Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus einem toten Hause
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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Das Weihnachtsfest

Endlich rückte das Fest heran. Schon am Tage vorher gingen die Arrestanten fast nicht zur Arbeit. Nur die in den Nähstuben und anderen Werkstätten Beschäftigten gingen hin; die übrigen waren wohl beim Appell anwesend und wurden zwar zu irgendwelchen Arbeiten kommandiert, kehrten aber fast alle sogleich einzeln und auch gruppenweise ins Zuchthaus zurück, das am Nachmittag niemand mehr verließ. Auch am Vormittag waren sie zum größten Teil in ihren eigenen und nicht amtlichen Angelegenheiten ausgegangen: die einen, um Branntwein hereinzuschmuggeln und neuen zu bestellen; die andern, um ihre Gevatter und Gevatterinnen aufzusuchen oder um vor dem Feste das Geld für die schon früher geleisteten Arbeiten einzukassieren. Bakluschin und die andern, die an der Theateraufführung teilnahmen, – um ihre Bekannten, vorwiegend unter den Offiziersdienern, zu besuchen und sich von ihnen die nötigen Kostüme zu beschaffen. Manche gingen nur deshalb mit besorgten und geschäftigen Mienen herum, weil die andern besorgt und geschäftig taten; manche hatten z. B. von keiner Seite Geld zu erwarten, taten aber so, als ob sie welches erwarteten; mit einem Worte, alle schienen am bevorstehenden Tage irgendeine Veränderung, etwas Außergewöhnliches zu erwarten. Die Invaliden, die für die Arrestanten die Einkäufe auf dem Markte besorgten, brachten gegen Abend eine Menge Lebensmittel: Fleisch, Spanferkel und sogar Gänse. Viele von den Arrestanten, die sonst bescheiden und sparsam waren und das ganze Jahr jede Kopeke zurücklegten, hielten es für ihre Pflicht, an einem solchen Tage ordentlich in den Beutel zu greifen und das Ende der Fasten auf eine würdige Weise zu feiern. Der morgige Tag war für die Arrestanten ein echter Feiertag, den ihnen niemand nehmen konnte und der vom Gesetz in aller Form anerkannt war. An diesem Tage konnte ein Arrestant nicht zur Arbeit geschickt werden, und solcher Tage gab es nur drei im Jahre.

Und schließlich, wer weiß, wieviel Erinnerungen sich in den Seelen dieser Ausgestoßenen an einem solchen Tage regen mochten! Die hohen Feiertage prägen sich in das Gedächtnis der Menschen aus dem Volke von der frühesten Kindheit ein. Es sind die Tage der Ruhe nach schwerer Arbeit, die Tage, an denen sich die ganze Familie versammelt. Im Zuchthause mußten sie sich dieser Tage mit Schmerz und Sehnsucht erinnern. Die Achtung vor dem Festtage nahm bei den Arrestanten sogar den Anstrich einer Pflicht an; nur wenige betranken sich; alle waren ernst und schienen beschäftigt, obwohl die meisten gar keine Beschäftigung hatten. Aber selbst die Müßigen und die Bummelnden bemühten sich, eine gewisse Wichtigkeit zur Schau zu tragen . . . Das Lachen schien verpönt. Die Stimmung erreicht überhaupt eine eigentümliche Empfindlichkeit und reizbare Unduldsamkeit, und wenn einer auch nur zufällig den allgemeinen Ton störte, wurde er mit Geschrei und Geschimpfe zurechtgewiesen, und man zürnte ihm, als hätte er dem Feiertag den nötigen Respekt versagt. Diese Stimmung der Arrestanten war höchst merkwürdig, sogar rührend. Abgesehen von der angeborenen Andacht vor dem großen Tage, hatte jeder Arrestant unbewußt das Gefühl, daß er durch die Begehung des Festes gleichsam mit der ganzen Welt in Berührung komme, daß er folglich kein Ausgestoßener, verlorener Mensch, eine vom Brotlaibe abgeschnittene Scheibe sei und daß es im Zuchthause ebenso zugehe wie in der ganzen Welt. Dies fühlten sie; das war sichtbar und verständlich.

