Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Ein Werdender - Zweiter Band
Fjodor Michailowitsch Dostojewski

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Achtes Kapitel

1

Ich träumte diese ganze Nacht von der Roulette, vom Spiel, von Gold und von Berechnungen. Ich berechnete mir im Traume die ganze Zeit, wie ich setzen solle, um Gewinnchancen zu haben, und das lag die ganze Nacht wie ein Alpdruck auf mir. Ganz aufrichtig gesprochen, hatte ich auch schon vorher den ganzen Tag trotz aller der ungeheuern Eindrücke, die auf mich einstürmten, hie und da an meinen Spielgewinn bei Serstschikow denken müssen. Ich unterdrückte den Gedanken daran, aber den Eindruck, den ich davon bekommen hatte, konnte ich nicht unterdrücken; und ich zitterte bei der bloßen Erinnerung. Dieser Gewinn hatte sich in mein Herz festgebissen. Sollte ich wirklich ein geborner Spieler sein? Es ist wenigstens wahrscheinlich, daß ich manche Züge von einem gebornen Spieler habe.

Auch heute noch, wo ich dies alles niederschreibe, denke ich zeitweise gern über das Spiel nach! Es kommt manchmal vor, daß ich ganze Stunden damit verbringe, stumm dazusitzen, den Kopf voller Spielerberechnungen, und mir auszumalen, wie das alles gehen und wie ich setzen und gewinnen würde. Ach ja, in mir sind so allerhand Züge vereinigt, und ich habe eine unruhige Seele.

Um zehn Uhr beabsichtigte ich zu Stebelkow zu gehen, und zwar zu Fuß. Matwej hatte ich, als er gekommen war, gleich nach Hause geschickt. Während ich Kaffee trank, bemühte ich mich, über alles mit mir ins reine zu kommen. Ich fühlte mich eigentümlich befriedigt; und wie ich so schnell einen Blick in mein eignes Innere warf, erkannte ich, daß ich hauptsächlich darüber befriedigt war, daß ich heute ins Haus des Fürsten Nikolaj Iwanowitsch kommen würde. Aber dieser Tag meines Lebens war schicksalsträchtig und brachte lauter Überraschungen. Mit einer solchen sollte er auch gleich beginnen.

Schlag zehn Uhr flog meine Tür sperrangelweit auf, und herein stürzte – Tatjana Pawlowna. Ich hätte alles eher erwartet, als einen Besuch von ihr, und sprang erschrocken auf. Ihr Gesicht war wütend, ihre Gebärden waren fahrig; und wenn man sie gefragt hätte, weshalb sie zu mir gestürzt kam, hätte sie es wohl selber kaum sagen können. Ich muß hier gleich eins bemerken: sie hatte soeben eine ganz erstaunliche Nachricht erhalten, die sie aufs höchste überrascht hatte, und stand noch ganz unter dem frischen Eindruck. Und diese Nachricht bezog sich auch auf mich. Übrigens verweilte sie bei mir nur eine halbe Minute, nun, sagen wir: eine Minute, länger aber ganz gewiß nicht. Sie stürzte sich nur so auf mich.

»Du bist mir ja der Rechte!« schrie sie und pflanzte sich mit weit vorgebognem Oberkörper vor mir auf. »Ach, du junger Hund! Was hast du denn jetzt wieder angerichtet? Oder weißt du's noch gar nicht? Er trinkt Kaffee! Ach du Schwatzliese, ach du Klatschmaul, du Liebhaber mit Goldschnitt . . . Solche Bengel müssen eine Tracht Prügel mit der Rute bekommen, mit der Rute, der Rute!«

»Tatjana Pawlowna, was ist denn geschehen? Was ist passiert? Hat Mama? . . .«

»Du wirst's schon erfahren!« schrie sie drohend und lief davon, – kaum daß ich sie richtig gesehen hatte. Ich wäre ihr natürlich nachgelaufen, aber mich hielt ein Gedanke fest, und das war kein Gedanke, sondern eine gewisse dunkle Unruhe: ich ahnte, daß der ›Liebhaber mit Goldschnitt‹ das wesentlichste unter ihren Schimpfworten gewesen wäre. Natürlich wäre ich selber allein nie auf den Zusammenhang gekommen, aber ich ging schnell aus, um sobald wie möglich mit Stebelkow zum Schluß zu kommen und dann zu Fürst Nikolaj Iwanowitsch zu eilen. »Dort finde ich den Schlüssel zu allem!« dachte ich mir instinktiv.

Es ist erstaunlich, woher Stebelkow es wußte, aber er wußte schon die ganze Geschichte von Anna Andrejewna, und sogar bis in alle Einzelheiten; ich mag seine Reden und Gebärden nicht beschreiben, aber er war begeistert, ganz wahnsinnig begeistert über diesen »kolossal fein eingefädelten Trick«.

»Ist das ein Frauenzimmer! Nein, ist das ein Frauenzimmer!« rief er. »Nein, der reichen wir nicht das Wasser; wir sitzen da und denken an nichts Böses, aber sie kriegt Lust, ihr Wasser direkt aus der Quelle zu trinken – und weiß Gott, sie tut es auch. Das . . . das ist eine antike Statue! Das ist eine antike Minervastatue, bloß daß sie herumgeht und moderne Kleider trägt!«

Ich ersuchte ihn, zur Sache zu kommen; es handelte sich, wie ich vorausgesehen hatte, um weiter nichts, als darum, den Fürsten geneigt zu machen und zu überreden, zu Fürst Nikolaj Iwanowitsch zu gehen und ihn zu bitten, ihm ein für allemal aus der Klemme zu helfen. »Sonst kann es ihm sehr, sehr schlecht bekommen, und ich hab' es nicht in der Hand, ihm zu helfen; stimmt das oder nicht?«

Er sah mir starr in die Augen, glaubte aber wohl nicht, daß ich auch nur das geringste mehr wüßte als gestern. Und er konnte ja auch gar nichts andres glauben: es ist ja selbstverständlich, daß ich ihm mit keinem Wort, keiner Anspielung verriet, daß ich etwas von den Aktien wußte. Wir ließen uns nicht weiter in lange Erörterungen ein, und er für sein Teil begann mir sogleich wieder Geld zu versprechen, »und zwar viel Geld, viel Geld; Sie müssen nur mithelfen, daß der Fürst hingeht. Die Sache ist dringlich, sehr dringlich, das ist's ja eben, daß sie so furchtbar dringlich ist!«

Mich lange mit ihm zu streiten und zu unterhalten, wie gestern, hatte ich keine Lust; ich stand auf, wendete mich zur Tür und sagte für jeden Fall so ganz leichthin, ich würde mir Mühe geben. Aber da plötzlich tat er etwas sehr Überraschendes: ich war schon an der Tür, als er auf einmal seinen Arm zärtlich um meine Taille legte und . . . das unverständlichste Zeug zu reden anfing.

Ich schenke mir die Einzelheiten und gebe nicht den ganzen Gang der Unterhaltung wieder, um den Leser nicht zu ermüden. Ihr Sinn war kurz der, daß er mich ersuchte, ihn mit Herrn Dergatschow bekannt zu machen, da ich ja dort verkehre.

Ich verstummte für einen Augenblick und gab mir Mühe, mich auch nicht durch eine Miene zu verraten. Übrigens sagte ich dann gleich, ich verkehrte dort durchaus nicht; und wenn ich hingekommen wäre, wäre es nur einmal und ganz zufällig geschehen.

»Aber wenn Sie einmal eingeführt sind, dann können Sie auch wieder hinkommen; stimmt's oder nicht?«

Ich fragte ihn geradeheraus, aber sehr kaltblütig, weshalb er das wünsche. Und ich kann bis zum heutigen Tage nicht begreifen, wie es möglich war, daß die Naivität eines solchen Menschen, der sichtlich nicht dumm und nach Wasins Definition ein »Geschäftsmann« war, einen solchen Grad erreichen konnte. Er erklärte mir ganz geradeheraus, er hätte den Verdacht, daß bei Dergatschow irgend etwas »Verbotnes, streng Verbotnes« vorgehe, und daß ich mir dadurch, daß ich es auskundschaftete, »einigen Profit« verschaffen könnte. Und er lächelte und zwinkerte mir mit seinem linken Auge zu.

