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Das gelbe Gesicht


Originaltitel: The Yellow Face, 1893

Aus: Als Sherlock Holmes aus Lhassa kam, Verlag von Robert Lutz

 

Bei der Veröffentlichung dieser kurzen Skizzen über einige von den zahlreichen Fällen, in denen die glänzende Begabung meines Freundes sich offenbarte, weile ich naturgemäß mehr bei seinen Erfolgen als bei seinen Mißerfolgen. Und dabei leitet mich nicht sowohl die Rücksicht auf seinen Ruf – denn tatsächlich erscheinen seine Tatkraft und seine Findigkeit nie bewundernswerter als wenn er sich selbst in eine Sackgasse verrannt hatte –, sondern es bestimmt mich zu meiner Auswahl auch der Umstand, daß, wo er erfolglos blieb, auch sonst niemand das Ziel erreichte und den Schleier lüftete. Immerhin ist es ein paarmal vorgekommen, daß sich in solchen Fällen doch noch nachträglich das Rätsel gelöst hat. In meinen Notizen findet sich etwa ein halbes Nutzend von Fällen dieser Art, worunter die Geschichte von dem zweiten Tüpfel und die, welche ich eben erzählen will, bei weitem am interessantesten sind.

Sherlock Holmes war an sich kein Freund gymnastischer Uebungen. Uebertrafen ihn auch nur wenige an Muskelkraft, und war er auch zweifellos einer der besten Boxer, die mir je vorgekommen sind, so erschien ihm doch zwecklose körperliche Anstrengung als Kraftvergeudung, und er warf sich nur ins Geschirr, wenn ihn ein bestimmtes Ziel lockte. Dann war er einfach unermüdlich, und seine Spannkraft unerschöpflich. Es ist eigentlich sonderbar, daß sein Körper unter diesen Umständen beständig so leistungsfähig blieb; aber das lag wohl daran, daß er stets sehr mäßig lebte. Von gelegentlichem Genuß von Kokain abgesehen, fröhnte er keinerlei Leidenschaft, und auch zu diesem Mittel griff er nur, wenn gar kein Fall und keine interessante Zeitungsnachricht die öde Gleichförmigkeit der Tage unterbrechen wollte.

Eines schönen Frühlingstages hatte er sich endlich dazu bewegen lassen, mit mir einen Spaziergang im Park zu machen, wo eben das erste zarte Grün an den Ulmen sproßte, und die Kastanien anfingen, ihre Knospen zu öffnen und ihre fünf Blattfinger auszuspreizen. Zwei Stunden lang strichen wir umher, fast ohne ein Wort zu reden, wie es sich für zwei Busenfreunde geziemt. Als wir wieder in die Bakerstraße kamen, war es fast fünf Uhr geworden.

»Entschuldigen Sie!« sagte unser Laufbursche, als er uns die Tür aufmachte. »Es ist ein Herr hier gewesen und hat nach Ihnen gefragt.«

Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

» Einen Nachmittagsbummel und keinen mehr!« sagte er. »Der Herr ist also wieder gegangen?«

»Ja.«

»Hast du ihn nicht ersucht, einzutreten?«

»Ja, er hat auch gewartet.«

»Wie lange denn?«

»Eine halbe Stunde. Es war ein sehr aufgeregter Herr. Immer ist er herumgegangen und hat auf den Boden gestampft. Ich habe draußen an der Tür gestanden und ihn gehört. Am Ende kommt er heraus und schreit: ›Wird der Mann denn gar nicht nach Hause kommen?‹ So hat er gesagt, Herr Holmes! ›Sie brauchen bloß ein bißchen länger zu warten,‹ sag' ich. ›Dann will ich lieber im Freien warten, denn hier erstick' ich fast‹ sagte er. ›Ich bin bald wieder hier.‹ Und damit ging er auf und davon, und was ich auch redete, alles war umsonst.«

»Gut, gut, du kannst nichts dafür,« sagte Holmes, als wir ins Zimmer gingen, »'s ist doch recht unangenehm, Watson! Mir tat ein neuer Fall blutnot, und nach der Ungeduld, die der Mann zeigte, scheint es keine kleine Sache zu sein. Hallo! Das ist doch nicht deine Tabakpfeife auf dem Tisch! Er muß seine hier gelassen haben. Ein schöner alter Kopf mit einem langen Mundstück von Bernstein. Ich möchte wissen, wieviel echte Bernsteinspitzen es in London gibt. Die Leute denken, wenn eine Fliege drin ist, müsse er echt sein. Dabei gibt es eine eigene Industrie, unechte Fliegen in unechten Bernstein zu setzen. Jedenfalls ist der Mann sehr aufgeregt gewesen, daß er eine Pfeife liegen läßt, auf die er offenbar große Stücke hält.«

»Woher weißt du, daß er viel auf sie hält?« fragte ich.

»Nun, meiner Schätzung nach hat die Pfeife neu sieben und einen halben Schilling gekostet. Sie ist aber, wie du siehst, zweimal ausgebessert worden, einmal am Holz und einmal am Bernstein. Jedesmal hat man bei der Reparatur ein Band von Silber herumgelegt, das mehr gekostet hat als die ganze Pfeife. Dem Manne muß also die Pfeife sehr teuer sein, wenn er sie lieber flicken läßt, statt um den gleichen Preis eine neue zu kaufen.«

»Noch was?« fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in seiner Hand hin und her und betrachtete sie in der ihm eigenen nachdenklichen Weise.

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Er hielt sie in die Höhe und betippte sie mit seinem langen, dünnen Mittelfinger, wie etwa ein Professor der Osteologie, der einen Knochen demonstriert.

»Pfeifen sind manchmal außerordentlich interessant,« sagte er. »Nichts besitzt mehr Individualität, ausgenommen etwa Uhren und Schuhsenkel. Was sich aber hier zeigt, ist weder sehr ausgesprochen, noch sehr bedeutungsvoll. Der Eigentümer ist offenbar ein kräftiger Mann, linkshändig, mit wohlerhaltenen Zähnen, nicht sehr ordnungsliebend und in guten Verhältnissen.«

Mein Freund äußerte dies so obenhin; ich sah aber, daß er mich dabei fixierte, um zu erkennen, ob mir seine Schlußfolgerungen klar seien.

»Du denkst, wer aus einer Pfeife für sieben Schilling raucht, muß wohlhabend sein?« sagte ich.

»Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze,« antwortete Holmes, indem er ein paar Krümel in seine offene Hand klopfte. »Da er schon für den halben Preis ein ausgezeichnetes Kraut haben kann, so muß er in guten Verhältnissen leben.«

»Und die anderen Punkte?«

»Er pflegt seine Pfeife an Lampen und Gasbrennern anzuzünden. Du siehst, sie ist auf einer Seite ganz versengt. Natürlich, das kann nicht von Streichhölzern herrühren. Warum sollte einer auch ein Streichholz an die Seite seiner Pfeife halten? An der Lampe kann man sie aber nicht anzünden, ohne daß dabei der Kopf angesengt wird. Und es trifft die rechte Seite der Pfeife. Daraus entnehme ich, daß er linkshändig ist. Halte deine eigene Pfeife an die Lampe und du wirst sehen, daß es für dich als Rechtshändigen natürlich ist, die linke Seite an die Flamme zu bringen. Du machst es vielleicht auch einmal umgekehrt, aber sicher nicht in der Regel. Die hier ist immer so gehalten worden. Dann hat er seinen Bernstein durchgebissen. Dazu gehört ein muskulöser, energischer Mann mit gutem Gebiß. Doch wenn ich mich nicht irre, höre ich ihn auf der Treppe; so werden wir bald etwas Interessanteres als seine Pfeife zu ergründen haben.«

Einen Augenblick darauf öffnete sich die Tür und ein großer jüngerer Mann trat ins Zimmer. Er war gut, aber einfach gekleidet, trug einen dunkelgrauen Anzug und hielt in der Hand einen neuen Kastor. Ich hätte ihn auf etwa dreißig Jahre geschätzt, obwohl er in Wirklichkeit ein paar Jahre älter war.

»Entschuldigen Sie!« sagte er etwas verlegen. »Ich hätte wohl anklopfen sollen. Ja, natürlich hatte ich anklopfen sollen. Die Sache ist die, ich bin etwas außer mir, und davon kommt das alles.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie einer, der schwindlig werden will, und ließ sich dann in einen Stuhl niederfallen.

»Ich sehe, Sie haben eine, zwei Nächte nicht geschlafen,« sagte Holmes in seiner leichten, genialen Weise. »Das bringt einem die Nerven mehr herunter als die Arbeit, ja noch mehr als der Genuß. Erlauben Sie nur die Frage: Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich brauche Ihren Rat. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und mein ganzes Lebensglück scheint mir aus den Fugen zu gehen.«

»Sie wollen meinen Rat als Detektiv?«

»Nicht nur das. Sie sollen mir Rat geben als scharfsinniger, als welterfahrener Mann. Ich will wissen, was ich zunächst tun muß. Ich hoffe zu Gott, Sie sind imstande, es mir zu sagen.«

Er brachte das alles kurz, scharf, stoßweise hervor, und es machte mir den Eindruck, als wäre es für ihn außerordentlich peinlich, vor uns zu reden, und als müßte er seiner eigentlichen Neigung Gewalt antun.

»Es ist eine sehr delikate Sache,« fuhr er fort. »Man spricht nicht gern vor Fremden von Familiensachen. Es ist entsetzlich, über das Verhalten seiner Frau zu zwei Männern zu reden, die man zum erstenmal im Leben sieht. Es ist fürchterlich, wenn man das tun muß. Aber mein Witz ist zu Ende, und ich muß Rat haben.«

.

»Mein lieber Herr Grant Munro –« fing Holmes an.

Unser Besucher sprang von seinem Stuhle auf.

»Wie,« rief er, »Sie kennen meinen Namen?«

»Wenn Sie Ihr Inkognito bewahren wollen,« sagte Holmes lächelnd, »würde ich Ihnen vorschlagen, nicht mehr Ihren Namen auf Ihr Hutfutter zu schreiben, oder wenigstens der Person, mit der Sie sprechen, nicht gerade das Innere des Hutes zuzuwenden. Ich wollte Ihnen eben sagen, daß wir, mein Freund und ich, viele ungewöhnliche Geheimnisse in diesem Zimmer angehört haben, und daß uns so oft das Glück zuteil wurde, beunruhigten Herzen wieder Frieden zu bringen. Ich hoffe zuversichtlich, wir können für Sie dasselbe tun. Darf ich Sie bitten, da vielleicht Eile nottut, mir unverzüglich den Tatbestand Ihres Falles mitzuteilen?«

Wieder fuhr sich unser Gast mit der Hand über die Stirn, als komme es ihm recht sauer an. Aus jeder Bewegung und jeder Miene konnte man erkennen, daß er ein verschlossener, selbstbewußter Mann war, mit einem Anflug von Stolz in seiner Natur, der ihn empfangene Wunden eher verbergen als zur Schau tragen ließ. Plötzlich machte er mit der geschlossenen Hand eine energische Bewegung, wie einer, der alle Bedenken beiseite wirft, und fing an:

»Die Sache ist die, Herr Holmes! Ich bin verheiratet, und zwar seit drei Jahren. In dieser ganzen Zeit haben wir beide uns so herzlich geliebt und so glücklich zusammen gelebt wie nur je ein Paar. Wir waren ein Herz und eine Seele im Denken wie im Handeln. Und nun, seit letztem Montag, ist auf einmal ein Riß entstanden, und ich sehe, es muß irgend etwas in ihr vorgehen, das ich nicht enträtseln kann. Wir sind einander entfremdet, und ich will der Sache auf den Grund kommen.

»Nun dürfen Sie vor allem eines nicht vergessen, Herr Holmes! Effie liebt mich. Daran ist gar kein Zweifel. Sie liebt mich von ganzem Herzen und ganzer Seele, und das gerade jetzt mehr als je. Ich weiß es, ich fühle es. Hierüber brauchen wir kein Wort zu verlieren. Aber es trennt uns ein Geheimnis, und ehe dies nicht aufgeklärt ist, können wir nicht wieder dieselben zueinander sein, wie vorher.«

»Seien Sie so freundlich und teilen Sie mir den Tatbestand mit, Herr Munro!« sagte Holmes etwas ungeduldig.

