Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Unter dem gleichen Dache, in der gleichen Wohnung, im gleichen vierten Stock wohnten zwei junge Beamte und Kanzleikollegen: Arkadij Iwanowitsch Nefedewitsch und Wassja Schumkow ... Natürlich erachtet es der Autor für notwendig, dem Leser zu erklären, warum der eine Held mit seinem vollen Namen, der andere dagegen mit dem Diminutiv genannt wird; er müßte es schon aus dem einen Grunde tun, weil ihm sonst diese letztere Form als unanständig und plump vertraulich übelgenommen werden kann. Doch zu diesem Behufe müßte er zunächst den Rang, das Alter und den Beruf einer jeden der handelnden Personen angeben; da es aber allzuviel Schriftsteller gibt, die ihre Erzählungen mit derartigen Charakteristiken beginnen, hat sich der Autor der vorliegenden Novelle entschlossen, nur um den andern nicht zu gleichen (manche werden sagen: um seiner grenzenlosen Einbildung Genüge zu tun), direkt mit der Handlung einzusetzen. Nach dieser Einleitung beginnt er wie folgt.
Schumkow kam am Sylvesterabend, so gegen sechs Uhr, nach Hause. Arkadij Iwanowitsch, der gerade auf dem Bette lag, erwachte und blickte mit noch schläfrigen Augen seinen Freund an. Er stellte fest, daß dieser seinen besten Zivilanzug trug und ein blendend weißes Vorhemd anhatte. Das versetzte ihn natürlich in Erstaunen: Wo mag er in diesem Aufzuge gewesen sein? Auch hatte er heute nicht zu Hause gegessen! Schumkow steckte indessen eine Kerze an, und Arkadij Iwanowitsch erriet sofort, daß sein Freund ihn, gleichsam unbeabsichtigt und zufällig, wecken wollte. Wassja hüstelte auch tatsächlich zweimal, ging zweimal durchs Zimmer und ließ schließlich ganz zufällig seine Pfeife, die er in der Ecke neben dem Ofen zu stopfen begonnen, auf den Boden fallen. Arkadij Iwanowitsch mußte innerlich auflachen.
»Wassja, laß die Komödie!«
»Du schläfst nicht, Arkascha?«
»Bestimmt kann ich es nicht sagen; ich glaube aber, daß ich nicht schlafe.«
»Ach, Arkascha! Guten Abend, mein Teurer! Ja, Bruder! Ja! Du ahnst noch gar nicht, was ich dir erzählen werde!«
»Nein, das ahne ich wirklich nicht! Komm aber etwas näher zu mir.«
Wassja kam sofort näher, als hätte er auf diese Aufforderung nur gewartet; allerdings war er auf die heimtückischen Absichten seines Freundes nicht gefaßt. Dieser packte ihn sehr geschickt bei der Hand, drehte ihn um, fiel mit seiner ganzen Körperschwere über ihn her und begann das unglückliche Opfer zu würgen; das schien dem lustigen Arkadij Iwanowitsch ein unbeschreibliches Vergnügen zu machen.
»Nun hab ich dich!« rief er. »Nun habe ich dich!«
»Arkascha! Was tust du mit mir! Laß mich um Gottes willen los, so wirst du mir meinen Frack schmutzig machen!«
»Macht nichts! Was brauchst du den Frack? Warum bist du so leichtgläubig und gibst dich mir selbst in die Hände? Sag einmal: wo warst du? Wo hast du zu Mittag gegessen?«
»Arkascha, um Gottes willen! Laß mich los!«
»Wo hast du gegessen?«
»Das ist es ja, was ich dir erzählen will!«
»Also erzähle!«
»Laß mich erst los!«
»Das will ich eben nicht! Ich laß dich nicht los, bevor du es mir erzählt hast!«
»Arkascha, Arkascha! Verstehst du denn selbst nicht, daß ich in dieser Lage nichts erzählen kann, daß es ganz unmöglich ist!« schrie der schwächliche Wassja, indem er vergebliche Anstrengungen machte, sich aus den starken Tatzen seines Freundes und Gegners zu befreien. »Denn es gibt Materien ...«
»Was für Materien?«
»Nun, Materien, über die man in solcher Situation nicht sprechen kann: sonst verliert man eben jede menschliche Würde; es geht wirklich nicht! Es würde lächerlich erscheinen, doch die Sache ist durchaus nicht lächerlich, sondern bitter ernst!«
»Das Ernste mag der Teufel holen! Was dir nicht einfällt! Du sollst mir die Sache so erzählen, daß ich dabei lachen kann! Ich mag nichts Ernstes hören! Was wärest du sonst für ein Freund? Sag nun selbst: was wärest du für ein Freund? He?«
»Arkascha! Ich kann es nicht, bei Gott!«
»Keine Widerrede!«
»Also gut, Arkascha!« begann Wassja, der quer auf dem Bette lag und sich die größte Mühe gab, seinen Worten eine gewisse Würde zu verleihen. »Arkascha! Ich werde es dir vielleicht sagen, doch ...«
»Nun?«
»Ich habe mich verlobt!«
Arkadij Iwanowitsch sagte kein Wort. Er nahm Wassja, der durchaus nicht klein, sondern recht lang, nur etwas mager war, auf die Arme und begann ihn mit großem Geschick auf- und abzutragen und wie ein Kind zu wiegen.
»Gleich werde ich dich, du Bräutigam, wie einen Säugling einwickeln!« sagte er dabei. Als er aber sah, daß Wassja ganz regungslos und stumm in seinen Armen lag, besann er sich und merkte, daß er in seinem Scherze doch zu weit gegangen war; er stellte seinen Freund mitten im Zimmer hin und drückte ihm einen durchaus herzlichen und freundschaftlichen Kuß auf die Backe.
»Wassja, du bist doch nicht böse?«
»Hör einmal, Arkascha ...«
»Nun, vergibs mir des Sylvesters wegen!«
»Ich bin ja nicht böse; warum bist du aber so verrückt und ausgelassen? Wie oft hab ichs dir schon gesagt: das ist gar nicht witzig, bei Gott, gar nicht witzig!«
»Also böse bist du mir nicht?«
»Nein ... Auf wen bin ich je böse?! Doch du hast mich gekränkt, verstehst du das?!«
»Gekränkt? Auf welche Weise?«
»Ich bin zu dir gekommen wie zu einem Freund, mit vollem Herzen, um dir meine Seele auszuschütten und von meinem Glück zu erzählen ...«
»Von was für einem Glück? Warum sagst du das nicht gleich?«
»Ich heirate doch!« antwortete Wassja geärgert; er war wirklich etwas wütend.
»Du? Du heiratest? Ist es dein Ernst?« schrie Arkascha wie besessen. »Nein, nein, was ist denn das? Er spricht wirklich so sonderbar und weint sogar! ... Wassja, Wassjuk, mein Söhnchen, beruhige dich doch! Ist es auch wirklich wahr?« Und Arkadij Iwanowitsch schloß ihn wieder in seine Arme.
»Verstehst du denn meine Aufregung noch nicht? Du bist ja ein guter Freund, ich weiß es. Ich komme zu dir mit solcher Freude, mit solcher Begeisterung in der Seele und muß dir diese meine Herzensfreude, ganz würdelos quer über dem Bette liegend, eröffnen ... Du verstehst doch, Arkascha,« setzte er halb lachend hinzu, »daß es eine durchaus komische Situation war; ich bin aber in diesem Augenblick gewissermaßen nicht bei Sinnen. Ich konnte meine Angelegenheit nicht so erniedrigen. Hättest du mich zum Beispiel nach ihrem Namen gefragt, ich schwöre dir: du hättest mich morden können, aber den Namen hättest du von mir nicht erfahren!«
»Warum hast du es nicht früher gesagt, Wassja? Hättest du mir das alles früher gesagt, so würde ich nicht so spaßen!« rief Arkadij Iwanowitsch in aufrichtiger Verzweiflung.
