets abgebrochen war. Ein Stück davon hing noch herunter. Holmes brach es ab und untersuchte es prüfend
»Glauben Sie, daß das vergangene Nacht geschehen ist? Mir scheint, es ist ein alter Schaden.«
»Auch sieht man drüben keine Spur, daß jemand über den Zaun gesprungen ist. Nein, das wird uns wenig helfen. Lassen Sie uns jetzt in das Haus zurückgehen und die Angelegenheit miteinander besprechen.«
Percy Phelps ging sehr langsam, auf den Arm seines künftigen Schwagers gelehnt, während ich mit Holmes rasch über den Rasen schritt, so daß wir vor dem offenen Fenster des Schlafzimmers standen, ehe noch die andern in unsere Nähe kamen.
»Fräulein Harrison,« sagte Holmes sehr eindringlich und mit großem Nachdruck, »Sie müssen den ganzen Tag über bleiben, wo Sie sind. Lassen Sie sich durch nichts von der Stelle vertreiben. Es ist von der allerhöchsten Wichtigkeit.«
»Gewiß, wenn Sie es wünschen, Herr Holmes,« erwiderte das Fräulein verwundert.
»Wenn Sie zu Bette gehen, bitte ich Sie, die Thür von außen zu verschließen und den Schlüssel mitzunehmen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«
»Aber Percy –?«
»Er fährt mit uns nach London.^
»Und ich soll hier bleiben?«
»Ja, um seinetwillen. Sie leisten ihm einen Dienst. Rasch! Versprechen Sie es mir!«
Sie nickte zustimmend, gerade als die beiden andern herankamen.
»Warum sitzest du hier und fängst Grillen, Annie? Komm heraus in den Sonnenschein!« rief ihr Bruder.
»Nein, danke Josef. Ich habe etwas Kopfweh, und die Kühle und Ruhe hier im Zimmer ist mir eine Wohlthat.«
»Was würden Sie jetzt vorschlagen, Herr Holmes?« fragte unser Klient.
»Wir dürfen über diesen untergeordneten Fall die Hauptsache nicht aus den Augen lassen. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie mit uns nach London kommen könnten.«
»Sofort?«
»Ja, das heißt, so rasch es sich einrichten läßt. Etwa in einer Stunde.«
»Ich fühle mich stark genug dazu, wenn ich Ihnen wirklich nützen kann.«
»Ohne allen Zweifel.«
»Vielleicht möchten Sie, daß ich über Nacht dort bleibe?«
»Das wollte ich Ihnen gerade vorschlagen.«
»Wenn dann mein Freund seinen nächtlichen Besuch wiederholen will, findet er den Vogel ausgeflogen. – Wir geben uns ganz in Ihre Hände, Herr Holmes. Sie brauchen nur zu sagen, was geschehen soll. Wünschen Sie vielleicht, daß Josef mitkommt, um für mich zu sorgen?«
»O nein; mein Freund Watson ist Arzt, wie Sie wissen, und wird sich Ihrer annehmen. Wenn es Ihnen recht ist, frühstücken wir erst hier und fahren dann alle drei zusammen nach der Stadt.«
Alles wurde eingerichtet, wie er es wollte. Fräulein Harrison erschien nicht bei der Mahlzeit. Sie durfte ja nach Holmes' Anordnung das Zimmer nicht verlassen. Was der Zweck von allen diesen Veranstaltungen war, begriff ich nicht; ich konnte mir nur denken, daß mein Freund die junge Dame von Phelps trennen wollte, der voll Freude über seine wiederkehrende Gesundheit und Thatkraft mit uns im Eßzimmer frühstückte. Die größte Überraschung erwartete uns indessen noch, als Holmes mit auf den Bahnhof ging, uns beim Einsteigen in den Zug behilflich war und dann ruhig erklärte, er habe nicht die Absicht, Woking zu verlassen.
»Ehe ich fortgehe, muß ich erst noch über einige Kleinigkeiten ins reine kommen,« sagte er. »In gewisser Hinsicht wird mir das durch Ihre Abwesenheit erleichtert, Herr Phelps. – Du thust mir wohl den Gefallen, Watson, sobald ihr in London angekommen seid, mit unserem Freunde nach der Bakerstraße zu fahren und bei ihm zu bleiben, bis ich zu euch komme. Es trifft sich gut, daß ihr alte Schulkameraden seid und mancherlei Erinnerungen zu besprechen haben werdet. Herr Phelps kann in deinem ehemaligen Zimmer schlafen, und morgen werde ich mich rechtzeitig zum Frühstück einstellen; um acht Uhr ist der Zug auf der Waterloo-Station.«
»Aber was wird denn aus unserer Nachforschung in London?« fragte Phelps betrübt.
