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Prinz Harry. Die Brautwerbung
Es gab auf der Erde noch ein Wesen, zu welchem Warwara Petrowna nicht mindere Zuneigung empfand als zu Stepan Trofimowitsch, und das war ihr einziger Sohn Nikolai Wsewolodowitsch Stawrogin. Für ihn war ja auch Stepan Trofimowitsch als Erzieher angenommen worden. Der Knabe war damals acht Jahre alt, und der leichtsinnige General Stawrogin, sein Vater, lebte damals schon von seiner Frau getrennt, so daß das Kind ausschließlich unter ihrer Obhut aufwuchs. Man muß Stepan Trofimowitsch die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß er es verstand, seinen Zögling an sich zu fesseln. Sein ganzes Geheimnis dabei bestand darin, daß er selbst noch ein Kind war. Ich stand damals mit ihm noch in keiner Beziehung; er bedurfte aber beständig eines aufrichtigen Freundes. Er trug kein Bedenken, den Kleinen, sowie er nur ein wenig heranwuchs, zu seinem Freunde zu machen. Sie stimmten in ihrem Wesen so gut zusammen, daß sich zwischen ihnen nicht der geringste Abstand fühlbar machte. Nicht selten weckte er seinen zehn- oder elfjährigen Freund in der Nacht auf, einzig und allein um ihm unter Tränen sein gekränktes Herz auszuschütten oder ihm irgendein häusliches Geheimnis zu entdecken, ohne daran zu denken, daß das durchaus unerlaubt sei. Sie fielen einander in die Arme und weinten. Der Knabe wußte, daß seine Mutter ihn sehr liebte; aber er selbst liebte sie kaum. Sie redete wenig mit ihm und legte seinem Willen nur selten Beschränkungen auf; aber er fühlte, daß ihr Blick ihn immer unverwandt verfolgte, und das war ihm peinlich. Übrigens setzte die Mutter in allem, was den Unterricht und die moralische Erziehung des Knaben anlangte, auf Stepan Trofimowitsch volles Vertrauen. Sie glaubte damals an ihn noch ohne Einschränkung. Man muß wohl annehmen, daß der Pädagog das Nervensystem seines Zöglings in Unordnung gebracht hatte. Als dieser im Alter von sechzehn Jahren auf das Lyzeum gebracht wurde, war er schwächlich und blaß und in auffälliger Weise still und nachdenklich. (In der Folge zeichnete er sich durch außerordentliche Körperkraft aus.) Man muß auch annehmen, daß die beiden Freunde, wenn sie sich nachts umarmten, nicht immer nur über häusliche Vorkommnisse weinten. Stepan Trofimowitsch verstand es, in dem Herzen seines Freundes die verborgensten Saiten anzurühren und in ihm das erste, noch unbestimmte Gefühl jenes ewigen, heiligen Sehnens zu erwecken, welches manche auserwählte Seele, nachdem sie es einmal gekostet und kennen gelernt hat, nachher nie mehr mit einer billigen Zufriedenheit vertauschen möchte. (Es gibt auch solche Liebhaber dieses Sehnens, die dasselbe sogar höher schätzen als eine absolute Zufriedenheit, wenn eine solche selbst möglich wäre.) Aber jedenfalls war es gut, daß der Zögling und der Erzieher voneinander getrennt wurden, wenn es auch erst etwas spät geschah.
Vom Lyzeum aus kam der junge Mensch in den beiden ersten Jahren zu den Ferien nach Hause. In der Zeit, als Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch sich in Petersburg aufhielten, war er manchmal bei den literarischen Abendgesellschaften anwesend, die bei seiner Mutter stattfanden, hörte zu und beobachtete. Er sprach wenig und war immer noch wie früher still und schüchtern. Gegen Stepan Trofimowitsch betrug er sich wie früher freundlich und respektvoll, aber doch etwas zurückhaltender: von hohen Gegenständen und von Erinnerungen an die Vergangenheit mit ihm zu reden vermied er offenbar. Nachdem er die Schule durchgemacht hatte, trat er dem Wunsche seiner Mutter gemäß beim Militär ein und wurde bald bei einem der vornehmsten Garde-Kavallerieregimenter eingestellt. Er kam nicht nach Hause, um sich seiner Mutter in Uniform zu zeigen, und seine Briefe aus Petersburg fingen an selten zu werden. Geld schickte ihm Warwara Petrowna freigebig, obwohl nach der Reform die Einkünfte von ihrem Gute so zurückgegangen waren, daß sie in der ersten Zeit nicht die Hälfte der früheren Einnahme bekam. Übrigens hatte sie durch lange Sparsamkeit ein nicht unbeträchtliches Kapital angesammelt. In hohem Grade interessierten sie die Erfolge ihres Sohnes in der höchsten Petersburger Gesellschaft. Was ihr selbst nicht gelungen war, das gelang nun dem jungen, reichen, hoffnungsvollen Offizier. Er erneuerte Bekanntschaften, auf deren Erneuerung sie für sich selbst gar nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, und wurde überall mit dem größten Vergnügen aufgenommen. Aber sehr bald begannen der Mutter recht seltsame Gerüchte zu Ohren zu kommen: es hieß, der junge Mensch treibe es auf einmal ganz sinnlos. Nicht, daß er angefangen hätte zu spielen oder übermäßig zu trinken; sondern man erzählte von einer wilden Zügellosigkeit, von Menschen, die er mit seinen Trabern überfahren habe, von seinem brutalen Benehmen gegen eine Dame der guten Gesellschaft, mit der er in Beziehungen gestanden und die er dann öffentlich beleidigt habe. Hierbei handelte es sich offenbar um eine recht schmutzige Geschichte. Man fügte noch hinzu, er sei ein Raufbold, suche Händel und beleidige andere Menschen aus reinem Vergnügen. Warwara Petrowna geriet darüber in große Aufregung und grämte sich. Stepan Trofimowitsch versicherte ihr, das seien nur die ersten ungestümen Ausbrüche einer sehr reich begabten Natur; die Wogen dieses Meeres würden sich schon legen; all das habe große Ähnlichkeit mit der von Shakespeare geschilderten Jugend des Prinzen Harry, der mit Falstaff, Poins und Mrs. Quickly Tollheiten treibe. Diesmal rief ihm Warwara Petrowna nicht zu: »Unsinn, Unsinn!« was sie sich in der letzten Zeit gewöhnt hatte ihm zuzurufen, sondern sie hörte im Gegenteil sehr aufmerksam zu, ließ sich das von der Jugend des Prinzen Harry noch eingehender auseinandersetzen, nahm selbst den Shakespeare zur Hand und las jenes unsterbliche Drama außerordentlich achtsam. Aber diese Lektüre diente nicht zu ihrer Beruhigung, auch fand sie die Ähnlichkeit nicht gerade groß. Mit fieberhafter Ungeduld erwartete sie die Antworten auf mehrere Briefe, die sie an Bekannte in Petersburg geschrieben hatte. Die Antworten blieben nicht lange aus; nach kurzer Zeit erhielt sie die verhängnisvolle Nachricht, daß Prinz Harry fast zu gleicher Zeit zwei Duelle gehabt habe und bei beiden der einzig Schuldige gewesen sei; einen seiner Gegner habe er auf dem Fleck getötet, den andern zum Krüppel gemacht; infolge dieser Handlungen sei er vor Gericht gestellt worden. Die Sache endete damit, daß er zum Gemeinen degradiert, seiner Vorrechte beraubt und. strafweise in ein Linien-Infanterieregiment versetzt wurde. Und auch damit hatte man es nur aus besonderer Gnade bewenden lassen.
Im Jahre 1863 gelang es ihm, sich auszuzeichnen; er erhielt das Kreuz und wurde zum Unteroffizier befördert, bald darauf auch zum Offizier. Während dieser ganzen Zeit schickte Warwara Petrowna wohl hundert Briefe mit Gesuchen und Bitten nach der Hauptstadt. Sie erlaubte es sich in einem so ungewöhnlichen Falle, sich etwas zu demütigen. Nach seiner Beförderung nahm der junge Mensch auf einmal seinen Abschied, kam aber wieder nicht nach Skworeschniki und hörte völlig auf, an seine Mutter zu schreiben. Man erfuhr endlich von anderer Seite, daß er sich wieder in Petersburg befinde, in seiner früheren Gesellschaftssphäre aber gar nicht mehr anzutreffen sei; er halte sich irgendwo verborgen. Nachforschungen ergaben, daß er in einer sonderbaren Gesellschaft lebte und sich an den Abschaum der Petersburger Bevölkerung angeschlossen hatte, an stiefellose Beamte, verabschiedete Militärs, die in anständiger Form um Almosen baten, und Trunkenbolde, daß er die schmutzigen Familien dieser Leute besuchte, Tag und Nacht in obskuren Spelunken und Gott weiß was für Winkelgassen zubrachte, heruntergekommen und zerlumpt war und offenbar an diesem Leben Gefallen fand. Er bat seine Mutter nicht um Geld; er hatte ein eigenes kleines Gut, das Dörfchen, welches dem General Stawrogin gehört hatte, wenigstens einigen Ertrag gab, und das er den Gerüchten zufolge an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schließlich bat ihn die Mutter inständig, zu ihr zu kommen, und Prinz Harry erschien in unserer Stadt. Das war das erstemal, wo ich ihn erblickte; bis dahin hatte ich ihn nie zu sehen bekommen.
Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und ich muß bekennen, daß ich von seiner Erscheinung überrascht war. Ich hatte erwartet, einen schmutzigen, zerlumpten, von Ausschweifungen abgemergelten, nach Branntwein riechenden Menschen vor mir zu sehen. Aber er war ganz im Gegenteil der eleganteste Gentleman, der mir je vor Augen gekommen ist, außerordentlich gut gekleidet und mit einer Haltung, wie sie nur ein an den feinsten Anstand gewöhnter Herr aufweisen kann. Und ich war nicht der einzige, welcher staunte; es staunte die ganze Stadt, der natürlich Herrn Stawrogins ganze Biographie bereits bekannt war und sogar mit solchen Details, daß man sich wundern mußte, wie sie hatten in die Öffentlichkeit gelangen können; und das wunderbarste dabei war, daß sich die Hälfte dieser Details als wahr erwies. Alle unsere Damen waren über den neuen Gast in Aufregung. Sie teilten sich in scharfer Sonderung in zwei Parteien; die einen vergötterten ihn, die andern haßten ihn tödlich; aber in Aufregung waren die einen wie die andern. Für die einen hatte es einen besonderen Reiz, daß auf seiner Seele vielleicht ein verhängnisvolles Geheimnis lastete; andere fanden entschieden Gefallen daran, daß er ein Mörder war. Es stellte sich auch heraus, daß er eine ganz hübsche Bildung und sogar einige wissenschaftliche Kenntnisse besaß. Kenntnisse waren allerdings nicht viele erforderlich, um uns in Verwunderung zu versetzen; aber er war imstande, auch über interessante Tagesfragen zu sprechen und, was dabei das wertvollste war, mit bemerkenswerter Besonnenheit. Als eine Seltsamkeit erwähne ich dies: wir alle fanden fast vom ersten Tage an, daß er ein außerordentlich vernünftiger Mensch sei. Er war ziemlich schweigsam, geschmackvoll ohne Künstelei, erstaunlich bescheiden und dabei gleichzeitig kühn und selbstvertrauend wie bei uns sonst niemand. Unsere Stutzer blickten auf ihn mit Neid und wurden von ihm vollständig in den Schatten gestellt. Auch sein Gesicht überraschte mich: das Haar war dunkelschwarz, seine hellen Augen sehr ruhig und klar, die Gesichtsfarbe sehr zart und weiß, die Röte der Wangen etwas zu grell und rein, die Zähne wie Perlen, die Lippen wie Korallen; – man glaubte, das gemalte Porträt eines schönen Mannes zu sehen, und doch wirkte sein Gesicht abstoßend. Manche sagten, sein Gesicht erinnere an eine Maske; übrigens wurde vieles geredet, unter anderm sprach man auch von seiner ungewöhnlichen Körperstärke. Was seine Natur anlangt, so konnte man ihn beinahe hochgewachsen nennen. Warwara Petrowna blickte auf ihn mit Stolz, aber auch mit steter Unruhe. Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr, matt, still und ziemlich mürrisch; er zeigte sich auch in der Gesellschaft und erfüllte mit steter Achtsamkeit die Vorschriften der in unserer Gouvernementsstadt herrschenden Etikette. Mit dem Gouverneur war er von Vaterseite her verwandt und wurde in seinem Hause wie ein naher Verwandter aufgenommen. Aber einige Monate waren vergangen, da zeigte die Bestie auf einmal ihre Krallen.
Ich bemerke bei dieser Gelegenheit in Parenthese, daß unser lieber, milder früherer Gouverneur Iwan Osipowitsch einige Ähnlichkeit mit einem alten Weibe hatte, aber von guter Familie war und wertvolle Konnexionen besaß, wodurch es sich auch erklärt, daß er bei uns so viele Jahre in seinem Amte verblieb, obwohl er sich gegen jede Arbeit sträubte. Wegen seiner Gastfreiheit hätte er in der guten alten Zeit zum Adelsmarschall getaugt, aber nicht zum Gouverneur in einer so unruhvollen Zeit wie die unsrige. In der Stadt hieß es beständig, das Gouvernement werde nicht von ihm verwaltet, sondern von Warwara Petrowna. Das war allerdings eine bissige Bemerkung, aber auch eine vollständige Unwahrheit. Indessen auf solche Bemerkungen wurde bei uns viel Witz verwandt. Aber Warwara Petrowna hatte sich ganz im Gegenteil in den letzten Jahren geflissentlich jeder stärkeren Einwirkung auf die Verwaltung enthalten, trotz der außerordentlichen Hochachtung, die ihr die ganze Gesellschaft entgegenbrachte, und ihre Tätigkeit freiwillig in strenge, von ihr selbst gesteckte Grenzen eingeschlossen. Statt solcher Einwirkung auf die Verwaltung hatte sie auf einmal angefangen, sich mit der Gutswirtschaft zu beschäftigen, und in zwei, drei Jahren den Ertrag ihres Gutes beinah auf die frühere Höhe gebracht. Statt der früheren schwärmerischen Anwandlungen, wie es die Reise nach Petersburg, die beabsichtigte Gründung eines Journals und anderes mehr gewesen waren, hatte sie angefangen zusammenzuscharren und zu geizen. Sogar ihren Freund Stepan Trofimowitsch hatte sie von sich etwas weiter entfernt, indem sie ihm erlaubt hatte, sich eine Wohnung in einem andern Hause zu mieten, worum er sie schon lange unter verschiedenen Vorwänden gebeten hatte. Allmählich begann Stepan Trofimowitsch sie eine prosaische Frau oder noch scherzhafter seine prosaische Freundin zu nennen. Selbstverständlich erlaubte er sich diese Scherze nur in der respektvollsten Form, und nachdem er lange auf einen geeigneten Augenblick gewartet hatte.
Wir alle, die wir ihr nahe standen, merkten (und Stepan Trofimowitsch fühlte das noch mehr heraus als wir übrigen), daß sich für sie an ihren Sohn eine neue Hoffnung, ja ein neuer Zukunftstraum knüpfte. Ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrem Sohne hatte begonnen, als er in der Petersburger Gesellschaft so reüssierte, und war noch besonders in dem Augenblicke gewachsen, als sie die Nachricht von seiner Degradation zum Gemeinen erhalten hatte. Aber gleichzeitig fürchtete sie sich offenbar vor ihm und machte ihm gegenüber den Eindruck einer Dienerin. Man konnte merken, daß sie etwas Unbestimmtes, Geheimnisvolles fürchtete, was sie selbst nicht näher hätte bezeichnen können, und oft betrachtete sie heimlich und unverwandt ihren Nikolai und überlegte etwas und suchte etwas zu erraten ... und siehe da, plötzlich streckte die Bestie ihre Krallen heraus.