Auch Akim Akimytsch machte seine Vorbereitungen zum Feste. Er hatte keine Familienerinnerungen, da er als Waise in einem fremden Hause aufgewachsen war und fast von seinem fünfzehnten Lebensjahre an schwer dienen mußte; er hatte in seinem Leben auch keine besonderen Freuden gehabt, weil er es eintönig und gleichmäßig zugebracht und immer gefürchtet hatte, von den ihm vorgeschriebenen Pflichten auch um ein Haar abzuweichen. Er war auch nicht besonders religiös, da seine äußere Sittsamkeit in ihm alle übrigen menschlichen Gaben und insbesondere alle Leidenschaften und Wünsche, wie die guten, so auch die schlechten verschlungen hatte. Infolgedessen erwartete er den feierlichen Tag ohne Getue, ohne Aufregung, ohne sich traurigen und völlig zwecklosen Erinnerungen hinzugeben, sondern mit einer stillen und methodischen Sittsamkeit, von der er gerade soviel hatte, um einer Pflicht oder einer ein für allemal eingeführten Sitte zu genügen, überhaupt liebte er es nicht, zu viel nachzudenken. Die Bedeutung einer Tatsache schien seinen Kopf niemals zu beschäftigen, aber die einmal gegebenen Vorschriften erfüllte er stets mit einer religiösen Gewissenhaftigkeit. Hätte man ihm am nächsten Tage befohlen, das Gegenteil davon zu tun, so würde er es mit demselben Gehorsam und der gleichen Genauigkeit getan haben, mit denen er einen Tag vorher das Entgegengesetzte tat. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er versucht, nach seinem eigenen Verstande zu handeln, und war deswegen ins Zuchthaus geraten. Diese Lektion war nicht vergebens. Obwohl es ihm vom Schicksale nicht gegeben war, jemals zu begreifen, worin sein Vergehen bestand, zog er aus seinem Erlebnis dennoch den heilsamen Schluß, nie und unter keinen Umständen selbständig zu urteilen, weil das »nichts für seinen Kopf sei«, wie die Arrestanten untereinander sprachen. Blind den Sitten ergeben, betrachtete er sogar sein Weihnachtsferkel, das er mit Grütze füllte und briet (er briet es eigenhändig, denn er verstand sich auch darauf), schon im voraus mit einem besonderen Respekt, als wäre es kein gewöhnliches Ferkel, das man immer kaufen und braten könne, sondern ein besonderes, feiertägliches. Vielleicht war er von Kind auf gewöhnt, an diesem Tage ein Ferkel auf dem Tisch zu sehen, und hatte daraus den Schluß gezogen, daß das Ferkel unbedingt zu Weihnachten gehöre: ich bin überzeugt, daß er, wenn er an diesem Tage auch nur ein einziges Mal kein Ferkel gegessen hätte, sein Leben lang Gewissensbisse wegen der Nichterfüllung seiner Pflicht empfunden haben würde. Vor den Feiertagen hatte er seine alte Jacke und seine alte Hose getragen, die zwar anständig geflickt, aber gänzlich abgetragen waren. Nun zeigte es sich, daß er den neuen Anzug, der ihm vor etwa vier Monaten ausgefolgt worden war, sorgfältig in seinem Köfferchen verwahrt und kein einziges Mal angerührt hatte, vom beglückenden Vorhaben erfüllt, ihn erst am Weihnachtstage feierlich einzuweihen. So machte er es auch. Er holte den neuen Anzug schon am Vorabend heraus, breitete ihn aus, untersuchte ihn genau, reinigte ihn, blies jedes Stäubchen weg und probierte ihn, nachdem er dies alles verrichtet hatte, zum erstenmal an. Es stellte sich heraus, daß der Anzug vorzüglich paßte; alles war anständig und ließ sich bis oben zuknöpfen, der Stehkragen war steif wie aus Pappe und stützte das Kinn; an der Taille saß er fast wie ein Uniformrock, und Akim Akimytsch grinste sogar vor Vergnügen, als er sich nicht ohne Eleganz vor seinem winzigen Spiegel drehte, den er in einer freien Stunde eigenhändig mit einer goldenen Bordüre beklebt hatte. Nur ein Häkchen am Kragen der Joppe schien nicht auf der richtigen Stelle zu sitzen. Als Akim Akimytsch es feststellte, entschloß er sich, das Häkchen zu versetzen; er versetzte es, probierte die Jacke von neuem und stellte fest, daß nun alles tadellos saß. Darauf legte er die Sachen wieder zusammen und tat sie beruhigt bis zum folgenden Tage in sein Köfferchen. Sein Kopf war recht anständig rasiert; als er sich aber genauer im Spiegel betrachtete, bemerkte er kaum sichtbare Stoppeln auf dem Schädel und begab sich sofort zum »Major« um sich ganz tadellos und vorschriftsmäßig rasieren zu lassen. Obwohl ihn am nächsten Tage sicher kein Mensch darauf hin untersucht hätte, ließ er sich einzig zur Beruhigung seines eigenen Gewissens rasieren, damit an einem solchen Tage alle Vorschriften peinlich genau erfüllt seien. Die Andacht vor jedem Knöpfchen, vor jeder Litze, vor jeder Einzelheit der Uniform hatte sich in seinem Geiste schon von Kind auf als eine unverletzbare Pflicht aufgeprägt und seinem Herzen als das Muster der höchsten Schönheit, die ein anständiger Mensch zu erreichen vermöge. Nachdem er dies alles erledigt hatte, ließ er in seiner Eigenschaft als Stubenältester Heu bringen und beobachtete sorgfältig, wie man es auf dem Fußboden ausbreitete. Das wurde auch in den anderen Kasernen gemacht. Ich weiß nicht, warum, aber man pflegte bei uns zu Weihnachten immer Heu auf den Fußböden auszubreiten. Als Akim Akimytsch mit allen diesen Arbeiten fertig war, verrichtete er sein Gebet, legte sich auf sein Lager und versank sofort in den ruhigen Schlaf eines Säuglings, um am nächsten Morgen möglichst früh zu erwachen. Dasselbe taten übrigens auch die anderen Arrestanten. In allen Kasernen begab man sich viel früher zur Ruhe als gewöhnlich. Die sonst üblichen Abendarbeiten unterblieben, von den Maidans war keine Spur zu sehen. Alle erwarteten den kommenden Morgen.