»Die können wir morgen vornehmen. Ich glaube, daß ich im Augenblick hier von größerem Nutzen bin.«
»Sagen Sie, bitte, in Brierbrae, daß ich hoffe, morgen abend wieder daheim zu sein,« rief Phelps, als sich der Zug schon in Bewegung setzte.
»Ich werde schwerlich in Brierbrae vorsprechen,« gab Holmes zurück und winkte uns noch ein Lebewohl zu, als wir zum Bahnhof hinausfuhren.
Wir besprachen diese neue Wendung der Dinge miteinander, Phelps und ich, kamen aber zu keinem befriedigenden Ergebnis.
»Er wird wohl dem nächtlichen Einbrecher nachspüren wollen,« meinte Phelps; »ich meinerseits glaube nicht, daß es ein gewöhnlicher Dieb war.«
»Wie denkst du dir denn den Zusammenhang?«
»Meiner Treu – schreib' es meinen schwachen Nerven zu, wenn du willst, aber ich bin überzeugt, daß eine tief angelegte, politische Intrigue im Werke ist, und daß die Verschwörer mir, aus irgend einem Grunde, der über mein Verständnis geht, nach dem Leben trachten. Die Behauptung klingt anmaßend und abgeschmackt, aber betrachte einmal die Thatsachen: Weshalb sollte der Dieb versuchen, in ein Schlafzimmer einzusteigen, wo er auf keine Beute hoffen darf – und wozu trug er das Dolchmesser in der Hand?«
»War es denn nicht etwa ein Stemmeisen, um damit einzubrechen?«
»Nein, nein – ich habe die Klinge blitzen sehen.«
»Wer sollte dich aber mit solcher Feindseligkeit verfolgen?«
»Ja, das ist mir ein Rätsel.«
»Möglich, daß Holmes deine Ansicht teilt; es würde sein Verfahren erklären. Wenn diese Annahme richtig ist und er des Menschen habhaft wird, der dich letzte Nacht bedrohte, so wäre damit schon ein großer Schritt geschehen, um ausfindig zu machen, wer den Marine-Vertrag gestohlen hat. Daß du zwei Feinde haben solltest, von denen dich der eine bestiehlt, während der andere dir nach dem Leben trachtet, läßt sich schwerlich annehmen.«
»Aber Herr Holmes versicherte ja, er ginge nicht nach Brierbrae.«
»Ich kenne ihn schon seit geraumer Zeit,« sagte ich, »und weiß, daß er nichts ohne guten Grund thut.«
Unsere Unterhaltung drehte sich nun um andere Dinge. Phelps fühlte sich noch recht schwach nach der langen Krankheit, und sein Mißgeschick machte ihn reizbar und ungeduldig. Vergebens bemühte ich mich, ihn für meine Erlebnisse in Afghanistan und Indien zu interessieren oder allerlei soziale Fragen mit ihm zu besprechen. Er ließ sich nicht zerstreuen und auf andere Gedanken bringen, sondern kam immer wieder auf den gestohlenen Vertrag zurück. Was wohl Holmes jetzt thäte, welche Maßregeln Lord Holdhurst ergreifen werde, was uns der nächste Morgen bringen könne – diese und ähnliche Fragen beschäftigten ihn ohne Unterlaß. Im weiteren Verlauf des Abends nahm seine Erregung in peinlichem Grade zu.
»Du meinst also, man kann sich fest auf Holmes verlassen?« fragte er.