»Ich will Ihnen erzählen, was ich von Effies Leben weiß. Sie war Witwe, als ich sie zum ersten Male sah, obwohl noch ganz jung – erst einundzwanzig. Sie hieß damals Frau Hebron. Sie kam als ganz kleines Kind nach Amerika und lebte in der Stadt Atlanta, wo sie diesen Hebron, einen gesuchten Anwalt, heiratete. Sie hatten ein einziges Kind, aber das gelbe Fieber brach dort aus, und Mann und Kind wurden beide von der Seuche hinweggerafft. Ich habe selbst seine Sterbeurkunde gesehen. Das verleidete ihr den weiteren Aufenthalt in Amerika, und sie kam wieder herüber und lebte bei einer unverheirateten Tante in Pinner in Middlesex. Es bleibt noch zu erwähnen, daß ihr Mann für sie gut gesorgt hatte, und daß sie ein Kapital von viertausendfünfhundert Pfund besaß, das von ihm so vorteilhaft angelegt war, daß es durchschnittlich sieben Prozent abwarf. Sie war erst sechs Monate in Pinner, als ich mit ihr zusammentraf; wir verliebten uns ineinander, und nach wenigen Wochen fand die Hochzeit statt.

»Ich für meine Person bin Hopfenhändler, und da ich ein Einkommen von siebenhundert oder achthundert Pfund hatte, so litten wir keine Not, und ich mietete uns für jährlich achtzig Pfund eine Villa in Norbury. Unser kleines Heim sieht sehr ländlich aus, wenn man bedenkt, daß es so nahe an der Stadt liegt. Weiter oben, nicht fern von uns, lagen nur eine Wirtschaft und zwei Häuser, und dann stand noch ein einzelnes Landhaus jenseits des Feldes uns gegenüber; außerdem gab es keine Häuser bis halbwegs zur Station. Zu manchen Jahreszeiten mußte ich wegen des Geschäftes in die Stadt; im Sommer aber gab's weniger zu tun, und dann lebte ich in unserem Landhause mit meiner Frau so glücklich, wie man nur wünschen kann. Ich wiederhole, es war niemals auch nur ein Schatten zwischen uns, bis diese verfluchte Geschichte kam.

»Eins muß ich Ihnen noch sagen, ehe ich fortfahre. Als wir heirateten, übertrug meine Frau ihr ganzes Eigentum auf mich – eigentlich gegen meinen Willen, denn ich dachte, was für eine üble Geschichte das gäbe, wenn mein Geschäft schlecht ginge. Jedoch sie wollte es so haben, und so machten wir's. Gut, vor sechs Wochen etwa kam sie zu mir.

»›Jack!‹ sagte sie. ›Als du mein Geld nahmst, sagtest du, wenn ich je etwas haben wollte, solle ich es dir nur sagen.‹

»›Gewiß,‹ sagte ich, ›'s ist alles dein.‹

»›Gut,‹ sagte sie, ›ich brauche hundert Pfund.‹

»Ich war ein bißchen verblüfft, denn ich hatte gedacht, 's wär' nur ein neues Kleid oder dergleichen, was ihr im Kopfe steckte.

»›Wozu, in aller Welt?‹ fragte ich.

»›O,‹ sagte sie in ihrer scherzenden Weise, ›du hast gesagt, du wärest nur mein Bankier, und Bankiers fragen einen niemals, wozu, wie du weißt.‹

»›Wenn es wirklich dein Ernst ist, so sollst du natürlich das Geld haben,‹ sagte ich.

»›Ja doch, es ist wirklich mein Ernst.‹

»›Und du willst mir nicht sagen, wozu du es brauchst?‹

»›Später vielleicht, Jack, jetzt aber nicht.‹

»Damit mußte ich mich zufrieden geben, obwohl es das erstemal war, daß wir eine Heimlichkeit vor einander hatten. Ich gab ihr eine Anweisung und dachte nicht mehr an die Geschichte. Vielleicht hat das auch gar nichts mit dem, was nachher kam, zu tun, aber ich glaubte, es wäre besser, ich teilte es Ihnen mit.

»Ich sagte Ihnen vorhin, es liegt ein Landhaus nicht weit von unserem Hause. Dazwischen liegt ein Feld; aber wenn man hin will, muß man die Straße ein Stückchen heruntergehen und dann in einen schmalen Weg zwischen zwei Hecken einbiegen. Gerade hinter diesem Landhaus fängt ein hübsches Tannenwäldchen an, und da trieb ich mich besonders gerne herum, denn Bäume ziehen einen immer an. Das kleine Landhaus hatte ganze acht Monate leer gestanden, und das war schade, denn es war ein nettes, zweistöckiges Ding mit einem altmodischen Säulengang, von Geißblatt umrankt. Ich habe manchmal dagestanden und gedacht, was das für ein herziges Daheim geben müßte.

»Letzten Montag gehe ich wieder einmal da hinunter, als mir auf dem Heckenwege ein leerer Möbelwagen entgegenkommt und ich einen Haufen Teppiche und Zeugs auf dem Rasenplatze bei dem alten Portikus liegen sehe. Es war klar, das Häuschen war endlich doch vermietet worden. Ich ging vorbei, blieb dann stehen, wie man's macht, wenn man nichts zu tun hat, und guckte nochmals hin und dachte, was das wohl für Leute wären, die unsere nächsten Nachbarn sein sollten. Und wie ich so hinsehe, merke ich auf einmal, daß mich ein Gesicht aus einem der oberen Fenster beobachtet. Ich weiß nicht, was mit dem Gesichte los war, Herr Holmes, aber mir lief's bei seinem Anblicke eiskalt den Rücken herunter. Ich war ein Stück weg und konnte also die Züge nicht sehen, aber ich sage Ihnen, das Gesicht hatte etwas Unnatürliches und Gespensterhaftes. So kam mir's vor, und ich machte schnell ein paar Schritte vorwärts, um die Person, die mich beobachtete, besser ins Auge zu fassen.

Aber da verschwand das Gesicht plötzlich, so daß es schien, als wäre es in die Dunkelheit des Zimmers zurückgerissen worden. Ich blieb wohl fünf Minuten regungslos stehen, überlegte mir die Sache und suchte mir über die Erscheinung möglichst klar zu werden. Ich konnte nicht sagen, ob's ein Männer- oder ein Frauengesicht war. Aber die Farbe hatte mir's vor allem angetan. Es war ein fahles, totes Gelb, und drum und dran etwas so Unbewegliches, Starres, was mir ganz unheimlich und unnatürlich vorkam. Die Sache ging mir so nahe, daß ich mich entschloß, mir die neuen Mieter etwas genauer anzusehen. Ich ging hin und klopfte an die Tür, die sofort von einer großen, hageren Frauensperson mit rauhem, abweisendem Gesichtsausdruck geöffnet wurde.

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»Was wollen Sie denn?« fragte sie mich mit nördlichem Akzent.