Unser Prinz beging auf einmal aus heiler Haut zwei, drei unglaubliche Dreistigkeiten gegen verschiedene Personen; die Hauptsache war dabei, daß diese Dreistigkeiten ganz unerhört waren, alles überstiegen, gar keine Ähnlichkeit mit solchen hatten, wie sie gang und gäbe sind, ganz gemein und bubenhaft waren und jedes Anlasses vollständig entbehrten. Einer der hochachtbaren Vorsteher unseres Klubs, Peter Pawlowitsch Gaganow, ein bejahrter und sogar verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Gewohnheit angenommen, zu jedem Satze zornig hinzuzufügen: »Nein, ich werde mich nicht an der Nase herumführen lassen!« Nun, mochte er! Aber als er wieder einmal im Klub aus Anlaß eines hitzigen Disputs dieses Sprüchlein zu einem um ihn versammelten Häufchen von Klubgästen (lauter Männern höheren Ranges) gesagt hatte, da trat Nikolai Wsewolodowitsch, der etwas abseits allein stand, und an den sich überhaupt niemand gewendet hatte, auf einmal an Peter Pawlowitsch heran, faßte ihn unerwartet, aber kräftig mit zwei Fingern bei der Nase und zog ihn zwei, drei Schritte weit im Saale hinter sich her. Irgendwelchen Groll konnte er gegen Herrn Gaganow nicht haben. Man hätte dies für einen reinen Schülerstreich, selbstverständlich allerdings für einen unverzeihlichen, halten können; aber Nikolai war, wie später erzählt wurde, im Augenblick der Tat fast nachdenklich, »wie wenn er den Verstand verloren gehabt hätte«; indes war es erst später, daß man sich daran erinnerte und sich darüber klar wurde. In der ersten Erregung erinnerten sich alle nur an den zweiten Augenblick, wo Nikolai das Getane sicherlich schon in seiner wahren Gestalt begriffen hatte, aber statt verlegen zu werden vielmehr im Gegenteil boshaft und heiter lächelte, »ohne die geringste Reue«. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm; man umringte ihn. Nikolai Wsewolodowitsch drehte sich nach allen Seiten um und sah alle an, gab aber niemandem eine Antwort und betrachtete neugierig die Gesichter der ihn Anschreienden. Endlich machte er plötzlich, wie wenn er wieder nachdenklich würde (so erzählte man wenigstens), ein finsteres Gesicht, ging festen Schrittes auf den beleidigten Peter Pawlowitsch zu und murmelte hastig und anscheinend verdrossen:
»Sie entschuldigen wohl ... Ich weiß wirklich nicht, wie ich auf einmal Lust dazu bekam ... Es war eine Dummheit ...«
Die Nachlässigkeit der Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung gleich. Ein noch ärgeres Geschrei erhob sich. Nikolai Wsewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus.
Dies alles war sehr dumm, um noch nicht von der Unanständigkeit zu reden, einer, wie es auf den ersten Blick schien, wohlüberlegten, beabsichtigten Unanständigkeit, die somit eine beabsichtigte, im höchsten Grade freche Beleidigung unserer ganzen Gesellschaft bildete. So wurde die Sache denn auch allgemein aufgefaßt. Das erste war, daß man unverzüglich und einmütig Herrn Stawrogin aus dem Klub ausschloß; dann beschloß man, sich im Namen des ganzen Klubs an den Gouverneur zu wenden und ihn zu bitten, er möge sofort, ohne ein formelles Gerichtsverfahren abzuwarten, »den gemeingefährlichen Händelsucher und großstädtischen Raufbold mittels der ihm anvertrauten Administrativgewalt unschädlich machen und so die Ruhe der gesamten anständigen Gesellschaft unserer Stadt gegen dreiste Angriffe schützen.« Mit boshafter Harmlosigkeit wurde noch hinzugefügt, »es werde sich vielleicht auch gegen Herrn Stawrogin ein Gesetz finden lassen.« Gerade diese Wendung hatte man für den Gouverneur ausgesucht, um ihm wegen seiner Beziehungen zu Warwara Petrowna einen Stich zu versetzen. Das besprach man mit vielem Vergnügen. Es traf sich, daß der Gouverneur damals nicht in der Stadt war; er war nicht weit davon zur Kindtaufe zu einer netten, kürzlich Witwe gewordenen Dame gefahren, die ihr Mann in interessanten Umständen zurückgelassen hatte; aber man wußte, daß er bald zurückkehren werde. In der Zwischenzeit bereitete man dem allgemein verehrten, beleidigten Peter Pawlowitsch eine vollständige Ovation: man umarmte und küßte ihn; die ganze Stadt machte bei ihm Visite. Man plante sogar ihm zu Ehren ein Diner auf Subskription und nahm nur auf seine dringenden Bitten von diesem Gedanken wieder Abstand, vielleicht weil man sich schließlich sagte, der Mann habe sich ja doch an der Nase herumziehen lassen, und es sei somit kein Anlaß, ihn besonders zu feiern.
Aber wie, wie war das nur zugegangen? Wie hatte das nur geschehen können? Bemerkenswert war namentlich der Umstand, daß niemand bei uns in der ganzen Stadt dieses rohe Benehmen auf Wahnsinn zurückführte; denn man meinte, sich von Nikolai Wsewolodowitsch, auch wenn er bei Verstande sei, solcher Handlungen versehen zu müssen. Ich für meine Person weiß noch bis auf den heutigen Tag nicht, wie ich mir die Sache erklären soll, trotzdem ein bald danach stattfindender Vorfall alles zu erklären schien und alle anscheinend versöhnlich stimmte. Ich füge noch hinzu, daß vier Jahre nachher Nikolai Wsewolodowitsch auf meine vorsichtige Frage nach jener Begebenheit im Klub mir mit finsterer Miene antwortete: »Ja, ich war damals nicht ganz wohl.« Aber es liegt kein Grund vor, der Erzählung vorzugreifen.
Interessant war mir auch der Ausbruch des allgemeinen Hasses, mit dem alle bei uns damals über den »Händelsucher und großstädtischen Raufbold« herfielen. Sie wollten in seinem Verhalten unbedingt einen frechen Vorsatz und die wohlüberlegte Absicht, die ganze Gesellschaft mit einem Mal zu beleidigen, sehen. In der Tat hatte er während seines bisherigen Aufenthaltes sich niemanden zum Freunde gemacht, sondern im Gegenteil alle gegen sich aufgebracht; wodurch eigentlich? Vor diesem letzten Falle hatte er nie mit jemand Streit gehabt und niemanden beleidigt, sondern war so höflich gewesen wie ein Herr auf einem Modebilde, wenn man sich so ausdrücken darf. Ich nehme an, daß man ihn wegen seines Stolzes haßte. Sogar unsere Damen, die ihn anfangs vergöttert hatten, erhoben gegen ihn jetzt ein noch schlimmeres Verdammungsgeschrei als die Männer.
Warwara Petrowna bekam einen furchtbaren Schreck. Sie gestand später ihrem Freunde Stepan Trofimowitsch, daß sie das alles längst geahnt habe, dieses ganze Halbjahr über, jeden Tag, und sogar etwas »gerade in dieser Art«, ein merkwürdiges Bekenntnis von seiten einer leiblichen Mutter. »Nun hat es angefangen!« dachte sie zusammenfahrend. Am Morgen nach dem verhängnisvollen Abend im Klub schickte sie sich vorsichtig, aber entschlossen zu einer Aussprache mit ihrem Sohne an; aber trotz ihrer Entschlossenheit zitterte die Ärmste an allen Gliedern. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und war sogar am frühen Morgen zu Stepan Trofimowitsch gegangen, um ihn um Rat zu fragen, und hatte bei ihm geweint, was ihr noch nie in Gegenwart anderer begegnet war. Sie wünschte, Nikolai möchte ihr wenigstens ein Wort über die Sache sagen, sie einer erklärenden Mitteilung würdigen. Nikolai, der sich sonst immer gegen seine Mutter so höflich und respektvoll benahm, hörte sie eine Weile mit finsterem Gesichte, aber sehr ernst an; auf einmal stand er, ohne ein Wort zu erwidern, auf, küßte ihr die Hand und ging hinaus. Gleich an demselben Tage aber, als wenn es Absicht gewesen wäre, erfolgte abends noch eine andere Skandalgeschichte, die zwar erheblich zahmer und gewöhnlicher war als die erste, aber nichtsdestoweniger infolge der allgemeinen Stimmung das Gerede in der Stadt sehr vermehrte.
Diesmal war unser Freund Liputin der davon Betroffene. Er kam zu Nikolai Wsewolodowitsch, gleich nachdem dieser die Begegnung mit seiner Mutter gehabt hatte, und bat ihn inständigst, ihm an diesem selben Tage die Ehre seines Besuches zu einer kleinen Abendgesellschaft zu erweisen, die bei ihm anläßlich des Geburtstages seiner Frau stattfinde. Warwara Petrowna hatte schon lange mit Unruhe und Besorgnis die niedrige Geschmacksrichtung beobachtet, die ihr Sohn bei der Wahl seiner Bekanntschaften bekundete, wagte aber nicht, ihm etwas darüber zu sagen. Er hatte außer der in Rede stehenden Bekanntschaft auch schon einige andere ebenfalls in der dritten Gesellschaftsschicht unserer Stadt angeknüpft und sogar noch tiefer; dazu neigte er nun eben. Bei Liputin hatte er bisher noch nicht im Hause verkehrt, wiewohl er mit ihm selbst anderweitig zusammengetroffen war. Er erriet, daß Liputin ihn jetzt infolge des gestrigen Skandals im Klub einlade und als Liberaler sich über diesen Skandal höchlichst freue und aufrichtig der Ansicht sei, so müsse man alle Vorsteher des Klubs behandeln, und es sei sehr gut, daß ein Anfang gemacht sei. Nikolai Wsewolodowitsch lachte und versprach zu kommen.
Es hatten sich eine Menge Gäste eingefunden, nicht vornehme, aber geistig rege Leute. Der selbstsüchtige, neidische Liputin gab nur zweimal im Jahre Gesellschaften; aber bei diesen beiden Gelegenheiten zeigte er sich dann auch nicht knauserig. Der ansehnlichste Gast, Stepan Trofimowitsch, war krankheitshalber nicht gekommen. Es wurde Tee gereicht; auch war ein reichlicher kalter Imbiß mit Likören aufgestellt; an drei Tischen wurde Karte gespielt; die Jugend aber amüsierte sich in Erwartung des Abendessens damit, nach dem Klavier zu tanzen. Nikolai Wsewolodowitsch forderte Madame Liputina auf, eine sehr hübsche Dame, die vor ihm schreckliche Bange hatte, und tanzte mit ihr einige Touren; dann setzte er sich neben sie, unterhielt sich mit ihr und brachte sie zum Lachen. Da er schließlich bemerkte, wie hübsch sie war, wenn sie lachte, faßte er sie plötzlich vor den Augen aller Gäste um die Taille und küßte sie dreimal hintereinander nach Herzenslust auf den Mund. Die arme Frau fiel vor Schreck in Ohnmacht. Nikolai Wsewolodowitsch ergriff seinen Hut, trat an den Ehemann heran, der in der allgemeinen Erregung wie betäubt dastand, wurde, als er ihn anblickte, ebenfalls verlegen, murmelte ihm schnell zu: »Seien Sie nicht böse!« und ging hinaus. Liputin lief ihm nach ins Vorzimmer, reichte ihm eigenhändig den Pelz und begleitete ihn unter Verbeugungen die Treppe hinunter. Aber gleich am folgenden Tage hatte dann diese vergleichsweise wirklich harmlose Geschichte ein ganz amüsantes Nachspiel, welches seitdem Herrn Liputin sogar zu einem gewissen Ansehen verhalf, das er zu seinem Vorteil auszunutzen verstand.
Um zehn Uhr morgens erschien in Frau Stawroginas Hause Liputins Magd Agafja, ein gewandtes, flinkes, rotbackiges Frauenzimmer im Alter von ungefähr dreißig Jahren; sie war von ihm mit einer Bestellung zu Nikolai Wsewolodowitsch geschickt und wünschte sogleich »den jungen Herrn selbst zu sprechen.« Er hatte starke Kopfschmerzen, kam aber doch heraus. Warwara Petrowna war bei der Ausrichtung der Bestellung anwesend.
»Sergei Wasiljewitsch« (das heißt Liputin), begann Agafja flink zu plappern, »läßt sich Ihnen erstens bestens empfehlen und sich nach Ihrer Gesundheit erkundigen, wie Sie nach dem gestrigen Abend geruht haben, und wie Sie nach dem gestrigen Abend sich befinden.«
Nikolai Wsewolodowitsch lächelte.
»Bestelle wieder eine Empfehlung, Agafja, und ich ließe bestens danken; und sage deinem Herrn von mir, er wäre der klügste Mensch in der ganzen Stadt.«
»Und dann hat er mir befohlen, Ihnen darauf zu antworten,« erwiderte Agafja noch flinker, »das wisse er auch ohne Sie, und er wünsche Ihnen ebendasselbe.«
»Nun sieh mal an! Wie konnte er denn wissen, was ich dir sagen würde?«
»Das weiß ich nicht, woher er das wußte; aber als ich hinausgegangen und schon die ganze Gasse hinuntergegangen war, da hörte ich, wie er mir nachgelaufen kam, ohne Mütze. ›Du,‹ sagte er, ›Agafja, wenn er etwa zu dir sagen sollte: Bestelle deinem Herrn, daß er der klügste Mann in der ganzen Stadt ist, dann antworte ihm doch sogleich: Das weiß er selbst recht gut und wünscht Ihnen ebendasselbe.‹«
Endlich fand nun auch die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur statt. Kaum war unser lieber, milder Iwan Osipowitsch zurückgekehrt, als ihm auch sofort die energische Beschwerde des Klubs vorgelegt wurde. Ohne Zweifel mußte etwas geschehen; aber er war in Verlegenheit. Unser gastfreundlicher alter Herr hatte ebenfalls Furcht vor seinem jungen Verwandten. Er beschloß indes, ihm zuzureden, er möchte den Klub und den Beleidigten um Entschuldigung bitten, aber in einer zufriedenstellenden Weise und, wenn es verlangt werde, auch schriftlich; und dann wollte er ihm in freundlicher Form den Rat geben, uns zu verlassen und zum Beispiel aus Wißbegierde nach Italien zu fahren, jedenfalls irgendwohin ins Ausland. Im Saale, wohin er diesmal ging, um Nikolai Wsewolodowitsch zu empfangen (zu anderen Zeiten wanderte dieser mit dem Rechte eines Verwandten unbehindert im ganzen Hause umher), war Aloscha Teljatnikow, ein wohlerzogener Sekretär und Hausgenosse des Gouverneurs, in einer Ecke an einem Tische damit beschäftigt, Briefe zu öffnen, und im anstoßenden Zimmer saß an dem der Saaltür zunächst gelegenen Fenster ein von auswärts gekommener dicker, gesund aussehender Oberst, ein Freund und früherer Kamerad von Iwan Osipowitsch, und las den Golos, natürlich ohne irgendwie auf das zu achten, was im Saale vorging; er wendete ihm sogar den Rücken zu. Obgleich Iwan Osipowitsch in weiter Entfernung von ihm sprach und fast flüsterte, war er doch etwas verlegen. Nikolai sah sehr unfreundlich aus, gar nicht wie ein Verwandter, war blaß, saß mit niedergeschlagenen Augen da und hörte mit zusammengezogenen Brauen zu, wie wenn er einen heftigen Schmerz unterdrückte.