Ich sagte ihm darauf nicht das geringste, was bindend gewesen wäre, tat aber, als wolle ich es mir überlegen, und versprach ihm, »darüber nachzudenken«; dann aber machte ich, daß ich weiterkam. Diese Geschichten komplizierten sich: ich eilte zu Wasin und traf ihn auch glücklich zu Hause.

»Ah, Sie auch!« sagte er rätselhaft, als er mich erblickte.

Ich dachte nicht weiter über diese Worte nach, sondern ging gleich auf die Sache los und erzählte ihm, was ich eben gehört hatte. Er war sichtlich überrascht, wenn er auch seine Kaltblütigkeit durchaus bewahrte. Er fragte mich genau nach allen Einzelheiten aus.

»Ist es möglich, daß Sie ihn falsch verstanden haben?«

»Nein; ich habe ihn schon richtig verstanden, der Sinn seiner Rede war ganz klar.«

»Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar«, fügte er aufrichtig hinzu. »Ja, in der Tat, wenn alles so war, dann hat er geglaubt, Sie könnten einer gewissen Summe Geldes nicht widerstehen.«

»Ja, und außerdem kennt er meine Situation nur zu gut: ich habe die ganze Zeit immer nur gespielt, ich habe ein schlechtes Leben geführt, Wasin.«

»Ich habe davon gehört.«

Ich wagte die Frage:

»Am rätselhaftesten erscheint es mir, daß er weiß, daß auch Sie in dem Kreise verkehren.«

»Er weiß ganz genau,« erwiderte Wasin mit harmloser Miene, »daß ich dort ohne einen besonderen Zweck verkehre. Und alle diese jungen Leute sind ja wohl auch mehr Schwätzer und nichts weiter; Sie selbst müssen das ja am besten wissen, von damals her.«

Ich hatte den Eindruck, als traue er mir in irgendeiner Hinsicht nicht.

»Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar.«

»Ich habe gehört, Herr Stebelkow hätte mit seinen Geschäften einige Unannehmlichkeiten,« versuchte ich ihn auszuholen, »wenigstens habe ich etwas von gewissen Aktien gehört . . .«

»Von was für Aktien?«

Ich hatte die Aktien mit Vorbedacht erwähnt, aber natürlich nicht in der Absicht, ihm das Geheimnis des Fürsten zu erzählen, das der mir gestern mitgeteilt hatte. Ich wollte nur darauf anspielen und dabei an seinem Gesicht, seinen Augen sehen, ob er etwas von den Aktien wüßte. Ich erreichte meinen Zweck: aus einem kaum merklichen, momentanen Zucken seines Gesichtes erriet ich, daß er wohl auch etwas davon wüßte. Ich antwortete nicht auf seine Frage, »was für Aktien« das wären, sondern blieb stumm; und er – das war interessant – fragte auch nicht weiter danach.

»Wie geht es Lisaweta Makarowna?« erkundigte er sich teilnehmend.

»Gut. Meine Schwester hat immer eine Verehrung für Sie gehabt . . .«

Seine Augen glänzten vor Genugtuung: ich hatte schon lange erraten, daß ihm Lisa nicht gleichgültig war.

»Fürst Sergej Petrowitsch war kürzlich bei mir«, teilte er mir auf einmal mit.

»Wann?« rief ich überrascht.

»Es sind gerade vier Tage her.«

»Nicht gestern?«

»Nein, nicht gestern.« Er sah mich fragend an.

»Später werde ich Ihnen vielleicht einmal ausführlicher von diesem Besuch erzählen, aber jetzt halte ich es immerhin für notwendig, Sie zu warnen,« sagte Wasin rätselhaft: »er zeigte sich mir damals in einem, sagen wir, nicht ganz normalen Zustand seiner Seele und . . . auch seines Verstandes. Übrigens habe ich noch einen Besuch bekommen,« lächelte er plötzlich, »jetzt eben, bevor Sie kamen, und muß auch bei diesem Besucher auf einen nicht ganz normalen Zustand schließen.«

»War der Fürst eben da?«

»Nein, nicht der Fürst, ich spreche jetzt nicht vom Fürsten. Andrej Petrowitsch Wersilow war gerade bei mir und . . . wissen Sie nichts? Ist ihm nicht irgend etwas passiert?«

»Kann schon sein, daß ihm etwas passiert ist; aber was war denn jetzt eben bei Ihnen mit ihm?« fragte ich hastig.

»Ich sollte ja wohl natürlich Stillschweigen darüber bewahren . . . Das ist eine etwas sonderbare Unterhaltung zwischen Ihnen und mir: gar so geheimnisvoll«, lächelte er wieder. »Andrej Petrowitsch hat mich übrigens nicht um Diskretion ersucht. Aber Sie sind sein Sohn, und da ich Ihre Gefühle für ihn kenne, so glaube ich in diesem Falle sogar gut daran zu tun, wenn ich Sie warne. Stellen Sie sich vor, er kam mit der Anfrage zu mir: wenn zufällig in diesen Tagen, sehr bald, die Notwendigkeit an ihn heranträte, sich zu duellieren, ob ich dann das Amt seines Sekundanten übernehmen wolle. Ich habe natürlich kurzweg abgelehnt.«

Ich war unendlich überrascht; diese Neuigkeit war die beunruhigendste von allen: es war etwas geschehen, es ging etwas vor, es hatte sich ganz bestimmt irgend etwas ereignet, wovon ich noch nichts wußte! Ich erinnerte mich plötzlich an das, was Wersilow gestern zu mir gesagt hatte: »Ich werde nicht zu dir kommen, aber du wirst zu mir gestürzt kommen.« Ich machte, daß ich zu Fürst Nikolaj Iwanowitsch kam, mit der noch stärkeren Ahnung, daß ich dort die Lösung des Rätsels finden würde. Wasin dankte mir beim Abschied noch einmal.

 

2

Der alte Fürst saß vor dem Kamin, die Füße in ein Plaid gewickelt. Er empfing mich mit einem eigen fragenden Blick, als wundre er sich, daß ich gekommen war; und dabei hatte er doch selber fast jeden Tag nach mir geschickt. Er begrüßte mich übrigens freundlich, antwortete aber auf meine ersten Fragen etwas verdrossen und ganz sonderbar zerstreut. Hie und da schien er über etwas nachzugrübeln und sah mich starr und aufmerksam an, als hätte er irgend etwas vergessen und besänne sich auf etwas, was zweifellos irgendwie mit mir zusammenhängen mußte. Ich sagte ihm geradeheraus, ich hätte schon alles gehört und freute mich sehr. Sogleich lächelte er freundlich und herzlich und belebte sich sichtlich; Vorsicht und Mißtrauen fielen auf einmal von ihm ab, als hätte er sie einfach vergessen. Und natürlich hatte er sie auch vergessen.

»Du, mein lieber Freund, ich hab' es ja gewußt, daß du als erster kommen würdest, und weißt du: gleich gestern habe ich mir das von dir gedacht: ›Wer wird sich darüber freuen? Er wird sich darüber freuen!‹ Na ja, und sonst auch niemand mehr; aber das macht ja nichts. Die Leute haben böse Zungen, aber das ist ja so gleichgültig . . . Cher enfant, das alles ist so erhaben und so herrlich . . . Aber du kennst sie ja selber so sehr gut. Und auf dich hält Anna Andrejewna große Stücke. Sie hat das strenge und entzückende Gesicht eines englischen Albumbildes, es ist wie der herrlichste englische Stich, den es überhaupt geben kann . . . Vor zwei Jahren hatte ich eine ganze Sammlung von solchen Stichen . . . Immer schon, immer schon habe ich diese Absicht gehabt, immer: ich wundre mich nur, daß ich nie daran gedacht habe.«

»Soviel ich weiß, haben Sie Anna Andrejewna immer so sehr geliebt und geschätzt.«