»Ich bin Ihr Nachbar von da drüben,« sagte ich und nickte nach meinem Hause zu. »Ich sehe, Sie sind eben eingezogen; so dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht irgendwie–...«

»›Ach was, wir werden's schon sagen, wenn wir was brauchen!‹ sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Aergerlich über die grobe Abweisung, drehte ich mich um und ging heim. Den ganzen Abend mußte ich, ich mochte tun, was ich wollte, immer wieder an die Fenstererscheinung und an das rohe Weib denken. Von der ersten wollte ich lieber meiner Frau nichts sagen, denn sie ist ein nervöses, zartbesaitetes Wesen, und ich wollte ihr die unangenehme Empfindung, die ich selbst hatte, ersparen. Ich erwähnte aber vor dem Einschlafen, das Häuschen sei nun bewohnt, worauf sie nichts erwiderte.

»Ich habe einen ungewöhnlich festen Schlaf. Zum Spaß wurde bei uns oft gesagt, mich könnte überhaupt nichts aufwecken. Und doch, gerade in dieser Nacht, mochte es nun die leichte Aufregung durch mein kleines Abenteuer oder sonst was gewesen sein, ich weiß es nicht, aber mein Schlaf war in dieser Nacht weit weniger fest als gewöhnlich. Noch halb traumbefangen, hatte ich das Bewußtsein, daß etwas im Zimmer vor sich ging, und allmählich ward mir klar, daß sich meine Frau angezogen hatte und schnell den Mantel umwarf. Meine Lippen bewegten sich schon, um ein paar schläfrige Worte des Erstaunens oder des Vorwurfes über diese nächtlichen Vorbereitungen zu murmeln, als plötzlich mein halb geöffnetes Auge auf ihr vom Mondlicht erhelltes Gesicht fiel und die Ueberraschung mich verstummen ließ. Sie zeigte einen Ausdruck, wie ich ihn vorher nie an ihr bemerkt hatte, und wie ich ihn bei ihr für unmöglich gehalten hätte. Sie war totenbleich, ihr Atem ging schnell, und verstohlen blickte sie nach dem Bett, als sie ihren Mantel zuknöpfte, um zu sehen, ob sie mich gestört hätte. Dann, in der Meinung, ich schliefe noch, glitt sie geräuschlos aus dem Zimmer, und einen Augenblick später vernahm ich einen scharfen, quietschenden Ton, der nur von den Angeln der Vordertür herrühren konnte. Ich setzte mich im Bett zurecht und stieß meine Knöchel gegen die Bettpfosten, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träumte. Dann zog ich meine Uhr unterm Kopfkissen vor: es war drei Uhr morgens. Was in aller Welt konnte meine Frau um drei Uhr morgens auf der Landstraße zu tun haben?

Ich saß etwa zwanzig Minuten und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen, um irgend eine denkbare Erklärung zu finden. Je mehr ich aber nachdachte, desto sonderbarer und unerklärlicher kam mir die Geschichte vor. Während ich noch über das Rätsel nachgrübelte, hörte ich die Tür wieder leise zumachen und ihre Schritte die Treppe heraufkommen.

»Wo in aller Welt bist du gewesen, Effie?« fragte ich, als sie hereintrat.

Bei meinen Worten fuhr sie heftig zusammen und stieß einen halb unterdrückten Schrei aus, und dieser Schrei und dieser Schreck beunruhigten mich mehr als alles übrige, denn aus ihnen sprach unverkennbar ein Schuldbewußtsein. Meine Frau war immer eine freie, offene Natur gewesen, und es schauderte mich, sie in ihr eigenes Zimmer schleichen und bei der Stimme ihres Mannes zusammenschrecken zu sehen.

»Du wach, Jack?« rief sie mit nervösem Lachen. »Ich dachte, dich könnte nichts aufwecken.«

»Wo bist du gewesen?« fragte ich in strengerem Tone.

»›Ich wundere mich nicht, daß du erstaunt bist,‹ sagte sie, und ich konnte sehen, wie ihre Finger zitterten, als sie ihren Mantel aufknöpfte. ›Ich glaube auch nicht, daß ich jemals im Leben schon so etwas getan habe. Die Sache ist die: mir war, als müßte ich ersticken, und es drängte mich unwiderstehlich, etwas frische Luft zu schöpfen. Ich wäre, glaube ich, ohnmächtig geworden, wäre ich nicht hinausgegangen. Ich habe ein paar Minuten an der Tür gestanden, und jetzt ist mir wieder ganz wohl.‹

»Während sie das vorbrachte, sah sie mich nicht einmal an, und ihre Stimme klang ganz anders als gewöhnlich. Für mich stand es fest, daß sie die Unwahrheit gesagt hatte. Ich erwiderte kein Wort, sondern wandte mein Gesicht der Wand zu, mit einem verwundeten, von Zweifel und Argwohn erfüllten Herzen. Was verhehlte meine Frau vor mir? Was war das Ziel ihrer nächtlichen Wanderung gewesen? Ich fühlte, ich könnte keine Ruhe mehr finden, bis ich's wüßte, und doch wollte ich sie nicht noch einmal fragen, nachdem sie mir etwas vorgelogen hatte. Den ganzen Rest der Nacht zermarterte ich mein Gehirn und konstruierte immer neue Theorien, eine immer unwahrscheinlicher als die andere.

»Am nächsten Tage hatte ich eigentlich in der Stadt zu tun, aber ich war in meinem Sinn zu verstört, um Gedanken für Geschäftssachen übrig zu haben. Meine Frau schien ebenso unruhig zu sein wie ich, und aus den schnellen prüfenden Blicken, die sie mir von Zeit zu Zeit zuwarf, konnte ich sehen, sie merkte wohl, daß ich ihr nicht glaubte, und sie war ratlos, was sie tun sollte. Beim Frühstück wechselten wir kaum ein Wort, und kurz danach ging ich fort, um die Sache in der frischen Morgenluft von neuem zu überdenken.

»Ich kam bis zum Kristallpalast, hielt mich eine Stunde im Park auf und war so um ein Uhr wieder in Norbury. Mehr zufällig wählte ich von der Station heimwärts einen Weg, der mich bei dem Häuschen vorüberführte, und blieb einen Augenblick stehen und sah nach den Fenstern, ob etwa wieder das sonderbare Gesicht da wäre, das mich am Tage vorher so angestarrt hatte. Wie ich dastand – denken Sie sich meine Ueberraschung, Herr Holmes! – ging auf einmal die Tür auf und meine Frau kam heraus!