»Ich habe schon merkwürdige Dinge mit ihm erlebt.«
»Aber er hat doch wohl noch nie ein so dunkles Geheimnis enträtselt?«
»O ja; er hat schon Fälle aufgeklart, die noch weniger Anhaltspunkte boten als der deinige.«
»Aber so wichtige Interessen standen wohl nicht auf dem Spiel?«
»Vielleicht doch. Ich weiß, daß er für drei regierende europäische Herrscherhäuser in sehr verwickelten Sachen thätig war.«
»Also du kennst ihn genau, Watson? Er hat ein so unergründliches Wesen, daß man nie weiß, wie man mit ihm daran ist. Glaubst du, daß er die Aussichten für gut hält? Hofft er wohl auf Erfolg?«
»Er hat nichts darüber gesagt.«
»Das ist ein schlechtes Zeichen.«
»Im Gegenteil, meistens gesteht er es offen ein, falls er die Spur verliert. Am schweigsamsten ist er, wenn er eine Fährte gefunden hat und noch zweifelt, ob es auch die rechte sein wird. Aber glaube mir, alter Junge, es nützt nichts, sich über die Sache aufzuregen, ich bitte dich dringend, jetzt zu Bett zu gehen, damit du ganz bei Kräften bist für alles, was morgen kommen kann.«
Es gelang mir endlich, ihn zu überreden, daß er meinem Rate folgte, obgleich ich wußte, er würde bei seinen erregten Nerven kaum Schlaf finden können. Sein Zustand war sogar ansteckend, denn auch ich wälzte mich die halbe Nacht ruhelos umher und brütete über dem seltsamen Problem. Wozu war Holmes in Woking geblieben? Warum hatte er Fräulein Harrison gebeten, den ganzen Tag über das Krankenzimmer nicht zu verlassen? Weshalb war ihm so viel daran gelegen, daß man in Brierbrae nichts von seiner Anwesenheit wußte? – Ich zermarterte mein Hirn, bis ich endlich über dem Bemühen eine Erklärung zu finden, welche Antwort auf alle diese Fragen gab, in Schlaf versank.
Es war sieben Uhr, als ich erwachte, und ich eilte sofort zu Phelps, den ich sehr matt und angegriffen fand nach der durchwachten Nacht. Seine erste Frage war, ob Holmes schon da sei.
»Er wird zu der versprochenen Zeit kommen,« sagte ich »keinen Augenblick früher oder später.«
Was ich behauptete, ging in Erfüllung, denn kurz nach acht Uhr kam eine Droschke rasch vorgefahren und mein Freund stieg aus. Am Fenster stehend bemerkten wir, daß seine linke Hand verbunden war, auch sah er sehr bleich und ernsthaft aus. Er trat ins Haus, doch dauerte es eine Weile, bis er die Treppe heraufkam.
»Ganz wie ein Besiegter,« klagte Phelps.
Ich mußte ihm recht geben. »Wahrscheinlich werden wir doch noch suchen müssen, die Sache hier in der Stadt zu erforschen,« äußerte ich. Phelps seufzte schwer.
»Ich weiß nicht, weshalb,« sagte er, »aber ich hatte so große Hoffnungen auf seine Rückkehr gebaut. Uebrigens trug er gestern die Hand noch nicht in der Binde. Es muß also etwas geschehen sein.«
»Du bist doch nicht verwundet, Holmes?« fragte ich, als mein Freund eintrat.
»Unsinn – nur eine Schramme; meine eigene Ungeschicklichkeit ist schuld daran,« versetzte er und nickte uns seinen Morgengruß zu. »Das muß ich sagen, Herr Phelps, Ihre Sache ist eine der dunkelsten, die ich je unter den Händen gehabt habe.«
»Ich fürchtete gleich, sie würde über Ihre Kräfte gehen.«
»Jedenfalls ein merkwürdiges Erlebnis.«
»Deine Binde läßt auf ein Abenteuer schließen. Willst du uns nicht sagen, was dir zugestoßen ist?«
»Nach dem Frühstück, mein lieber Watson. Vergiß nicht, daß ich heute früh schon dreißig Meilen weit in der frischen Luft von Surrey gefahren bin. Ist etwa eine Antwort auf meine Droschken-Anzeige gekommen? – Nein? – Nun man kann auch nicht immer den Nagel auf den Kopf treffen.«
Der Tisch war schon gedeckt, und eben wollte ich klingeln, als Frau Hudson mit Thee und Kaffee hereinkam. Einige Minuten später brachte sie ein paar zugedeckte Schüsseln, und wir nahmen am Tische Platz, Holmes hungrig wie ein Rabe, ich sehr gespannt und Phelps in der düstersten Stimmung.
»Frau Hudson hat sich selbst übertroffen,« sagte Holmes, den Deckel von einem Hühnerfricassé abhebend. »Ihre Küche ist zwar beschränkt, aber sie weiß doch, was zu einem guten Frühstück gehört. – Was hast du da, Watson?«
»Schinken und Eier,« antwortete ich.
»So? Soll ich Ihnen vorlegen, Herr Phelps, oder wollen Sie selbst zulangen?«
»Danke, ich kann nichts essen,« erwiderte er.