»Lieber Freund, wir wollen niemand zu nahe treten. Ein Leben mit Freunden, mit Verwandten, mit denen, die unserm Herzen teuer sind, das ist das Paradies. Alle sind wir Dichter . . . Kurz und gut, das weiß man ja schon seit prähistorischen Zeiten. Weißt du, wir wollen im Sommer erst nach Soden, und dann nach Bad Gastein. Aber wie lange warst du eigentlich nicht bei mir, lieber Freund; was ist das eigentlich mit dir? Ich habe auf dich gewartet. Und es ist doch wahrhaftig in der Zeit so viel passiert. Schade nur, daß ich so unruhig bin: wenn ich allein bin, bin ich immer so unruhig. Und eben darum kann ich auch nicht allein bleiben; nicht wahr? Das ist doch so klar, wie zweimal zwei vier. Und das habe ich sofort verstanden, vom ersten Wort an, das sie sagte. Oh, lieber Freund, sie hat überhaupt nur zwei Worte gesagt, aber die . . . die waren so gut wie das großartigste Gedicht. Übrigens bist du ja ihr Bruder, beinahe ihr Bruder, nicht wahr? Lieber Freund, ich habe dich nicht umsonst so liebgewonnen! Ich schwöre dir, ich habe das alles vorausgeahnt. Ich habe ihr nur die kleine Hand geküßt und habe geweint.«

Er holte sein Taschentuch hervor, als wolle er wieder anfangen zu weinen. Er war sehr erschüttert und, wie mir schien, bei so schlechtem Befinden, wie ich ihn während der ganzen Zeit unsrer Bekanntschaft noch nicht gesehen hatte. Für gewöhnlich, eigentlich fast immer, war er unvergleichlich viel frischer und wohler gewesen.

»Ich würde allen verzeihen«, stammelte er weiter. »Ich möchte allen verzeihen und bin schon lange niemand mehr böse. Die Kunst, la poésie dans la vie, die Wohltätigkeit gegen die Armen und sie, die biblische Schönheit! Quelle charmante personne, ah? Les chants de Salomon . . . non, ce n'est pas Salomon, c'est David qui mettait une jeune belle dans son lit pour se chauffer dans sa vieillesse. Enfin David, Salomon, das alles dreht sich mir im Kopfe – der reinste Gallimathias. Jedes Ding, cher enfant, kann gleichzeitig erhaben und lächerlich sein. Cette jeune belle de la vieillesse de David – c'est tout un poème, aber bei Paul de Kock wäre daraus eine scène de bassinoire geworden, und wir alle würden darüber lachen. Paul de Kock hat das richtige Maß nicht, ihm fehlt der Geschmack, wenn er auch Talent hat . . . Katerina Nikolajewna lächelt über uns . . . Ich hab' ihr gesagt, daß wir ihr nicht zu nahe treten werden. Wir haben unsern Roman begonnen, und man soll uns ihn auch beenden lassen. Mag das ein Traum sein, aber man soll uns diesen Traum nicht nehmen.«

»Das heißt, wieso ist es ein Traum, Fürst?«

»Ein Traum? Wieso ein Traum? Na, mag es ein Traum sein, man soll mich nur mit diesem Traume sterben lassen.«

»Oh, Fürst, weshalb wollen Sie denn sterben? Leben heißt es jetzt, nur leben!«

»Ja, was habe ich denn sonst gesagt? Weiter sage ich ja die ganze Zeit nichts. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum das Leben so kurz ist. Natürlich wohl, damit es einem nicht langweilig wird; denn das Leben ist eben ein Kunstwerk des Schöpfers selber, ein Kunstwerk in der vollendeten und unanfechtbaren Formenreinheit einer Puschkinschen Dichtung. Kürze ist die erste Bedingung für ein Kunstwerk. Aber wenn einem Menschen das Leben nicht langweilig wird, so sollte der Betreffende eben auch länger leben dürfen.«

»Sagen Sie, Fürst, ist es schon offiziell?«

»Nein, lieber Freund, durchaus nicht; wir alle sind dahin übereingekommen. Das bleibt in der Familie, in der Familie, und nochmals in der Familie. Bisher habe ich alles nur Katerina Nikolajewna mitgeteilt, weil ich mich ihr gegenüber schuldig fühle. Oh, Katerina Nikolajewna ist ein Engel, ein Engel ist sie!«

»Ja, das ist sie!«

»Ja? Und du sagst ja? Und ich dachte, du wärest ihr Feind. Übrigens, da fällt mir ein: sie hat mich ja gebeten, dich nicht mehr zu empfangen. Und stell' dir vor: als du kamst, hatte ich es auf einmal vergessen.«

»Was sagen Sie da?« rief ich und sprang auf. »Weswegen? Seit wann?«

(Meine Ahnung hatte mich nicht betrogen; ja, etwas Ähnliches hatte ich vorausgeahnt, seit Tatjana Pawlowna bei mir gewesen war.)

»Seit gestern, lieber Freund, seit gestern; und ich verstehe überhaupt nicht, wie du jetzt hereingekommen bist, denn es sind Maßregeln getroffen worden. Wie bist du hereingekommen?«

»Ich bin einfach hereingekommen.«

»Das ist auch das wahrscheinlichste. Wenn du es mit List versucht hättest, hereinzukommen, hätten sie dich sicher erwischt; aber du bist ganz einfach hereingekommen, und da haben sie dich eben durchgelassen. Die Einfalt, mon cher, ist in Wirklichkeit die größte List.«

»Ich verstehe kein Wort: also haben auch Sie sich entschlossen, mich nicht zu empfangen?«

»Nein, lieber Freund, ich habe gesagt, mich ginge die Sache nichts an . . . Das heißt, ich habe meine volle Einwilligung gegeben. Sei überzeugt, mein lieber Junge, daß ich dich wirklich sehr gern habe. Aber Katerina Nikolajewna hat es so sehr, sehr dringend verlangt . . . Ah, sieh da!«

In diesem Augenblick erschien plötzlich Katerina Nikolajewna in der Tür. Sie war zum Ausgehen gekleidet und kam, wie das auch früher geschehen war, sich bei ihrem Vater zu verabschieden. Als sie mich erblickte, stutzte sie, wurde verlegen, drehte sich schnell um und ging wieder.

»Voilà!« rief der Fürst überrascht und schrecklich aufgeregt.

»Das ist ein Mißverständnis!« rief ich. »Es kostet nur eine Minute . . . Ich . . . ich bin gleich wieder da, Fürst!«

Und ich lief hinter Katerina Nikolajewna her.

Was nun folgte, vollzog sich so schnell, daß ich nicht nur keine Zeit hatte zu überlegen, sondern mir auch nicht im geringsten vorher klarmachen konnte, wie ich mich benehmen solle. Hätte ich das gekonnt, so hätte ich mich natürlich anders benommen! Aber ich ließ mich hinreißen wie ein kleiner Junge. Ich wollte nach ihren Zimmern stürzen, aber ein Diener sagte mir unterwegs, daß Katerina Nikolajewna schon fort sei und gerade in den Wagen steige. Ich rannte Hals über Kopf auf die Vordertreppe hinaus. Katerina Nikolajewna stieg in ihrem Pelz hinunter, und neben ihr ging, oder vielmehr es führte sie, ein hochgewachsener, wohlgebauter Offizier in Uniform, ohne Mantel, den Säbel umgeschnallt; den Mantel trug ihm ein Diener nach. Das war der Baron; er war Oberst, zählte vielleicht fünfunddreißig Jahre, war der Typus des schicken Offiziers, hager, hatte ein um eine Kleinigkeit zu langes Gesicht, einen fuchsigen Schnurrbart und fuchsige Wimpern. Sein Gesicht war zwar durchaus nicht schön, hatte aber einen schneidigen, herausfordernden Ausdruck. Ich beschreibe ihn ganz kurz, wie er mir in der Minute erschien. Vorher hatte ich ihn niemals gesehen. Ich lief ihnen die Treppe hinunter nach, ohne Hut und ohne Pelz. Katerina Nikolajewna bemerkte mich zuerst und flüsterte ihm hastig etwas ins Ohr. Er wollte schon seinen Kopf nach mir umwenden, gab dann aber nur dem Diener und dem Portier einen Wink. Der Diener trat mir dicht an der Haustür in den Weg, aber ich stieß ihn mit dem Arm beiseite und lief ihnen nach, auf die Vortreppe hinaus. Bjoring half Katerina Nikolajewna in den Wagen.