»Bei ihrem Anblick war ich starr vor Erstaunen, aber meine Erregung war nichts im Vergleiche mit der, die sich in ihrem Gesichte malte, als unsere Augen sich begegneten. Einen Augenblick schien sie in das Haus zurückfahren zu wollen; dann aber, als sie sah, jedes Verhehlen sei unnütz, kam sie mit kreideweißem Gesichte und schreckerfüllten Augen, die das Lächeln auf ihren Lippen Lügen straften, auf mich zu.

»›O, Jack!‹ sagte sie. ›Ich war eben drin, um zu sehen, ob ich unseren neuen Nachbarn mit irgend etwas behilflich sein könnte. Was siehst du mich so an, Jack? Du bist mir doch nicht böse?‹

»›So!‹ sagte ich. ›Also hieher bist du in der Nacht, gegangen?‹

»›Was willst du damit sagen?‹ rief sie.

»›Du bist hier gewesen. Das ist gewiß. Wer sind die Leute, daß du sie nächtlicherweile aufsuchst?‹

»›Ich bin nicht hier gewesen.‹

»›Wie kannst du das sagen, wenn du doch selbst weißt, daß es nicht wahr ist?‹ rief ich. ›Schon deine veränderte Stimme verrät dich. Wann habe ich je ein Geheimnis vor dir gehabt? Ich werde jetzt in das Haus hineingehen und der Sache auf den Grund kommen.‹

»›Nein, nein Jack, um Gottes willen!‹ stöhnte sie, außer stande, ihre furchtbare Aufregung länger zu bemeistern, und als ich auf die Tür losschritt, ergriff sie mich am Aermel und zerrte mich mit krampfhafter Anstrengung zurück.

»›Ich flehe dich an, Jack, tu' das nicht!‹ rief sie. ›Ich schwöre dir, du wirst eines Tages alles erfahren; aber nichts als Jammer kann herauskommen, gehst du jetzt in das Haus.‹ Und als ich sie abzuschütteln versuchte, hing sie sich an mich und beschwor mich mit wahnsinnigem Flehen.

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»›Vertrau mir, Jack!‹ rief sie. ›Vertrau mir nur dies einemal! Du wirst es nie zu bereuen haben. Du weißt, ich würde dir nichts verhehlen, wäre es nicht um deiner selbst willen. Unser ganzes Lebensglück hängt daran. Gehst du mit mir heim, so wird alles wieder gut werden. Dringst du aber mit Gewalt in das Haus da, so ist alles aus.‹

»Solch ein Ernst, solch eine Verzweiflung lag in ihrer Art, daß ich mich von ihren Worten an die Stelle bannen ließ und unentschlossen vor der Tür stand.

»›Ich will dir vertrauen unter einer Bedingung und nur unter dieser Bedingung,‹ sagte ich schließlich. ›Diese Geheimnistuerei muß von nun an ein Ende haben. Du magst meinetwegen deine Heimlichkeit für dich behalten, aber du mußt mir versprechen, daß von nun an die nächtlichen Besuche aufhören und überhaupt alles Getue hinter meinem Rücken. Ich will das Geschehene vergessen, wenn du mir versprichst, daß nichts dergleichen in Zukunft mehr vorkommen soll.‹

»›Ich war überzeugt, du würdest mir vertrauen!‹ rief sie mit einem großen Seufzer der Erleichterung. ›Ich werde 's lassen, ganz wie du willst. Komm fort, o–komm fort nach Hause!‹

»Noch immer an meinem Aermel zupfend, führte sie mich von dem Häuschen weg. Als wir uns entfernten, warf ich noch einen Blick zurück und wirklich, da war wieder an einem der oberen Fenster das gelbe, fahle Gesicht und beobachtete uns. Was für ein Zusammenhang konnte zwischen diesem Wesen und meiner Frau bestehen? Oder was verband sie mit dem rohen Weib, das ich am Tage vorher gesehen hatte? Es war ein sonderbares Rätsel, und doch fühlte ich, für mich gab's keinen Frieden mehr, bis seine Lösung gefunden war.

»Die beiden folgenden Tage blieb ich daheim, und meine Frau hielt ihr Versprechen gewissenhaft, denn meines Wissens ging sie nicht aus dem Hause. Am dritten Tage aber konnte ich nicht zweifeln, daß ihr feierliches Gelöbnis sie dem geheimen Einfluß nicht zu entziehen vermochte, der sie von ihrem Gatten und ihrer Pflicht ablenkte.

»Ich war an dem Tage in die Stadt gefahren, kehrte aber mit dem Zug 2–Uhr 40–Minuten statt mit meinem gewöhnlichen 3–Uhr 36–Minuten zurück. Als ich ins Haus trat, kam das Mädchen mit bestürztem Gesicht in den Hausflur gelaufen.

»›Wo ist meine Frau?‹ fragte ich.

»›Ich glaube, sie ist ausgegangen,‹ antwortete sie.

»Sofort regte sich mein Verdacht. Ich sprang die Treppe hinauf, um mich zu überzeugen, ob sie im Hause sei. Dabei fiel mein Blick zufällig durch eines der oberen Fenster, und ich sah das Mädchen, mit dem ich eben gesprochen hatte, quer über das Feld auf das Unglückshaus zulaufen. Da ward mir natürlich sofort alles klar. Meine Frau war hinübergegangen und hatte dem Mädchen gesagt, es solle sie rufen, wenn ich zurückkäme.

»Außer mir vor Zorn, stürzte ich hinunter und querfeldein, entschlossen, die Sache ein- für allemal zu Ende zu bringen. Ich sah meine Frau und das Mädchen zusammen auf dem engen Heckenwege zurücklaufen, ließ mich aber dadurch nicht aufhalten. In dem Häuschen barg sich das Geheimnis, das einen Schatten auf mein Lebensglück warf. Ich schwor mir zu, mochte kommen, was da wollte, es sollte länger kein Geheimnis sein. Ich setzte nicht einmal den Klopfer in Bewegung, sondern drückte die Klinke nieder und stürzte in den Hausflur.