»Sie haben ein gutes Herz, Nikolai, ein edles Herz,« sagte der alte Herr nach vielem andern zum Schlusse; »Sie sind ein gebildeter Mensch, haben in den höchsten Kreisen verkehrt, sich auch hier bisher musterhaft gehalten und dadurch das Herz Ihrer uns allen teuren Mutter beruhigt. Und nun erscheint alles auf einmal wieder in einer so rätselhaften und für alle gefährlichen Färbung! Ich rede als Freund Ihres Hauses, als Ihr bejahrter Verwandter, der Sie aufrichtig liebt, und von dem Sie sich nicht beleidigt fühlen können. Sagen Sie, was veranlaßt Sie zu solchen argen Ausschreitungen, die allen herkömmlichen Formen und Regeln des Umgangs zuwiderlaufen? Was bedeuten solche Extravaganzen, die mit den Handlungen eines Fieberkranken Ähnlichkeit haben?«
Nikolai hörte verdrossen und ungeduldig zu. Plötzlich aber blitzte in seinem Blicke für einen Moment ein listiger, spöttischer Ausdruck auf.
»Nun, dann will ich Ihnen meinetwegen sagen, was mich dazu veranlaßt,« antwortete er mürrisch und bog sich, nachdem er um sich gesehen hatte, zu Iwan Osipowitschs Ohre hin.
Der wohlerzogene Aloscha Teljatnikow entfernte sich noch drei Schritte weiter nach dem Fenster zu, und der Oberst hustete hinter seinem Golos. Der arme Iwan Osipowitsch hielt eilig und vertrauensvoll sein Ohr hin; er war äußerst neugierig. Und da geschah etwas ganz Unerhörtes und doch andrerseits in gewisser Hinsicht nur zu Klares. Der alte Herr fühlte auf einmal, daß Nikolai, statt ihm ein interessantes Geheimnis zuzuflüstern, plötzlich den oberen Teil seines Ohres mit den Zähnen faßte und ziemlich fest zwischen ihnen zusammenklemmte. Er fing an zu zittern, und der Atem setzte ihm aus.
»Nikolai, was sind das für Späße!« stöhnte er mechanisch mit ganz fremdklingender Stimme.
Aloscha und der Oberst hatten den Vorgang noch nicht verstanden, konnten ihn auch nicht ordentlich sehen und meinten immer noch, daß die beiden miteinander flüsterten; indes beunruhigte sie doch das verzweifelte Gesicht des Alten. Sie sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an und wußten nicht, ob sie der Verabredung gemäß zu Hilfe eilen oder noch warten sollten. Nikolai bemerkte das vielleicht und kniff das Ohr schmerzhafter.
»Nikolai, Nikolai!« stöhnte das arme Opfer von neuem. »Nun lassen Sie es genug sein mit dem Scherze ...«
Noch ein Augenblick, und der Arme wäre vor Angst gestorben; aber der Unmensch hatte Erbarmen und ließ das Ohr los. Diese ganze Todesangst hatte eine volle Minute gedauert, und der Alte bekam nachher einen Schwächeanfall. Aber eine halbe Stunde darauf wurde Nikolai arretiert und abgeführt, vorläufig nach der Wache, wo er in eine besondere Zelle eingeschlossen wurde, mit einer besonderen Schildwache vor der Tür. Diese Maßregel war hart; aber unser milder Chef war dermaßen in Zorn geraten, daß er beschlossen hatte, die Verantwortung dafür sogar Warwara Petrowna selbst gegenüber auf sich zu nehmen. Zu allgemeinem Erstaunen wurde dieser Dame, als sie eilig und in größter Aufregung zum Gouverneur gefahren kam, um unverzüglich Aufklärung zu verlangen, am Portal der Eintritt verweigert; so fuhr sie denn, ohne aus dem Wagen ausgestiegen zu sein, wieder nach Hause; sie wußte gar nicht, wie ihr geschehen war.
Und endlich klärte sich alles auf! Um zwei Uhr nachts fing der Arrestant, der bis dahin erstaunlich ruhig gewesen war und sogar geschlafen hatte, plötzlich an zu lärmen; er schlug wütend mit den Fäusten gegen die Tür, riß mit unnatürlicher Kraft das eiserne Gitter von dem Fensterchen in der Tür ab, zerschlug die Scheibe und zerschnitt sich dabei die Hände. Als der wachhabende Offizier mit einigen Soldaten und den Schlüsseln herbeigelaufen kam und die Zelle aufschließen ließ, damit sie sich auf den Rasenden würfen und ihn bänden, stellte es sich heraus, daß sich dieser im stärksten Delirium befand; er wurde nach Hause zu seiner Mutter gebracht. Nun war mit einem Schlage alles klar! Unsere sämtlichen drei Ärzte sprachen ihre Meinung dahin aus, daß der Kranke sich auch schon drei Tage vorher im Fieberzustande befunden haben könne; er habe zwar Bewußtsein und eine gewisse Schlauheit besessen, aber nicht mehr seine gesunde Vernunft und einen klaren Willen, was übrigens durch die Tatsachen bestätigt wurde. Es ergab sich somit, daß Liputin früher als alle andern das Richtige erraten hatte. Iwan Osipowitsch, ein sehr zartfühlender, weich empfindender Mensch, war sehr verlegen; aber interessant war doch, daß auch er also Nikolai Wsewolodowitsch jeder wahnsinnigen Handlung auch bei vollem Verstande für fähig gehalten hatte. Auch im Klub schämte man sich und war darüber erstaunt, daß sie alle den Elefanten nicht bemerkt und nicht auf die einzig mögliche Erklärung dieser wunderlichen Handlungen verfallen waren. Allerdings fanden sich auch Skeptiker; aber sie vermochten sich nicht lange zu behaupten.
Nikolai lag länger als zwei Monate. Aus Moskau wurde ein berühmter Arzt zur gemeinsamen Beratung mit den hiesigen Ärzten herbeigerufen; die ganze Stadt machte bei Warwara Petrowna Visiten. Sie verzieh allen. Als Nikolai im Frühjahr bereits vollständig wiederhergestellt war und ohne jeden Widerstand dem Vorschlage seiner Mutter, nach Italien zu reisen, beigestimmt hatte, da bat sie ihn, uns allen Abschiedsbesuche zu machen und dabei da, wo es nötig sei, sich nach Möglichkeit zu entschuldigen. Nikolai war mit großer Bereitwilligkeit einverstanden. Im Klub wurde bekannt, daß er mit Peter Pawlowitsch Gaganow in dessen Hause eine sehr zartfühlende Aussprache gehabt hatte, durch die dieser vollständig zufriedengestellt worden sei. Bei seinen Visitenfahrten war Nikolai sehr ernst und sogar etwas traurig. Alle empfingen ihn anscheinend mit großer Teilnahme; aber alle fühlten sich doch einigermaßen verlegen und freuten sich darüber, daß er nach Italien fuhr. Iwan Osipowitsch vergoß sogar Tränen, konnte sich aber aus einem gewissen Grunde nicht entschließen, ihn zu umarmen, auch nicht im Augenblicke des Abschiedes selbst. Allerdings verblieben einige von uns bei der Überzeugung, daß der Taugenichts sich einfach über uns alle lustig gemacht habe und die ganze Krankheit fingiert gewesen sei. Auch bei Liputin machte er einen Besuch.
»Sagen Sie,« fragte er ihn, »wie konnten Sie das, was ich über Ihren Verstand sagen würde, im voraus erraten und Ihrer Agafja eine Antwort darauf mitgeben?«
»Nun, ganz einfach,« erwiderte Liputin lachend: »auch ich halte Sie für einen klugen Menschen; daher konnte ich Ihre Antwort vorhersehen.«
»Immerhin ist es ein merkwürdiges Zusammentreffen. Aber erlauben Sie noch eine Frage: Sie haben mich also für einen vernünftigen Menschen gehalten, als Sie Agafja zu mir schickten, und nicht für einen Verrückten?«
»Für einen sehr klugen und vernünftigen; ich stellte mich nur, als hielte ich Sie für gestört ... Und Sie selbst haben ja auch meine Gedanken damals sofort erraten und mir durch Agafja ein Zeugnis über meine Klugheit zugeschickt.«
»Nun, in diesem Punkte irren Sie sich ein bißchen; ich war wirklich nicht wohl ...« murmelte Nikolai Wsewolodowitsch mit finsterer Miene. »Bah!« rief er, »glauben Sie denn wirklich, daß ich bei vollem Verstande fähig wäre, über Menschen herzufallen? Was sollte ich denn dabei für einen Zweck haben?«
Liputin krümmte sich zusammen und wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Nikolai wurde etwas blaß; wenigstens schien es Liputin so.
»Jedenfalls haben Sie eine sehr amüsante Art der Gedankenbildung,« fuhr Nikolai fort. »Und was Agafja anlangt, so begreife ich natürlich, daß Sie sie zu mir geschickt haben, um mich auszuschimpfen.«
»Ich konnte Sie doch nicht zum Duell fordern?«
»Ach ja, sehen Sie mal! Ich habe ja so etwas gehört, daß Sie ein Gegner des Duells sind ...«
»Warum soll man das von den Franzosen herübernehmen?« erwiderte Liputin, sich wieder zusammenkrümmend.
»Sie sind ein Anhänger der Nationalitätsidee?«
Liputin krümmte sich noch mehr zusammen.
»Ah, ah! Was sehe ich!« rief Nikolai auf einmal, als er auf dem Tische an der sichtbarsten Stelle einen Band von Considérant Ein Anhänger Fouriers. Anmerkung des Übersetzers.bemerkte. »Sie sind doch nicht etwa Fourierist? Na so etwas! Ist denn das etwa nicht eine Übersetzung aus dem Französischen?« sagte er lachend und klopfte mit den Fingern auf das Buch.
»Nein, das ist keine Übersetzung aus dem Französischen!« versetzte Liputin und sprang mit einem gewissen Ingrimm auf. »Das ist eine Übersetzung aus der universellen Sprache der Menschheit und nicht nur aus dem Französischen! Aus der Sprache der universellen sozialen Republik und Harmonie; so ist es! Und nicht nur aus dem Französischen! ...«
»Donnerwetter! So eine Sprache gibt es ja gar nicht!« erwiderte Nikolai weiter lachend.
Manchmal nimmt sogar eine Kleinigkeit unsere Aufmerksamkeit ausschließlich und lange in Anspruch. Über Herrn Stawrogin werde ich noch recht viel zu sagen haben; aber jetzt bemerke ich der Kuriosität halber, daß von allen Eindrücken während der ganzen Zeit, die er in unserer Stadt verlebte, sich seinem Gedächtnisse am schärfsten die unscheinbare und beinah gemeine Gestalt Liputins einprägte, dieses geringen Gouvernementsbeamten, eifersüchtigen Ehemannes und groben Familiendespoten, argen Geizhalses und Wucherers, der die Überreste vom Mittagessen und die Lichtstümpfchen wegschloß und gleichzeitig ein fanatischer Anhänger Gott weiß welcher künftigen »sozialen Harmonie« war, sich nachts bis zur Berauschtheit bei den phantastischen Vorstellungen von einem künftigen phalanstère Das Gemeindehaus im Fourierschen Systeme. Anmerkung des Übersetzers. entzückte und an dessen nahe Verwirklichung in Rußland und in unserm Gouvernement so fest wie an seine eigene Existenz glaubte. Und das an einem Orte, wo er selbst sich von seinem zusammengescharrten Gelde ein Häuschen gekauft, wo er sich zum zweitenmal verheiratet und mit seiner Frau ein Sümmchen Geld bekommen hatte, und wo es vielleicht auf hundert Werst im Umkreise keinen Menschen gab (mit ihm selbst angefangen), der auch nur äußerlich einem zukünftigen Mitgliede der »universellen, die ganze Menschheit umfassenden sozialen Republik und Harmonie« ähnlich gewesen wäre.
»Weiß Gott, wie sich eine solche Sorte von Menschen herausbilden kann!« dachte Nikolai erstaunt, wenn er sich manchmal an diesen überraschenden Fourieristen erinnerte.
Unser Prinz reiste mehr als drei Jahre lang, so daß man ihn in unserer Stadt beinahe ganz vergaß. Uns Näherstehenden war durch Stepan Trofimowitsch bekannt, daß er ganz Europa bereist hatte, sogar in Ägypten gewesen war und Jerusalem besucht hatte; dann hatte er sich irgendwo einer wissenschaftlichen Expedition nach Island angeschlossen und war wirklich in Island gewesen. Es hieß auch, er habe einen Winter über an einer deutschen Universität Vorlesungen gehört. An seine Mutter schrieb er nur wenig, einmal im Halbjahr und sogar noch seltener; aber Warwara Petrowna nahm es ihm nicht übel und fühlte sich dadurch nicht gekränkt. Die Beziehungen zu ihrem Sohne nahm sie so, wie sie sich nun einmal herausgebildet hatten, ohne zu murren ergebungsvoll hin, sehnte sich unaufhörlich nach ihrem Nikolai und überließ sich in betreff seiner allerlei phantastischen Zukunftsträumereien. Weder von diesen Träumereien noch von ihren Klagen machte sie irgend jemandem Mitteilung. Sogar von Stepan Trofimowitsch zog sie sich anscheinend etwas zurück. Sie machte im stillen gewisse Pläne und wurde, wie es schien, noch geiziger als vorher, begann noch eifriger Geld zusammenzuscharren und über Stepan Trofimowitschs Verluste im Kartenspiel böse zu werden.
Endlich, im April des laufenden Jahres, empfing sie einen Brief aus Paris von der Generalin Praskowja Iwanowna Drosdowa, einer Jugendfreundin von ihr. Praskowja Iwanowna, mit der Warwara Petrowna während eines Zeitraumes von acht Jahren weder zusammengekommen war noch korrespondiert hatte, teilte ihr in diesem Briefe mit, daß Nikolai Wsewolodowitsch bei ihnen viel im Hause verkehre, mit Lisa (ihrer einzigen Tochter) Freundschaft geschlossen habe und die Familie im Sommer nach der Schweiz, nach Vernex-Montreux, zu begleiten vorhabe, trotzdem er in der Familie des Grafen K*** (einer in Petersburg sehr einflußreichen Persönlichkeit), der sich jetzt in Paris aufhalte, wie ein leiblicher Sohn Aufnahme gefunden habe, so daß er beinahe ganz bei dem Grafen lebe. Der Brief war kurz und ließ seinen Zweck klar erkennen, obgleich er nur die oben angeführten Tatsachen, aber keine Schlußfolgerungen aus ihnen enthielt. Warwara Petrowna überlegte nicht lange; in einem Augenblick hatte sie ihren Entschluß gefaßt, machte sich fertig, nahm ihre Pflegetochter Dascha (Schatows Schwester) mit und fuhr Mitte April nach Paris und dann nach der Schweiz. Im Juli kehrte sie allein zurück, indem sie Dascha bei Drosdows gelassen hatte; Drosdows selbst hatten, nach einer Nachricht, die sie mitbrachte, versprochen, Ende August zu uns zu kommen.