»Katerina Nikolajewna, Katerina Nikolajewna!« schrie ich außer mir (wie ein Narr, wie ein Narr! Oh, ich habe nichts davon vergessen, ich hatte nicht einmal einen Hut auf!).

Bjoring wendete sich wütend nach dem Diener um und rief ihm mit lauter Stimme etwas zu, ein Wort oder zwei, ich verstand es aber nicht. Ich fühlte, wie mich jemand am Ellbogen packte. In diesem Augenblick setzte sich der Wagen in Bewegung; ich schrie noch einmal und stürzte dem Wagen nach. Katerina Nikolajewna, das sah ich wohl, sah zum Fenster des Wagens heraus und war, glaube ich, sehr erregt. Aber in meinem schnellen Vorwärtshasten, wie ich ihr so nachstürzte, rannte ich plötzlich, ganz unverhofft, heftig gegen Bjoring an und trat ihm, glaube ich, sehr schmerzhaft auf den Fuß. Er schrie leicht auf, knirschte mit den Zähnen, packte mich mit starker Faust an der Schulter und stieß mich wütend fort, so daß ich vielleicht drei Schritte zurücktaumelte. In diesem Augenblick wurde ihm sein Mantel gereicht, er warf ihn um, setzte sich in den Schlitten und rief aus dem Schlitten noch einmal den Dienern und dem Portier drohend etwas zu, wobei er auf mich zeigte. Da packten mich die und hielten mich fest: ein Diener warf mir meinen Pelz über, der andre reichte mir den Hut und – ich weiß wirklich nicht mehr, was sie dabei sagten; sie sagten aber etwas, und ich stand da und hörte zu, ohne ein Wort zu begreifen. Aber auf einmal ließ ich sie stehen und lief davon.

 

3

Ohne mir über irgend etwas Rechenschaft geben zu können und überall die Leute anstoßend, gelangte ich schließlich zu Tatjana Pawlownas Wohnung; ich kam nicht einmal auf die Idee, mir unterwegs eine Droschke zu nehmen. Bjoring hatte mir vor ihren Augen einen Stoß versetzt! Freilich hatte ich ihm auf den Fuß getreten, und er hatte mich nur instinktiv zurückgestoßen, wie einer, dem man auf ein Hühnerauge tritt (und ich war ihm vielleicht wirklich auf ein Hühnerauge getreten!). Aber sie hatte es gesehen, sie hatte gesehen, wie mich die Diener packten, und das alles vor ihren Augen, vor ihren Augen! Als ich zu Tatjana Pawlowna hineinstürzte, konnte ich im ersten Augenblick kein Wort sagen, und der Unterkiefer zitterte mir wie im Fieber. Ja, ich war auch im Fieber, und außerdem weinte ich . . . Oh, ich war ja so tief verletzt.

»Aha! Na? 'rausgeschmissen? Geschieht dir ganz recht, ganz recht geschieht es dir!« sagte Tatjana Pawlowna. Ich ließ mich, ohne ein Wort zu sagen, auf den Diwan fallen und starrte ihr ins Gesicht.

»Ja, was hat er denn?« sagte sie und musterte mich forschend. »Na, trink ein Glas Wasser, trink Wasser, trink! Na, sag', was du jetzt dort für Blödsinn gemacht hast?«

Ich murmelte etwas davon, daß man mir die Tür gewiesen, und daß Bjoring mich auf offner Straße gestoßen hätte.

»Jetzt begreifst du wohl manches, oder noch immer nicht? Na also, da lies, und freu' dich!« Sie nahm einen Brief vom Tische und gab ihn mir; sie selbst pflanzte sich erwartungsvoll vor mir auf. Ich erkannte sogleich Wersilows Handschrift. Es waren nur ein paar Zeilen: ein Brief an Katerina Nikolajewna. Ich zitterte, und die Besinnung kehrte mir augenblicklich mit voller Kraft zurück. Und dies ist Wort für Wort der Inhalt dieses schrecklichen, ungeheuerlichen, sinnlosen, räuberischen Briefes:

»Sehr geehrte gnädige Frau, Katerina Nikolajewna!

So durch und durch verderbt Sie Ihrer Naturanlage wie Ihrer Entwicklung nach sind, so hätte ich doch geglaubt, Sie würden Ihre Leidenschaften so weit im Zaum halten, daß Sie keine Anschläge auf Kinder machen würden. Aber Sie schrecken auch davor nicht zurück. Ich teile Ihnen hierdurch mit, daß das Ihnen bekannte Dokument ganz bestimmt nicht verbrannt worden ist und sich überhaupt nie im Besitze des Herrn Kraft befunden hat, so daß also für Sie hier gar nichts zu gewinnen ist. Und deshalb bitte ich Sie, einen jungen Menschen nicht ohne jeden Zweck zu verführen. Schonen Sie ihn, er ist noch nicht mündig, ist fast noch ein Knabe und weder geistig noch physisch entwickelt; was können Sie also an ihm haben? Ich nehme warmen Anteil an ihm, und deshalb habe ich den Versuch gewagt, Ihnen dies zu schreiben, wenn ich mir auch keinen Erfolg davon verspreche. Ich habe die Ehre, Sie davon zu unterrichten, daß eine Kopie dieses Briefes gleichzeitig an Herrn Baron Bjoring abgeht.

A. Wersilow.«

Ich wurde bleich, als ich das las, dann aber wurde ich plötzlich feuerrot, und meine Lippen bebten vor Entrüstung.

»Damit meint er mich! Damit meint er das, was ich ihm vorgestern mitgeteilt habe!« schrie ich wütend.

»Das ist's ja eben, daß du es ihm mitgeteilt hast!« rief Tatjana Pawlowna und riß mir den Brief aus der Hand.

»Aber . . . ich habe doch nicht . . . das habe ich ihm doch gar nicht gesagt! Ach, du lieber Gott, was muß sie jetzt von mir denken! Ja, ist er denn verrückt? Er ist einfach verrückt . . . Ich hab' ihn doch gestern gesehen. Wann hat er diesen Brief abgeschickt?«

»Abgeschickt hat er ihn gestern mittag, angekommen ist er am Abend, und sie hat ihn mir heute persönlich übergeben.«

»Aber ich habe ihn doch gestern selbst gesehen; er ist verrückt! So etwas kann Wersilow doch gar nicht schreiben; das hat ein Verrückter geschrieben! Wer schreibt denn so einen Brief an eine Dame?«

»So schreiben eben Verrückte in ihrer Wut, wenn sie vor Eifersucht und Bosheit blind und taub werden und ihr Blut sich in Arsenik verwandelt . . . Du hast noch nicht gewußt, was er für ein Mensch ist! Na, und dafür wird er jetzt eins draufkriegen, daß nur ein nasser Fleck von ihm übrigbleibt. Er legt ja selber den Hals unters Beil! Da ist's schon gescheiter, nachts an die Nikolaibahn zu gehen und den Kopf auf die Schienen zu legen; da wird er einem schon abgefahren, wenn er einem zu schwer geworden ist! Welcher Satan hat dich auch geritten, es ihm zu erzählen? Welcher Satan hat dich geritten, ihn zu reizen? Wolltest dich aufspielen vor ihm?«

»Aber dieser Haß! Dieser Haß!« Ich schlug mir mit der Hand vor die Stirn. »Und weswegen, weswegen? Gegen eine Frau? Was hat sie ihm denn so Schlimmes angetan? Was für Beziehungen haben zwischen ihnen bestanden, daß solche Briefe überhaupt möglich sind?«

»Jawohl, Haß!« höhnte mich Tatjana Pawlowna mit bitterm Spott.

Das Blut schoß mir wiederum ins Gesicht: mir ging auf einmal ein ganz neues Licht auf; ich sah ihr voll höchster Spannung fragend ins Gesicht.

»Scher' dich zum Kuckuck!« kreischte sie, wendete sich schnell ab und machte eine abweisende Handbewegung. »Ich habe mich grade lange genug mit euch allen herumgezogen! Ich hab' jetzt genug davon! Und wenn euch allesamt die Erde verschlingt! . . . Deine Mutter ist noch die einzige, die mir dabei leid tut . . .«

Ich lief natürlich schleunigst zu Wersilow. Nein, so eine Heimtücke!