Endlich brach dieser Morgen an. Ganz in der Frühe, gleich nach dem Trommelschlag wurden die Kasernen aufgeschlossen, und der wachhabende Unteroffizier, der die Arrestanten nachzuzählen hatte, beglückwünschte alle zum Feste. Man erwiderte seinen Glückwunsch freundlich und höflich. Nachdem Akim Akimytsch in aller Eile gebetet hatte, lief er gleich allen andern, die in der Küche ihre eigenen Gänse und Ferkel hatten, hin, um nachzuschauen, was mit ihnen geschähe, wie sie gebraten würden, wo sich jeder Braten befinde usw. In der Dunkelheit konnte man durch die kleinen schneeverwehten und eingefrorenen Fenster unserer Kaserne sehen, wie in den beiden Küchen, in allen sechs Öfen ein helles Feuer loderte, das schon vor Tagesanbruch angezündet worden war. Über den Hof huschten schon im Dunkeln viele Arrestanten in ihren Pelzröcken, die sie teils richtig angezogen und teils lose über die Schultern geworfen hatten, und alles drängte sich nach der Küche. Einige Arrestanten, übrigens sehr wenige, hatten schon Zeit gehabt, die Branntweinverkäufer aufzusuchen. Das waren die ungeduldigsten. Im allgemeinen benahmen sich aber alle anständig, ruhig und ungewöhnlich solid. Man hörte weder das gewohnte Geschimpfe, noch die gewohnten Streitigkeiten. Alle begriffen, daß es ein großer Tag und ein hohes Fest sei. Manche waren in die andern Kasernen gegangen, um ihre Bekannten zu beglückwünschen. Es zeigte sich sogar etwas wie Freundschaft. Hier will ich nebenbei bemerken: unter den Arrestanten ließ sich nichts von freundschaftlichen Beziehungen wahrnehmen; ich spreche schon gar nicht von einem freundschaftlichen Zusammenhalten aller, aber es kam auch nicht vor, daß sich ein Arrestant mit einem anderen befreundete. Das kam fast niemals vor, und diese Erscheinung ist höchst eigentümlich: in der Freiheit ist es anders. Bei uns waren überhaupt alle im Umgange miteinander, von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, trocken und kühl, und dies war ein gleichsam offizieller, ein für allemal eingeführter Ton. Auch ich trat aus der Kaserne ins Freie; es fing kaum zu tagen an, die Sterne erloschen, ein feiner Dampf stieg in die frostige Luft. Aus den Schornsteinen der Küchen erhoben sich Rauchsäulen. Einige von den Arrestanten, denen ich begegnete, gratulierten mir freundlich und mit großer Lust zum Fest. Ich dankte und erwiderte ihre Glückwünsche. Unter diesen Arrestanten gab es auch solche, die mit mir bisher den ganzen Monat noch kein Wort gesprochen hatten.

Dicht vor der Küche holte mich ein Arrestant aus der Militärabteilung in einem lose um die Schultern geworfenen Schafpelz ein. Er hatte mich schon von weitem erkannt und rief mir zu: »Alexander Petrowitsch! Alexander Petrowitsch!« Er lief nach der Küche und hatte große Eile. Ich blieb stehen und wartete auf ihn. Es war ein junger Bursch mit rundem Gesicht und sanften Augen, der auch sonst mit keinem Menschen sprach, mit mir aber seit meinem Eintritte ins Zuchthaus kein Wort gewechselt und mir überhaupt nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte; ich wußte nicht mal, wie er hieß. Er lief ganz atemlos auf mich zu, blieb dicht vor mir stehen und sah mich mit einem blöden und zugleich glückseligen Lächeln an.

»Was wünschen Sie?« fragte ich ihn nicht ohne Erstaunen, als ich sah, wie er vor mir stand, lächelte, mich anstarrte, aber kein Wort sagte.

»Heut ist ja Feiertag . . .« murmelte er. Da er nun selbst merkte, daß er mir sonst nichts zu sagen hatte, ließ er mich stehen und lief eilig in die Küche.

Ich will hier bemerken, daß ich mit ihm auch später nie wieder zusammenkam und bis zu meinem Austritt aus dem Zuchthause kein Wort mehr wechselte.