»Im unteren Stock war alles still und ruhig. In der Küche brodelte ein Kessel über dem Feuer, und eine große schwarze Katze lag zusammengerollt in einem Korbe; aber von der Frau, die ich gesehen hatte, keine Spur. Ich lief in das zweite Gelaß, aber das war ebenso menschenleer. Dann eilte ich die Treppe hinauf, fand aber auch hier nur zwei ganz verlassene Zimmer. Im ganzen Hause keine Menschenseele. Möbel und Wandschmuck waren von der denkbar einfachsten, billigsten Sorte, außer in der einen Stube, an deren Fenster ich das sonderbare Gesicht gesehen hatte. Die war gut und mit Geschmack ausgestattet, und aller heiße Argwohn, der mich erfüllte, kochte schäumend auf, als ich auf dem Kaminsims eine Vollphotographie meiner Frau bemerkte, die erst vor einem Vierteljahr auf meinen Wunsch aufgenommen worden war.

»Als ich mich zweifellos überzeugt hatte, daß das Haus leer war, verließ ich es mit einem Zentnergewicht auf dem Herzen, wie ich es nie in meinem Leben gefühlt hatte. Meine Frau kam mir in der Vorhalle entgegen, als ich wieder in mein Haus zurückkam, aber ich war zu sehr verletzt und zu zornig, um ein Wort an sie zu richten. Ich ging an ihr vorbei und begab mich in meine Arbeitsstube. Sie kam mir jedoch nach, ehe ich die Tür hatte zumachen können.

»›Es tut mir leid, daß ich mein Versprechen gebrochen habe, Jack,‹ sagte sie; ›aber wenn du alle Umstände wüßtest, würdest du mir, das glaube ich ganz gewiß, verzeihen.‹

.

»›Dann sage mir alles!‹

»›Ich kann nicht, Jack, ich kann nicht!‹ rief sie.

»›Ehe du mir nicht sagst, wer in dem Hause drüben gewohnt hat, und wem du die Photographie gegeben hast, kann von Vertrauen zwischen uns keine Rede mehr sein.‹ sagte ich, riß mich von ihr los und verließ das Haus.

»Das war gestern, Herr Holmes, und seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen, und das ist auch alles, was ich von der ganzen seltsamen Geschichte weiß. Es ist der erste Schatten, der zwischen uns gefallen ist, und ich bin so erschüttert davon, daß ich nicht mehr aus und ein weiß. Da fuhr mir's plötzlich heute morgen durch den Sinn, Sie seien der Mann, der mich beraten könnte in meiner Not; so bin ich hierher geeilt und gebe mich unbedenklich in Ihre Hände. Habe ich Ihnen irgend einen Punkt nicht deutlich genug beschrieben, so fragen Sie mich, bitte! Aber vor allem sagen Sie mir schnell, was ich tun soll! Denn dieses Elend ist mehr, als ich tragen kann.« – –

Holmes und ich hatten mit größtem Interesse dem ungewöhnlichen Bericht gelauscht, der stoßweise und abgebrochen erstattet wurde, wie von einem Manne, der unter dem Einflusse der höchsten Aufregung steht. Jetzt saß mein Freund eine Weile schweigend, in Gedanken verloren, das Kinn auf die Hand stützend, da.

»Wie ist es,« sagte er endlich, »können Sie beschwören, daß es ein Männergesicht war, das Sie am Fenster gesehen haben?«

»Jedesmal, wenn ich es gesehen habe, war ich ziemlich weit weg, so daß ich es unmöglich sagen kann.«

»Es hat aber einen unangenehmen Eindruck auf Sie gemacht?«

»Es schien mir eine unnatürliche Farbe und sonderbare starre Züge zu haben. Trat ich näher, so verschwand es mit einem Ruck.«

»Wie lange ist es her, daß Ihre Frau die hundert Pfund haben wollte?«

»Fast zwei Monate.«

»Haben Sie je ein Bild von ihrem ersten Gatten gesehen?«

»Nein, kurz nach seinem Tode ist in Atlanta Feuer ausgebrochen, und alle ihre Papiere sind verbrannt.«

»Und doch hatte sie eine Sterbeurkunde. Sie sagen, Sie haben sie gesehen?«

»Ja, sie hat sich nach dem Brand ein Duplikat ausstellen lassen.«

»Haben Sie einmal mit jemand gesprochen, der sie in Amerika gekannt hat?«

»Nein.«

»Hat sie selbst einmal davon geredet, daß sie ihren früheren Wohnplatz wiedersehen möchte?«

»Nein.«

»Kamen Briefe an sie von dort?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Danke Ihnen. Jetzt möchte ich die Sache ein wenig überdenken. Bleibt das Häuschen dauernd verlassen, so wird es einiges Kopfzerbrechen kosten. Sind aber, was mir wahrscheinlicher dünkt, die Bewohner gestern von Ihrem Kommen verständigt worden und infolge dieser Warnung ausgerückt, dann sind sie jetzt vielleicht wieder da, und das Geheimnis läßt sich unschwer aufdecken. Ich gebe Ihnen daher den Rat, Sie kehren nach Norbury zurück und erkunden, ob an den Fenstern des Häuschens wieder etwas zu sehen ist. Haben Sie Grund zu der Annahme, es sei bewohnt, so dringen Sie nicht gewaltsam hinein, sondern drahten meinem Freunde und mir. Eine Stunde später sind wir bei Ihnen und werden dann bald sehen, was der ganzen Geschichte zugrunde liegt.«

»Und wenn noch niemand drin ist?«

»In diesem Falle komme ich morgen zu Ihnen und wir besprechen, was weiter in der Angelegenheit zu tun ist. Leben Sie wohl, und vor allem grämen Sie sich nicht, bevor Sie nicht wissen, daß Sie wirklich Ursache dazu haben!«

»Ich fürchte, das ist ein schlimmer Handel, Watson!« sagte mein Gefährte, als er Herrn Grant Munro hinausbegleitet hatte und wieder zurückgekommen war. »Was machst du daraus?«

»Es klingt nicht schön,« antwortete ich.