 

4

Wersilow war nicht allein. Eins möchte ich vorausschicken: nachdem er gestern diesen Brief an Katerina Nikolajewna abgesendet hatte und tatsächlich auch (Gott allein mag wissen, warum) eine Abschrift davon an Baron Bjoring, mußte er natürlich noch heute im Laufe des Tages die üblichen »Konsequenzen« aus diesem Schritt erwarten und hatte deshalb nach seiner Art seine Maßregeln getroffen; er hatte schon in aller Frühe Mama und Lisa (die, wie ich später hörte, am Morgen heimgekommen war, sich dann krank gefühlt hatte und zu Bette gegangen war), – er hatte die beiden also hinaufgeschickt, in den »Sarg«; die Zimmer unten, besonders aber unser »Empfangszimmer«, waren mit ganz besondrer Sorgfalt aufgeräumt und gekehrt worden. Und richtig, um zwei Uhr nachmittags erschien bei ihm ein Oberst Baron R., ein Herr von etwa vierzig Jahren, von deutscher Abstammung, hochgewachsen, hager, der den Eindruck großer physischer Kraft machte und gleichfalls fuchsige Haare hatte, genau so wie Bjoring, nur daß sich bei ihm schon der Beginn einer Glatze zeigte. Er war einer von den Baronen R., deren es eine ganze Menge in der russischen Armee gibt, die alle einen starken Baronsdünkel haben und nicht das geringste Vermögen, bloß von ihrem Gehalt leben und ungeheuer eifrig im Dienste und vorzügliche Frontoffiziere sind. Ich hatte den Anfang ihrer Auseinandersetzung nicht gehört; beide waren sie sehr lebhaft, und wie hätten sie es auch nicht sein sollen! Wersilow saß auf dem Diwan hinter dem Tische, und der Baron im Lehnstuhl an dessen Schmalseite. Wersilow war blaß, sprach aber beherrscht und die Worte langsam durch die Zähne ziehend; der Baron dagegen sprach mit erhobener Stimme und neigte sichtlich zu heftigen Gesten, er beherrschte sich mit Gewalt, schaute aber streng, hochnäsig und sogar voll Verachtung drein, obgleich nicht ohne eine gewisse Verwunderung. Als er mich erblickte, zog er die Stirn in finstre Falten, Wersilow aber freute sich beinah über mein Kommen.

»Guten Tag, lieber Freund! Baron, das hier ist eben jener sehr junge Mensch, von dem in dem betreffenden Briefe die Rede war; seien Sie überzeugt, er stört uns nicht, wir werden ihn sogar sehr gut brauchen können.«

Der Baron musterte mich voll Verachtung.

»Lieber Freund,« fuhr Wersilow zu mir gewendet fort, »ich muß sagen, ich bin froh, daß du kommst; und deshalb setze dich bitte in die Ecke, bis ich mit dem Herrn Baron zu einem Schluß gekommen bin. Seien Sie ganz ruhig, Baron, er wird weiter nichts tun als in der Ecke sitzen.«

Mir war das ganz einerlei, weil ich meinen Entschluß schon gefaßt hatte, außerdem verblüffte mich das alles; ich setzte mich schweigend in eine Ecke, so tief wie möglich in die Ecke, und saß da, ohne auch nur zu blinzeln oder mich zu rühren, bis ihre Auseinandersetzung beendigt war . . .

»Ich wiederhole Ihnen, Baron,« sagte Wersilow, die Worte hart hervorstoßend, »daß ich Katerina Nikolajewna Achmakowa, an die ich jenen unwürdigen und krankhaften Brief geschrieben habe, – daß ich diese Dame nicht nur für die edelste aller Frauen, sondern auch für den Gipfel jeder Vollkommenheit halte!«

»Eine solche Art, Ihre eignen Worte zu widerrufen, sieht, wie ich Ihnen schon bemerkt habe, einer Wiederholung derselben Worte verzweifelt ähnlich«, brummte der Baron. »Ihre Art, sich auszudrücken, verletzt entschieden den Respekt, den die Dame verlangen kann.«

»Und doch wird es das Zutreffendste sein, wenn Sie das in ganz wörtlichem Sinne auffassen. Sehen Sie, ich leide an solchen Anfällen und . . . an momentaner Geistesverwirrung, ich bin deswegen sogar in ärztlicher Behandlung; und so ist es denn gekommen, daß ich in solch einem Augenblick . . .«

»Diese Erklärungen gehören gar nicht hierher. Zum soundsovielten Male erkläre ich Ihnen, daß Sie hartnäckig in Ihrer falschen Auffassung beharren und die Sache vielleicht sogar ganz absichtlich falsch auffassen. Ich habe Ihnen schon von Anfang an gesagt, daß die ganze Frage wegen dieser Dame, das heißt, eben wegen Ihres Briefes an die Generalin Achmakowa, bei unsrer jetzigen Unterhandlung einfach auszuschalten ist; Sie kommen aber immer wieder darauf zurück. Baron Bjoring hat mich nur ersucht und beauftragt, gerade Klarheit in dem zu schaffen, was sich ausschließlich auf ihn selbst bezieht, nämlich Ihre Dreistigkeit, ihm die betreffende Abschrift zuzuschicken, und Ihr Begleitschreiben, in dem Sie sagten, Sie wären ›zu jeder beliebigen Art von Genugtuung bereit‹.«

»Aber ich dächte doch, der letztere Punkt ist auch ohne weitere Auseinandersetzungen klar.«

»Ich verstehe schon, ich habe es wohl gehört, Sie bitten nicht einmal um Entschuldigung, sondern bestehen nach wie vor darauf, daß Sie ›zu jeder beliebigen Art von Genugtuung‹ bereit sind. Aber das wäre doch gar zu billig. Und deshalb halte ich mich schon jetzt im Hinblick auf die Wendung, die Sie dieser Unterhandlung hartnäckig zu geben bemüht sind, für vollkommen berechtigt, Ihnen auch für mein Teil alles zu sagen, ohne mich im geringsten zu genieren: das heißt, ich bin zu dem Schlusse gekommen, daß Baron Bjoring es mit Ihnen unter gar – kei–nen Umständen auf Basis gesellschaftlicher Gleichberechtigung zu tun haben kann.«

»Diese Entscheidung ist ja natürlich so vorteilhaft wie möglich für Ihren Freund, den Baron Bjoring, und ich gestehe Ihnen gern: Sie überraschen mich nicht im geringsten damit, ich hatte so etwas erwartet.«

Ich bemerke in Klammern: ich erkannte es nur zu gut, vom ersten Wort, vom ersten Blick an, daß Wersilow es direkt auf einen Skandal anlegte, daß er diesen hitzigen Baron herausfordern und reizen wollte und seine Geduld vielleicht auf eine gar zu harte Probe stellte. Der Baron krümmte sich ordentlich.

»Ich habe schon gehört, daß Sie manchmal witzig sein können, aber Witz ist noch nicht Verstand.«

»Eine ungemein tiefe Bemerkung, Herr Oberst.«

»Ich habe Sie nicht um Ihren Beifall ersucht,« schrie der Baron, »und bin nicht hergekommen, um Luft aus einem Topf in den andern zu gießen! Hören Sie mich bitte zu Ende an: Baron Bjoring war stark im Zweifel, als er Ihren Brief bekommen hatte, weil er zu sehr nach dem Narrenhaus roch. Und selbstverständlich könnten sofort Mittel gefunden werden, um Sie . . . zu beruhigen. Aber aus ganz bestimmten Gründen hatte man Nachsicht mit Ihnen und zog Erkundigungen über Sie ein. Und die ergaben, daß Sie wohl einmal zur guten Gesellschaft gehört haben und früher Gardeoffizier gewesen sind, daß Sie aber gesellschaftlich unmöglich sind und Ihr Ruf mehr als zweifelhaft ist. Aber trotz allem bin ich gekommen, um mich persönlich zu unterrichten, und da erlauben Sie sich noch zu allem andern, mit Worten zu jonglieren, und stellen sich selber das Zeugnis aus, daß Sie an Anfällen leiden. Jetzt ist's aber genug! Baron Bjoring kann seinen Stand und seinen guten Namen nicht in diese Angelegenheit herunterziehen lassen . . . Kurz und gut, werter Herr: ich bin bevollmächtigt, Ihnen folgendes mitzuteilen: wenn Sie sich noch einmal so etwas oder etwas Ähnliches erlauben, so werden ungesäumt Mittel gefunden werden, Sie zu beruhigen, und sehr schnell wirkende und zuverlässige Mittel, kann ich Ihnen versichern. Wir leben nicht im Urwald, sondern in einem wohlgeordneten Staate!«