Die Drosdows waren ebenfalls eine Gutsbesitzerfamilie in unserem Gouvernement; aber der Dienst des Generals Iwan Iwanowitsch (der mit Warwara Petrowna befreundet und ein Kamerad ihres Mannes gewesen war) hatte sie beständig gehindert, jemals ihr prächtiges Gut zu besuchen. Nach dem im vorigen Jahre erfolgten Tode des Generals hatte die untröstliche Praskowja Iwanowna sich mit ihrer Tochter ins Ausland begeben, unter anderm auch in der Absicht, eine Traubenkur zu gebrauchen, die sie in der zweiten Hälfte des Sommers in Vernex-Montreux vorzunehmen gedachte. Nach ihrer Rückkehr in das Vaterland hatte sie vor, sich in unserm Gouvernement dauernd niederzulassen. In der Stadt hatte sie ein großes Haus, das schon viele Jahre leer stand und dessen Fenster mit Brettern verschlagen waren. Sie waren sehr reiche Leute. Praskowja Iwanowna, in erster Ehe Frau Tuschina, war, wie ihre Pensionsfreundin Warwara Petrowna, ebenfalls die Tochter eines Branntweinpächters der früheren Zeit und hatte ebenfalls bei ihrer Verheiratung eine große Mitgift erhalten. Der Rittmeister a. D. Tuschin war selbst bemittelt gewesen und hatte einige Fähigkeiten besessen. Bei seinem Tode vermachte er seiner siebenjährigen einzigen Tochter Lisa ein hübsches Kapital. Jetzt, wo Lisaweta Nikolajewna schon ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt war, konnte man ihr Vermögen kühn auf zweihunderttausend Rubel eigenen Geldes schätzen, ungerechnet das Vermögen, das ihr seiner Zeit als Erbschaft von ihrer Mutter zufallen mußte, die in ihrer zweiten Ehe keine Kinder gehabt hatte. Warwara Petrowna war mit dem Erfolge ihrer Reise anscheinend sehr zufrieden. Ihrer Meinung nach hatte sie sich mit Praskowja Iwanowna bereits in befriedigender Weise geeinigt, und sie teilte gleich nach ihrer Ankunft alles Stepan Trofimowitsch mit; sie war ihm gegenüber sogar sehr offen, was schon seit langer Zeit bei ihr nicht der Fall gewesen war.
»Hurra!« rief Stepan Trofimowitsch und schnippte mit den Fingern.
Er war höchst entzückt, um so mehr, da er die ganze Zeit der Trennung von seiner Freundin in größter Niedergeschlagenheit verbracht hatte. Bei ihrer Abreise ins Ausland hatte sie von ihm nicht einmal ordentlich Abschied genommen und »diesem alten Weibe« nichts von ihren Plänen mitgeteilt, vielleicht in der Befürchtung, daß er etwas weiterplaudern werde. Sie war damals auf ihn wegen eines beträchtlichen Verlustes im Kartenspiel ärgerlich gewesen, der plötzlich zutage gekommen war. Aber schon, als sie noch in der Schweiz war, hatte sie in ihrem Herzen gefühlt, daß sie den zurückgesetzten Freund bei ihrer Rückkehr belohnen müsse, um so mehr, da sie ihn schon seit längerer Zeit unfreundlich behandelt habe. Die schnelle, geheimnisvolle Trennung hatte Stepan Trofimowitschs schüchternes Herz befremdet und verwundet, und unglücklicherweise drangen gleichzeitig auch noch andere Sorgen auf ihn ein. Es quälte ihn eine recht bedeutende, schon lange bestehende pekuniäre Verpflichtung, die ohne Warwara Petrownas Beihilfe schlechterdings nicht in befriedigender Weise erledigt werden konnte. Außerdem hatte im Mai des laufenden Jahres die Tätigkeit unseres guten, milden Iwan Osipowitsch als Gouverneur endlich ein Ende genommen; er wurde durch einen Nachfolger abgelöst, und sogar nicht ohne Unannehmlichkeiten. Darauf war, ebenfalls in Warwara Petrownas Abwesenheit, die Ankunft unseres neuen Chefs, Andrei Antonowitsch v. Lembke, erfolgt; damit gleichzeitig hatte sofort auch eine merkliche Veränderung in den Beziehungen fast der ganzen höheren Gesellschaft unserer Gouvernementsstadt zu Warwara Petrowna und folglich auch zu Stepan Trofimowitsch begonnen. Wenigstens hatte er bereits mehrere unangenehme, wiewohl wertvolle Beobachtungen gemacht und war, wie es schien, so allein, ohne Warwara Petrowna, sehr ängstlich geworden. In großer Aufregung argwöhnte er, daß er dem neuen Gouverneur schon als ein gefährlicher Mensch denunziert sei. Er hatte als sicher erfahren, daß mehrere unserer Damen ihre Besuche bei Warwara Petrowna einzustellen beabsichtigten. Über die künftige Frau Gouverneur (die bei uns erst zum Herbst erwartet wurde) hieß es allgemein, sie sei zwar dem Vernehmen nach sehr stolz, aber dafür eine echte Aristokratin, »eine ganz andere Sorte als unsere unglückliche Warwara Petrowna.« Allen war es irgendwoher mit Einzelheiten glaubwürdig bekannt, daß die neue Frau Gouverneur und Warwara Petrowna schon früher einmal in der Gesellschaft einander begegnet, aber als Feindinnen voneinander geschieden seien, so daß schon die bloße Erwähnung des Namens der Frau v. Lembke auf Warwara Petrowna einen peinlichen Eindruck machen werde. Aber Warwara Petrownas mutige, siegesbewußte Miene und der geringschätzige Gleichmut, mit dem sie die Mitteilungen über die Meinungen unserer Damen und über die Aufregung der Gesellschaft anhörte, belebten die gesunkenen Lebensgeister des furchtsamen Stepan Trofimowitsch von neuem und machten ihn in einem Augenblicke wieder heiter. Mit freudiger Dienstwilligkeit und besonderem Humor begann er ihr von der Ankunft des neuen Gouverneurs zu erzählen.
»Es ist Ihnen, excellente amie, ohne Zweifel bekannt,« sagte er, indem er die Worte in gezierter, stutzerhafter Weise in die Länge zog, »was ein russischer Verwaltungsbeamter allgemein gesagt und insbesondere ein neuer, das heißt neugebackener, neuernannter russischer Verwaltungsbeamter zu bedeuten hat. Aber Sie haben wohl kaum bisher aus eigener Erfahrung kennen gelernt, was es mit dem Beamtenkoller auf sich hat, und was das eigentlich für ein Ding ist?«
»Beamtenkoller? Nein, ich weiß nicht, was das ist.«
»Das ist ... Vous savez, chez nous ... En un mot, man stelle einen ganz wertlosen Menschen als Verkäufer von elenden Eisenbahnbilletten an, und dieser wertlose Mensch wird sich sogleich für berechtigt halten, auf Sie wie ein Jupiter herabzusehen, wenn Sie ein Billett lösen wollen, pour vous montrer son pouvoir. ›Warte,‹ denkt er, ›ich werde dir mal meine Macht zeigen!‹ Und so kommt es bei diesen Leuten zum Beamtenkoller. En un mot, da habe ich neulich gelesen, daß im Ausland in einer unserer Kirchen ein Küster ( mais c'est très curieux) unmittelbar vor dem Beginn des Fastengottesdienstes ( vous savez ces chants et le livre de Job) eine vornehme englische Familie, les dames charmantes, aus der Kirche hinausgejagt hat, das heißt buchstäblich hinausgejagt, einzig und allein mit der Begründung, es passe sich nicht, daß sich Fremde in den russischen Kirchen umhertrieben; sie sollten zu der dafür angesetzten Zeit kommen. Die Damen fielen beinah in Ohnmacht. Dieser Küster hatte einen Anfall von Beamtenkoller, et il a montré son pouvoir ...«
»Fassen Sie sich kurz, Stepan Trofimowitsch, wenn es Ihnen möglich ist!«
»Herr v. Lembke hat also jetzt das Gouvernement bereist. En un mot, dieser Andrei Antonowitsch ist zwar ein Deutschrusse rechtgläubiger Konfession und sogar (das will ich ihm konzedieren) ein auffallend hübscher Mann in den Vierzigen ...«
»Woher haben Sie das, daß er ein hübscher Mann ist? Er hat Hammelaugen.«
»Im höchsten Grade. Aber ich konzediere das aus Konnivenz gegen das Urteil unserer Damen ...«
»Bitte, lassen Sie uns von etwas anderem reden, Stepan Trofimowitsch! Apropos, Sie tragen ein rotes Halstuch; tun Sie das schon lange?«
»Ich ... ich habe erst heute ...«
»Und machen Sie sich auch gehörig Bewegung? Gehen Sie täglich Ihre sechs Werst spazieren, wie es Ihnen der Arzt verordnet hat?«
»Nicht ... nicht immer.«
»Das habe ich doch gewußt! Schon, als ich noch in der Schweiz war, ahnte es mir!« rief sie in gereiztem Tone. »Jetzt werden Sie nicht sechs, sondern zehn Werst täglich gehen! Sie sind furchtbar heruntergekommen, furchtbar, ganz furcht-bar! Sie sind nicht sowohl alt geworden, sondern schlaff und matt. Ich habe einen Schreck bekommen, als ich Sie vorhin sah, trotz Ihres roten Halstuches ... quelle idée rouge! Fahren Sie nun über Lembke fort, wenn Sie wirklich etwas über ihn zu sagen haben, und machen Sie, bitte, bald ein Ende; ich bin müde.«
» En un mot, ich wollte nur noch sagen, daß er einer jener Verwaltungsbeamten ist, die erst mit vierzig Jahren hervorzutreten beginnen, bis dahin unbeachtet vegetieren und dann auf einmal durch eine plötzliche Heirat oder sonst ein nicht minder unwürdiges Mittel Karriere machen ... Jetzt ist er nun weggefahren ... Ich wollte noch sagen, daß man sich, was mich betrifft, beeilt hat, ihm von verschiedenen Seiten zuzuflüstern, ich verdürbe die Jugend und machte hier im Gouvernement Propaganda für den Atheismus. Er hat denn auch sofort Erkundigungen eingezogen.«
»Ist das wahr?«
»Ich habe mich sogar genötigt gesehen, meine Maßregeln dagegen zu ergreifen. Als man ihm über Sie ›berichtete‹, Sie hätten ›das Gouvernement verwaltet‹, vous savez, da erlaubte er sich die Bemerkung: ›So etwas wird nicht mehr vorkommen.‹«
»Hat er das gesagt?«
»Ja, ›so etwas wird nicht mehr vorkommen‹, und avec cette morgue ... Seine Gemahlin Julija Michailowna werden wir Ende August hier zu sehen bekommen; sie kommt direkt aus Petersburg.«
»Vielmehr aus dem Auslande. Ich bin mit ihr zusammengetroffen.«
» Vraiment?«
»In Paris und in der Schweiz. Sie ist mit Drosdows verwandt.«
»Verwandt? Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen! Es heißt, sie sei sehr ehrgeizig und habe hohe Konnexionen?«
»Unsinn! Ihre Konnexionen sind ganz unbedeutend! Bis zum Alter von fünfundvierzig Jahren war sie eine alte Jungfer ohne eine Kopeke Geld; nun ist es ihr gelungen, ihren Lembke zu kapern, und jetzt geht natürlich ihr ganzes Dichten und Trachten darauf, ihm zu einer Karriere zu verhelfen. Sie sind beide Intriganten.«
»Man sagt, sie sei zwei Jahre älter als er?«
»Fünf Jahre älter. Ihre Mutter machte mir in Moskau gewaltig den Hof. Sie wurde nur aus Mitleid zu den Bällen eingeladen, die ich zu Wsewolod Nikolajewitschs Lebzeiten gab. Und diese jetzige Frau v. Lembke saß manchmal die ganze Nacht über ohne einen Tänzer in der Ecke, mit ihrer Türkismouche auf der Stirn, so daß ich nach zwei Uhr ihr den ersten Kavalier zuschickte. Sie war damals schon fünfundzwanzig Jahre alt, wurde aber immer noch wie ein kleines Mädchen im kurzen Kleidchen ausgeführt. Man mußte sich genieren, die beiden bei sich zu haben.«
»Es ist mir, als ob ich diese Mouche vor mir sähe!«
»Ich sage Ihnen, ich kam hin und stieß sofort auf eine Intrige. Sie haben ja doch soeben Frau Drosdowas Brief gelesen; was konnte klarer sein? Was aber fand ich? Frau Drosdowa, diese Närrin (sie ist immer eine Närrin gewesen), sieht mich fragend an, warum ich denn eigentlich gekommen sei? Sie können sich mein Erstaunen vorstellen! Ich merkte sehr schnell, daß diese Lembke um sie fuchsschwänzelte, und bei ihr war dieser Vetter, ein Neffe des alten Drosdow; nun war mir alles klar! Selbstverständlich brachte ich alles in einem Augenblicke wieder ins rechte Geleise, und Praskowja ist nun wieder auf meiner Seite; aber ich war doch empört über die Intrige!«
»Über die Sie jedoch den Sieg davongetragen haben. O, Sie sind ein Bismarck!«
»Auch ohne ein Bismarck zu sein, bin ich imstande, Falschheit und Dummheit zu erkennen, wo ich ihnen begegne. Die Lembke ist falsch, und Praskowja ist dumm. Selten habe ich eine apathischere Frau gesehen, und dazu hat sie noch geschwollene Füße, und dazu ist sie noch gutmütig. Was kann dümmer sein als so eine dumme, gute Seele?«
»Ein moralisch schlechter Dummkopf, ma bonne amie, ein moralisch schlechter Dummkopf ist noch dümmer,« widersprach Stepan Trofimowitsch ihr in wohlanständiger Weise.