»Ja. Es handelt sich um Erpressung, wenn ich mich nicht sehr irre.«

»Und wer übt Erpressung?«

»Nun, das kann einzig und allein das Wesen sein, das in dem einzigen gut ausgestatteten Zimmer dort wohnt und die Photographie der Frau auf dem Kaminsims stehen hat. Auf mein Wort, Watson, das fahle Gesicht am Fenster hat für mich etwas sehr Anziehendes, und ich würde den Fall nicht um alle Welt hingeben.«

»Hast du eine Theorie?«

»Ja, soweit dies meine bisherige Kenntnis der Tatsachen zuläßt. Aber es sollte mich wundern, wenn sie sich nicht als richtig erwiese. Der erste Ehemann von der Frau befindet sich in dem Häuschen.«

»Warum denkst du das?«

»Wie können wir uns sonst ihre wahnsinnige Angst erklären, als ihr zweiter Mann in das Haus dringen wollte? Wie ich die Sache auffasse, ist der Tatbestand etwa folgender: Die Frau war in Amerika verheiratet. Sie entdeckte an ihrem Mann irgendwelche verabscheuungswerten Angewohnheiten oder, sagen wir, er verfiel in eine scheußliche Krankheit und wurde ein Aussätziger oder Idiot. Sie floh schließlich von ihm fort, kehrte nach England zurück, nahm einen anderen Namen an und begann, wie sie dachte, ein neues Leben. Sie war drei Jahre verheiratet und glaubte, außer aller Gefahr der Entdeckung zu sein, da sie ihrem zweiten Manne die Sterbeurkunde irgend eines Mannes vorgezeigt hatte, dessen Namen sie angenommen, als plötzlich ihr Aufenthalt von ihrem ersten Mann oder, können wir auch annehmen, von irgend einem gewissenlosen Weibe, das sich mit dem Kranken verbunden hat, ausfindig gemacht wird. Sie schreiben an die Frau und drohen ihr, sie würden kommen und die Wahrheit enthüllen. Sie läßt sich hundert Pfund geben und sucht ihr Schweigen zu erkaufen. Sie kommen trotzdem, und als ihr zweiter Mann gelegentlich erwähnt, es seien neue Mieter in dem Häuschen, erkennt sie aus irgend einem Umstände, daß es ihre Verfolger seien. Sie wartet, bis ihr Gatte eingeschlafen ist, dann eilt sie hin und will sie überreden, sie in Frieden zu lassen. Da ihr Flehen vergeblich ist, geht sie am nächsten Morgen noch einmal hin, und ihr Mann trifft sie beim Fortgehen, wie er uns erzählt hat. Sie verspricht ihm dann, nicht mehr hinzugehen, aber nach zwei Tagen ist der Wunsch, die entsetzliche Nachbarschaft loszuwerden, zu mächtig in ihr, und sie macht einen neuen Versuch, wobei sie ihre Photographie, die man wahrscheinlich von ihr verlangt hatte, mitnimmt. Während sie noch miteinander verhandeln, stürzt das Mädchen herein mit der Meldung, der Herr sei heimgekommen, worauf die Frau, welche weiß, ihr Mann werde sofort am Platze erscheinen, die Insassen augenblicklich zur Hintertüre hinausgehen heißt, in das Kiefernwäldchen wahrscheinlich, das dicht dabei stehen soll. So findet er das Haus verlassen. Es sollte mich aber sehr wundern, wenn er es heute abend noch ebenso fände. Was denkst du von meiner Theorie?«

»Das ist alles bloße Vermutung.«

»Aber es stimmt doch mit den uns bekannten Tatsachen. Werden uns neue bekannt, mit denen sich meine Theorie nicht vereinigen läßt, dann, aber nur dann, müssen wir sie eben einer Revision unterziehen. Zur Zeit können wir nichts weiter tun, bis wir von unserem Freunde in Norbury eine neue Botschaft erhalten.«

Wir brauchten nicht lange zu warten. Die Nachricht kam, als wir gerade mit dem Tee fertig waren. Sie lautete:

»Die Mieter sind wieder da. Habe das Gesicht nochmals am Fenster gesehen. Erwarte Sie mit dem Siebenuhrzug und tue keinen Schritt, bis Sie kommen.«

Wir trafen ihn auf dem Bahnsteig, als wir ausstiegen, und konnten beim Scheine her Stationslampe sehen, daß er sehr bleich war und vor Aufregung zitterte. »Sie sind noch da, Herr Holmes!« sagte er und legte seine Hand auf die Schulter meines Freundes. »Ich habe Licht im Hause gesehen, als ich vorbeikam. Wir müssen's jetzt ein- für allemal ausmachen.«

»Wie ist also Ihr Plan?« fragte Holmes, als wir die dunkle, baumbepflanzte Straße hinuntergingen.

»Ich will mir gewaltsam Eingang verschaffen und selbst sehen, wer im Hause ist. Sie beide wünsche ich als Zeugen dabei zu haben.«

»Sie sind hierzu entschlossen trotz der Warnung Ihrer Frau, es sei besser, Sie drängen nicht in das Geheimnis?«

»Ja, ich bin entschlossen.«

»Gut. Ich denke, Sie haben recht. Jede Wahrheit ist besser als quälender Zweifel ohne Ende. Es ist besser, wir gehen sofort daran. Freilich, daß wir dabei gesetzwidrig handeln, ist nur allzu klar. Aber ich denke, unter den Umständen können wir's riskieren.«

Es war eine sehr finstere Nacht, und ein leichter Regen setzte ein, als wir von der Landstraße in den enorm tief ausgefahrenen Heckenweg einbogen. Herr Grant Munro drängte jedoch ungeduldig vorwärts, und wir stolperten hinter ihm drein, so gut wir eben konnten.

»Dort sind die Lichter meines Hauses,« murmelte er, auf einen Schimmer zwischen den Bäumen weisend, »und das hier ist das Landhaus, in das ich hinein will.« Während er dies sagte, bog sich der Weg, und das Gebäude lag dicht neben uns. Ein gelber Lichtschein, der über den dunklen Vordergrund lief, ließ uns erkennen, daß die Tür nicht völlig geschlossen war, und ein Fenster im oberen Stockwerk war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir durch die Fensterblenden einen schwarzen Fleck sich bewegen.

»Das ist das Geschöpf!« rief Grant Munro. »Sie können selbst sehen, daß sich dort jemand befindet. Jetzt mir nach, und wir werden bald alles wissen!«

Wir näherten uns der Tür, aber plötzlich trat aus dem Schatten eine Frau hervor und stand vor uns, vom goldigen Schimmer des Lichtes übergossen. Ihr vom Lichtschein abgewandtes Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ich sah, wie sie ihre Arme flehend erhob.

»Um Gottes willen, Jack, tu es nicht!« rief sie mit trauervoller Stimme.

»Lass' mich gehen! Ich muß vorbei. Meine Freunde und ich wollen diese Geschichte ein- für allemal zu Ende bringen.« Er schob sie beiseite, und wir folgten ihm unmittelbar. Als er die Tür weit aufriß, stellte sich ihm eine ältliche Frauensperson in den Weg, aber er stieß sie zurück, und einen Augenblick später waren wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das erleuchtete Zimmer im oberen Stockwerk, und wir folgten ihm auf den Fersen.