In der Küche herrschten bei den glühenden Öfen ein Getue und ein Gedränge. Ein jeder gab auf sein Eigentum acht; die »Köchinnen« machten sich eben daran, das amtliche Zuchthausessen zu kochen, da das Mittagessen an diesem Tage für eine frühere Stunde angesetzt war. Übrigens fing noch niemand zu essen an, obwohl manche große Lust dazu hatten, aber man mußte doch den Anstand den andern gegenüber wahren. Man wartete auf den Geistlichen, um erst nach seinem Besuch von den Fleischspeisen zu genießen. Indessen, es war noch nicht ganz Tag geworden, erklangen jeden Augenblick vom Tore des Zuchthauses her die Rufe des Gefreiten: »Die Köche her!« Diese Rufe ertönten jeden Augenblick, und so ging es an die zwei Stunden lang. Die Köche wurden aus der Küche herausgerufen, um die von allen Enden der Stadt ins Zuchthaus zusammenströmenden Gaben in Empfang zu nehmen. Man brachte eine außerordentliche Menge davon in Form von Semmeln, Broten, Käsekuchen, Fladen, Pfannkuchen und sonstigem Buttergebäck. Ich glaube, es gab in der ganzen Stadt, in keinem Kaufmanns- oder Kleinbürgershause auch nur eine Hausfrau, die uns nicht etwas von ihrem Gebäck geschickt hätte, um den »Unglücklichen« und Gefangenen zum hohen Feste Glück zu wünschen. Es waren darunter auch sehr üppige Gaben – feinstes Gebäck aus reinstem Mehl in größter Menge. Andere Gaben waren dagegen ärmlich: irgendeine Semmel im Werte von einer halben Kopeke oder zwei kaum mit Sahne bestrichene Fladen; das waren Gaben, die ein Armer aus seinem letzten Besitz einem andern Armen spendete. Alles wurde mit der gleichen Dankbarkeit ohne Ansehen der Gaben und der Person der Schenkenden angenommen. Die Arrestanten, die die Sachen in Empfang nahmen, zogen die Mützen, verbeugten sich, gratulierten zum Feste und trugen die Gaben in die Küche. Als sich dort ganze Berge von dem gespendeten Gebäck angesammelt hatten, wurden die Stubenältesten aus jeder Kaserne berufen, und diese verteilten alles gleichmäßig unter allen Kasernen. Dabei gab es weder Streit, noch Geschimpfe; man erledigte die Sache ehrlich und gerecht. Alles, was auf unsere Kaserne kam, wurde schon bei uns verteilt; die Verteilung besorgten Akim Akimytsch und noch ein anderer Arrestant; sie verteilten alles mit eigener Hand und gaben einem jeden mit eigener Hand seinen Teil. Es gab nicht die geringsten Zeichen von Unzufriedenheit oder Neid; alle waren befriedigt; ein Verdacht, daß eine Gabe unterschlagen oder ungerecht verteilt worden sei, konnte überhaupt nicht aufkommen. Nachdem Akim Akimytsch seine persönlichen Angelegenheiten in der Küche erledigt hatte, begann er sich anzuziehen und tat es mit allem Anstand und großer Feierlichkeit, so daß auch nicht ein einziges Häkchen übersehen wurde. Als er mit dem Ankleiden fertig war, begann er mit dem eigentlichen Gebet. Das Gebet dauerte ziemlich lange. Viele Arrestanten, zum größten Teil ältere Leute, beteten schon. Die Jüngeren beteten nicht zu viel: sie bekreuzigten sich höchstens beim Aufstehen, sogar an einem Feiertag. Nachdem Akim Akimytsch sein Gebet verrichtet hatte, ging er auf mich zu und beglückwünschte mich mit einiger Feierlichkeit zum Fest. Ich lud ihn sofort zum Tee ein, was er mit einer Einladung zum Ferkel beantwortete. Bald darauf kam auch Petrow herbeigelaufen, um mir zu gratulieren. Er hatte wohl schon etwas getrunken, kam zwar mit großer Hast herbeigestürzt, sagte aber nicht viel, sondern stand nur wie in Erwartung eine kurze Weile vor mir da und begab sich bald darauf in die Küche. Indessen bereitete man sich in der Militärkaserne zum Empfang des Geistlichen vor. Diese Kaserne hatte eine andere Einrichtung als die andern: die Pritschen waren in ihr längs der Wände und nicht mitten im Raume angeordnet, wie es in den anderen Kasernen war; es war die einzige Kaserne, die in der Mitte einen freien Raum hatte. Wahrscheinlich war sie absichtlich so eingerichtet, damit man im Bedarfsfalle in ihr die Arrestanten versammeln könne. In der Mitte des Raumes stellte man ein Tischchen auf, bedeckte es mit einem sauberen Handtuch, stellte ein Heiligenbild darauf und entzündete davor ein Lämpchen. Endlich kam der Geistliche mit dem Kreuze und dem Weihwasser. Nachdem er vor dem Heiligenbilde gebetet und gesungen hatte, stellte er sich vor den Arrestanten hin, und alle gingen mit aufrichtiger Andacht auf ihn zu, um das Kreuz zu küssen. Der Geistliche machte darauf eine Runde durch sämtliche Kasernen und besprengte sie mit Weihwasser. In der Küche lobte er unser Zuchthausbrot, das wegen seiner Güte in der ganzen Stadt berühmt war, und die Arrestanten äußerten sofort den Wunsch, ihm zwei frischgebackene Brote zu schicken; mit der Überbringung dieser Brote wurde sofort einer der Invaliden betraut. Dem Kreuz gab man mit der gleichen Andacht das Geleite, mit der man es empfangen hatte, und fast gleich darauf kamen der Platzmajor und der Kommandant. Der Kommandant genoß bei uns Liebe und Achtung. Er ging in Begleitung des Platzmajors durch alle Kasernen, gratulierte allen zum Fest, begab sich in die Küche und kostete von unserer Kohlsuppe. Die Kohlsuppe war vorzüglich; man hatte uns diesem Tage zu Ehren für sie fast ein ganzes Pfund Fleisch pro Mann gegeben. Außerdem war noch ein Hirsebrei vorbereitet, zu dem man genügend Butter ausgefolgt hatte. Als der Kommandant gegangen war, gab der Platzmajor den Befehl, mit dem Mittagessen zu beginnen. Die Arrestanten bemühten sich, ihm möglichst wenig unter die Augen zu kommen. Wir liebten nicht seinen bösen Blick unter der Brille hervor, mit dem er nach rechts und nach links ausspähte, ob es nicht irgendwo eine Unordnung gäbe, und ob er nicht einen Schuldigen erwischen könne.

Man begann zu essen. Das Ferkel Akim Akimytschs war vorzüglich durchgebraten. Nun kam etwas, was ich unmöglich erklären kann: sofort nach dem Weggange des Platzmajors, höchstens fünf Minuten darauf, machte sich eine außerordentliche Anzahl von Betrunkenen bemerkbar, wahrend fünf Minuten vorher alle nüchtern waren. Man sah auf einmal viele rote und strahlende Gesichter und hörte Balalaikas. Der kleine Pole mit der Geige ging schon hinter einem Bummelnden her, der ihn für den ganzen Tag gemietet hatte, um lustige Tänze aufzuspielen. Die Gespräche wurden immer lauter und trunkener. Aber man beendete das Mittagessen ohne besondere Zwischenfälle. Alle waren satt. Viele von den Älteren und Solideren legten sich sofort schlafen; unter diesen war auch Akim Akimytsch, der es anscheinend für eine Vorschrift hielt, an einem großen Feiertage ein Nachmittagsschläfchen zu halten. Der Greis von den Staroduber Altgläubigen stieg, nachdem er eine Weile geschlafen hatte, auf den Ofen, schlug sein Buch auf und betete ununterbrochen bis tief in die Nacht hinein. Es war ihm schwer, diese »Schande«, wie er den allgemeinen lustigen Zeitvertreib der Arrestanten nannte, mitanzusehen. Alle Kaukasier saßen auf den Stufen vor dem Flur und beobachteten mit Interesse, zugleich auch mit einem gewissen Abscheu unsere Betrunkenen. Ich begegnete Nurra. »Jaman, nicht schön!« sagte er, den Kopf schüttelnd, mit frommer Entrüstung: »Ach, jaman! Allah wird böse sein!« Issai Fomitsch zündete trotzig und hochmütig in seinem Winkelchen ein Licht an und begann zu arbeiten, wohl um uns zu zeigen, daß er diesen Feiertag für nichts achte. An verschiedenen Stellen taten sich die Maidans auf. Vor den Invaliden hatte man keine Angst, und für den Fall des Erscheinens des Unteroffiziers, der sich übrigens selbst Mühe gab, nichts zu sehen, stellte man Wachen aus. Der Wachoffizier sah an diesem Tage an die drei Mal ins Zuchthaus hinein. Aber bei seinem Erscheinen versteckten sich die Betrunkenen und verschwanden die Maidans; auch er selbst schien wohl an diesem Tage kleinere Vergehen nicht beachten zu wollen. Betrunkenheit galt an diesem Tage als ein kleines Vergehen. Die Leute kamen allmählich in Stimmung. Es begannen Streitigkeiten. Die Nüchternen waren immer noch in der Mehrheit, also gab es genug Leute, um auf die Betrunkenen aufzupassen. Dafür tranken die anderen ohne jedes Maß. Gasin triumphierte. Er spazierte mit selbstzufriedener Miene vor seinem Platz auf der Pritsche auf und ab, unter die er ganz frech den Branntwein geschafft hatte, der bis dahin in einem geheimen Ort, irgendwo im Schnee hinter der Kaserne versteckt gewesen war, und lächelte schlau, die an ihn herantretenden Kunden musternd. Er selbst war nüchtern und hatte keinen Tropfen getrunken. Er hatte die Absicht, mit dem Bummeln erst am Ende des Festes zu beginnen, nachdem er sich das Geld aller Sträflinge angeeignet haben würde. In den Kasernen tönten Lieder. Die Trunkenheit ging schon in Katzenjammer über, und die Lieder waren nahe daran, in Weinen überzugehen. Viele gingen mit ihren eigenen Balalaikas, die Pelze lose über die Schultern geworfen, umher und klimperten mit herausfordernder Miene. In der Besonderen Abteilung hatte sich sogar ein Chor aus acht Mann gebildet. Sie sangen schön mit der Begleitung von Balalaikas und Gitarren. Echte Volkslieder wurden nur wenig gesungen. Ich kann mich nur auf eines besinnen, das mit schönem Schwung vorgetragen wurde:

Abends gab's zu Haus
Einen großen Schmaus.

Hier hörte ich eine neue Variante dieses Liedes, die ich vorher nicht gekannt hatte. Am Ende des Liedes wurden noch einige Verse hinzugefügt:

Denn ich, junge Frau,
Nehm' es sehr genau:
Wusch die Löffel aus,
Machte Suppe draus,
Schabte den Türstock ab,
Was Pasteten gab.

Sonst sang man zum größten Teil die sogenannten Arrestantenlieder, übrigens lauter bekannte. Das eine von ihnen, betitelt »Es war einmal«, war humoristisch und handelte davon, wie der Mensch sich früher als großer Herr in der Freiheit vergnügt hatte und dann ins Zuchthaus geraten war. Es wurde darin geschildert, wie er vorher sein »Blancmanger mit Champagner« zu versüßen pflegte, aber jetzt:

Eß ich auch Kohl mit kaltem Wasser
Mit allergrößtem Appetit.

Verbreitet war auch folgendes allzu bekannte Lied:

Vormals lebt' ich junger Bursche selig,
Hatte ja ein Sümmchen noch.
Doch das Kapital verschwand allmählich,
Und so kam ich denn ins Loch.

Nur wurde bei uns das Wort »Kapital« – »Kopital« ausgesprochen, da man es von »kopitj« (sparen) ableitete. Man hörte auch traurige Lieder. Eines davon war ein echtes Arrestantenlied, das, wie ich glaube, ebenfalls bekannt ist:

Wenn sich färbt die Himmelsweite
Und die Trommel wirbelt grell,
Sperrt die Tür auf der Gefreite,
Ruft der Schreiber zum Appell.
Freilich, man erblickt uns nimmer
Hinter Mauern starr und breit.
Aber Gott, der Herr der Himmel,
Sorgt auch hier für uns allzeit!

Ein anderes Lied war noch trauriger, hatte übrigens eine sehr schöne Melodie und war wohl von irgendeinem Verschickten verfaßt worden; der Text war süßlich und stümperhaft gemacht. Mir sind davon einige Verse in Erinnerung geblieben:

Nie schaut mein Blick die Heimat mehr,
Nie komm ich mehr dahin;
Da ich zu Leiden lang und schwer
Schuldlos verurteilt bin.
Es krächzt das Käuzchen auf dem Dach,
Den Urwald weckt sein Schrei'n,
Das Herz wird weh, das Herz wird schwach,
Nie werd' ich dorten sein.

Dieses Lied wurde bei uns oft gesungen, aber nicht im Chor, sondern als Solonummer. Manchmal trat jemand in der arbeitsfreien Zeit aus der Kaserne, setzte sich auf die Stufen, wurde nachdenklich, stützte das Kinn in die Hand und stimmte mit hoher Fistelstimme dieses Lied an. Wenn man es hörte, tat einem das Herz weh. Wir hatten übrigens einige anständige Stimmen.