»Nun, laß es gut sein, genug! Ich sage es ja nur so ... Du weißt selbst, warum ich so bin: ich habe eben ein gutes Herz. Nun ärgere ich mich darüber, daß es mir nicht gelungen ist, die Sache dir so gut und schön zu erzählen, wie ich es wollte, dich zu erfreuen, dir ein Vergnügen zu machen, dich einzuweihen ... Im Ernst, Arkascha, ich liebe dich so sehr, daß ich, wenn ich dich nicht hätte, wohl überhaupt nicht heiraten würde und auf dieser Welt nicht leben wollte.«
Arkadij Iwanowitsch, der sehr empfindsam war, weinte und lachte zugleich, während Wassja dies sprach. Wassja tat dasselbe. Sie fielen sich schließlich wieder in die Arme und vergaßen den ganzen Vorfall.
»Wie ist es nun geschehen? Erzähle mir alles, Wassja! Du mußt mich entschuldigen, mein Lieber: ich bin so erschüttert, wie vom Blitz getroffen, bei Gott! Das kann ja nicht sein, mein Lieber, du hast doch das Ganze erfunden, bei Gott, du hast es erlogen!« schrie Arkadij Iwanowitsch auf und blickte mit aufrichtigem Mißtrauen Wassja an; als er aber in dessen Gesicht eine glänzende Bestätigung seiner bestimmten Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, wahrnahm, warf er sich aufs Bett und begann vor lauter Entzücken Purzelbäume zu schießen, so daß die Wände erzitterten.
»Wassja, setz dich her!« rief er schließlich, und setzte sich auch selbst hin.
»Ja, mein Lieber, ich weiß wirklich nicht, womit ich beginnen soll!«
Beide blickten einander in freudiger Erregung an.
»Wer ist sie, Wassja?«
»Die Artemjewa! ...« versetzte Wassja mit vor Glück gedämpfter Stimme.
»Ist's wahr?«
»Ich hab dir ja schon genug von der Familie erzählt, und du hast gar nichts gemerkt. Es fiel mir wirklich schwer, es vor dir zu verheimlichen; ich hatte solche Angst, davon zu sprechen! Ich fürchtete, das Ganze würde auseinandergehen, ich bin aber verliebt, Arkascha! Ach, mein Gott, mein Gott! Denk dir nur: die Sache war so,« begann er, jeden Augenblick vor Erregung stockend: »Sie hatte bereits vor einem Jahre einen Bräutigam, der wurde aber plötzlich irgendwohin versetzt; ich kannte ihn: er war so ein ... Nun, ich will von ihm lieber nicht sprechen. Er ist also fort, läßt nichts von sich hören, ist verschollen. Man wartet und wartet und weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Und plötzlich, so vor vier Monaten, kehrt er zurück – ist verheiratet und läßt sich bei den Artemjews nicht einmal sehen! Es ist doch roh und gemein! Und sie haben niemanden, der für sie eintreten könnte. Das arme Mädchen weint, und weint, und ich – verliebe mich in sie ... Ich war, übrigens, in sie schon vorher verliebt! Nun begann ich sie zu trösten, kam jeden Tag ins Haus ... Ich weiß wirklich nicht, wie das geschah, doch auch sie gewann mich lieb. Vor acht Tagen hielt ich es schließlich nicht aus, fing zu weinen an, zu schluchzen und sagte ihr alles: nun, daß ich sie liebe – mit einem Wort alles! ... ›Auch ich bin bereit, Sie zu lieben, Wassilij Petrowitsch‹, sagte sie zu mir, ›doch ich bin ein armes Mädchen, spotten Sie meiner nicht; denn ich habe gar nicht den Mut, jemanden zu lieben!‹ Nun, mein Lieber, verstehst du es? ... Wir haben uns auch sofort verlobt; ich überlegte mir lange hin und her und fragte sie schließlich: ›Wie wollen wir das der Mama sagen?‹ Sie antwortete darauf: ›Ja, es ist schwer! Warten Sie lieber noch eine Zeitlang. Denn Mama hat jetzt Angst; jetzt gleich wird sie mich Ihnen vielleicht noch nicht geben wollen; sie weint ja noch immer.‹ Ohne Lisa auch mit einem Wort vorzubereiten, platzte ich heute vor der Alten mit der Geschichte heraus. Lisa kniete vor ihr nieder, ich ebenfalls ... die Alte gab uns ihren Segen. Arkascha, Arkascha! Mein Lieber! Wir wollen doch zusammen wohnen bleiben. Nein, von dir trenne ich mich nicht!«
»Wassja, ich schaue dich an, und kann dir doch nicht glauben! Bei Gott, ich schwöre: ich kann dir unmöglich glauben. Das Ganze kommt mir so vor ... Hör einmal, du willst heiraten?.. Wieso habe ich nichts davon gewußt? Ich muß dir gestehen, Wassja: auch ich hatte die Absicht zu heiraten; doch da du es jetzt tust, kommt es auf dasselbe heraus! Also ich wünsche dir viel Glück!«
»Mein Freund, ich habe jetzt ein so süßes Gefühl im Herzen, so leicht ist mir zumute ...« sagte Wassja. Er erhob sich vom Bett und ging einigemal erregt durchs Zimmer. »Nicht wahr, du fühlst es ja auch? Wir werden natürlich sehr bescheiden leben, werden aber trotzdem glücklich sein; und das ist doch keine Chimäre; unser Glück ist nicht aus einem Buche geschöpft, es ist die Wirklichkeit: wir werden wirklich glücklich sein!«
»Wassja! Hör einmal, Wassja!«
»Was denn?« fragte Wassja, vor Arkadij Iwanowitsch stehen bleibend.