»Da haben Sie vielleicht recht. Sie erinnern sich wohl noch an Lisa?«
» Charmante enfant!«
»Aber jetzt ist sie nicht mehr ein enfant, sondern eine junge Dame, und eine junge Dame mit ausgeprägtem Charakter. Sie ist edeldenkend und feurig, und ich liebe es an ihr, daß sie sich ihrer Mutter, dieser vertrauensseligen Närrin, nicht fügt. Um dieses Vetters willen ist es da beinah zum Krach gekommen.«
»Und dabei ist er ja mit Lisaweta Nikolajewna eigentlich gar nicht einmal verwandt ... Hat er denn Absichten?«
»Sehen Sie, er ist ein junger Offizier, sehr schweigsam und sogar bescheiden. Ich bemühe mich immer, gerecht zu sein. Mir scheint, daß er selbst gegen diese ganze Intrige ist und keine Wünsche nach dieser Richtung hat, und daß nur die Lembke schlau manövriert. Er achtete Nikolai sehr. Sie verstehen: die ganze Sache hängt von Lisa ab; aber als ich abreiste, war ihr Verhältnis zu Nikolai das allerbeste, und Nikolai selbst hat mir versprochen, jedenfalls im November zu uns zu kommen. Also es intrigiert da einzig und allein die Lembke, und Praskowja ist einfach blind. Auf einmal sagte sie zu mir, mein ganzer Verdacht sei nur eine Einbildung; ich antwortete ihr ins Gesicht, sie sei eine Närrin. Ich bin bereit, das beim Jüngsten Gericht zu erhärten. Und wenn mich nicht Nikolai gebeten hätte, es vorläufig zu unterlassen, so wäre ich von da nicht weggefahren, ohne dieses falsche Weib entlarvt zu haben. Sie hat sich durch Nikolais Vermittlung beim Grafen K*** eingeschmeichelt; sie hat Mutter und Sohn veruneinigen wollen. Aber Lisa ist auf unserer Seite, und mit Praskowja bin ich zu einer Einigung gelangt. Wissen Sie, daß Karmasinow mit der Lembke verwandt ist?«
»Wie? Der ist mit Frau v. Lembke verwandt?«
»Allerdings. Entfernt verwandt.«
»Karmasinow, der Novellist?«
»Nun ja, der Schriftsteller; was ist Ihnen dabei verwunderlich? Er selbst hält sich freilich für ein großes Tier. Ein aufgeblasener Patron! Sie wird mit ihm zusammen herkommen; jetzt brüstet sie sich dort mit ihm. Sie beabsichtigt, hier etwas einzuführen, so eine Art von literarischem Kränzchen. Er wird auf einen Monat herkommen; er will hier sein letztes Gut verkaufen. Ich wäre in der Schweiz beinahe mit ihm zusammengetroffen, was mir sehr wenig erwünscht gewesen wäre. Übrigens hoffe ich, daß er mir hier die Ehre erweisen wird, mich wiederzuerkennen. In alter Zeit hat er Briefe an mich geschrieben und in meinem Hause verkehrt. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich besser kleideten, Stepan Trofimowitsch; Sie werden mit jedem Tage schlumpiger. Ach, was habe ich mit Ihnen für Quälerei! Was lesen Sie denn jetzt?«
»Ich ... ich …«
»Ich verstehe schon. Bei Ihnen ist alles wie früher: der Verkehr mit den Freunden, das Trinken, der Klub und die Karten, und der Ruf eines Atheisten. Dieser Ruf gefällt mir nicht, Stepan Trofimowitsch. Ich mag nicht, daß man Sie einen Atheisten nennt; besonders jetzt mag ich das nicht. Ich habe es auch früher nicht gemocht, weil das ja doch mit dem Atheismus alles nur leeres Gerede ist. Das muß ich Ihnen endlich einmal sagen.«
»Mais, ma chère …«
»Hören Sie, Stepan Trofimowitsch, in allen gelehrten Dingen bin ich natürlich Ihnen gegenüber arg unwissend; aber während der Herreise habe ich viel an Sie gedacht. Ich bin zu einer Überzeugung gelangt.«
»Zu welcher denn?«
»Zu der Überzeugung, daß wir beide, Sie und ich, nicht die klügsten Menschen auf der Welt sind, sondern daß es noch klügere gibt als wir.«
»Geistreich und treffend! Es gibt klügere Leute; das heißt, es gibt Leute, die das Richtige besser erkennen als wir; also können wir uns irren, nicht wahr? Mais, ma bonne amie, gesetzt auch, ich irre mich, so habe ich doch mein allgemein menschliches, dauerndes, höchstes Recht, frei nach meinem Gewissen zu handeln. Ich habe das Recht, wenn ich will, kein Frömmler und kein Fanatiker zu sein, und aus diesem Grunde werden mich naturgemäß verschiedene Herren bis zum Ende aller Dinge hassen. Et puis, comme on trouve toujours plus de moines que de raison, und da ich völlig dieser Meinung bin ...«
»Wie war das? Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte: on trouve toujours plus de moines que de raison, und da ich völlig ...«
»Das rührt gewiß nicht von Ihnen her; das haben Sie gewiß irgendwoher entlehnt?«
»Das hat Pascal gesagt.«
»Das habe ich mir doch gedacht, daß es nicht von Ihnen herrührte! Warum reden Sie selbst nie in dieser Weise, so kurz und treffend, sondern ziehen alles immer so in die Länge? Dieser Ausspruch ist weit besser, als was Sie vorhin über den Beamtenkoller sagten ...«
» Ma foi, chère ... warum ich nicht in dieser Weise rede? Erstens deswegen, weil ich wahrscheinlich kein Pascal bin, et puis ... zweitens, weil wir Russen nichts in unserer Sprache auszudrücken verstehen ... Wenigstens haben wir es bisher nicht verstanden ...«
»Hm! Das ist vielleicht doch nicht richtig. Mindestens sollten Sie sich eine Anzahl solcher Sentenzen aufschreiben und sie vorbringen, wissen Sie, falls das Gespräch einen solchen Gang nimmt ... Ach, Stepan Trofimowitsch, ich beabsichtigte, mit Ihnen ernstlich zu reden, sehr ernstlich.«
» Chère, chère amie!«
»Jetzt, wo alle diese Lembkes, alle diese Karmasinows herkommen ... O Gott, wie sind Sie heruntergekommen! Ach, was habe ich mit Ihnen für Quälerei! ... Ich möchte, daß diese Leute Hochachtung vor Ihnen empfänden, weil sie nicht soviel wert sind wie Ihr Finger, wie Ihr kleiner Finger; aber wie halten Sie sich? Was werden diese Leute zu sehen bekommen? Was kann ich ihnen präsentieren? Statt in wohlanständiger Weise als ein Zeuge für das Gute und Rechte dazustehen und mit Ihrer eigenen Person ein Muster zu geben, statt dessen umgeben Sie sich mit irgendwelchem Gesindel, haben widerwärtige Gewohnheiten angenommen, sind schlaff und matt geworden, können ohne Wein und Karten nicht leben, lesen nur Paul de Kock und schreiben nichts, während die da alle schreiben; Sie füllen Ihre ganze Zeit nur mit leerem Geschwätz aus. Ist es erlaubt, mit einem solchen Subjekt befreundet zu sein, wie es Ihr Liputin ist, von dem Sie unzertrennlich sind?«
»Warum denn ›mein‹ und ›unzertrennlich‹?« protestierte Stepan Trofimowitsch schüchtern.
»Wo ist er jetzt?« fuhr Warwara Petrowna in strengem, scharfem Tone fort.
»Er ... er verehrt Sie grenzenlos und ist nach S***k gefahren, um die Hinterlassenschaft seiner Mutter in Empfang zu nehmen.«
»Ich glaube, er tut überhaupt nichts anderes als Geld einnehmen. Und wie steht es mit Schatow? Ist er immer noch derselbe?«
» Irascible, mais bon.«
»Ich kann Ihren Schatow nicht leiden; er ist ein schlechter Mensch und von sich zu sehr eingenommen!«
»Wie befindet sich Darja Die eigentliche Form des Namens, von welcher die Koseform Dascha gebildet ist. Anmerkung des Übersetzers. Pawlowna?«
»Sie fragen nach Dascha? Wie kommen Sie darauf?« fragte Warwara Petrowna und blickte ihn forschend an. »Sie ist gesund; ich habe sie bei Drosdows gelassen ... Ich habe in der Schweiz etwas über Ihren Sohn gehört, Schlechtes, nichts Gutes.«
» Oh, c'est une histoire bien bête! Je vous attendais, ma bonne amie, pour vous raconter ...«
»Lassen Sie es nun genug sein, Stepan Trofimowitsch, und gönnen Sie mir Ruhe; ich bin ganz erschöpft. Wir werden später noch Zeit genug haben, miteinander zu sprechen, namentlich über das Schlechte. Sie fangen an, Speichel aus dem Munde zu spritzen, wenn Sie lachen; das ist auch schon ein Symptom von Hinfälligkeit! Und in wie seltsamer Manier Sie jetzt immer lachen! ... O Gott, was für eine Menge schlechter Gewohnheiten haben Sie angenommen! Karmasinow wird Ihnen keinen Besuch machen! Und hier sind die Leute sowieso schon über alles mögliche schadenfroh ... Erst jetzt zeigen Sie sich in Ihrer wahren Gestalt. Nun genug, genug, ich bin müde! Man muß dem Menschen auch endlich einmal Ruhe gönnen!«
Stepan Trofimowitsch »gönnte dem Menschen Ruhe«; aber er entfernte sich in großer Verwirrung und Verstimmung.
Bei unserm Freunde hatten sich in der Tat nicht wenige schlechte Gewohnheiten festgesetzt, besonders in der allerletzten Zeit. Er war sichtlich und schnell heruntergekommen, und es war richtig, daß er in seiner äußeren Erscheinung unordentlich geworden war. Er trank mehr, war weinerlicher und hatte schwächere Nerven. Sein Gesicht hatte die sonderbare Fähigkeit erlangt, sich auffallend schnell zu verändern und zum Beispiel von dem feierlichsten Ausdrucke zu dem lächerlichsten und sogar zu dem dümmsten überzugehen. Er konnte das Alleinsein nicht ertragen und hatte ein stetes, ungeduldiges Verlangen nach Zerstreuung. Man mußte ihm unbedingt eine Klatschgeschichte erzählen, eine Stadtbegebenheit, und zwar alle Tage etwas Neues. Wenn längere Zeit niemand zu ihm gekommen war, wanderte er unruhig durch die Zimmer, trat ans Fenster, kaute nachdenklich an den Lippen, seufzte tief und fing am Ende beinah an zu schluchzen. Er ahnte etwas und fürchtete immer etwas Unerwartetes, Unvermeidliches; er wurde schreckhaft und achtete sehr auf seine Träume.
Diesen ganzen Tag sowie den Abend verbrachte er in sehr trüber Stimmung; er ließ mich holen, war sehr aufgeregt, sprach lange, erzählte lange, aber alles sehr unzusammenhängend. Warwara Petrowna wußte schon lange, daß er vor mir keine Geheimnisse hatte. Zuletzt gewann ich den Eindruck, daß ihn etwas Besonderes quäle, etwas, worüber er sich vielleicht selbst nicht klar werden konnte. Wenn wir früher unter vier Augen zusammen waren und er mir etwas vorklagte, wurde fast immer nach einiger Zeit ein Fläschchen gebracht, und alles gewann dann eine weit freundlichere Färbung. Diesmal erschien kein Wein, und er unterdrückte offenbar den mehrmals bei ihm rege werdenden Wunsch, welchen holen zu lassen.
»Und worüber ist sie immer so aufgebracht?« klagte er alle Augenblicke wie ein Kind. » Tous les hommes de génie et de progrès en Russie étaient, sont et seront toujours des Kartenspieler et des Trinker, qui boivent periodisch ... und ich bin noch gar kein solcher Kartenspieler und kein solcher Trinker ... Sie macht mir Vorwürfe, warum ich nichts schriebe! Ein sonderbarer Gedanke! ... Warum ich still läge! Sie sagt: ›Sie müssen als Muster und als Vorwurf dastehen.‹ Mais entre nous soit dit, was soll denn ein Mensch, dessen Bestimmung es ist, als ›Vorwurf‹ dazustehen, anders tun als still liegen? Kann sie das sagen?«
Und schließlich wurde mir der hauptsächlichste, besondere Kummer klar, der ihn diesmal so hartnäckig quälte. Viele Male an diesem Abend trat er zum Spiegel und blieb lange vor ihm stehen. Endlich wendete er sich vom Spiegel ab und zu mir hin und sagte in seltsamer Verzweiflung:
» Mon cher, je suis un heruntergekommener Mensch!«
Ja, in der Tat, bis dahin, bis auf diesen Tag hatte er, trotzdem Warwara Petrowna oft zu »neuen Anschauungen« überging und ihre »Ideen wechselte«, doch an einer Überzeugung unwandelbar festgehalten, nämlich daß er immer noch ihr weibliches Herz bezaubere, das heißt nicht nur als Verbannter oder als berühmter Gelehrter, sondern auch als schöner Mann. Zwanzig Jahre lang hatte diese für ihn schmeichelhafte und beruhigende Überzeugung in seiner Seele fest gewurzelt, und vielleicht fiel ihm unter allen seinen Überzeugungen die Trennung von dieser am schwersten. Ahnte er an diesem Abend, welch eine gewaltige Prüfung ihm in der nächsten Zukunft bevorstand?
Ich komme jetzt zu der Schilderung des zum Teil spaßhaften Ereignisses, mit welchem meine Erzählung eigentlich erst beginnt.
In den letzten Tagen des August kehrten endlich auch Drosdows zurück. Ihr Eintreffen erfolgte etwas früher als die von der ganzen Stadt seit langem erwartete Ankunft ihrer Verwandtin, unserer neuen Frau Gouverneur, und brachte einen bemerkenswerten Eindruck in der Gesellschaft hervor. Aber über all diese interessanten Ereignisse werde ich später reden; jetzt beschränke ich mich auf die Bemerkung, daß Praskowja Iwanowna der sie ungeduldig erwartenden Warwara Petrowna ein sehr beunruhigendes Rätsel mitbrachte: Nikolai hatte sich von ihnen schon im Juli getrennt und, nachdem er am Rhein mit dem Grafen K*** zusammengetroffen war, sich mit diesem und der Familie desselben nach Petersburg begeben (NB. Der Graf hatte drei erwachsene Töchter).
»Von Lisaweta habe ich infolge ihres Stolzes und ihrer Verstocktheit nichts erfahren können,« schloß Praskowja Iwanowna; »aber ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, daß zwischen ihr und Nikolai Wsewolodowitsch etwas vorgefallen ist. Ich weiß die Ursachen nicht; aber ich glaube, es wird zweckmäßig sein, wenn Sie, meine liebe Freundin Warwara Petrowna, nach den Ursachen Ihre Darja Pawlowna fragen. Meiner Ansicht nach ist Lisa gekränkt worden. Ich bin heilfroh, daß ich Ihnen endlich Ihren Liebling Darja Pawlowna habe wiederbringen können, und übergebe sie Ihnen hiermit. Nun bin ich sie los.«
Sie sprach diese giftigen Worte in merklicher Gereiztheit. Es war klar, daß die »apathische Frau« sie sich schon vorher zurechtgelegt und sich im voraus auf ihre Wirkung gefreut hatte. Aber Warwara Petrowna war nicht diejenige, die sich durch affektvolle Reden und durch Rätsel verblüffen ließ. Sie verlangte energisch ganz genaue, ausreichende Erklärungen. Praskowja Iwanowna stimmte ihren Ton sofort herab, brach schließlich sogar in Tränen aus und ging zu den wärmsten Freundschaftsversicherungen über. Diese reizbare, aber gefühlvolle Dame hatte ebenso wie Stepan Trofimowitsch fortwährend ein Bedürfnis nach wahrer Freundschaft, und ihre hauptsächlichste Klage über ihre Tochter Lisaweta Nikolajewna bestand gerade darin, daß ihre Tochter nicht ihre Freundin sei.
Aber aus allen ihren Erklärungen und Herzensergüssen ergab sich mit Sicherheit nur das eine, daß tatsächlich zwischen Lisa und Nikolai ein Zerwürfnis stattgefunden hatte; aber von welcher Art dieses Zerwürfnis war, darüber konnte Praskowja Iwanowna sich offenbar keine bestimmte Vorstellung machen. Schließlich zog sie nicht nur die Beschuldigungen, die sie gegen Darja Pawlowna ausgesprochen hatte, vollständig zurück, sondern sie bat auch ausdrücklich, ihren Worten von vorhin keinerlei Bedeutung beizulegen, weil sie sie »in der Erregung« gesprochen habe. Kurz, alles kam sehr unklar heraus, sogar verdächtig. Nach ihrer Darstellung hatte Lisas »eigensinniges, spöttisches Wesen« den ersten Anlaß zu dem Zerwürfnisse gegeben; der »stolze« Nikolai Wsewolodowitsch habe trotz all seiner Verliebtheit die Spöttereien nicht ertragen können und sei selbst spöttisch geworden. »Bald darauf«, erzählte sie, »wurden wir mit einem jungen Manne bekannt, ich glaube, einem Neffen Ihres Professors; er führt auch denselben Familiennamen ...«
»Es ist sein Sohn, nicht sein Neffe,« verbesserte Warwara Petrowna.