»Sind Sie wirklich so fest davon überzeugt, mein bester Baron R.?«

»Hol's der Teufel,« der Baron sprang plötzlich auf, »Sie führen mich stark in Versuchung, Ihnen auf der Stelle zu beweisen, daß ich nicht Ihr ›bester Baron R.‹ bin.«

»Ich muß Sie noch einmal darauf aufmerksam machen,« sagte Wersilow und erhob sich gleichfalls, »daß meine Frau und meine Tochter sich in der Nähe befinden . . . Und deshalb möchte ich Sie ersuchen, nicht so laut zu sprechen, weil Ihr Geschrei bis zu ihnen dringen könnte.«

»Ihre Frau . . . schiert mich den Teufel . . . Wenn ich hier so lange gesessen und mich mit Ihnen unterhalten habe, so ist es nur zu dem Zweck geschehen, Klarheit in diese ekelhafte Geschichte zu bringen«, fuhr der Baron fort, zornig wie zuvor und ohne seine Stimme im geringsten zu dämpfen. »Jetzt ist es aber genug!« schrie er wütend, »Sie sind nicht nur aus dem Kreise der anständigen Menschen ausgeschlossen, Sie sind auch ein Narr, ein richtiger übergeschnappter Narr, und Sie haben sich dies Zeugnis ja auch selber ausgestellt! Sie verdienen keine Nachsicht, und ich erkläre Ihnen hiermit: man wird noch heute am Tage die nötigen Maßregeln treffen und Sie an einen Ort schaffen, wo man es schon verstehen wird, Sie zur Vernunft zu bringen . . . und Sie kommen fort aus der Stadt!«

Er verließ das Zimmer mit schnellen und langen Schritten. Wersilow geleitete ihn nicht. Er stand da, blickte zerstreut auf mich und seinen mich nicht zu bemerken; auf einmal lächelte er, warf seine Haare zurück, nahm den Hut und ging gleichfalls zur Tür. Ich ergriff seine Hand.

»Ach ja, du bist ja auch da? Hast du es . . . gehört?« Er blieb vor mir stehen.

»Wie konnten Sie so etwas tun! Wie konnten Sie alles so verdrehen, wie konnten Sie mich so beschimpfen! . . . So heimtückisch!«

Er sah mich starr an, aber sein Lächeln wurde breiter und breiter und ging schließlich direkt in ein Lachen über.

»Ich bin einfach beschimpft worden . . . vor ihren Augen! Vor ihren Augen! Man hat mich vor ihren Augen ausgelacht, und er . . . hat mich gestoßen!« schrie ich außer mir.

»Nein, wirklich? Ach, du armes Kind, wie ich dich bedaure . . . Also man hat dich dort aus-ge-lacht!«

»Sie lachen, Sie lachen über mich! Ihnen kommt das lächerlich vor!«

Er riß hastig seine Hand aus meiner, setzte den Hut auf und verließ lachend, jetzt wirklich richtig laut lachend, die Wohnung. Warum hätte ich ihm nachlaufen sollen, wozu? Ich hatte alles begriffen und – alles in einer Minute verloren! Auf einmal erblickte ich Mama; sie war von oben heruntergekommen und schaute sich ängstlich um.

»Ist er fort?«

Ich umarmte sie schweigend, und sie drückte mich fest, fest an sich, sie schmiegte sich nur so an mich.

»Mama, Liebste, können Sie denn wirklich noch hierbleiben? Kommen Sie gleich mit, ich werde Sie heimlich entführen, ich will arbeiten für Sie wie ein Sträfling, für Sie und für Lisa . . . Verlassen wir sie alle, alle, und machen wir, daß wir fortkommen. Wir wollen allein sein. Mama, wissen Sie noch, wie Sie mich bei Touchard besuchten und ich Sie nicht anerkennen wollte?«

»Gewiß weiß ich es, Liebster; ich werde mich mein Leben lang vor dir schuldig fühlen, ich hatte dich geboren und kannte dich nicht.«

»Er ist schuld daran, Mama, er ist an allem schuld; er hat uns nie geliebt.«

»Doch, er hat uns geliebt.«

»Kommen Sie mit, Mama.«

»Wo soll ich hin, wenn ich von ihm fortgehe? Ist er denn glücklich, oder . . .?«

»Wo ist Lisa?«

»Sie liegt im Bett; sie kam nach Hause und fühlte sich nicht wohl; ich fürchte mich so. Sind sie denn so böse auf ihn? Was wollen sie jetzt mit ihm machen? Wo ist er hingegangen? Was hat der Offizier eben für Drohungen ausgestoßen?«

»Nichts wird ihm passieren, Mama, ihm passiert nie etwas, ihm geschieht nie etwas, und ihm kann auch nichts geschehen. Er ist nun mal so ein Mensch! Da ist Tatjana Pawlowna, fragen Sie die, wenn Sie mir nicht glauben, da ist sie.« (Tatjana Pawlowna war plötzlich ins Zimmer getreten.) »Leben Sie wohl, Mama. Ich komme gleich wieder, und wenn ich komme, richte ich noch einmal dieselbe Frage an Sie . . .«

Ich eilte davon; ich mochte keinen Menschen sehen, Tatjana Pawlowna nicht und auch sonst niemand; Mamas Anblick peinigte mich auch. Ich wollte allein sein, allein!

 

5

Aber ich hatte noch nicht eine Straße durchschritten, als ich schon bemerkte, daß ich nicht gehen konnte; ohne Sinn und Verstand rannte ich gegen alle die fremden, gleichgültigen Leute an. Aber wohin sollte ich mit mir? Wer brauchte mich jetzt, und – was brauchte ich jetzt? Ich schleppte mich mechanisch zu Fürst Sergej Petrowitsch, ohne daß ich dabei überhaupt an ihn gedacht hätte. Er war nicht zu Hause. Ich sagte zu Piotr (seinem Diener), ich würde im Arbeitszimmer auf ihn warten (wie ich es schon viele Male getan hatte). Sein Zimmer war ein großer, sehr hoher Raum, vollgestellt mit Möbeln. Ich verkroch mich in die dunkelste Ecke, setzte mich auf den Diwan, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und stützte meinen Kopf in beide Hände. Ja, das war die Frage: »Was brauche ich jetzt?« Wenn ich mir damals auch diese Frage formulieren konnte, so war ich doch zu nichts weniger imstande, als sie zu beantworten.