Indessen senkte sich die Abenddämmerung. Trauer, Gram und Katzenjammer lugten schwermütig aus Trunkenheit und Ausgelassenheit hervor. Einer, der vor einer Stunde gelacht hatte, weinte irgendwo, maßlos betrunken. Andere waren sich schon mehrere Male in die Haare geraten. Andere wieder trieben sich, blaß und sich kaum auf den Beinen haltend, in den Kasernen herum und fingen Händel an. Diejenigen aber, die im Rausche friedlich blieben, suchten vergebens nach Freunden, um ihnen ihr Herz auszuschütten und ihr trunkenes Weh auszuweinen. Dieses ganze arme Volk wollte sich vergnügen und das hohe Fest lustig zubringen, aber, mein Gott, wie traurig und schwer war dieser Tag fast für jeden! Ein jeder fühlte sich so, als hätte ihn eine Hoffnung betrogen. Petrow kam noch ein paar Mal zu mir gelaufen. Er hatte während des ganzen Tages nur sehr wenig getrunken und war fast ganz nüchtern. Aber er erwartete bis zur allerletzten Stunde etwas, was unbedingt eintreffen müßte, etwas Ungewöhnliches, Festliches, unendlich Lustiges. Er sprach es zwar nicht aus, aber man konnte es in seinen Augen lesen. Er schlenderte unermüdlich durch alle Kasernen. Es geschah aber nichts, und er stieß überall nur auf Betrunkene, welche trunken schimpften und heiser schrien. Auch Ssirotkin ging in einem neuen roten Hemde durch alle Kasernen, hübsch, gewaschen, und schien ebenfalls still und naiv auf etwas zu warten. Allmählich wurde es in den Kasernen unerträglich und widerlich. Es gab natürlich auch viel Komisches dabei, aber ich fühlte eine Trauer und Mitleid mit ihnen allen, es war mir so schwer und schwül in dieser Umgebung. Da streiten sich zwei Arrestanten herum, wer den andern traktieren müsse. Man sieht, daß sie schon lange so streiten und auch schon vorher verzankt waren. Der eine hat schon seit langem einen Zorn auf den andern. Er beklagt sich, mühselig die Zunge bewegend, und bemüht sich zu beweisen, daß der andere ihn ungerecht behandelt habe: es handelt sich um den Verkauf irgendeines Pelzrockes und um die Unterschlagung von irgendwelchem Geld in der Butterwoche des vorigen Jahres. Er erhob auch noch andere Anklagen . . . Der Ankläger, ein großgewachsener muskulöser Bursche, ist sonst friedlich und gar nicht dumm; wenn er aber betrunken ist, hat er das Bedürfnis, sich mit jedermann anzufreunden und sein Herz auszuschütten. Er schimpft und erhebt seine Anklagen eigentlich auch nur mit dem Wunsche, sich mit seinem Gegner nachher recht ordentlich zu versöhnen. Der andere ist ein stämmiger, kräftiger, kleiner Mann mit rundem Gesicht, listig und verschlagen. Er hat vielleicht sogar mehr als sein Freund getrunken, ist aber nur leicht angeheitert. Er hat einen starken Charakter und gilt als reich, es ist ihm aber aus irgendeinem Grunde vorteilhaft, seinen temperamentvollen Freund jetzt nicht zu reizen, und er führt ihn zum Branntweinverkäufer; der Freund behauptet, er sei verpflichtet, ihn zu traktieren, »wenn du überhaupt ein anständiger Mensch bist«.

Der Branntweinverkäufer schenkt eine Tasse Branntwein ein mit dem Ausdrucke einer gewissen Hochachtung gegen den Besteller und einer leisen Geringschätzung gegen dessen temperamentvollen Freund, weil dieser nicht für sein eigenes Geld trinkt, sondern sich traktieren laßt.

»Nein, Stjopka, das mußt du wohl,« sagt der temperamentvolle Freund, als er sieht, daß er seinen Willen durchgesetzt hat, »denn es ist deine Pflicht«.

»Ich werde doch mit dir nicht viel herumreden!« antwortet Stjopka.

»Nein, Stjopka, du lügst,« dringt der erste in ihn ein, indem er aus den Händen des Branntweinverkäufers die Tasse nimmt: »Denn du schuldest mir Geld, du hast kein Gewissen im Leibe, selbst deine Augen gehören nicht dir, sondern du hast sie geliehen! Ein Schuft bist du, Stjopka, daß du es weißt! Mit einem Worte ein Schuft!«

»Na, was jammerst du da, hast ja den Branntwein verschüttet! Wenn man dir schon die Ehre erweist, so trink doch!« schreit der Branntweinverkäufer dem temperamentvollen Freund an. »Ich werde doch nicht bis morgen hier mit dir stehen!«

»Ich werde ja trinken, was schreist du! Ein frohes Fest wünsche ich, Stepan Dorofejitsch!« wendet er sich höflich, mit einer leichten Verbeugung an Stjopka, den er vor einer halben Minute einen Schuft genannt hatte. »Hundert Jahre sollst du leben und gesund sein, und was du schon gelebt hast, wird nicht mitgezählt!« Er trank aus, räusperte sich und wischte sich den Mund. »Früher habe ich viel Branntwein vertragen können, Brüder,« bemerkte er ernst und wichtig, sich an alle und an keinen insbesondere wendend, »aber jetzt werde ich wohl alt. Ich danke schön, Stepan Dorofejitsch.«

»Keine Ursache.«

»Ich werde dir aber immer dasselbe sagen, Stjopka, und ganz abgesehen davon, daß du vor mir als ein großer Schuft dastehst, will ich dir sagen, daß . . .«

»Ich werde dir aber folgendes sagen, du betrunkene Fratze,« unterbricht ihn Stjopka, dem die Geduld reißt. »Hör zu und merke dir jedes meiner Worte: wollen wir die Welt teilen, du kriegst die eine Hälfte, und ich kriege die andere. Geh und komm mir nicht wieder vor die Augen. Ich hab dich satt!«

»Du wirst mir also das Geld nicht zurückgeben?«

»Was für ein Geld, du besoffener Kerl?«

»Ach, wenn du in jener Welt zu mir kommst und es mir zurückgeben willst, werde ich es nicht annehmen. Ich habe mein Geld mit Mühe und Schweiß und Schwielen verdient. Du wirst an meinen fünf Kopeken in jener Welt schwer zu tragen haben.«

»Geh doch zum Teufel.«

»Was treibst du mich an: du hast mich doch nicht angespannt!«

»Geh, geh!«

»Schuft!«

»Zuchthäusler!«

Und es beginnt ein Schimpfen noch ärger als vor dem Traktieren.