»Mir kommt eben ein Gedanke; ich weiß nicht warum, ich fürchte ihn auszusprechen!.. Verzeihe mir also und löse meine Zweifel. Wovon willst du eigentlich leben? Ich bin ja entzückt, daß du heiratest, bin ganz außer mir vor Freude, und doch ... wovon willst du leben? Wie?«
»Ach, mein Gott! Wie kannst du nur, Arkascha!« sagte Wassja und blickte Nefedewitsch sehr erstaunt an. »Was denkst du dir denn? Selbst die Alte überlegte sich die Sache keine zwei Minuten lang, als ich ihr alles klarlegte. Frage doch zunächst, wovon sie gelebt haben? Sie haben zudritt ja nur fünfhundert Rubel im Jahr! Das ist die ganze Pension, die sie nach dem Tode des Vaters bekommen. Sie alle: Lisa, und die Alte und noch der kleine Bruder, für den man aus dem gleichen Gelde die Schule bezahlen muß, alle drei lebten von den fünfhundert Rubeln; so leben eben andere Leute! Wir beide sind Kapitalisten dagegen! Ich habe ja manches Jahr, wenn es gut geht, beinahe siebenhundert Rubel Einkommen!«
»Höre, Wassja, entschuldige: bei Gott, ich meine es ja nur so ... Ich bin doch wirklich besorgt, daß die Sache nicht auseinandergeht; aber von welchen siebenhundert Rubeln sprichst du? es sind ja im Ganzen nur dreihundert ...«
»Dreihundert!.. So, und Julian Mastakowitsch ist nichts? Hast du den vergessen?«
»Julian Mastakowitsch! Das ist aber eine unsichere Sache; das ist doch etwas ganz anderes als dreihundert Rubel sicheres Jahresgehalt, wo man sich auf jeden Rubel wie auf einen treuen Freund verlassen kann. Julian Mastakowitsch ist freilich ein hervorragender Mensch, ich achte und verstehe ihn, obwohl er so viel höher steht als ich; ich liebe ihn sogar, bei Gott, weil er dich so liebt und dir jede Extraarbeit bezahlt, obwohl er die Möglichkeit hätte, mit diesen Arbeiten irgendeinen Beamten von Amts wegen zu betrauen. Du mußt dir aber sagen, Wassja ... Höre noch folgendes: ich spreche ja wirklich keinen Unsinn; ich will zugeben, daß es in ganz Petersburg keine Handschrift gibt, die mit der deinigen zu vergleichen wäre; das erkenne ich gerne an!« sagte Nefedewitsch nicht ohne Entzücken. »Und doch kann es ja, Gott bewahre, vorkommen, daß du ihm einmal etwas nicht recht machst, oder daß er keine Arbeit mehr zu vergeben hat, oder sich einen andern nimmt ... es kann ja schließlich alles passieren! Heute hast du ihn, und morgen – nicht; bedenke das nur, Wassja ...«
»Höre einmal, Arkascha, ebenso gut kann jetzt über uns die Zimmerdecke einstürzen ...«
»Ja, gewiß, du hast recht, ich meinte es ja nur so ...«
»Nein, hör einmal zu, höre, was ich dir sage: wie kann er mich gehen lassen? Höre mich nur an! Ich erledige ja alles so aufmerksam und zuverlässig, und er ist so gut zu mir; heute hat er mir, höre nur, Arkascha, heute hat er mir fünfzig Silberrubel gegeben!«
»Wirklich, Wassja? Ist es eine Zulage?«
»Keine Zulage! Aus seiner eigenen Tasche hat er es mir gegeben! Er sagte zu mir: ›Du hast, mein Lieber, seit vier Monaten nichts bekommen; wenn du willst, nimm dieses Geld: ich danke dir‹, sagte er, ›denn ich bin mit dir zufrieden‹ ... Bei Gott, das hat er gesagt! ›Du sollst doch nicht umsonst arbeiten!‹ Mir kamen sogar die Tränen! Mein Gott, Arkascha!«
»Sage einmal, Wassja, hast du die zuletzt bestellte Abschrift fertiggemacht?«
»Nein ... noch nicht ganz fertig.«
»Wassinka, mein Engel! Was hast du angerichtet?«
»Das macht nichts, Arkascha, ich habe ja noch zwei Tage Zeit.«
»Ja, warum hast du die Arbeit noch nicht fertig?«
»Nun ja! Du siehst mich mit solcher Leichenbittermiene an, daß sich mir der Magen umdreht und das Herz weh tut! Was ist denn dabei? Du bringst mich immer auf diese Weise um, wenn du zu schreien anfängst: A-a-ah! Überlege dir nur: was ist denn dabei? Ich werde damit noch fertig werden, bei Gott!«
»Und wenn du nicht fertig wirst?« brüllte Arkadij und sprang vom Bette auf. »Erst heute hast du von ihm Geld bekommen! Und du willst heiraten! ... Oh weh!«
»Das macht nichts, ich setze mich gleich an die Arbeit und mache sie fertig. Sei unbesorgt!«
»Wie hast du es versäumen können, Wassja?«
»Ach, Arkascha! Konnte ich denn ruhig hier sitzen bleiben? War ich denn in solcher Stimmung? Selbst in der Kanzlei konnte ich kaum sitzen, so übervoll ist mein Herz! ... Ach! Nun werde ich die heutige Nacht durcharbeiten, ebenso morgen und übermorgen und mache es fertig! ...«
»Ist noch viel übrig geblieben?«
»Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich nicht, schweig!«
Arkadij Iwanowitsch ging auf den Fußspitzen zum Bett und setzte sich hin; nach einer Weile wollte er schon wieder aufstehen, besann sich aber, daß er seinen Freund damit stören könnte und blieb sitzen, obwohl es ihm bei seiner Aufregung sehr schwer fiel: die Nachricht hatte ihn offensichtlich furchtbar aufgeregt, und seine Begeisterung war noch nicht abgekühlt. Er warf Schumkow einen Blick zu; auch dieser warf ihm einen Blick zu, lächelte, drohte mit dem Finger, zog furchtbar die Brauen zusammen (als ob davon seine Kraft und der ganze Erfolg der Arbeit abhingen) und vertiefte sich wieder in die Arbeit.
Auch er schien seine Aufregung noch nicht überwunden zu haben: er wechselte einigemal die Feder, rückte auf seinem Stuhle hin und her, nahm immer neue Stellungen ein, fing immer von neuem an, doch seine Hand zitterte und wollte ihm nicht gehorchen.
»Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!« schrie er plötzlich auf, als wäre es ihm erst eben eingefallen.
»So?« rief Arkascha, »und ich wollte dich gerade danach fragen! Nun?«
»Nun! Ach, ich werde dir alles später erzählen! Bei Gott, es ist meine Schuld; ich hatte eben meinen Vorsatz vergessen, kein Wort zu sprechen, bevor ich nicht vier Bogen abgeschrieben habe. Und nun mußte ich wieder an sie und dich denken. Ich kann, mein Lieber, gar nicht schreiben: muß immer an euch denken ...« Wassja lächelte.
Beide verstummten für eine Weile.
»Pfui! Was für eine elende Feder!« rief Schumkow plötzlich aus und warf die Feder auf den Tisch hin. Er nahm wieder eine neue Feder.
»Wassja! Höre einmal: nur ein Wort ...«
»Gut! Aber schnell und zum allerletztenmal ...«
»Ist dir noch viel übriggeblieben?«
»Ach, mein Lieber! ...« Wassja machte ein Gesicht, als ob es in der Welt nichts Schrecklicheres und Tödlicheres gäbe, als diese Frage. »Es ist noch viel, furchtbar viel!«
»Weißt du, mir kommt eben eine Idee ...«
»Was für eine?«
»Nein, nein, schreibe nur weiter.«
»Nun was denn? Was wolltest du sagen?«
»Die Uhr geht schon auf sieben!«
Nefedewitsch lächelte bei diesen Worten Wassja zu, allerdings etwas unsicher: er wußte nicht, wie Wassja es aufnehmen würde.
»Also was denn?« fragte Wassja. Er hörte sofort zu schreiben auf, blickte ihm gerade in die Augen und erbleichte vor Erwartung.
»Weißt du was?«
»Um Gottes willen, was denn?«
»Weißt du was? Du bist zu aufgeregt und wirst wohl sowieso nicht viel zustandebringen ... Warte, warte, warte, ich weiß schon, was du sagen willst, höre einmal!« sagte Nefedewitsch, in seiner Begeisterung vom Bette aufspringend und Wassja, der etwas entgegnen wollte, unterbrechend, um jedem Einwand zuvorzukommen: »Vor allen Dingen mußt du dich doch beruhigen und dich sammeln! Nicht wahr?«
»Arkascha! Arkascha!« rief Wassja und sprang von seinem Platze auf. »Ich werde die ganze Nacht durcharbeiten, bei Gott, die ganze Nacht!«
»Nun ja, gewiß! Doch gegen Morgen wirst du einschlafen ...«
»Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der Welt ...«
»Nein, nein! Das geht nicht! Du mußt: um fünf Uhr kannst du dich schlafen legen, und um acht werde ich dich wecken. Morgen ist Feiertag; du setzt dich hin und schreibst den ganzen Tag ... und dann wieder die Nacht ... Ist noch viel übriggeblieben?«
»Hier! Schau her!«
Wassja zeigte ihm, vor Erregung und Erwartung zitternd, das Heft: »Schau her!«
»Weißt du, mein Lieber: es ist ja gar nicht viel!«
»Mein Lieber, das ist noch nicht alles: es ist noch etwas da!« sagte Wassja und blickte dabei Nefedewitsch so schüchtern an, als hinge von diesem der Entschluß ab, ob sie hingingen oder nicht.