Ich konnte weder logisch denken, noch logische Fragen an mich stellen. Ich habe schon weiter oben gesagt, daß ich gegen Ende dieser Tage »von den Ereignissen erdrückt« war; ich saß jetzt da, und alles drehte sich wie ein Chaos in meinem Gehirn. »Ja, ich habe ihn ganz durchschaut und doch nichts davon begriffen«, dämmerte es hie und da in mir auf. »Er hat mir eben direkt ins Gesicht gelacht: er hat aber nicht über mich gelacht: nur über Bjoring, und nicht über mich. Vorgestern bei Tisch wußte er schon alles und war verstimmt. Er hat meine alberne Beichte damals in der Kneipe aufgefangen und alles auf Kosten der Wahrheit entstellt; was brauchte er auch die Wahrheit? Er glaubt selber nicht ein Wort von dem, was er ihr geschrieben hat. Er wollte sie nur beleidigen, sinnlos beleidigen, ohne eigentlich selber zu wissen, wozu; er suchte nach irgendeinem Vorwand, und den Vorwand gab ich . . . Die Tat eines tollen Hundes! Will er jetzt vielleicht Bjoring niederschießen? Warum? Sein Herz weiß wohl, warum! Und ich weiß gar nichts davon, wie es in seinem Herzen aussieht . . . Nein, nein, ich weiß es auch jetzt noch nicht. Liebt er sie denn wirklich mit solcher Leidenschaft? Oder haßt er sie mit solcher Leidenschaft? Ich weiß es nicht; und weiß er es denn selbst? Was habe ich vorhin zu Mama gesagt, daß ihm ›nichts geschehen‹ könne; was habe ich damit sagen wollen? Hab' ich ihn verloren, oder hab' ich ihn nicht verloren?«

». . . Sie hat zugesehen, wie ich gestoßen wurde . . . Hat sie auch gelacht, oder nicht? Ich hätte gelacht! Der Spion wurde ja geschlagen, der Spion! . . .«

»Was bedeutet es,« durchfuhr es mich auf einmal, »was bedeutet es, daß er in diesem häßlichen Briefe auch sagte, das Dokument sei gar nicht verbrannt, sondern existiere noch? . . .«

»Er wird Bjoring nicht niederschießen, er sitzt jetzt wahrscheinlich in der Kneipe und hört sich die ›Lucia‹ an! Vielleicht geht er aber auch, nachdem er sich die ›Lucia‹ angehört hat, hin und schießt Bjoring nieder. Bjoring hat mich gestoßen, hat mich also beinahe geschlagen; hat er mich eigentlich geschlagen? Bjoring hält sich sogar für zu gut, sich mit Wersilow zu schießen; wird er sich dann mit mir schießen? Vielleicht werde ich ihm morgen auf der Straße auflauern müssen, um ihn mit dem Revolver niederzuknallen . . .« Und diesen Gedanken ließ ich mir ganz mechanisch durch den Kopf gehen, ohne im geringsten davor zurückzuschrecken.

Von Zeit zu Zeit malte ich mir aus, daß gleich die Tür aufgehen würde, daß Katerina Nikolajewna hereinkommen und mir die Hand geben würde und daß wir beide anfangen würden zu lachen . . . »Oh, mein Student, mein lieber!« Das dämmerte in mir auf, das heißt, das wünschte ich mir, als es im Zimmer schon sehr dunkel geworden war. »Ist es denn schon so lange her, daß ich vor ihr stand und ihr Lebewohl sagte und sie mir die Hand gab und lachte? Wie konnte es geschehen, daß wir in so kurzer Zeit so weit auseinandergekommen sind! Ich sollte einfach zu ihr gehen und mich sofort mit ihr aussprechen, in dieser Minute, ganz einfach, ganz einfach! Herrgott, wie ist es möglich, daß da plötzlich so eine ganz neue Welt entstanden ist! Jawohl, eine neue Welt, eine ganz, ganz neue . . . Und Lisa, und der Fürst, die gehören noch zur alten . . . Und ich sitze jetzt hier beim Fürsten. Und Mama, wie hat sie mit ihm leben können, wenn die Sachen so liegen? Ich hätte es können, ich kann alles; aber sie? Was soll jetzt werden?« Und wie in einem Wirbelwinde tauchten die Gestalten Lisas, Anna Andrejewnas, Stebelkows, des Fürsten, Aferdows, aller der andern in meinem kranken Gehirn auf, kommend und schwindend. Aber meine Gedanken wurden immer formloser und unerhaschbarer; ich war froh, wenn ich einen bewußt erfassen und mich daran klammern konnte.

»Ich habe eine ›Idee‹!« dachte ich auf einmal. »Ja, habe ich sie aber auch? Habe ich das nicht am Ende nur auswendig gelernt? Meine Idee bedeutet Dunkelheit und Einsamkeit; und ist jetzt überhaupt noch die Möglichkeit vorhanden, wieder in die alte Dunkelheit zu entschlüpfen? Ach, du lieber Gott, ich hab' ja das ›Dokument‹ nicht verbrannt! Ich habe vorgestern richtig vergessen, es zu verbrennen. Ich will nach Hause gehen und es an der Kerze verbrennen, jawohl, eben an der Kerze; ich weiß nur nicht, ob es das ist, woran ich jetzt denke . . .«

Es war schon lange dunkel geworden, und Piotr hatte Licht gebracht. Er war vor mir stehengeblieben und hatte mich gefragt, ob ich schon gegessen hätte. Ich hatte ihm nur mit der Hand abgewinkt. Aber eine Stunde darauf brachte er mir Tee, und ich trank gierig eine große Tasse davon. Dann erkundigte ich mich, wieviel Uhr es wäre. Es war halb neun, und ich wunderte mich nicht einmal darüber, daß ich schon seit fünf Stunden dasaß.

»Ich bin schon dreimal drin gewesen,« sagte Piotr, »aber Sie haben, glaub' ich, geschlafen.«

Ich erinnerte mich nicht daran, daß er dagewesen war. Ich weiß nicht warum, aber ich erschrak plötzlich heftig darüber, daß ich »geschlafen« hätte, ich stand auf und ging im Zimmer auf und nieder, um nicht wieder »einzuschlafen«. Schließlich bekam ich heftiges Kopfweh. Punkt neun Uhr kam der Fürst, und ich wunderte mich darüber, daß ich auf ihn gewartet hatte: ich hatte ihn ganz vergessen, aber auch ganz.

»Sie sind hier, und ich war bei Ihnen, um Sie abzuholen«, sagte er zu mir. Sein Gesicht war finster und ernst, kein Schein eines Lächelns. In seinen Augen stand ein versteinerter Gedanke.

»Ich habe mich den ganzen Tag geschunden und alles versucht,« sagte er sehr ernst, »alles ist mir kaputt gegangen, und mir graut vor der Zukunft . . .« (NB. Er war also nicht bei Fürst Nikolaj Iwanowitsch gewesen.) »Ich habe Shibelskij aufgesucht, das ist ein ganz unmöglicher Mensch. Sehen Sie: zuerst muß man das Geld haben, und dann kann man weiter sehen. Und wenn es mir nicht gelingt, das Geld zu beschaffen, dann . . . Aber ich habe mich entschlossen, heute nicht darüber hinauszudenken. Beschaffen wir heute nur das Geld, und morgen wird sich dann alles zeigen. Ihr vorgestriger Gewinn ist noch bis zur letzten Kopeke da. Es fehlten nur drei Rubel an dreitausend. Nach Abrechnung Ihrer Schuld bekommen Sie noch dreihundertvierzig Rubel heraus. Nehmen Sie das Geld und dazu noch siebenhundert Rubel, damit es tausend sind, und ich nehme die andern zweitausend. Dann setzen wir uns bei Serstschikow an die entgegengesetzten Enden des Tisches und versuchen zehntausend Rubel zu gewinnen – vielleicht gelingt es uns; und gewinnen wir nicht – dann . . . Das ist übrigens das einzige, was mir noch übrigbleibt.«

Er sah mich mit fatalistischem Ausdruck an.

»Jawohl, jawohl!« schrie ich auf einmal, als wäre ich plötzlich von den Toten erwacht. »Kommen Sie! Ich habe nur auf Sie gewartet . . .«

Hierzu möchte ich bemerken, daß ich in diesen Stunden auch nicht einen Augenblick mit dem kleinsten Gedanken an die Roulette gedacht hatte.

»Aber die Schlechtigkeit, die Niedrigkeit eines solchen Verfahrens?« fragte auf einmal der Fürst.

»Was? Daß wir zur Roulette wollen! Das ist ja doch die Hauptsache,« schrie ich, »das Geld ist die Hauptsache. Nur wir beide sind solche Heiligen, Bjoring aber hat sich verkauft, Anna Andrejewna hat sich verkauft, und Wersilow – haben Sie schon gehört, daß Wersilow übergeschnappt ist? Übergeschnappt! Übergeschnappt!«

»Sind Sie auch nicht etwa krank, Arkadij Makarowitsch? Sie machen so sonderbare Augen.«

»Das sagen Sie wohl, um ohne mich dahin fahren zu können? Aber heute werden Sie mich nicht los. Ich habe nicht umsonst die ganze Nacht vom Spiel geträumt. Kommen Sie nur, kommen Sie!« schrie ich, als hätte ich damit auf einmal die Lösung für alle Rätsel gefunden.