Da sitzen auf der Pritsche zwei Freunde beieinander; der eine ist ein großer, feister, fleischiger Kerl mit rotem Gesicht, ein richtiger Metzger. Er weint beinahe, denn er ist tief gerührt. Der andere ist schmächtig, dünn und mager und hat eine lange Nase, aus der etwas zu tropfen scheint, und kleine Schweinsaugen, die er gesenkt hält. Dieser ist ein solider und gebildeter Mensch, ist einmal Schreiber gewesen und traktiert seinen Freund etwas von oben herab, worüber sich dieser heimlich ärgert. Sie haben den ganzen Tag zusammen getrunken.

»Er hat sich gegen mich erfrecht!« schreit der fleischige Freund, indem er den Kopf des Schreibers mit der linken Hand packt und kräftig schüttelt. (»Er hat sich erfrecht,« heißt: er hat mich geschlagen.) Der fleischige Freund, ein ehemaliger Unteroffizier, beneidet insgeheim seinen schwächlichen Freund, und darum renommieren sie voreinander mit ihrem gewählten Stil.

»Ich sage dir aber, daß auch du unrecht hast . . .« fängt der Schreiber dogmatisch an, hartnäckig und wichtig zu Boden blickend.

»Er hat sich gegen mich erfrecht, hörst du?!« unterbricht ihn der Freund, wobei er den Freund noch kräftiger schüttelt. »Jetzt habe ich nur dich allein auf der ganzen Welt, hörst du es? Darum sage ich es dir allein: Er hat sich gegen mich erfrecht! . . .«

»Ich will dir aber folgendes sagen: eine so versauerte Rechtfertigung bedeckt dein Haupt mit Schande, lieber Freund!« erwidert der Schreiber höflich mit seiner dünnen Stimme. »Gib doch lieber zu, Freund, daß diese ganze Sauferei von deiner eigenen Unbeständigkeit herrührt.«

Der fleischige Freund wankt etwas zurück, blickt stumpf mit seinen trunkenen Augen den selbstgefälligen Schreiber an und schlägt ihn plötzlich, völlig unerwartet, aus aller Kraft mit seiner großen Faust auf sein kleines Gesicht. Damit endet die Freundschaft für den ganzen Tag. Der liebe Freund fliegt bewußtlos unter die Pritsche . . .

Da tritt in unsere Kaserne einer meiner Bekannten aus der Besonderen Abteilung, ein grenzenlos gutmütiger und lustiger Bursche, recht gescheit, harmlos spöttisch und ungewöhnlich einfältig von Aussehen. Es ist derselbe, der am ersten Tage meines Zuchthauslebens, während des Mittagessens in der Küche gesucht hatte, wo der reiche Bauer wohne, versichert hatte, daß er sein Ehrgefühl habe, und mit mir Tee getrunken hatte. Er ist an die vierzig Jahre alt, hat eine ungewöhnlich dicke Unterlippe und eine große, fleischige, mit Finnen besäte Nase. Er hält in der Hand eine Balalaika, auf deren Saiten er nachlässig klimpert. Ihm folgt wie ein Adjutant ein außergewöhnlich kleiner Arrestant mit großem Kopf, den ich bisher wenig gekannt habe. Ihm hat übrigens auch niemand anders irgendwelche Beachtung geschenkt. Er war ein merkwürdiger, mißtrauischer, ewig schweigsamer und ernster Mensch; er arbeitete in der Nähstube und gab sich offenbar Mühe, für sich allein zu leben und mit niemand zu verkehren. Jetzt hatte er sich aber in seiner Betrunkenheit wie ein Schatten an Warlamow geheftet. Er folgte ihm in schrecklicher Aufregung, fuchtelte mit den Armen, schlug mit der Faust gegen die Wand und die Pritschen und weinte beinahe. Warlamow schien ihn überhaupt nicht zu beachten, als hätte er ihn gar nicht in seiner Nähe. Es ist merkwürdig, daß diese beiden Menschen vorher fast nie einander nahegekommen sind; weder in den Beschäftigungen noch im Charakter haben sie etwas Gemeinsames. Sie gehören in verschiedene Abteilungen und wohnen in verschiedenen Kasernen. Der kleine Arrestant heißt Bulkin.

Als Warlamow mich erblickte, grinste er. Ich saß auf meinem Platz auf der Pritsche am Ofen. Er stellte sich in einiger Entfernung vor mir hin, überlegte etwas, schwankte, ging mit unsicheren Schritten auf mich zu, beugte den ganzen Körper mit Grazie vor, berührte leicht die Saiten und rezitierte, indem er den Takt leise mit dem Stiefel klopfte:

Weiß und rund, mit Feuerblicken
Ist mein Liebchen zum Entzücken,
Und wie schön sie singt!
Ist im Kleid aus weißer Seide
Eine wahre Augenweide,
Wenn sie freundlich winkt . . .

Dieses Lied schien Bulkin ganz aus der Fassung zu bringen; er schwang die Arme und schrie, sich an alle wendend:

»Es ist alles gelogen, Brüder, alles gelogen! Er spricht kein wahres Wort, er lügt immer!«

»Dem alten Alexander Petrowitsch!« sagte Warlamow, indem er mit schelmischem Lächeln mir in die Augen sah und beinahe Anstalten machte, mich zu küssen. Er war vollkommen betrunken. Der Ausdruck: »Dem alten so und so . . .« d. h. »bringe ich meine Hochachtung dar,« wird von den einfachen Leuten in ganz Sibirien gebraucht, selbst in bezug auf einen Zwölfjährigen. Das Wort »alter« bedeutet einen gewissen Respekt und hat sogar etwas Schmeichelhaftes.

»Na, wie geht's, Warlamow?«

»Man lebt halt von einem Tag zum andern. Wer sich aber über das Fest freut, der ist vom frühen Morgen an betrunken; Sie verzeihen schon!« Warlamow sprach in einem etwas singenden Tone.