Praskowja Iwanowna hatte auch früher Stepan Trofimowitschs Familiennamen niemals behalten können und ihn immer den »Professor« genannt.
»Nun, meinetwegen sein Sohn, um so besser; mir ganz gleich. Es ist ein gewöhnlicher junger Mensch, sehr lebhaft und ungeniert; aber etwas Besonderes ist nicht an ihm. Nun, da hat nun Lisa selbst sich nicht richtig benommen; sie zog den jungen Mann an sich heran, um Nikolai Wsewolodowitschs Eifersucht zu erregen. Ich will darüber nicht zu streng urteilen; die jungen Mädchen machen es nun einmal so; es ist etwas ganz Gewöhnliches und nimmt sich sogar recht nett aus. Aber statt eifersüchtig zu werden, befreundete sich vielmehr Nikolai Wsewolodowitsch selbst mit dem jungen Menschen, als ob er nichts sähe und ihm alles gleich wäre. Darüber war nun Lisa empört. Der junge Mensch reiste bald ab (er mußte sehr eilig irgendwohin); Lisa aber suchte nun bei jeder Gelegenheit mit Nikolai Wsewolodowitsch Händel. Als sie bemerkte, daß dieser mit Dascha einige Male sprach, da geriet sie in Wut; ich konnte es schon gar nicht mehr aushalten, liebe Freundin. Die Ärzte hatten mir jede Aufregung verboten, und ihr gepriesener See war mir schon ganz zuwider geworden; nur die Zähne taten mir von ihm weh, einen solchen Rheumatismus hatte ich bekommen. Man kann es auch gedruckt lesen, daß man vom Genfer See Zahnschmerzen bekommt; das ist nun einmal so eine Besonderheit von ihm. Aber da erhielt Nikolai Wsewolodowitsch auf einmal einen Brief von der Gräfin und reiste sofort von uns ab; an einem einzigen Tage machte er sich reisefertig. Abschied nahmen die beiden voneinander in freundschaftlicher Weise, und Lisa war, als sie ihn zur Bahn begleitete, sehr heiter und vergnügt und lachte viel. Aber das war alles nur Maske. Sowie er weg war, wurde sie sehr nachdenklich, sprach gar nicht mehr von ihm und wollte auch nicht, daß ich ihn erwähnte. Und auch Ihnen, liebe Warwara Petrowna, möchte ich raten, jetzt im Gespräch mit Lisa nicht von diesem Gegenstande anzufangen; Sie würden die Sache dadurch nur verderben. Wenn Sie dagegen schweigen, so wird sie zuerst mit Ihnen davon zu reden beginnen; dann werden Sie mehr zu hören bekommen. Meiner Ansicht nach werden die beiden jungen Leute sich wieder zusammenfinden, wenn nur Nikolai Wsewolodowitsch bald herkommt, wie er versprochen hat.«
»Ich werde sofort an ihn schreiben. Wenn alles sich so verhält, dann ist es mit dem Zerwürfnis nicht weit her. Es ist alles Unsinn. Auch Darja kenne ich hinreichend; Unsinn!«
»An der lieben Dascha habe ich mich mit meinem Verdachte versündigt und bereue es. Es waren nur Gespräche ganz gewöhnlicher Art, und sie wurden laut geführt. Aber das alles hat mich damals gar zu sehr aufgeregt, liebe Freundin. Und auch Lisa selbst ist, wie ich gesehen habe, mit ihr wieder zu dem früheren freundschaftlichen Verhältnisse zurückgekehrt ...«
Warwara Petrowna schrieb noch gleich an demselben Tage an Nikolai und bat ihn dringend, wenigstens einen Monat vor dem von ihm in Aussicht genommenen Termine zu kommen. Aber doch blieb ihr hier manches unklar und unverständlich. Sie dachte den ganzen Abend und die ganze Nacht darüber nach. Praskowjas Meinung schien ihr gar zu harmlos und gefühlvoll.
»Praskowja ist ihr Lebelang zu gefühlvoll gewesen, schon von der Pensionszeit an,« dachte sie. »Nikolai ist nicht der Mann danach, vor den Spöttereien eines Mädchens davonzulaufen. Da steckt ein anderer Grund dahinter, wenn wirklich ein Zerwürfnis stattgefunden hat. Dieser Offizier ist aber doch hier; den haben sie mitgebracht, und er wohnt bei ihnen im Hause wie ein Verwandter. Und auch was Darja angeht, hat Praskowja gar zu schnell sich selbst beschuldigt; gewiß hat sie etwas für sich behalten, was sie nicht sagen wollte ...«
Am Morgen war in Warwara Petrownas Kopfe der Plan zur Reife gelangt, wenigstens einen Zweifel mit einemmal zu erledigen, ein merkwürdiger, überraschender Plan. Was in ihrem Herzen vorging, als sie diesen Plan entwarf, das ist schwer zu sagen, und ich unternehme es nicht, im voraus all die Widersprüche zu erklären, die er enthielt. Als Chronist beschränke ich mich darauf, die Ereignisse in ihrer richtigen Gestalt darzustellen, genau so, wie sie sich zugetragen haben, und ich kann nichts dafür, wenn sie den Eindruck der Unwahrscheinlichkeit machen. Aber ich muß doch noch einmal bezeugen, daß am Morgen bei Warwara Petrowna kein Verdacht gegen Dascha mehr zurückgeblieben war, und daß sie einen solchen strenggenommen nie gehegt hatte; dazu war sie ihrer zu sicher. Auch konnte sie es gar nicht für möglich halten, daß ihr Nikolai sich in ihre Dascha verliebt haben sollte. Am Morgen, als Darja Pawlowna am Teetisch den Tee eingoß, blickte Warwara Petrowna sie lange prüfend an und sagte vielleicht zum zwanzigsten Male seit dem gestrigen Tage im stillen aus voller Überzeugung:
»Es ist alles Unsinn!«
Es fiel ihr nur auf, daß Dascha ein so müdes Aussehen hatte und noch stiller und apathischer als früher war. Nach dem Tee setzten sie sich gemäß der ein für allemal eingeführten Ordnung beide an eine Handarbeit. Warwara Petrowna forderte sie auf, ihr einen vollständigen Bericht über die Eindrücke zu erstatten, die sie im Auslande empfangen hatte, namentlich über die Natur, die Bewohner, die Städte, die Gebräuche, die Kunstwerke, die Industrie, über alles, was sie wahrgenommen habe. Aber über Drosdows und das Leben bei diesen stellte sie auch nicht eine Frage. Dascha, die neben ihr am Nähtische saß und ihr beim Sticken half, hatte schon eine halbe Stunde lang mit ihrer gleichmäßigen, eintönigen, aber etwas schwachen Stimme erzählt.
»Darja,« unterbrach Warwara Petrowna sie plötzlich, »hast du nichts Besonderes, was du mir mitteilen möchtest?«
»Nein, ich habe nichts,« antwortete Dascha nach ganz kurzem Nachdenken und blickte Warwara Petrowna mit ihren hellen Augen an.
»Hast du nichts auf dem Herzen, auf dem Gewissen?«
»Nein,« wiederholte Dascha leise, aber mit einer Art von mürrischer Festigkeit.
»Das habe ich gewußt! Und ich will dir sagen, Darja, daß ich niemals an dir zweifeln werde. Jetzt setze dich hin und höre einmal zu! Setz dich dort auf den andern Stuhl, mir gegenüber; ich möchte dir voll ins Gesicht sehen. So ist es gut! Also höre: möchtest du dich verheiraten?«
Dascha antwortete mit einem langen, fragenden, übrigens nicht allzu verwunderten Blicke.
»Warte! Sei still! Erstens ist ein Unterschied in den Jahren, ein sehr bedeutender; aber du weißt ja am besten, daß das dummes Zeug ist. Du bist ein vernünftig denkendes Mädchen, und daher werden in deinem Leben keine Fehler vorkommen. Übrigens ist er noch ein hübscher Mann ... Kurz, ich meine Stepan Trofimowitsch, den du immer sehr geschätzt hast. Nun?«
Der fragende Ausdruck in Daschas Gesichte steigerte sich noch; sie blickte ihre Gönnerin jetzt nicht nur verwundert an, sondern errötete auch merklich.
»Halt, schweig! Keine Überstürzung! Du wirst zwar nach meinem Testamente eine Summe Geldes erhalten; aber wenn ich sterbe, was wird dann aus dir werden, auch mit dem Gelde? Man wird dich betrügen und dir das Geld abnehmen, und dann bist du verloren. Aber wenn du ihn heiratest, bist du die Frau eines angesehenen Mannes. Nun betrachte die Sache von der anderen Seite: wenn ich jetzt sterbe, was wird dann aus ihm werden, auch wenn ich ihn in meinem Testamente bedenke? Da setze ich nun meine Hoffnung auf dich. Warte, ich bin noch nicht zu Ende. Er ist leichtsinnig, schlaff, ohne Mitgefühl, selbstisch, hat unwürdige Gewohnheiten; aber habe du dennoch Achtung vor ihm, schon deswegen, weil es noch weit schlechtere gibt. Ich will dich doch nicht irgendeinem Lumpen zur Frau geben, um dich loszuwerden; das hast du doch nicht gedacht? Aber die Hauptsache ist: weil ich dich darum bitte, deshalb mußt du ihn schätzen und achten,« brach sie auf einmal gereizt ab. »Hörst du wohl? Warum sperrst du dich?«
Dascha hörte noch immer schweigend zu.
»Halt, warte noch! Er ist ein altes Weib; aber um so besser für dich. Sogar ein klägliches altes Weib; er verdient es durch seine Persönlichkeit gar nicht, daß ihn eine Frau liebt. Aber er verdient es wegen seiner Schutzbedürftigkeit; liebe du ihn um derentwillen! Du verstehst mich doch? Verstehst du mich?«
Dascha nickte bejahend mit dem Kopfe.
»Nun, das wußte ich; ich habe nichts anderes von dir erwartet. Er wird dich lieben, weil er muß, weil er muß; er muß dich vergöttern!« kreischte Warwara Petrowna in besonders gereiztem Tone. »Übrigens wird er, auch ohne es zu müssen, sich in dich verlieben; ich kenne ihn ja. Außerdem werde ich selbst nach dem Rechten sehen. Sei unbesorgt; ich werde immer nach dem Rechten sehen. Er wird sich über dich beklagen, wird dich verleumden, wird dem ersten besten etwas über dich ins Ohr flüstern, wird wimmern, ewig wimmern; er wird dir von einem Zimmer nach dem andern Briefe schreiben, zwei Stück an einem Tage, und wird doch ohne dich nicht leben können, und das ist die Hauptsache. Zwinge ihn, dir zu gehorchen; wenn du ihn dazu nicht zu zwingen verstehst, bist du dumm. Wenn er sich aufhängen will und dir damit droht, so glaube ihm nicht; das ist nur dummes Zeug! Glaube es nicht; aber paß dennoch gut auf; am Ende tut er es doch einmal; das kommt bei solchen Menschen vor; nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche hängen sie sich auf; und darum treibe ihn nie bis zum Äußersten; das ist die erste Regel in der Ehe. Vergiß auch nicht, daß er ein Dichter ist. Höre, Darja: es gibt kein höheres Glück als sich selbst aufzuopfern. Und außerdem tust du mir damit einen großen Gefallen, und das ist die Hauptsache. Denke nicht, daß ich aus Dummheit soeben törichtes Zeug geredet habe: ich weiß sehr wohl, was ich sage. Ich bin egoistisch; sei du es auch! Ich zwinge dich ja nicht gegen deinen Willen; du hast völlig freie Hand; wie du sagst, so wird es geschehen. Nun, warum sitzt du so da? Sprich ein Wort!«
»Mir ist alles gleich, Warwara Petrowna, wenn ich mich denn einmal durchaus verheiraten soll,« sagte Dascha in festem Tone.
»Durchaus? Was willst du damit andeuten?« fragte Warwara Petrowna und blickte sie streng und unverwandt an.
Dascha schwieg und kratzte mit der Nadel an ihren Fingern herum.
»Du bist ja sonst ein verständiges Mädchen, hast aber doch eben Unsinn geredet. Es ist zwar richtig, daß ich jetzt ernstlich daran gedacht habe, dich zu verheiraten, aber nicht weil es unbedingt nötig wäre, sondern nur weil ich mir das so ausgesonnen hatte, und nur mit Rücksicht auf Stepan Trofimowitsch. Wäre Stepan Trofimowitsch nicht da, so würde ich gar nicht daran denken, dich sogleich zu verheiraten, obgleich du schon zwanzig Jahre alt bist ... Nun?«
»Ich werde ganz nach Ihren Wünschen handeln, Warwara Petrowna.«
»Also du bist einverstanden! Halt, sei still, wohin hast du es denn so eilig? Ich bin noch nicht fertig mit dem, was ich sagen wollte. In meinem Testamente habe ich dir fünfzehntausend Rubel ausgesetzt. Ich werde sie dir jetzt gleich geben, nach der Trauung. Davon gib ihm achttausend, das heißt nicht ihm, sondern mir. Er hat Schulden im Betrage von achttausend Rubeln; die will ich bezahlen; aber er muß wissen, daß es mit deinem Gelde geschieht. Die andern siebentausend behältst du in deinen Händen; davon gib ihm nie auch nur einen Rubel! Bezahle nie seine Schulden! Tust du es einmal, so kommst du nachher nicht wieder davon los. Übrigens werde ich immer nach dem Rechten sehen. Ihr werdet von mir jährlich zwölfhundert Rubel zu eurem Unterhalt bekommen, mit einer Extrazuwendung fünfzehnhundert, außer Wohnung und Beköstigung, die ihr gleichfalls von mir erhalten werdet, genau ebenso, wie er das alles jetzt genießt. Nur eigene Bedienung müßt ihr euch halten. Das Jahrgeld werde ich dir alles mit einemmal geben, und zwar dir in deine eigene Hand. Aber sei auch gut gegen ihn; gib ihm manchmal ein bißchen und erlaube, daß seine Freunde einmal in der Woche zu ihm kommen; wenn sie öfter kommen, so jage sie weg! Aber ich werde auch selbst nach dem Rechten sehen. Und wenn ich sterbe, so wird euer Jahrgeld bis zu seinem Tode weiterbezahlt werden; hörst du wohl: bis zu seinem Tode; denn es ist sein Jahrgeld und nicht das deinige. Und dir will ich außer den jetzigen siebentausend Rubeln, die du dir, wenn du nicht selbst dumm bist, unangebrochen erhalten wirst, noch weitere achttausend Rubel testamentarisch hinterlassen. Weiter wirst du von mir nichts bekommen; das mußt du wissen. Nun, bist du einverstanden, wie? Nun antworte aber auch endlich!«
»Ich habe ja schon geantwortet, Warwara Petrowna.«
»Vergiß nicht, daß du völlige Willensfreiheit hast; wie du willst, so wird es geschehen.«
»Gestatten Sie eine Frage, Warwara Petrowna: hat denn Stepan Trofimowitsch schon mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Nein, er hat noch nicht gesprochen und weiß auch noch nichts davon; aber ... er wird sogleich reden!«
Sie sprang augenblicklich auf und warf ihr schwarzes Umschlagetuch um. Dascha errötete wieder ein wenig und folgte ihr mit einem fragenden Blicke. Warwara Petrowna wandte sich plötzlich zu ihr um und sagte mit zornrotem Gesichte, indem sie wie ein Habicht auf sie losschoß:
»Du Närrin! Du undankbare Närrin! Was denkst du dir denn? Glaubst du etwa, daß ich dich auch nur im geringsten kompromittieren werde? Er selbst wird dich kniefällig bitten; er muß ganz vergehen vor Glückseligkeit; so wird das arrangiert werden! Du weißt ja doch, daß ich dir mit der Verheiratung nichts zuleide tun will! Oder meinst du, daß er dich um dieser achttausend Rubel willen nehmen wird und ich jetzt hinlaufe, um dich zu verkaufen? Du Närrin, du Närrin, ihr seid alle undankbare Narren! Gib mir meinen Regenschirm!«
Und sie lief zu Fuß das feuchte Ziegeltrottoir entlang und über die hölzernen Brückchen zu Stepan Trofimowitsch.