Es war ein trauliches, hübsch ausgestattetes Zimmer, von zwei Kerzen auf dem Tisch und zwei anderen auf dem Kaminsims erhellt. Vor einem Sekretär an der Wand, an einen Polsterstuhl gelehnt, stand allem Anschein nach ein kleines Mädchen. Sein Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß es einen roten Rock anhatte und lange weiße Handschuhe trug. Als sie sich uns zukehrte, stieß ich einen Schrei der Ueberraschung und des Entsetzens aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, zeigte eine höchst sonderbare fahle Farbe, und die Züge waren völlig ausdrucksleer. Einen Augenblick später war das Geheimnis enthüllt. Holmes fuhr lachend mit der Hand hinter das Ohr des Kindes, eine Maske schälte sich von seinem Angesicht und vor uns stand ... ein kleines kohlschwarzes Negermädchen, das vor Vergnügen über unsere verdutzten Gesichter alle seine weißen Zähne blitzen ließ. Ich mußte in ihr lustiges Lachen einstimmen, aber Grant Munro starrte sie sprachlos an und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.

.

»Mein Gott,« schrie er endlich, »was hat das zu bedeuten?«

»Ich will dir sagen, was es zu bedeuten hat,« rief Frau Munro, indem sie mit entschlossenem, gefaßtem Gesichtsausdruck ins Zimmer trat. »Du hast mich gegen meinen Wunsch zum Reden gezwungen, und nun müssen wir uns beide, so gut es gehen will, damit abfinden. Mein Mann ist in Atlanta gestorben, mein Kind aber ist am Leben geblieben.«

»Dein Kind?«

Sie zog ein silbernes Medaillon aus ihrem Busen. »Du hast dies niemals offen gesehen.«

»Ich dachte, es ginge nicht auf.«

Sie drückte auf eine Feder, und die Vorderseite sprang auf. Es wurde das Porträt eines Mannes sichtbar, der ausnehmend schöne und intelligente Züge besah, aber die unverkennbaren Merkmale afrikanischer Abstammung aufwies.

»Das ist John Hebron aus Atlanta,« sagte die Dame, »und keiner übertraf ihn an Adel der Gesinnung. Ich zerfiel mit allen Angehörigen meiner Rasse wegen meiner Heirat mit ihm, bereute es aber, solange er am Leben blieb, keinen Augenblick. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind mehr seinem Volke als meinem nachschlug. Das kommt oft in solchen Ehen vor, und unsere kleine Lucy ist weit dunkler, als ihr Vater je war. Aber dunkel oder hell, sie ist ein liebes kleines Mädel und ihrer Mutter Liebling.«

Bei diesen Worten sprang die Kleine auf, lief auf die Dame zu und verbarg ihr Gesicht in deren Kleide.

»Daß ich sie in Amerika ließ,« fuhr Frau Munro fort, »geschah nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie war der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die vorher in unserem Dienst gestanden hatte. Keinen Augenblick ist es mir auch nur im Traum in den Sinn gekommen, sie als mein Kind verleugnen zu wollen. Als uns das Schicksal aber zusammenführte, Jack, und ich dich lieben lernte, fürchtete ich mich, dir etwas von meinem Kinde zu sagen. Gott möge mir vergeben, aber ich glaubte, ich würde dich verlieren und hatte nicht den Mut, mit dir davon zu reden. Ich mußte zwischen euch beiden wählen, und in meiner Schwäche wandte ich mich von meinem eigenen kleinen Mädchen weg. Drei Jahre lang habe ich ihre Existenz vor dir verborgen gehalten, aber ihre Pflegerin gab mir Nachricht, und ich wußte, daß es ihr gut ging. Schließlich konnte ich aber der Sehnsucht nach dem Kinde nicht länger widerstehen und vergebens war mein Bemühen, sie zu unterdrücken. Obgleich ich mir der Gefahr bewußt war, beschloß ich, das Kind herüberkommen zu lassen, und wäre es auch nur auf ein paar Wochen. Ich schickte der Pflegerin hundert Pfund und gab ihr Anweisung in Betreff dieses Hauses, so daß sie meine Nachbarin werden könnte, ohne daß ich doch in irgend welcher Beziehung zu ihr zu stehen schiene. Um recht vorsichtig zu sein, ließ ich das Kind tagsüber nicht aus dem Hause gehen und sein kleines Gesicht und seine Hände mit einer Maske bedecken, damit sich nicht etwa, wenn es jemand am Fenster sähe, das Gerücht verbreiten könnte, es befinde sich hier ein Negerkind. Wäre ich weniger vorsichtig gewesen, so hätte ich vielleicht klüger gehandelt, aber ich war halb wahnsinnig vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.

»Du hast mir zuerst mitgeteilt, daß das Häuschen wieder bezogen sei. Nun hätte ich bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlich ich mich endlich davon, da ich ja wußte, wie schwer du aufzuwecken warst. Aber du sahst mich gehen, und damit fing meine Not an. Am nächsten Tage hattest du es in der Hand, meinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, aber du warst großmütig genug, deinen Vorteil nicht zu verfolgen. Drei Tage später waren Kind und Pflegerin kaum zur Hintertür hinaus, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute weißt du nun alles, und ich frage dich: Was soll aus uns, meinem Kinde und mir, werden?« Sie schlug ihre Hände zusammen und wartete auf Antwort.

Es dauerte lange zwei Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach; aber die Antwort, die er gab, war so, daß ich mich ihrer immer mit Vergnügen erinnere. Er hob die Kleine auf, küßte sie, streckte dann, das Kind auf dem Arme behaltend, der Mutter die Hand hin und wandte sich der Tür zu.

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»Wir können die Sache gemütlicher daheim besprechen,« sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke doch, ich bin besser, als du mich geschätzt hast.«

Holmes und ich folgten ihnen auf dem Heckenweg. Als wir auf die Straße kamen, zupfte mich mein Freund am Aermel und flüsterte mir zu: »Ich denke, wir können uns in London nützlicher machen als in Norbury.«

Nicht ein Wort äußerte er weiter über den Fall, bis er sich spät abends mit einer brennenden Kerze in der Hand in sein Schlafzimmer begab.

»Watson!« sagte er. »Sollte es dir einmal so vorkommen, als würde ich etwas zu selbstbewußt oder verwendete weniger Mühe auf einen Fall, als er verdient, so flüstere mir, bitte, nur das eine Wort: Norbury ins Ohr, und du wirst mich dir sehr zu Dank verpflichten!«


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