»Ach was! Versuchen Sie es einmal mit der Schüssel, die vor Ihnen steht.«
»Nein, ich muß wirklich danken.«
»Nun,« sagte Holmes mit listigem Augenblinzeln, »dann darf ich Sie wohl bitten, mir etwas davon zu geben.«
Phelps hob den Deckel in die Höhe, stieß einen Schrei aus und starrte mit kreideweißem Gesicht die Schüssel an. Mitten darauf lag eine Rolle von blaugrauem Papier. Er griff danach, verschlang sie mit den Augen, drückte sie an sein Herz, tanzte damit im Zimmer herum und jubelte laut vor Entzücken. Dann sank er in den Lehnstuhl zurück und war so erschöpft und matt vor Gemütsbewegung, daß wir ihm ein paar Löffel Branntwein einflößen mußten, damit er nur nicht in Ohnmacht fiele.
»Nur ruhig, ruhig,« sagte Holmes, ihm auf die Schulter klopfend. »Es war recht schlecht von mir, Sie so damit zu überraschen. Aber Watson wird Ihnen sagen, daß ich nie widerstehen kann, wenn es sich um eine dramatische Wirkung handelt.«
Phelps ergriff seine Hand, die er gerührt an die Lippen führte. »Gottes Segen über Sie,« rief er, »Sie haben meine Ehre gerettet.«
»Meine eigene Ehre stand ja auch auf dem Spiel,« erwiderte Holmes; »mir ist ein Mißerfolg gerade so empfindlich, wie Ihnen eine Pflichtversäumnis.«
Phelps barg das kostbare Schriftstück in seiner inneren Rocktasche.
»Ich finde es grausam, Sie noch länger beim Frühstück zu stören,« sagte er, »und doch vergehe ich fast vor Ungeduld zu erfahren, wo das Papier war und wie Sie es entdeckt haben.«
Mein Freund goß rasch eine Tasse Kaffee hinunter und machte sich über die Eier und den Schinken her. Dann stand er auf, zündete seine Pfeife an und nahm im Lehnstuhl Platz.
»Ich will euch sagen, was ich zuerst that, und wie alles nachher ausgefallen ist,« begann er. »Nachdem euer Zug fort war, machte ich einen wunderhübschen Spaziergang in der reizenden Umgegend, bis zu dem Dörfchen Ripley, wo ich im Wirtshaus Thee trank und mir in weiser Vorsicht die Weinflasche füllen und ein paar belegte Brötchen einwickeln ließ. Bis zum Abend blieb ich dort und ging dann nach Woking zurück; bald nach Sonnenuntergang befand ich mich auf der Landstraße bei Brierbrae. Die Straße ist wohl nie sehr besucht, doch wartete ich, bis sie ganz menschenleer war, und kletterte dann über den Zaun in den Garten.«
»War denn das Thor nicht offen?« fragte Phelps verwundert.
»Freilich; aber ich habe in diesen Dingen meinen eigenen Geschmack. Ich wählte die Stelle, wo die drei Tannen stehen, und in ihrem Schutz gelangte ich hinüber, ohne daß mich jemand vom Hause her sehen konnte. Ich kauerte mich drinnen unter die Büsche und kroch von einem zum andern – die Kniee meiner Beinkleider können davon Zeugnis geben – bis ich das Rhododendrongebüsch Ihrem Schlafzimmerfenster gegenüber erreicht hatte. Da legte ich mich auf die Erde und wartete der Dinge, die da kommen sollten.
»Der Vorhang in Ihrem Zimmer war nicht geschlossen, und ich konnte Fräulein Harrison sehen, die lesend am Tische saß. Um ein viertel auf elf klappte sie ihr Buch zu und zog sich zurück. Ich hörte sie die Thür zumachen und war überzeugt, daß sie den Schlüssel im Schloß umgedreht und zu sich gesteckt hatte.«
»Den Schlüssel?« fragte Phelps.
»Ja; ich hatte das Fräulein gebeten, die Thür von außen zu verschließen und den Schlüssel mitzunehmen, wenn sie zu Bett ginge. Sie hatte alle meine Anordnungen aufs pünktlichste ausgeführt; ohne ihre Hilfe würden Sie jetzt schwerlich das Schriftstück in der Rocktasche haben. – Sie entfernte sich, die Lichter im Hause erloschen, und ich blieb in dem Gebüsch auf der Erde liegen. Die Luft war warm, aber die Nachtwache doch recht ermüdend. Natürlich empfand ich auch eine Art Aufregung dabei, wie sie der Jäger fühlt, der am Waldbach liegt und auf das Hochwild lauert. Die Kirchenuhr in Woking schlug die Viertelstunden an, und ich glaubte mehr als einmal, sie müsse stehen geblieben sein. Endlich, gegen zwei Uhr morgens hörte ich plötzlich, daß ein Riegel leise fortgezogen wurde und ein Schlüssel im Schloß klirrte. Gleich darauf öffnete sich die Hinterthür, und Herr Josef Harrison trat in den Mondschein heraus.«
»Was – Josef!« rief Phelps.