Es war die Wahrheit, daß sie Darja nicht verheiratete, um ihr etwas zuleide zu tun; im Gegenteil hielt sie sich jetzt erst recht für deren Wohltäterin. Die edelste, gerechteste Entrüstung flammte in ihrer Seele auf, als sie beim Umlegen des Schaltuches bemerkte, daß ihre Pflegetochter sie verlegen und mißtrauisch ansah. Sie liebte sie aufrichtig von der Zeit an, wo diese noch ein kleines Kind gewesen war. Praskowja Iwanowna hatte Darja Pawlowna mit Recht als ihren Liebling bezeichnet. Schon längst hatte sich Warwara Petrowna ein für allemal gesagt, Darjas Charakter habe mit dem ihres Bruders (das heißt Iwan Schatows) keine Ähnlichkeit; sie sei still und sanft und sehr aufopferungsfähig; sie zeichne sich durch Anhänglichkeit, durch außerordentliche Bescheidenheit, durch eine seltene Verständigkeit und vor allen Dingen durch Dankbarkeit aus. Bisher hatte Darja anscheinend alle ihre Erwartungen erfüllt. »In dem Leben dieses Mädchens werden keine Fehler vorkommen,« hatte Warwara Petrowna gesagt, als Dascha zwölf Jahre alt war, und da es in ihrem Wesen lag, jede Idee, die sie fesselte, jeden neuen Einfall, den sie hatte, jeden Gedanken, der ihr glücklich schien, auch sogleich hartnäckig und leidenschaftlich zur Ausführung zu bringen, so hatte sie sich sofort entschlossen, Dascha wie eine leibliche Tochter zu erziehen. Sie legte für sie unverzüglich ein Kapital beiseite und nahm eine Gouvernante, eine Miß Criggs, ins Haus, die bis zum sechzehnten Lebensjahre der Pflegetochter bei ihnen blieb; dann aber wurde ihr auf einmal aus irgendwelchem Grunde gekündigt. Nun folgten Lehrer aus dem Gymnasium, darunter ein Nationalfranzose, der Dascha im Französischen unterrichtete. Auch diesem wurde plötzlich gekündigt; ja, er wurde beinahe weggejagt. Eine arme, von auswärts zugezogene Dame, eine Witwe von Adel, gab ihr Klavierunterricht. Aber der eigentliche Erzieher war doch Stepan Trofimowitsch. In Wirklichkeit war er es gewesen, der als der erste Dascha entdeckt hatte: er hatte das stille Kind schon zu einer Zeit unterrichtet, als Warwara Petrowna an dasselbe noch gar nicht dachte.
Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: es war erstaunlich, wie die Kinder an ihm hingen. Lisaweta Nikolajewna Tuschina war von ihrem achten bis zu ihrem elften Lebensjahre seine Schülerin gewesen (natürlich unterrichtete Stepan Trofimowitsch sie ohne Honorar und hätte ein solches von Drosdows unter keinen Umständen angenommen). Aber er verliebte sich selbst in das reizende Kind und erzählte ihr eine Art von Dichtungen über die Einrichtung der Welt und der Erde und über die Geschichte der Menschheit. Die Unterrichtsstunden über den ersten Menschen und die ersten Völker waren interessanter als arabische Märchen. Lisa, die für diese Erzählungen schwärmte, kopierte bei sich zu Hause ihren Lehrer Stepan Trofimowitsch in außerordentlich lächerlicher Weise. Dieser erfuhr davon, kam einmal unerwartet dazu und überraschte sie dabei. In höchster Verlegenheit warf Lisa sich in seine Arme und fing an zu weinen; Stepan Trofimowitsch weinte ebenfalls, aber vor Entzücken. Aber Lisa reiste bald weg, und es blieb nur Dascha übrig. Als zu Dascha Lehrer ins Haus kamen, hörte Stepan Trofimowitsch auf, sie zu unterrichten, und kümmerte sich bald gar nicht mehr um sie. So verging eine lange Zeit. Einmal, als sie schon siebzehn Jahre alt war, war er plötzlich von ihrer lieblichen Erscheinung überrascht. Dies war in Warwara Petrownas Hause, bei Tische. Er knüpfte mit dem jungen Mädchen ein Gespräch an, war mit ihren Antworten sehr zufrieden und machte schließlich den Vorschlag, mit ihr einen ernsthaften, umfassenden Kursus der russischen Literatur durchzunehmen. Warwara Petrowna lobte ihn für den schönen Gedanken und dankte ihm; Dascha aber war entzückt. Stepan Trofimowitsch bereitete sich auf diese Unterrichtsstunden besonders vor, und endlich begannen dieselben. Er fing mit der ältesten Periode an; die erste Unterrichtsstunde nahm einen sehr interessanten Verlauf; Warwara Petrowna war dabei zugegen. Als Stepan Trofimowitsch geschlossen hatte und seiner Schülerin beim Weggehen mitteilte, er werde das nächstemal an die Würdigung des »Liedes vom Heereszuge Igors« Eines der ältesten Dokumente der russischen Nationalpoesie. Anmerkung des Übersetzers. gehen, da stand Warwara Petrowna auf einmal auf und erklärte, die Unterrichtsstunden sollten nicht fortgesetzt werden. Stepan Trofimowitsch krümmte sich zusammen, schwieg aber; Dascha wurde dunkelrot vor Erregung. Damit hatte das Vergnügen ein Ende. Das hatte sich genau drei Jahre vor Warwara Petrownas jetzigem unerwarteten Einfall begeben.
Der arme Stepan Trofimowitsch saß allein zu Hause und ahnte nichts. In trübem Nachdenken blickte er schon lange durch das Fenster, ob nicht irgendein Bekannter zu ihm komme. Aber es wollte niemand kommen. Es fiel ein feiner Sprühregen, und es war kalt geworden; es war nötig, den Ofen zu heizen; er seufzte. Auf einmal bot sich seinen Augen eine seltsame Vision dar: Warwara Petrowna kam in solchem Wetter und zu so ungewöhnlicher Stunde zu ihm! Und zu Fuß! Er war so verblüfft, daß er vergaß, sein Kostüm zu wechseln, und sie so, wie er war, empfing: in seiner ewigen rosafarbenen, wattierten Hausjacke.
» Ma bonne amie! ...« rief er ihr mit schwacher Stimme entgegen.
»Sie sind allein; das freut mich; ich kann Ihre Freunde nicht leiden! Wie Sie immer rauchen! Mein Gott, was ist das für eine Luft! Sie haben auch Ihren Tee noch nicht ausgetrunken, und dabei ist es schon zwölf Uhr! Sie finden Ihre ganze Seligkeit in der Unordnung und Ihren ganzen Genuß im Schmutze! Was sind das für zerrissene Papiere auf dem Fußboden? Nastasja, Nastasja! Was macht denn Ihre Nastasja? Mach die Fenster und die Türen auf, Nastasja, alles sperrangelweit! Und wir wollen in den Salon gehen; ich komme in einer ernsten Angelegenheit zu Ihnen. Fege doch wenigstens einmal im Leben aus, Nastasja!«
»Er macht ja doch alles gleich wieder schmutzig und unordentlich!« erwiderte Nastasja in gereiztem, klagendem Tone.
»Fege du nur aus; fege fünfzehnmal am Tage aus! Einen elenden Salon haben Sie« (sie waren inzwischen in den Salon getreten). »Machen Sie die Tür fester zu; sie wird horchen. Sie müssen den Salon unbedingt umtapezieren lassen. Ich habe Ihnen ja doch den Tapezier mit Mustern zugeschickt; warum haben Sie sich keines ausgesucht? Setzen Sie sich, und hören Sie zu! So setzen Sie sich doch endlich hin, ich bitte Sie! Wo wollen Sie hin? Wo wollen Sie hin? Wo wollen Sie hin?«
»Ich ... sofort!« rief Stepan Trofimowitsch aus dem anstoßenden Zimmer. »Da bin ich wieder!«
»Ah, Sie haben den Anzug gewechselt!« sagte sie spöttisch, indem sie ihn musterte. (Er hatte einen Oberrock über die Hausjacke gezogen.) »Das wird in der Tat zu unserem Gespräche besser passen. Setzen Sie sich doch endlich hin, ich bitte Sie!«
Sie setzte ihm alles mit einem Male auseinander, scharf und eindringlich. Sie deutete auch auf die achttausend Rubel hin, die er dringend nötig hatte. Ausführlich sprach sie von der Mitgift. Stepan Trofimowitsch riß die Augen auf und fing an zu zittern. Er hörte alles; aber er vermochte nicht, es klar zu erfassen. Er wollte etwas erwidern; aber immer versagte ihm die Stimme. Er wußte nur, daß alles so geschehen werde, wie sie es sagte, daß ein Widerspruch, eine Ablehnung ein Ding der Unmöglichkeit und er selbst unwiderruflich ein verheirateter Mann war.
» Mais, ma bonne amie, zum drittenmal und in meinen Jahren ... und mit einem solchen Kinde!« sagte er endlich. » Mais c'est une enfant!«
»Ein Kind, das glücklicherweise schon zwanzig Jahre alt ist! Verdrehen Sie doch nicht so die Augen, ich bitte Sie; Sie sind hier nicht auf dem Theater. Sie sind ein sehr kluger gelehrter Mann; aber Sie verstehen nichts vom Leben; auf Sie muß beständig eine Wärterin aufpassen. Ich werde sterben, und was wird dann aus Ihnen werden? Aber sie wird für Sie eine gute Wärterin sein: sie ist ein bescheidenes, energisches, vernünftiges Mädchen; außerdem werde ich selbst nach dem Rechten sehen; ich werde nicht gleich sterben. Sie ist häuslich; sie ist ein Engel an Sanftmut. Dieser glückliche Gedanke ist mir schon gekommen, als ich noch in der Schweiz war. Verstehen Sie auch wohl, was das heißen will, wenn ich selbst Ihnen sage, daß sie ein Engel an Sanftmut ist?« schrie sie plötzlich heftig. »Bei Ihnen sieht es wüst und unsauber aus; da wird sie für Reinlichkeit und Ordnung sorgen, und alles wird wie ein Spiegel sein ... Na, Sie bilden sich wohl ein, wenn ich Ihnen ein solches Kleinod bringe, müßte ich mich noch tief vor Ihnen verbeugen, Ihnen alle Vorteile aufzählen und Ihnen wer weiß wie zureden! Nein, Sie müßten auf den Knien ... O, Sie einfältiger, kleinmütiger Mensch!«
»Aber ... ich bin ein alter Mann!«
»Was wollen Ihre dreiundfünfzig Jahre besagen! Fünfzig Jahre sind nicht das Ende, sondern die Mitte des Lebens. Sie sind ein schöner Mann und wissen das selbst. Sie wissen auch, wie sehr sie Sie verehrt. Wenn ich sterbe, was wird dann aus ihr werden? Aber als Ihre Frau kann sie ruhig sein, und auch ich bin dann beruhigt. Sie besitzen Ansehen, einen Namen, ein liebendes Herz; Sie erhalten ein Jahrgeld, das zu zahlen ich für meine Pflicht halte. Sie werden sie vielleicht retten, ja retten! In jedem Falle werden Sie ihr eine Ehre erweisen. Sie werden sie für das Leben bilden, ihr Herz entwickeln, ihren Gedanken die Richtung geben. Wie viele Menschen gehen heutzutage zugrunde, weil ihre Gedanken eine üble Richtung haben! Zugleich wird auch Ihr Werk fertig werden, und Sie werden sich mit einem Male auf sich selbst besinnen.«
»Ich habe gerade vor,« murmelte er, durch Warwara Petrownas geschickte Schmeichelei gekitzelt, »ich habe gerade vor, mich an meine ›Erzählungen aus der spanischen Geschichte‹ zu machen ...«
»Na sehen Sie wohl! Sehen Sie, wie gut das stimmt!«
»Aber ... sie? Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«
»Beunruhigen Sie sich nicht über sie; da brauchen Sie nicht neugierig zu sein. Natürlich müssen Sie sie selbst bitten, sie anflehen, Ihnen die Ehre zu erweisen; Sie verstehen? Aber beunruhigen Sie sich nicht; ich werde selbst nach dem Rechten sehen. Außerdem lieben Sie sie ja doch!«
Dem guten Stepan Trofimowitsch schwindelte der Kopf: die Wände drehten sich um ihn herum. Aber da war noch ein schrecklicher Gedanke, mit dem er in keiner Weise zurechtkommen konnte.
» Excellente amie!« sagte er, und seine Stimme zitterte plötzlich, »ich ... ich hätte nie geglaubt, daß Sie sich entschließen würden, mich ... mit einer andern Frau ... zu verheiraten!«
»Sie sind kein Mädchen, Stepan Trofimowitsch; nur Mädchen werden verheiratet; aber Sie heiraten selbst,« erwiderte Warwara Petrowna bissig.
» Oui, j'ai pris un mot pour un autre. Mais ... c'est égal,« versetzte er, indem er sie fassungslos anstarrte.
»Ich sehe, daß c'est égal,« antwortete sie verächtlich. »O Gott, da wird er gar ohnmächtig! Nastasja, Nastasja! Wasser!«
Aber die Anwendung des Wassers war nicht mehr nötig. Er kam von selbst zu sich. Warwara Petrowna griff nach ihrem Regenschirm.
»Ich sehe, daß mit Ihnen jetzt nicht zu reden ist ...«
» Oui, oui, je suis incapable.«
»Aber bis morgen werden Sie sich erholen und sich die Sache überlegen. Bleiben Sie zu Hause; wenn etwas vorfallen sollte, so benachrichtigen Sie mich, selbst wenn es in der Nacht ist. Schreiben Sie mir aber keine Briefe; ich werde sie nicht lesen. Morgen um diese Zeit werde ich selbst allein herkommen, um mir die endgültige Antwort zu holen, und ich hoffe, daß sie eine befriedigende sein wird. Sorgen Sie dafür, daß niemand hier ist, und daß es nicht schmutzig und unordentlich ist; denn jetzt sieht es ja unerhört aus. Nastasja, Nastasja!«
Natürlich erklärte er sich am andern Tage einverstanden; er konnte auch gar nicht anders. Es lag da ein besonderer Umstand vor ...