»Wieviel?«
»Zwei Bogen ...«
»Nun, was meinst du? Ich meine, wir werden damit noch fertig, bei Gott, wir werden fertig!«
»Arkascha!«
»Wassja! Höre einmal! Den Sylvesterabend verbringen doch alle Leute bei bekannten Familien, nur wir beide sind so gottverlassen und wie obdachlos ... Ja, Wassinka!«
Nefedewitsch umarmte Wassja und erdrückte ihn beinahe in seinen Löwentatzen.
»Arkadij, es ist abgemacht!«
»Wassjuk, ich wollte dir nur noch das sagen. Sieh mal, Wassjuk, mein Dicker! Hör einmal! Hör einmal! Du kannst ja ...«
Arkadij hielt mit offenem Munde inne, denn er konnte vor Begeisterung nicht weiter sprechen. Wassja hielt ihn an den Schultern, starrte ihm ins Gesicht und bewegte die Lippen, als wollte er den Satz statt seiner zu Ende sprechen.
»Nun?!« sagte er schließlich.
»Stelle mich ihnen heute vor!«
»Arkadij! Wir wollen heute zum Tee hingehen! Weißt du was? Weißt du was? Bis zwölf wollen wir nicht sitzen bleiben, sondern vorher heimgehen!« rief Wassja in echter Begeisterung.
»Das heißt, wir wollen im ganzen zwei Stunden dort bleiben, nicht mehr und nicht weniger! ...«
»Und dann trennen wir uns, bis ich ganz fertig bin! ...«
»Wassjuk!«
»Arkadij!«
In drei Minuten hatte Arkadij seinen besten Anzug an. Wassja bürstete seinen Anzug nur ab; er hatte ihn noch gar nicht abgelegt: mit solchem Eifer war er soeben an die Schreibarbeit gegangen.
Sie traten eilig auf die Straße hinaus, der eine freudiger als der andere. Ihr Weg ging von der Petersburger Seite zur Kolomna-Vorstadt. Arkadij Iwanowitsch schritt rüstig und energisch aus, so daß man schon an seinem Gang seine Freude über das Glück des sich daran immer mehr berauschenden Wassja merken konnte. Wassja machte kleinere Schritte, trippelte beinahe, bewahrte aber seine Würde vollkommen. Arkadij Iwanowitsch glaubte sogar, noch nie einen so günstigen Eindruck von ihm gehabt zu haben. In diesem Augenblick hatte er sogar mehr Achtung vor ihm als je, und der gewisse körperliche Fehler Wassjas, von dem der Leser noch nichts weiß (Wassja war nämlich etwas schief gewachsen), der im empfindsamen Herzen Arkadij Iwanowitschs immer tiefes Mitgefühl hervorgerufen hatte, trug jetzt noch mehr zum Gefühl inniger Rührung bei, das er in diesen Augenblicken seinem Freunde entgegenbrachte und dessen Wassja selbstverständlich in jeder Beziehung würdig war. Arkadij Iwanowitsch hatte sogar Lust, vor Freude zu weinen, doch er beherrschte sich.
»Wohin, wohin, Wassja? Hier ist es näher!« rief er, als er merkte, daß Wassja die Richtung zum Wosnessenskij-Prospekt einschlagen wollte.
»Schweige, Arkascha, schweige ...«
»Hier ist es wirklich näher, Wassja ...«
»Arkascha, weißt du was?« begann Wassja geheimnisvoll, mit vor Glück bebender Stimme. »Weißt du was? Ich möchte Lisa ein kleines Präsent mitbringen ...«
»Was für eines?«
»Gleich an der nächsten Ecke ist der Laden von Madame Leroux, ein wundervoller Laden!«
»So, so!«
»Es ist ein Häubchen, mein Lieber, ein Häubchen; heute habe ich da ein so liebes, nettes Häubchen gesehen und mich danach erkundigt. Die Façon heißt ›Manon Lescaut‹, es ist wirklich ein Wunderwerk! Die Bänder sind kirschrot, und wenn es nicht zu teuer ist ... Arkascha! Und wenn es auch teuer ist ...«
»Ich glaube, du bist über allen Poeten erhaben, Wassja! Gehen wir also hin!«
Sie eilten weiter und traten nach zwei Minuten in den Laden. Sie wurden von einer Französin mit schwarzen Augen und Lockenfrisur empfangen, die beim ersten Blick auf die Eintretenden ebenso freudig und glücklich wurde, wie diese es waren, womöglich noch freudiger und glücklicher. Wassja hätte Madame Leroux beinahe abgeküßt: so entzückt war er.
»Arkascha!« sagte er leise, mit scheinbar gleichgültigem Blicke all das Schöne und Erhabene musternd, das, auf hölzernen Haubenstöcken prangend, den großen Ladentisch schmückte. »Es sind doch wahre Wunderwerke! Was sagst du zum Beispiel zu dem da? Hier dieses Bonbon meine ich, siehst du es?« flüsterte Wassja, auf ein reizendes Häubchen weisend, das ganz am Rande stand, doch durchaus nicht dasjenige war, das er zu kaufen beabsichtigte; denn er hatte schon von weitem seine Blicke in das andere, berühmte, echte Häubchen gebohrt, das am entgegengesetzten Tischende stand. Er starrte es so an, als hätte er Angst, daß jemand es stehlen könnte oder daß das Häubchen selbst, nur damit es nicht Wassja in die Hände fiele, von seinem Haubenstocke in die Luft wegfliegen würde.
»Dieses da,« sagte Arkadij Iwanowitsch, auf ein anderes Häubchen zeigend, »dieses da ist nach meiner Ansicht das schönste.«
»Ja, Arkascha, das macht dir sogar Ehre; ich bringe dir von nun an für deinen guten Geschmack noch mehr Achtung entgegen,« sagte Wassja: seine Rührung vor Arkascha ging so weit, daß er ihm zuliebe aufrichtiges Entzücken vorspiegelte. »Dein Häubchen ist wirklich reizend. Aber komm einmal her!«
»Wo ist denn ein noch schöneres, mein Lieber?«
»Sieh einmal her!«
»Dieses da?« sagte Arkadij etwas unsicher.
Als aber Wassja, der sich nicht länger beherrschen konnte, das Häubchen vom Ständer nahm, das ihm, gleichsam über den langersehnten guten Käufer erfreut, selbst zuzufliegen schien, als alle die Bänder, Rüschen und Spitzen zu knistern anfingen, – da drang aus der mächtigen Brust Arkadij Iwanowitschs ein Schrei des Entzückens. Selbst Madame Leroux, die während der Wahl ihre ganze Würde und Überlegenheit in Sachen des Geschmacks bewahrt und herablassend geschwiegen hatte, belohnte nun Wassja mit einem Lächeln der Anerkennung, und alles in ihr, in ihren Blicken, in ihren Gesten und in ihrem Lächeln schien zu sagen: »Ja, Sie haben das Richtige getroffen und sind des Glückes wert, das Sie erwartet!«
»Es hat ja in seiner Einsamkeit kokettiert!« rief Wassja aus, der nun seine ganze Liebe auf das reizende Häubchen übertrug. »Es hat sich mit Absicht versteckt, das Täubchen, das Schelmchen!« Und er küßte das Häubchen, oder vielmehr die Luft, die es umgab: denn er fürchtete, seine Kostbarkeit auch nur zu berühren.
»So verbirgt sich auch das wahre Verdienst und die echte Tugend,« setzte Arkadij ganz begeistert hinzu: diese Phrase hatte er am Morgen in einer geistvollen Zeitung gelesen und tischte sie nun des humoristischen Effektes wegen auf. »Also was meinst du, Wassja?«
»Hurra, Arkascha! Du bist heute auch geistreich, du wirst Furore machen, wie es die Damen nennen, – ich prophezeie es dir! – Madame Leroux, Madame Leroux!«
»Was steht zu Diensten?«
»Meine liebe Madame Leroux!«
Madame Leroux blickte Arkadij Iwanowitsch an und lächelte etwas herablassend.
»Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick verehre ... Gestatten Sie, daß ich Sie küsse ...« Und Wassja umarmte und küßte die Verkäuferin.
Sie mußte in diesem Augenblick unbedingt ihre ganze Würde zusammennehmen, um sich dem Attentäter gegenüber nichts zu vergeben. Ich behaupte aber, daß dazu auch die ganze angeborene natürliche Liebenswürdigkeit und Grazie gehört, mit der Madame Leroux den Ausbruch von Wassjas Begeisterung hinnahm. Sie verzieh ihm. Und wie geschickt, wie graziös fand sie sich in die Situation! Wie könnte man auch Wassja zürnen?
»Madame Leroux, wie hoch ist der Preis?«
»Fünf Silberrubel,« antwortete sie, sich ihre Frisur in Ordnung bringend und wieder lächelnd.
»Und dieses da, Madame Leroux?« fragte Arkadij Iwanowitsch, auf das von ihm gewählte Häubchen weisend.
»Dieses kostet acht Silberrubel.«
»Erlauben Sie einmal, erlauben Sie einmal! Sie werden doch zugeben, Madame Leroux ... Nun welches Häubchen ist nach Ihrer Meinung schöner, graziöser, liebenswürdiger, welches sieht Ihnen ähnlicher?«
»Jenes ist etwas reicher, doch das von Ihnen Gewählte – c'est plus coquet.«
Madame Leroux schlug das Häubchen in einen Bogen unendlich feinen Seidenpapiers ein, das sie mit einer Nadel zusammensteckte, und das Papier mit dem darin eingewickelten Häubchen schien nun leichter geworden zu sein, als es vorher ohne Häubchen gewesen war. Wassja nahm das Paket mit verhaltenem Atem, sehr vorsichtig in die Hand, verabschiedete sich von Madame Leroux, sagte ihr noch etwas höchst Liebenswürdiges und verließ den Laden.
»Ich bin ein Lebemann, Arkascha, ich bin zum Lebemann geboren!« schrie Wassja lachend. Er lachte wie in einem Krampfe, nervös und kaum hörbar. Dabei wich er den Passanten aus, denn er hatte sie alle ohne Ausnahme im Verdacht, ihm sein kostbares Häubchen zerknüllen zu wollen.
»Höre einmal, Arkadij, höre!« begann er eine Minute später, und eine große Feierlichkeit, eine unsagbare Liebesseligkeit klang aus seiner Stimme. »Arkadij, ich bin so glücklich, so glücklich!«
»Wassinka, und wie glücklich bin ich, mein Lieber!«
»Nein, Arkascha, nein! Deine Liebe zu mir ist grenzenlos, – ich weiß es, doch du kannst nicht auch den zehnten Teil von dem empfinden, was ich jetzt empfinde. Mein Herz ist so übervoll!! Arkascha, ich bin ja meines Glückes gar nicht wert! Ich fühle es, ich ahne es. Womit habe ich es verdient,« sagte er mit tränenerstickter Stimme, »was habe ich geleistet, das mir ein Recht darauf gibt? Sage es mir nur! Sieh nur hin, wieviel Menschen es gibt, wieviel Tränen, wieviel Kummer, wieviel grauen Alltag ohne Feste! Und ich! Ich werde von einem solchen Mädchen geliebt, ich ... Doch du wirst sie gleich selbst sehen, wirst ihr edles Herz selbst kennen lernen. Ich bin von niedriger Herkunft, doch jetzt habe ich einen Beamtenrang und ein unabhängiges Einkommen – mein Gehalt. Ich bin mit einem Gebrechen auf die Welt gekommen: ich bin etwas schief gewachsen. Und siehe: sie liebt mich so wie ich bin. Julian Mastakowitsch war heute so zärtlich, so aufmerksam, so höflich zu mir; er spricht ja sonst fast nie mit mir; heute ging er aber auf mich zu und sagte: ›Nun, Wassja,‹ (bei Gott: er sprach mich mit Wassja an), ›du wirst wohl in den Feiertagen ordentlich bummeln?‹ (Und dabei lachte er!)
Und ich sagte ihm: ›Exzellenz,‹ sagte ich, ›ich habe ja zu tun!‹ Doch dann faßte ich mir Mut und sagte: ›Vielleicht werde ich mich auch etwas amüsieren, Exzellenz!‹ Bei Gott, das sagte ich ihm. Er gab mir sofort Geld und richtete an mich noch einige Worte. Ich war, mein Lieber, so gerührt, daß mir Tränen in die Augen traten; er war anscheinend auch etwas gerührt; er klopfte mich auf die Schulter und sagte: ›Sei immer so dankbar und ergeben, wie du es jetzt bist, Wassja!‹«
Wassja verstummte für ein Weile. Arkadij Iwanowitsch wandte sich weg und wischte sich gleichfalls einige Tränen aus den Augen.
»Und dann noch etwas ...,« sagte Wassja fortfahrend. »Ich habe es dir ja noch niemals gesagt, Arkadij ... Arkadij! Du beglückst mich so sehr mit deiner Freundschaft, ohne dich könnte ich gar nicht leben, – nein, nein, widersprich mir nicht! Laß mich deine Hand drücken, laß mich dir danken ...« Wassja kam nicht weiter.
Arkadij Iwanowitsch wollte schon Wassja um den Hals fallen; da sie aber gerade die Straße überquerten und plötzlich dicht hinter ihren Ohren den warnenden Schrei eines Kutschers: »A – achtung!« hörten, liefen sie beide erregt und erschrocken, so schnell sie konnten, aufs Trottoir. Arkadij Iwanowitsch war über diesen Zwischenfall sogar froh. Er entschuldigte Wassjas Erguß von Dankbarkeit nur mit der ganz außergewöhnlich gehobenen Stimmung, in der sich dieser augenblicklich befand. Denn er selbst machte sich Vorwürfe, daß er bisher so wenig für seinen Freund getan hatte! Er schämte sich sogar, als Wassja ihm für die wenigen Gefälligkeiten, die er ihm erwiesen, zu danken begann! Er hatte aber noch sein ganzes Leben vor sich: bei diesem Gedanken atmete Arkadij Iwanowitsch wieder freier auf ...