»Na also, dann kommen Sie, wenn Sie auch Fieber haben; und da . . .«

Er führte den Satz nicht zu Ende. Ein schwerer, unheimlicher Ausdruck stand in seinem Gesicht. Wir gingen.

»Wissen Sie auch,« sagte er plötzlich und machte in der Tür halt, »wissen Sie auch, daß es noch einen Ausweg aus der Katastrophe gibt außer dem Spiel?«

»Was für ein Ausweg?«

»Einen fürstlichen!«

»Und das wäre? Und das wäre?«

»Das werden Sie später noch erfahren. Jetzt sage ich Ihnen nur das eine, daß ich dieses Ausweges nicht mehr würdig bin; er ist mir zu spät eingefallen. Also kommen Sie, aber denken Sie daran, daß ich Ihnen das gesagt habe. Versuchen wir es mit dem bedientenhaften Ausweg . . . Als ob ich das nicht wüßte, daß ich bewußt und absichtlich dahinfahre und handle wie ein Bedienter!«

 

6

Ich stürzte mich auf die Roulette, als ob in ihr alles Heil für mich und alle Rettungsmittel vereinigt wären; und dabei hatte ich, wie ich schon sagte, bis zur Heimkehr des Fürsten gar nicht an das Spiel gedacht. Und ich ging ja auch nicht hin, um für mich selber, sondern um mit dem Gelde des Fürsten für Rechnung des Fürsten zu spielen; ich kann nicht begreifen, was mich so hinzog, aber es zog mich unwiderstehlich. Oh, nie in meinem Leben waren mir diese Menschen, diese Gesichter, diese Croupiers, dies Aufrufen der Nummern, dieser ganze ekelhafte Saal bei Serstschikow, niemals war mir das alles so widerlich erschienen, so düster, so roh und trübselig wie dieses Mal! Ich erinnre mich nur zu gut der Bekümmernis und Trauer, die während dieser Stunden am Spieltische von Zeit zu Zeit mein Herz ergriffen. Aber weshalb ging ich denn nicht fort? Weswegen ertrug ich das, wie ein Los, das ich auf mich genommen hatte, wie ein Opfer, das ich brachte, wie eine Tat, die ich vollführte? Ich muß nur eins bemerken: ich kann wohl schwerlich von mir in meinem damaligen Zustande sagen, daß ich ganz bei gesundem Verstande gewesen wäre. Aber dabei hatte ich noch niemals so vernünftig gespielt wie an diesem Abend. Ich war schweigsam und konzentriert, aufmerksam und furchtbar berechnend; ich war geduldig und geizig und gleichzeitig schnell entschlossen in den Augenblicken, wo es zu handeln galt. Ich hatte mich wieder an die Zeroseite gesetzt, das heißt, wieder zwischen Serstschikow und Aferdow, der immer rechts neben Serstschikow zu sitzen pflegte; mir war dieser Platz unangenehm, aber ich wollte durchaus auf Zero setzen, und alle andern Plätze in der Gegend von Zero waren besetzt. Wir spielten schon seit einer guten Stunde; da sah ich schließlich von meinem Platze aus, wie der Fürst mit bleichem Gesicht aufstand, nach unserm Ende herüberkam und sich mir gegenüber hinstellte, auf der andern Seite des Tisches: er hatte sein ganzes Geld verspielt und sah schweigend meinem Spiel zu, obschon er wahrscheinlich nichts davon begriff und sogar wohl überhaupt nicht mehr an das Spiel dachte. Um diese Zeit fing ich eben erst an zu gewinnen, und Serstschikow zählte mir Geld auf. Auf einmal ergriff Aferdow, ohne etwas zu sagen, vor meinen Augen ganz frech einen von meinen Hundertrubelscheinen und legte ihn auf den Geldhaufen, der vor ihm lag. Ich schrie auf und packte seine Hand. Und da passierte mir etwas gänzlich Unerwartetes: ich riß mich gleichsam von der Kette los; es war, als konzentrierten sich alle Schrecknisse und Kränkungen dieses Tages plötzlich in diesem einen Moment, im Verschwinden dieses Hundertrubelscheins. Es war, als ob alles, was in mir aufgehäuft und zusammengepreßt lag, nur auf diesen Augenblick gewartet hätte, um zu explodieren.

»Er ist ein Dieb: er hat mir grade einen Hundertrubelschein gestohlen!« schrie ich und schaute mich außer mir im Kreise um.

Ich mag den Spektakel nicht beschreiben, der sich hierauf erhob; so ein Vorkommnis war hier etwas ganz Neues. Bei Serstschikow herrschte ein sehr feiner Ton, sein Spielzirkel war berühmt dafür. Aber ich kannte mich selbst nicht mehr. Durch den Lärm und das Geschrei vernahm man auf einmal Serstschikows Stimme:

»Aber . . . das Geld ist fort, und hier hat es gelegen! Vierhundert Rubel!«

Es war gleichzeitig noch eine andre Geschichte passiert: es war Geld aus der Bank verschwunden, direkt vor Serstschikows Nase, ein Päckchen mit vierhundert Rubeln. Serstschikow deutete auf die Stelle, wo sie gelegen hatten, »gerade eben haben sie da noch gelegen«, und diese Stelle befand sich dicht neben mir, stieß direkt an den Platz, wo mein Geld lag, befand sich also viel näher bei mir als bei Aferdow.

»Da ist der Dieb! Das hat er auch gestohlen, man muß ihn durchsuchen!« schrie ich und deutete auf Aferdow.

»Das kommt alles nur davon,« löste sich eine dröhnende und durchdringende Stimme aus dem allgemeinen Geschrei, »daß hier Leute zugelassen werden, die kein Mensch kennt. Es werden Leute ohne Empfehlung hereingelassen! Wer hat den eigentlich eingeführt? Wer ist das überhaupt?«

»Ein gewisser Dolgorukij!«

»Fürst Dolgorukij?«

»Fürst Sokolskij hat ihn eingeführt«, rief jemand.

»Hören Sie, Fürst,« brüllte ich ihm rasend vor Wut über den Tisch hin zu, »ich werde hier für einen Dieb gehalten, während ich es bin, der hier bestohlen worden ist! Sagen Sie es ihnen, sagen Sie ihnen, wer ich bin!«

Und da geschah etwas, was das Schrecklichste von allem war, was an diesem ganzen Tage passiert war . . . vielleicht das Schrecklichste in meinem ganzen Leben: der Fürst verleugnete mich. Ich sah, wie er mit den Achseln zuckte und auf die Fragen, die ihn von allen Seiten bestürmten, scharf und deutlich zur Antwort gab:

»Ich verbürge mich für niemand. Ich bitte, mich in Ruhe zu lassen.«

Unterdessen stand Aferdow mitten im dicksten Haufen und verlangte mit lauter Stimme, man solle ihn durchsuchen. Er drehte selbst seine Taschen um. Aber die andern erwiderten sein Anerbieten mit dem Rufe: »Nein, nein, wir kennen den Dieb schon!« Zwei Diener, die man gerufen hatte, packten mich von hinten an den Armen:

»Ich lasse mich nicht durchsuchen, ich dulde das nicht!« schrie ich und versuchte, mich loszureißen.

Aber ich wurde ins Nebenzimmer geschleppt, und dort, mitten in dem Menschenhaufen, wurde ich bis in die letzte Falte durchsucht. Ich schrie und wehrte mich.

»Er hat es wahrscheinlich weggeworfen, man muß auf dem Boden nachsehen«, meinte jemand.

»Wo soll man es denn jetzt auf dem Boden suchen?«

»Vielleicht hat er es noch schnell unter den Tisch werfen können!«

»Jetzt ist die Fährte ja natürlich doch schon verloren . . .«

Ich wurde hinausgebracht, aber es gelang mir, in der Tür stehenzubleiben, und ich brüllte mit sinnloser Wut über den ganzen Saal hin:

»Das Hasardspiel ist polizeilich verboten. Heute noch zeige ich Sie alle an!«

Ich wurde die Treppe hinuntergebracht und in meine Überkleider gesteckt, und dann . . . öffnete man mir die Tür nach der Straße.

 


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