»Er war barhäuptig, hatte aber einen schwarzen Mantel übergeworfen, mit dem er sein Gesicht augenblicklich verhüllen konnte, wenn Lärm entstand. Er schlich auf den Fußspitzen an der Mauer hin, und als er das Fenster erreichte, steckte er ein Messer mit langer Klinge unter den Fensterrahmen, schob den Riegel zurück und stieß das Fenster in die Höhe. Dann bohrte er das Messer durch einen langen Spalt im inneren Laden, hob die Querstange ab und öffnete ihn.
»Von der Stelle aus, wo ich lag, konnte ich allen seinen Bewegungen folgen und das ganze Zimmer übersehen. Er zündete drinnen die beiden Lichter auf dem Kaminsims an und begann die Ecke des Teppichs neben der Thür aufzuheben. Dann bückte er sich und nahm ein viereckiges Stück der Diele heraus, das wohl beim Legen der Gasröhren nicht befestigt worden war, um etwaige Ausbesserungen zu erleichtern; der Anschluß des Rohrs nach der Küche zu mußte dort sein. Aus der Vertiefung holte er die Papierrolle hervor, paßte das Brett wieder ein, deckte den Teppich darüber, blies die Lichter aus und lief mir dann geradeswegs in die Arme, denn ich stand draußen vor dem Fenster und wartete auf ihn.
»Herr Josef hat übrigens mehr Bosheit im Leibe, als ich ihm zugetraut hätte. Er stieß mit dem Messer nach mir; ich mußte ihn erst zweimal zu Boden werfen und erhielt einen Schnitt quer über das Handgelenk, ehe ich die Oberhand bekam. Das eine Auge, mit dem er noch sehen konnte, als wir zwei miteinander fertig waren, funkelte zwar vor Mordlust, aber er nahm doch Vernunft an und lieferte mir das Schriftstück aus. Sobald ich es hatte, ließ ich den Mann laufen; doch versäumte ich es nicht, die Geschichte gleich heute früh ausführlich an Forbes zu telegraphieren. Wenn er sich sehr beeilt, kann er den Vogel noch fangen. Findet er aber, wie ich vermute, das Nest bereits leer, so ist das um so besser für die Regierung. Lord Holdhurst und Percy Phelps werden es wahrscheinlich lieber sehen, wenn die ganze Sache niemals vor das Polizeigericht kommt.«
»Großer Gott!« stieß unser Klient keuchend hervor, »ist es denn möglich, daß während der langen entsetzlichen zehn Wochen voll namenloser Angst die gestohlenen Papiere bei mir im Zimmer gelegen haben?«
»Ganz recht – so war es.«
»Und Josef – ein Dieb und ein Bösewicht!«
»Josef ist allerdings ein versteckterer und gefährlicherer Charakter, als man nach seinem Aeußeren denken sollte. Er hat mit großem Verlust an der Börse gespielt, wie ich heute morgen von ihm erfuhr, und schreckte nun vor nichts zurück, um wieder zu Gelde zu kommen. Als sich ihm die Gelegenheit bot, machte der durch und durch selbstsüchtige Mensch sich kein Gewissen daraus, Ihren guten Namen zu zerstören und seiner Schwester Glück zu opfern.«
Percy Phelps sank in den Stuhl zurück. »Ich bin wie betäubt,« sagte er, »es schwirrt mir alles im Kopfe herum.«
»Die größte Schwierigkeit bei Ihrem Fall,« fuhr Holmes in seiner lehrhaften Art fort, »war der Ueberfluß an Beweismaterial. Alles ging durcheinander – Wichtiges und ganz Unerhebliches; wir mußten aus sämtlichen Thatsachen, die man uns vorlegte, erst das Brauchbare heraussuchen und zusammensetzen, um die merkwürdige Kette der Begebenheiten in ihrer ursprünglichen Reihenfolge wieder herzustellen. – Mein Verdacht war auf Josef gefallen, sobald ich erfuhr, daß Sie an jenem Abend mit ihm hatten nach Hause fahren wollen. Was war wohl natürlicher, als daß er auf seinem Wege nach dem Bahnhof im Ministerium – wo er gut Bescheid wußte – vorsprach, um Sie abzuholen? Als Sie mir dann von dem beabsichtigten Einbruch in Ihr Schlafzimmer erzählten, wo doch niemand etwas hatte verstecken können, außer Josef, der bei Ihrer plötzlichen Erkrankung ganz unerwartet ausquartiert worden war, um Ihnen Platz zu machen, da wurde mein Argwohn zur Gewißheit. Der saubere Herr hatte zu seinem Versuch die erste Nacht gewählt, als keine Wärterin im Krankenzimmer war; er wußte also genau, was im Hause vorging.«