Das Gut, das wir bisher Stepan Trofimowitschs Gut genannt haben (es enthielt nach alter Rechnung fünfzig Seelen und lag dicht bei Skworeschniki), war überhaupt nicht das seinige, sondern hatte seiner ersten Frau gehört und war somit jetzt das Eigentum ihres und seines Sohnes Peter Stepanowitsch Werchowenski. Stepan Trofimowitsch war nur dessen Vormund gewesen und hatte dann, als der junge Vogel flügge geworden war, das Gut auf Grund einer von diesem ausgestellten formellen Vollmacht verwaltet. Die Abmachung war für den jungen Mann vorteilhaft: er erhielt von seinem Vater jährlich fest tausend Rubel als Einnahme von dem Gute, während dieses nach der Reform nur fünfhundert und vielleicht noch weniger einbrachte. Gott weiß, wie eine solche Abmachung hatte getroffen werden können. Übrigens schickte diese ganzen tausend Rubel Warwara Petrowna hin, während Stepan Trofimowitsch nicht einen einzigen Rubel dazu beitrug. Vielmehr behielt er die ganze Einnahme vom Gute in seiner Tasche und ruinierte dasselbe außerdem dadurch in Grund und Boden, daß er es an einen Geschäftsmann verpachtet und ohne Warwara Petrownas Wissen ein Wäldchen, in welchem der Hauptwert desselben steckte, zum Abholzen verkauft hatte. Dieses Wäldchen hatte er schon längst dann und wann in einzelnen Portionen verkauft. Es war zusammen mindestens achttausend Rubel wert gewesen, und er hatte nur fünftausend dafür bekommen. Aber seine Spielverluste im Klub waren manchmal gar zu groß, und er scheute sich dann, Warwara Petrowna um Geld zu bitten. Sie knirschte mit den Zähnen, als sie endlich alles erfuhr. Und nun teilte der Sohn auf einmal mit, er werde selbst kommen, um sein Gut um jeden Preis zu verkaufen, und beauftragte den Vater, unverzüglich sich um den Verkauf zu bemühen. Es war verständlich, daß Stepan Trofimowitsch bei seiner edelmütigen, selbstlosen Gesinnung sich vor ce cher fils schämte, den er übrigens zum letzten Male vor ganzen neun Jahren in Petersburg als Studenten gesehen hatte. Ursprünglich hatte das ganze Gut dreizehn- oder vierzehntausend Rubel wert sein können; jetzt hätte jemand kaum auch nur fünftausend dafür gegeben. Ohne Zweifel war Stepan Trofimowitsch nach dem Wortlaute der formellen Vollmacht vollständig berechtigt gewesen, den Wald zu verkaufen, und wenn er in Rechnung stellte, daß dem Sohne so viele Jahre lang jährlich pünktlich tausend Rubel geschickt waren, die doch aus dem Gute nicht hatten vereinnahmt werden können, so konnte er sich damit bei der Abrechnung hinreichend verteidigen. Aber Stepan Trofimowitsch war ein Mensch von edler Gesinnung mit einem Streben nach Höherem. In seinem Kopfe blitzte ein Gedanke von wunderbarer Schönheit auf: wenn der liebe Peter kommen werde, auf einmal den Maximalwert des Gutes, das heißt fünfzehntausend Rubel, ohne den geringsten Hinweis auf die bisher übersandten Summen edelmütig auf den Tisch zu legen, ce cher fils unter Tränen fest an die Brust zu drücken und damit die ganze Abrechnung beendet sein zu lassen. Ganz von weitem und mit großer Vorsicht hatte er begonnen, dieses Bild vor Warwara Petrownas geistigem Blick zu entrollen. Er hatte angedeutet, daß eine solche Handlungsweise dem freundschaftlichen Verhältnisse zwischen ihm und seinem Sohne, der »Idee« dieses Verhältnisses, sogar eine besondere, edle Färbung verleihen werde. Dadurch würden die der älteren Generation angehörigen Väter und überhaupt die Menschen der älteren Generation gegenüber der modernen, leichtsinnigen, sozialistisch gesinnten Jugend uneigennützig und hochherzig erscheinen. Er hatte noch vieles der Art geredet; aber Warwara Petrowna hatte immer dazu geschwiegen. Schließlich hatte sie ihm trocken erklärt, sie sei bereit, das Gut zu kaufen, und wolle dafür den Maximalwert, das heißt sechs- bis siebentausend Rubel, geben (es war auch für viertausend zu haben). Von den übrigen achttausend, die das Gut mit dem Walde verloren hatte, sagte sie keine Silbe.
Dies war einen Monat vor der Brautwerbung geschehen. Stepan Trofimowitsch war bestürzt gewesen und sehr nachdenklich geworden. Früher war wenigstens noch die Hoffnung möglich gewesen, daß der liebe Sohn vielleicht überhaupt nicht kommen werde; das heißt Hoffnung vom Standpunkte eines Fremden aus, im Sinne eines Unbeteiligten. Stepan Trofimowitsch dagegen, als Vater, hätte schon den bloßen Gedanken an eine solche Hoffnung mit Entrüstung von sich gewiesen. Wie dem nun auch sein mochte, jedenfalls waren uns bisher über Peter recht sonderbare Gerüchte zu Ohren gekommen. Als er vor sechs Jahren seinen Kursus auf der Universität absolviert hatte, hatte er sich zunächst in Petersburg ohne Beschäftigung umhergetrieben. Auf einmal erhielten wir die Nachricht, er habe sich an der Abfassung einer geheimen Proklamation beteiligt und sei in diese Sache verwickelt. Dann erfuhren wir, er sei plötzlich im Auslande, in der Schweiz, in Genf, erschienen; er war also am Ende gar ein Flüchtling.
»Das kommt mir ganz wunderbar vor,« hatte sich Stepan Trofimowitsch, der darüber in starke Unruhe geraten war, damals uns gegenüber geäußert, »der gute Peter, c'est une si pauvre tête! Er ist brav, edelgesinnt, sehr gefühlvoll, und ich habe mich damals in Petersburg gefreut, wenn ich ihn mit der modernen Jugend verglich; aber c'est un pauvre sire tout de même ... Und wissen Sie, das kommt davon her, daß die jungen Leute nicht ordentlich ausgebrütet, daß sie zu gefühlvoll sind! Was sie fesselt, ist nicht der Realismus, sondern die empfindsame, ideale Seite des Sozialismus, sozusagen seine religiöse Färbung, seine Poesie ... die allerdings aus einer fremden Sprache stammt. Und daß das mir, gerade mir begegnen mußte! Ich habe sowieso schon hier so viele Feinde und dort in Petersburg noch mehr; da wird man alles dem väterlichen Einflusse zuschreiben ... O Gott! Mein Peter ein Aufwiegler! In was für Zeiten leben wir!«
Peter schickte übrigens aus der Schweiz sehr bald seine genaue Adresse, damit ihm das Geld wie gewöhnlich zugesandt werde: also war er doch nicht vollständig ein Emigrant. Und siehe da: nachdem er etwa vier Jahre im Auslande gelebt hatte, erschien er jetzt auf einmal wieder in seinem Vaterlande und meldete seine baldige Ankunft; also lag doch keine Anklage gegen ihn vor. Ja, noch mehr: es schien sich sogar jemand für ihn zu interessieren und ihn zu protegieren. Er schrieb jetzt aus Südrußland, wo er sich in jemandes privatem, aber wichtigem Auftrage befand und irgendein schwieriges Geschäft zu erledigen hatte. Das war ja alles sehr schön; aber woher sollte Stepan Trofimowitsch nun die übrigen sieben-, achttausend Rubel nehmen, um in anständiger Weise den Maximalwert des Gutes voll zu machen? Wie aber, wenn Peter ein Geschrei erhob und es nicht zu jenem herrlichen Bilde, sondern zu einem Prozesse kam? Eine innere Stimme sagte dem besorgten Stepan Trofimowitsch, daß der gefühlvolle Peter auf nichts, was ihm zustehe, verzichten werde. »Woher kommt das (ich habe das beobachtet),« flüsterte mir in jener Zeit einmal Stepan Trofimowitsch zu, »woher kommt das, daß alle diese enragierten Sozialisten und Kommunisten gleichzeitig so unglaublich geizig, habgierig und egoistisch sind, und zwar in der Weise, daß, je mehr einer Sozialist ist, je weiter er dabei geht, er auch um so egoistischer ist; woher kommt das? Rührt das wirklich auch von der Empfindsamkeit her?« Ich weiß nicht, ob an dieser Bemerkung Stepan Trofimowitschs etwas Wahres ist; ich weiß nur, daß Peter über den Verkauf des Waldes und anderes Nachrichten erhalten hatte, und daß Stepan Trofimowitsch wußte, daß sein Sohn darüber orientiert sei. Ich bekam auch gelegentlich Briefe Peters an seinen Vater zu lesen: er schrieb nur äußerst selten, einmal im Jahre und noch seltener. Nur in der letzten Zeit, wo er seine nahe bevorstehende Ankunft meldete, schickte er zwei Briefe fast unmittelbar nacheinander. Alle seine Briefe waren kurz und trocken und bestanden nur aus Anordnungen, und da Vater und Sohn sich noch von Petersburg her nach moderner Sitte duzten, so hatten Peters Briefe eine entschiedene Ähnlichkeit mit den Verfügungen, die in älterer Zeit die Gutsbesitzer aus den Residenzen denjenigen ihrer Untergebenen zugehen ließen, welche sie mit der Verwaltung ihrer Güter betraut hatten. Und da kamen nun auf einmal diese achttausend Rubel, um die sich die Sache drehte, nach Warwara Petrownas Vorschlage herbeigeflogen, wobei sie deutlich zu verstehen gab, daß sie von anderswoher schlechterdings nicht würden herbeigeflogen kommen. Natürlich erklärte sich Stepan Trofimowitsch einverstanden.
Sowie Warwara Petrowna ihn verlassen hatte, ließ er mich rufen; vor jedem andern Besuch aber schloß er sich den ganzen Tag über ein. Natürlich weinte er ein bißchen; er redete viel und gut, befand sich in starker Verwirrung und machte gelegentlich Wortspiele, mit denen er sehr zufrieden war; dann kam eine leichte Cholerine, kurz, alles nahm seinen ordnungsmäßigen Gang. Darauf zog er ein Bild seiner schon vor zwanzig Jahren verstorbenen Frau, der Deutschen, hervor und wimmerte kläglich: »Wirst du es mir verzeihen?« Überhaupt benahm er sich, wie wenn er den Verstand verloren hätte. Vor Kummer tranken wir auch ein bißchen. Übrigens schlief er bald und ruhig ein. Am Morgen band er sich sein Halstuch äußerst kunstvoll, zog sich elegant an und trat oft vor den Spiegel, um sich zu besehen. Er bespritzte sein Taschentuch mit Parfüm, indessen nur ganz wenig, und kaum sah er durchs Fenster, daß Warwara Petrowna kam, als er auch schleunigst ein anderes Taschentuch nahm und das parfümierte unter das Kissen schob.
»Nun, das ist ja schön!« lobte ihn Warwara Petrowna, als sie hörte, daß er einwilligte. »Erstens haben Sie eine edle Entschlossenheit bewiesen, und zweitens haben Sie auf die Stimme der Vernunft gehört, auf die Sie in Ihren Privatangelegenheiten nur so selten hören. Besondere Eile ist übrigens nicht erforderlich,« fügte sie hinzu, als ihr der Knoten seines weißen Halstuches ins Auge fiel; »schweigen Sie vorläufig davon, und ich werde ebenfalls schweigen. Nächstens ist Ihr Geburtstag, da werde ich mit ihr zusammen bei Ihnen sein. Geben Sie eine Abendgesellschaft, Tee, aber bitte ohne Spirituosen und ohne kalten Imbiß; übrigens werde ich alles selbst arrangieren. Laden Sie Ihre Freunde dazu ein; wir wollen zusammen die Auswahl treffen. Tags zuvor können Sie mit ihr reden, wenn es nötig sein sollte; aber auf Ihrer Abendgesellschaft wollen wir nichts proklamieren und keine Verlobung feiern, sondern es nur so andeuten und zu verstehen geben, ohne alle Feierlichkeit. Und dann zwei Wochen darauf soll die Hochzeit stattfinden, möglichst ohne Aufsehen. Sie könnten sogar beide gleich nach der Trauung auf einige Zeit verreisen, zum Beispiel nach Moskau. Vielleicht werde ich mit Ihnen mitfahren. Aber die Hauptsache ist: schweigen Sie bis dahin!«
Stepan Trofimowitsch war erstaunt. Er wollte stotternd einwenden, das ginge doch nicht, er müsse doch mit der Braut reden; aber Warwara Petrowna fuhr ihn in gereiztem Tone an:
»Wozu das? Erstens wird vielleicht überhaupt nichts daraus werden ...«
»Wie meinen Sie das: es wird nichts daraus werden?« murmelte der Bräutigam, der wie betäubt war.
»Nun ja. Ich werde erst noch einmal sehen ... Übrigens wird alles so geschehen, wie ich gesagt habe, und Sie brauchen sich gar keine Sorge zu machen; ich werde das Mädchen selbst vorbereiten. Sie haben gar nichts damit zu tun. Alles, was nötig ist, wird gesagt und getan werden; aber Sie sind dabei ganz unbeteiligt. Wozu wollen Sie dabei mitwirken? Was wollen Sie dabei für eine Rolle spielen? Kommen Sie selbst nicht hin, und schreiben Sie auch keine Briefe! Und lassen Sie nichts verlauten, bitte ich Sie. Ich werde ebenfalls schweigen.«
Sie wollte absolut keine weiteren Erklärungen geben und ging, offenbar sehr verstimmt, weg. Es schien, daß Stepan Trofimowitschs übermäßige Bereitwilligkeit sie befremdet hatte. Leider hatte er schlechterdings kein Verständnis für seine Lage und betrachtete die Frage nur von einem ganz einseitigen Gesichtspunkte aus. Er schlug sogar jetzt einen neuen, siegesgewissen, leichtfertigen Ton an. Er war sehr mutig geworden.
»Das gefällt mir!« rief er, indem er vor mir stehen blieb und mit den Armen in der Luft umherfuhr. »Haben Sie es gehört? Sie wird es noch dahinbringen, daß ich, ich schließlich nicht will. Ich kann ja doch auch die Geduld verlieren und nicht wollen! ›Bleiben Sie zu Hause!‹ sagt sie; ›Sie brauchen da nicht hinzugehen‹; aber schließlich, warum muß ich denn unbedingt heiraten? Nur weil sie einen lächerlichen Einfall gehabt hat? Aber ich bin ein ernsthafter Mensch und habe vielleicht keine Lust, mich den müßigen Launen eines unvernünftigen Weibes unterzuordnen! Ich habe Pflichten gegen meinen Sohn und ... und gegen mich selbst! Ich bringe ein Opfer; hat sie dafür auch Verständnis? Vielleicht habe ich nur deswegen eingewilligt, weil mir das Leben langweilig geworden und mir alles gleich ist. Aber sie kann mich reizen, und dann wird mir nicht mehr alles gleich sein; ich werde mich beleidigt fühlen und mich weigern. Et enfin le ridicule ... Was wird man im Klub dazu sagen? Was wird Liputin dazu sagen? ›Vielleicht wird nichts daraus werden!‹ Unerhört! Das ist der Gipfel! Das ist ... ja, was ist das eigentlich? Je suis un forçat, un Badinguet, ein an die Wand gedrückter Mensch! ...«
Und zugleich blickte durch all diese kläglichen Jammerreden eine Art von launischer Selbstgefälligkeit, eine Art von leichtfertiger Koketterie hindurch. Am Abend tranken wir wieder etwas.