Man hatte schon jede Hoffnung aufgegeben, daß sie kommen würden. Ein Beweis: man saß bereits am Teetische! Doch ältere Leute haben oft einen richtigeren Instinkt als die Jugend, und als was für eine Jugend! Lisa hatte ja ganz ernsthaft behauptet: »Er wird nicht kommen, Mamachen, mein Herz fühlt es, daß er nicht kommen wird.« Doch Mamachen sagte immer wieder, sie habe im Gegenteil das Gefühl, daß er unbedingt kommen werde: daß er keine Ruhe finden und herbeieilen würde, um so mehr als er am Sylvester dienstfrei habe! Doch Lisa glaubte noch immer nicht, selbst als sie die Türe öffnete, und sie traute ihren Augen nicht, als die beiden eintraten. Sie war vor Erregung ganz atemlos; ihr Herzchen begann plötzlich wie bei einem eingefangenen Vöglein zu klopfen, und sie wurde so rot wie eine Kirsche, mit der sie auch sonst einige Ähnlichkeit hatte. Mein Gott, diese Überraschung! Was für ein freudiges »Ach!« flog ihr von den Lippen! »Du Treuloser! Du Lieber!« rief sie, Wassenka umarmend ... Doch stellen Sie sich vor, wie sie plötzlich erstaunte und verlegen wurde: gerade hinter Wassjas Rücken stand, etwas verlegen, als wollte er sich hinter seinem Freund verstecken, Arkadij Iwanowitsch. Ich muß an dieser Stelle bemerken, daß Arkadij Iwanowitsch sich in Damengesellschaft immer etwas unsicher fühlte; es passierte ihm sogar einmal ... Doch davon später. Versuchen Sie sich nur in seine Lage zu versetzen! Es ist wirklich nicht zum Lachen! Er steht im Vorzimmer in Galoschen und Mantel, will sich seine Mütze mit den Ohrenklappen vom Kopfe reißen, und sein Kopf ist ganz mit einem entsetzlichen gelben gestrickten Schal umwickelt, der zum größeren Effekt im Nacken verknotet ist. Das alles muß er nun entwirren, aufbinden, um so bald als möglich in vorteilhafterer Gestalt zu erscheinen, denn es gibt keinen Menschen, der nicht wünschte, möglichst vorteilhaften Eindruck zu machen. Und neben ihm steht der unausstehliche und unerträgliche, andererseits natürlich der sonst so liebe und gute Wassja, doch in diesem Augenblick – der unerträgliche und erbarmungslose, und schreit: »Hier ist mein Arkadij, Lisa! Wie gefällt er dir? Er ist mein bester Freund! Umarme und küsse ihn, liebe Lisa! Gib ihm zuerst einen Kuß; und wenn du ihn später näher kennen lernst, wirst du ihm noch mehr Küsse geben ...« Wie gefällt das Ihnen? Ich frage: was blieb dem Arkadij Iwanowitsch zu tun übrig? Und er hatte seinen Schal erst zur Hälfte aufgebunden! Ich muß mich manchmal selbst für Wassjas übertriebene Begeisterung schämen; sie ist ja meistens der Beweis für Herzensgüte, doch immerhin ... Es war peinlich und ungeschickt!
Endlich traten sie in den Salon ... Die alte Dame war unsagbar erfreut, Arkadij Iwanowitsch kennen zu lernen; sie hätte ja schon so viel von ihm gehört, sie ... Sie kam nicht weiter. Ein helles, freudiges »Ach!«, das plötzlich ertönte, unterbrach sie mitten im Satze. Mein Gott! Lisa stand mit kindlich gefalteten Händen vor dem Häubchen, das plötzlich aus seiner Umhüllung zum Vorschein gekommen war, und lächelte, lächelte ... Mein Gott! Warum hat es bei Madame Leroux nicht ein noch viel schöneres Häubchen gegeben?!
Aber, mein Gott, wo kann man denn auch ein schöneres Häubchen finden? Ich meine es durchaus ernst! Mich ärgert und kränkt es sogar, wenn Verliebte so undankbar sind! Schauen Sie nur her, meine Herrschaften, und sagen Sie selbst, ob es überhaupt etwas Schöneres als dieses entzückende, göttliche Häubchen geben kann! Bitte, schauen Sie es sich nur an! Doch nein, nein, meine Vorwürfe sind unbegründet: sie sind mit mir bereits alle einverstanden; es war nur eine momentane Verirrung, ein Fieberanfall, der ihre Sinne verwirrte; und ich will ihnen gerne verzeihen ... Schauen Sie es sich dennoch an! ... Sie müssen mich schon entschuldigen, meine Herrschaften, ich spreche noch immer von diesem Häubchen: es ist aus ganz leichtem Tüll, zwischen dem Kopfteil und der Rüsche läuft ein breites, von einer Spitze verdecktes kirschrotes Band, und zwei weitere breite und lange Bänder sind rückwärts angebracht: sie werden etwas unterhalb des Nackens auf den Hals herabfallen ... Man muß das ganze Häubchen etwas in den Nacken rücken: schauen Sie nur her! Und ich werde Sie dann nach Ihrer Ansicht fragen! Ich sehe aber, daß Sie gar nicht hinschauen! Das Häubchen scheint Sie gar nicht zu interessieren ... Sie haben Ihren Blick auf etwas anderes gerichtet ... Sie sehen, wie zwei große perlengleiche Tränen blitzschnell in die pechschwarzen Augen treten, wie sie einen Augenblick in den langen Wimpern zittern und dann in dieses Nichts, das eigentlich Tüll ist und aus dem das Kunstwerk der Madame Leroux gebildet ist, herabfallen. Doch ich muß mich schon wieder ärgern: diese beiden Tränen galten anscheinend nicht nur dem Häubchen allein! Nein, so einen Gegenstand soll nur ein ganz kaltblütiger Mensch schenken; nur dann kann man seinen Wert richtig einschätzen! Ich muß gestehen, meine Herrschaften, ich gäbe für das Häubchen alles her!
Man nahm Platz: Wassja neben Lisa, und das alte Mütterchen neben Arkadij Iwanowitsch; ein Gespräch kam in Fluß, und Arkadij Iwanowitsch war der Situation durchaus gewachsen. Ich stelle dies mit Genugtuung fest. Nach einigen einleitenden Worten über Wassja, brachte er das Gespräch sehr geschickt auf Wassjas Wohltäter – Julian Mastakowitsch. Und er sprach so klug, so klug, daß das Gespräch eine ganze Stunde im Flusse blieb. Man muß es wirklich mit angehört haben, mit welchem Geschick und Takt Arkadij Iwanowitsch einige Eigentümlichkeiten Julian Mastakowitschs streifte, die eine direkte oder indirekte Beziehung zu Wassja hatten. Die alte Dame war nun auch wirklich ganz bezaubert: sie gestand es auch selbst ein; sie rief Wassja etwas zur Seite und sagte ihm, daß sein Freund ein ganz ausgezeichneter und wohlerzogener junger Mann sei; vor allen Dingen aber ein ernster und solider junger Mann. Wassja war nahe daran, vor Entzücken aufzulachen. Er mußte denken, wie dieser solide Arkascha ihn eine viertel Stunde lang auf dem Bette gewürgt hatte! Die alte Dame zwinkerte Wassja zu und bat ihn, ihr leise und unbemerkt in das andere Zimmer zu folgen. Ich muß gestehen, daß ihre Handlungsweise gegen Lisa nicht ganz einwandfrei war: von überschwenglichen Gefühlen verleitet, beging sie einen Treuebruch an ihrer Tochter und zeigte Wassja das Geschenk, das diese ihm als Überraschung zu Neujahr zugedacht hatte. Es war eine mit Glasperlen und Gold bestickte Brieftasche; die Zeichnung war entzückend: auf der einen Seite war ein sehr schnell rennender Hirsch dargestellt, so natürlich, so ungemein ähnlich und lebenswahr! Auf der anderen Seite war das Bildnis eines sehr bekannten Generals gestickt, gleichfalls vorzüglich ausgeführt und sprechend ähnlich. Von Wassjas Entzücken will ich schon gar nicht reden. Doch auch die im Salon Zurückgebliebenen hatten ihre Zeit nicht unnütz vergeudet. Lisa war auf Arkadij Iwanowitsch zugegangen, hatte seine beiden Hände ergriffen und ihm für irgend etwas gedankt; Arkadij Iwanowitsch hatte begriffen, daß die Rede wiederum vom teuren Wassja war. Lisa war sogar tief gerührt: sie hätte gehört, daß Arkadij Iwanowitsch ein so guter und aufrichtiger Freund ihres Bräutigams sei, daß er ihn so liebte, bemutterte und auf Schritt und Tritt mit seinen heilsamen Ratschlägen begleitete; darum könne sie, Lisa, nicht umhin, ihm zu danken; ja, sie könne das Gefühl ihrer Dankbarkeit gar nicht unterdrücken; sie hoffe, daß Arkadij Iwanowitsch auch sie liebgewinnen würde, und wenn auch nur halb so wie er seinen Freund liebte. Dann erkundigte sie sich, ob Wassja seine Gesundheit genügend schone, äußerte einige Bedenken wegen der allzugroßen Entzündbarkeit von Wassjas Charakter, wegen seines Mangels an Menschenkenntnis sowie seiner Unkenntnis des praktischen Lebens überhaupt; sagte, daß sie hingebungsvoll auf ihn aufpassen und sein Schicksal mit liebevoller Hand leiten würde, und daß sie schließlich hoffe, Arkadij Iwanowitsch werde sie beide nicht verlassen, sondern bei ihnen wohnen.