»O, ich war wie mit Blindheit geschlagen!«
»Ich habe nun über den Gang der Ereignisse bis jetzt etwa folgendes festgestellt: Josef Harrison kam von der Charlesstraße her durch die Hinterthür; er kannte den Weg nach Ihrem Arbeitszimmer und trat ein, als Sie es soeben verlassen hatten. Da niemand da war, ging er an den Klingelzug und läutete, wobei er zugleich das Schriftstück zu Gesicht bekam, welches auf dem Tische lag. Ein Blick überzeugte ihn, daß der Zufall ihm eine Staatsurkunde von größter Wichtigkeit in die Hand gespielt hatte; mit Blitzesschnelle steckte er sie in die Tasche und verschwand damit. Wie Sie wissen, vergingen einige Minuten, bis der schlaftrunkene Thürhüter Ihre Aufmerksamkeit auf die Glocke lenkte, aber diese kurze Zeit genügte, um dem Dieb die Flucht zu ermöglichen.
»Er fuhr mit dem ersten Zug nach Woking, besichtigte seine Beute, erkannte, wie wertvoll sie sei, und verbarg sie an einem Platz, den er für ganz sicher hielt. Seine Absicht war wohl, das Dokument nach einigen Tagen wieder aus dem Versteck herauszunehmen und es der französischen oder russischen Gesandtschaft um hohen Preis zu verkaufen. Da brachte der Doktor Sie plötzlich nach Hause, und er wurde ohne alle Vorbereitung aus seinem Zimmer entfernt. Seitdem waren dort stets mindestens zwei Menschen anwesend, so daß er unmöglich seines Schatzes habhaft werden konnte. Es muß für ihn eine verzweifelte Lage gewesen sein. Als er endlich hoffte, die günstige Gelegenheit sei da, machte ihm Ihre Schlaflosigkeit einen Strich durch die Rechnung.«
»Ich hatte an dem Abend meinen gewöhnlichen Schlaftrunk nicht genommen.«
»Er mag wohl dafür gesorgt haben, den Trank recht wirksam zu machen, damit er sicher sein konnte, Sie würden nicht aufwachen. Daß er den Versuch so bald wie möglich wiederholen würde, war mir außer Zweifel. Ihre Fahrt nach London verschaffte ihm die Gelegenheit. Ich bat Fräulein Harrison, den Tag über im Zimmer zu bleiben, weil mir der Dieb sonst zuvor gekommen wäre. Als ich ihn in dem Glauben wußte, er habe nun freie Hand, hielt ich an Ort und Stelle Wache, wie Sie bereits wissen. Obwohl ich fest überzeugt war, der Vertrag müsse in dem Zimmer versteckt sein, wollte ich doch nicht erst alle Dielen aufbrechen und das Getäfel durchsuchen. Ich ließ ihn daher den Schatz selber heben und ersparte mir damit viel Mühe und Arbeit. – Ist nun noch ein Punkt vorhanden, über den ich Auskunft geben soll?«
»Weshalb hat er denn bei dem ersten Versuch durchs Fenster steigen wollen, während er doch nur zur Thür hereinzugehen brauchte?« erkundigte ich mich.
»Um die Hausthür zu erreichen, hätte er an sieben Schlafzimmern vorbei gemußt. Zum Fenster hinaus konnte er aber leicht auf den Grasplatz springen.«
»Sie glauben aber doch nicht,« fragte Phelps, »daß er mörderische Absichten hatte? – Nicht wahr, das Dolchmesser sollte ihm nur als Werkzeug dienen?«
»Wohl möglich,« erwiderte Holmes, die Achseln zuckend. »So viel aber steht fest, daß Josef Harrison kein Mensch ist, auf dessen Gnade und Barmherzigkeit ich mich verlassen möchte.«