»Er lügt immer, er lügt wieder!« schrie Bulkin, in einem Anfalle von Verzweiflung mit der Hand auf die Pritsche schlagend. Jener schenkte ihm aber nicht die geringste Beachtung, und das war außerordentlich komisch, weil Bulkin sich an Warlamow ohne jeden Grund schon vom frühen Morgen an geheftet hatte und ihm ständig vorwarf, daß er »immer lüge«, was er sich aus irgendeinem Grunde einbildete. Er folgte ihm wie ein Schatten, widersprach jedem seiner Worte, schlug sich die Hände an den Wänden und Pritschen fast blutig und litt sichtlich unter der Überzeugung, daß Warlamow »immer lüge!« Hätte er Haare auf dem Kopfe, so würde er sie sich vor Kummer wohl ausgerissen haben. Es war, als hätte er es sich zur Pflicht gemacht, alle Handlungen Warlamows zu verantworten, und als lasteten auf seinem Gewissen alle Mängel desselben. Das Komische aber war, daß Warlamow ihn nicht einmal ansah.

»Er lügt, er lügt, er lügt immer! Kein Wort von ihm ist wahr!« schrie Bulkin.

»Was geht es aber dich an?« fragten die Arrestanten lachend.

»Ich muß Ihnen folgendes sagen, Alexander Petrowitsch: ich bin ein hübscher Mann gewesen, und die Mädels haben mich sehr geliebt . . .« begann Warlamow ganz unvermittelt.

»Er lügt! Er lügt schon wieder!« unterbricht ihn Bulkin winselnd. Die Arrestanten lachen.

»Ich aber mache mir aus ihnen nicht viel! Ein rotes Hemd habe ich an und eine Plüschhose; ich liege da wie irgendein Graf Butylkin, d. h. ich bin besoffen wie ein Schwede, mit einem Wort, was will man noch mehr!«

»Er lügt!« erklärt Bulkin entschieden.

»Um jene Zeit hatte ich ein zweistöckiges steinernes Haus von meinem Vater geerbt. Nun hatte ich in zwei Jahren die zwei Stockwerke durchgebracht, und es blieb mir nur das Tor ohne die Pfosten. Nun, Geld ist halt wie eine Taube: es kommt geflogen und fliegt wieder fort!«

»Er lügt!« erklärt Bulkin noch entschiedener.

»So schickte ich neulich von hier einen Bittbrief an meine Eltern: vielleicht schicken sie mir etwas Geld. Die Leute sagten, ich hätte mich an meinen Eltern vergangen. Ich hätte sie nicht genug geachtet! Es sind schon sieben Jahre her, daß ich den Brief abgeschickt habe.«

»Und es ist noch immer keine Antwort da?« fragte ich lachend.

»Nein, noch immer keine,« antwortete er, indem er plötzlich selbst auflachte und seine Nase meinem Gesicht näherte. »Ich habe aber hier eine Geliebte, Alexander Petrowitsch . . .«

»Sie? Eine Geliebte?«

»Da sagte Onufrijew neulich: ›Wenn die meine auch pockennarbig und unschön ist, so hat sie dafür viele Kleider; die deinige aber ist zwar hübsch, aber arm und geht betteln.‹«

»Ist es denn wahr?«

»Sie ist in der Tat eine Bettlerin!« antwortete er und brach in ein kaum hörbares Lachen aus; auch die andern Leute in der Kaserne lachten. Es war allen wirklich bekannt, daß er sich mit einer Bettlerin eingelassen und ihr im Laufe des halben Jahres bloß zehn Kopeken geschenkt hatte.

»Also was ist damit?« fragte ich, da ich ihn schon loswerden wollte.

Er schwieg, sah mich gerührt an und sagte zärtlich:

»Wollen Sie mir nicht aus diesem Grunde etwas für ein Fläschchen Branntwein spendieren? Ich habe ja heute nur Tee getrunken, Alexander Petrowitsch,« fügte er gerührt hinzu, das Geld einsteckend, »und habe mich mit diesem Tee so besoffen, daß ich Atemnot leide und er mir im Magen wie in einer Flasche hin und her schwankt.«

Während er das Geld in Empfang nahm, erreichte die moralische Entrüstung Bulkins anscheinend den höchsten Grad. Er gestikulierte wie verzweifelt und weinte beinahe.

»Ihr Menschen Gottes!« schrie er, sich wie rasend an die ganze Kaserne wendend. »Schaut ihn doch an! Er lügt immer! Was er auch sagt, alles ist gelogen!«

»Was geht es aber dich an?« schrien die Arrestanten, sich über seine Wut wundernd. »Bist ja ein ganz unsinniger Mensch!«

»Ich dulde es nicht, daß er lügt!« schrie Bulkin, mit den Augen funkelnd und aus aller Kraft mit der Faust gegen die Pritsche schlagend. »Ich will nicht, daß er lügt!«

Alle lachen. Warlamow nimmt das Geld, verabschiedet sich von mir und eilt aus der Kaserne, natürlich zum Branntweinverkäufer. Jetzt erst scheint er Bulkin zu bemerken.

»Na, gehen wir!« sagt er ihm, auf der Schwelle stehenbleibend, als brauchte er ihn wirklich. »Du Stockknopf!« fügt er hinzu, indem er Bulkin voller Verachtung den Vortritt läßt und wieder auf seiner Balalaika zu klimpern beginnt.

Aber was soll ich diese trunkene Atmosphäre beschreiben! Endlich nimmt dieser schwüle Tag ein Ende. Die Arrestanten versinken auf ihren Pritschen in einen schweren Schlaf. Im Schlafe sprechen und phantasieren sie noch mehr als in den anderen Nächten. Hier und da sitzen noch Leute bei den Maidans. Das längst erwartete Fest ist zu Ende. Morgen ist wieder ein Wochentag, morgen beginnt wieder die Arbeit.


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