»Wir wollen alle drei wie ein Mensch sein!« rief sie in naiver Begeisterung aus.
Doch die Gäste mußten aufbrechen. Man versuchte natürlich, sie zurückzuhalten, Wassja erklärte aber mit aller Entschiedenheit, daß es nicht ginge. Arkadij Iwanowitsch bestätigte dies. Man fragte sie selbstverständlich nach den Gründen, und nun kam es heraus, daß Julian Mastakowitsch Wassja mit einer höchst dringenden und furchtbar wichtigen Arbeit betraut hatte, die unbedingt übermorgen früh abgeliefert werden mußte, während Wassja diese Arbeit nicht nur nicht fertig gemacht habe, sondern auch furchtbar im Rückstande sei. Mütterchen schrie vor Entsetzen förmlich auf; auch Lisa erschrak sehr; sie wurde unruhig und drängte Wassja zum Gehen. Der Abschiedskuß hat aber unter dieser Eile nicht im geringsten gelitten: er war kürzer und hastiger, dafür aber glühender und leidenschaftlicher. Schließlich trennte man sich, und beide Freunde traten den Heimweg an.
Sobald sie auf der Straße waren, begannen sie sofort ihre Eindrücke auszutauschen. Das war ja durchaus natürlich: Arkadij hatte sich bereits sterblich in Lisa verliebt! Und wem sollte er es anvertrauen, wenn nicht dem Glückspilz Wassja? Er tat es auch ganz ohne Bedenken und gestand Wassja alles. Wassja mußte furchtbar lachen und war ganz außer sich vor Freude; er meinte sogar, daß die Verliebtheit Arkadijs durchaus nicht überflüssig sei und daß sie beide von nun an noch bessere Freunde sein würden als zuvor. »Du hast mich richtig verstanden, Wassja,« sagte Arkadij Iwanowitsch: »ich liebe sie genau so wie dich; sie wird mein Schutzengel sein ebenso wie der deinige, denn euer Glück wird sich auch über mich ergießen, und ich werde mich in seinen Strahlen wärmen. Sie wird auch meine Hausfrau sein, Wassja. In ihren Händen wird mein Glück ruhen; ich möchte, daß sie auch in meinem Leben ebenso walten wie in dem deinigen. Ja, meine Freundschaft zu dir ist zugleich auch die Freundschaft zu ihr; ihr beide seid jetzt für mich unzertrennbar; nur werde ich jetzt zwei solche Wesen wie du haben, statt des einen ...« Arkadij konnte vor Aufregung nicht weiter sprechen, während Wassja durch diese Worte bis ins Innerste seiner Seele erschüttert war. Er hatte nämlich von Arkadij niemals solche Worte erwartet. Arkadij Iwanowitsch verstand ja sonst gar nicht zu sprechen und war allen Schwärmereien abhold; jetzt baute er auf einmal Luftschlösser, das eine freudiger, lichter und kühner als das andere! »Wie werde ich für euch sorgen und euch bemuttern!« begann er von neuem. »Erstens werde ich der Taufpate aller deiner Kinder sein, Wassja, aller ohne Ausnahme; und zweitens – muß man auch an die Zukunft denken. Man muß Möbel kaufen, eine Wohnung mieten und zwar eine solche, daß jeder von uns dreien ein Zimmer für sich hat. Weißt du, Wassja, ich will gleich morgen gehen, die Zettel an den Haustoren studieren. Drei ... nein – zwei Zimmer, mehr brauchen wir nicht. Ich glaube sogar, Wassja, daß ich Unsinn gesprochen habe: das Geld wird euch schon reichen; ganz gewiß! Als ich ihr vorhin in die Äuglein blickte, rechnete ich im Nu aus, daß das Geld reichen wird. Alles für sie! Ach, wie wir nun arbeiten werden! Man muß riskieren und fünfundzwanzig Rubel für die Wohnung auswerfen. Denn die Wohnung bedeutet alles! Wenn man gute Zimmer hat, so ist man auch gut gelaunt und hat angenehme Gedanken! Zweitens, wird Lisa unsere gemeinsame Kasse verwalten: es darf keine Kopeke unnütz ausgegeben werden! Daß ich jetzt wieder einmal ins Wirtshaus gehe? Für wen hältst du mich eigentlich? Um nichts in der Welt! Auch wird es Gehaltszulagen und Gratifikationen geben, denn wir werden jetzt mit doppeltem Eifer arbeiten. Herrgott, wie wir arbeiten werden! Wie die Ochsen! Nun stelle dir vor,« – Arkadij Iwanowitschs Stimme wurde vor Seligkeit ganz matt, »stelle dir vor, daß jeder von uns so ganz unerwartet dreißig oder fünfundzwanzig Rubel als Gratifikation bekommt! Jede Gehaltszulage bedeutet aber ein neues Häubchen, oder Tüchlein, oder ein Paar Strümpfchen! Sie muß mir, übrigens, unbedingt einen neuen Schal stricken; schau, wie der meinige aussieht: gelb, ekelhaft; heute hat er mir genug Kummer gemacht! Auch du bist gut, Wassja! Stellst mich ihr vor, während ich in diesem Kummet dastehe ... Doch das gehört nicht zur Sache! Weißt du: das ganze Silber nehme ich auf mich! Ich muß ja euch ein Hochzeitsgeschenk machen, – das verlangt meine Ehre und meine Selbstachtung! Eine Neujahrszulage kriege ich ja sicher; wem wird man sie denn sonst geben? Vielleicht dem Skorochodow? Das Geld würde bei ihm nicht lange in der Tasche bleiben. Ich will euch silberne Löffel kaufen, gute Tafelmesser, keine aus Silber, aber vortreffliche Messer, und eine Weste; d. h. die Weste für mich selbst, denn ich will ja euer Trauzeuge sein! Du mußt dich aber jetzt zusammennehmen, mein Lieber! Von heute ab werde ich dich Tag und Nacht mit dem Stock antreiben, auf dich aufpassen, dir keinen Augenblick Ruhe geben, bis du mit der Arbeit fertig bist! Du mußt sie schnell fertig machen! Und wenn du fertig bist, gehen wir wieder abends hin, und werden beide glücklich sein, werden Lotto spielen, – Gott, wird das herrlich sein! Pfui, Teufel! Wie schade, daß ich dir nicht helfen kann. Ich würde mich einfach hinsetzen und alles statt deiner fertig schreiben ... Warum haben wir nicht die gleiche Handschrift?«
»Ja!« sagte Wassja. »Ja! Ich muß mich beeilen ... An die Arbeit!« Bei diesen Worten wurde Wassja, der die ganze Zeit über bald gelacht, bald die Ergüsse seines Freundes mit irgendeiner Zwischenbemerkung zu unterbrechen versucht hatte und, mit einem Worte, die größte Begeisterung für alles gezeigt hatte, plötzlich nachdenklich, schweigsam und still und begann zu rennen. Es war, als ob irgendein schwerer Gedanke seinen glühenden Kopf mit Eis abgekühlt hätte; als ob sein Herz zusammengeschrumpft wäre.
Arkadij Iwanowitsch wurde sogar unruhig; auf seine hastigen Fragen bekam er fast keine Antwort von Wassja; dieser reagierte nur mit wenigen Worten, und Ausrufen, die zuweilen gar nicht zur Sache gehörten. »Was hast du nur, Wassja?« rief er schließlich aus, als er ihn mit großer Mühe einholte. »Bist du denn so um deine Arbeit besorgt?« – »Ach, mein Lieber, wir haben genug geschwatzt!« entgegnete Wassja ärgerlich. »Wassja, verzage nicht, beruhige dich!« unterbrach ihn Arkadij Iwanowitsch: »Wie oft habe ich schon gesehen, daß du ein viel größeres Pensum in viel kürzerer Frist bewältigt hast ... Das macht dir wirklich keine Mühe! Du hast doch eine solche Begabung! Im äußersten Falle kannst du einfach das Schreibtempo beschleunigen: deine Abschrift soll doch nicht als eine Vorlage für den Schönschreibeunterricht lithographiert werden! Du wirst schon fertig werden! Jetzt bist du eben etwas aufgeregt und zerstreut, und die Arbeit wird anfangs etwas schwieriger vonstatten gehen ...« Wassja gab keine Antwort, oder brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Endlich erreichten beide, von Unruhe gepeinigt, ihre Wohnung.
Wassja setzte sich sofort an die Arbeit. Arkadij Iwanowitsch wurde ganz still, zog sich leise aus und legte sich ins Bett, ohne seine Blicke auch nur für einen Augenblick von Wassja zu wenden ... Ihn überfiel eine eigentümliche Angst ... »Was ist mit ihm los?« fragte er sich, Wassjas blasses Gesicht, brennende Augen und unruhige Bewegungen betrachtend. »Seine Hand zittert ... Verflucht! Soll ich ihm am Ende zureden, daß er sich für etwa zwei Stunden hinlegt, damit er wenigstens seine Aufregung ausschläft? ...« Wassja hatte gerade eine Seite beendet; er hob die Augen, doch als sein Blick zufällig Arkadij traf, schlug er sie sofort nieder und ergriff von neuem die Feder.
»Höre einmal, Wassja,« begann plötzlich Arkadij Iwanowitsch, »wäre es nicht besser, wenn du etwas ausruhtest? Sieh nur: du bist wie im Fieber! ...« Wassja warf Arkadij einen ärgerlichen, sogar gehässigen Blick zu und erwiderte nichts.
»Höre einmal, Wassja, was machst du mit dir?« Wassja schien plötzlich zur Vernunft gekommen zu sein.
»Sollte ich nicht etwas Tee trinken, was meinst du, Arkascha?« sagte er.
»Warum? Wozu?«
»Das kann mich etwas stärken. Ich will nicht mehr schlafen, ich werde nicht schlafen! Ich werde die Nacht durcharbeiten. Beim Teetrinken kann ich mich etwas erholen und den schweren Augenblick überstehen.«
»Ausgezeichnet, mein Lieber! Glänzend! Ich wollte eben dasselbe vorschlagen. Ich wundere mich nur, daß ich nicht schon früher auf diesen Gedanken kam. Weißt du aber was? Mawra wird nicht aufstehen wollen, sie wird um nichts in der Welt aufwachen ... «
»Ja!«
»Unsinn! Das macht nichts!« schrie Arkadij Iwanowitsch auf und sprang barfuß wie er war aus dem Bette. »Ich werde selbst den Samowar bereiten. Das ist doch wirklich nicht das erste Mal!«
Arkadij Iwanowitsch lief in die Küche und machte sich am Samowar zu schaffen; Wassja schrieb indessen weiter. Arkadij Iwanowitsch kleidete sich an und lief in eine Bäckerei, damit Wassja sich zur Nacht ordentlich stärken könnte. Nach einer Viertelstunde stand der Samowar auf dem Tisch. Sie tranken Tee, doch ein Gespräch wollte nicht zustande kommen. Wassja war zu zerstreut.
»Ja,« sagte er plötzlich, wie zur Besinnung kommend, »morgen muß ich ja Neujahrsvisiten machen ...«
»Du mußt gar nicht!«
»Nein, mein Lieber, es geht einfach nicht anders!« sagte Wassja.
»Ich will mich statt deiner bei allen Vorgesetzten in die Gratulantenlisten eintragen. Brauchst gar nicht auszugehen. Bleibe nur zu Hause und schreibe. Ich würde dir raten, heute bis fünf Uhr aufzubleiben und dann schlafen zu gehen. Wie wirst du denn sonst morgen aussehen? Ich werde dich dann um punkt acht Uhr wecken ...«
»Geht denn das, daß du dich für mich in die Listen einträgst?« wandte Wassja ein, der mit dem Vorschlag schon halb einverstanden war.
»Warum denn nicht? So machen es alle!«
»Ich fürchte ...«
»Was fürchtest du?«
»Bei den andern ginge es ja noch; doch bei Julian Mastakowitsch – er ist ja mein Wohltäter, Arkascha! Und wenn er merkt, daß es nicht meine Handschrift ist ...«
»Du glaubst, daß er das merkt? Du bist wirklich sonderbar, Wassjuk! Wie kann er es merken? Du weißt ja, daß ich deine Namensunterschrift täuschend ähnlich nachmachen kann und sogar dieselbe Schleife anhänge wie du sie machst, bei Gott! Laß das! Wer kann das merken?«
Wassja antwortete nichts und trank eilig sein Glas aus. Dann schüttelte er zweifelnd den Kopf.
»Wassja, mein Lieber! Wenn das uns doch gelingen würde! Wassja, was ist mit dir? Du machst mir angst! Weißt du, Wassja, jetzt werde ich mich gar nicht mehr hinlegen, denn ich werde nicht einschlafen können. Zeig mir: ist dir noch viel übriggeblieben?«
Wassja warf Arkadij Iwanowitsch einen solchen Blick zu, daß diesem das Herz still stand und der Atem stockte.
»Wassja! Was ist mit dir? Was hast du? Was siehst du mich so an?«
»Arkadij! Ich werde morgen zu Julian Mastakowitsch gehen und gratulieren!«
»Gut! Gehe meinetwegen!« sagte Arkadij, ihn erwartungsvoll anblickend. »Höre, Wassja, beschleunige das Tempo: ich werde dir doch nichts Schlechtes raten, bei Gott! Wie oft hat dir schon Julian Mastakowitsch selbst gesagt, daß ihm an deiner Handschrift am meisten die Leserlichkeit gefällt! Nur Skoropljochin verlangt, daß die Handschrift leserlich und zugleich auch kalligraphisch sei, doch nur um später irgendein Papier auf die Seite zu schaffen und es seinen Kindern als Schönschreibvorlage nach Hause zu bringen; als ob sich der Schafskopf nicht richtige Vorlagen kaufen könnte! Doch Julian Mastakowitsch verlangt nur das eine: Leserlichkeit! ... Was willst du noch mehr? Ich weiß schon gar nicht, Wassja, wie ich mit dir sprechen soll ... Ich habe sogar Angst ... Du bringst mich mit deinem Trübsinn um!«
»Es ist nichts, es ist nichts ...« sagte Wassja und fiel ermattet in seinen Sessel zurück. Arkadij wurde unruhig.
»Willst du Wasser? Wassja! Wassja!«
»Nein, laß nur,« sagte Wassja, ihm die Hand drückend. »Es ist nichts ... Mir wurde etwas traurig zumute, Arkadij ... Ich weiß selbst nicht warum ... Höre einmal, sprich doch lieber von etwas anderem, erinnere mich nicht daran ...«
»Beruhige dich, Wassja, beruhige dich, um Gottes willen! Du wirst schon fertig! Bei Gott, du wirst fertig! Und wenn du sogar nicht fertig wirst, so ist es auch kein großes Unglück! Das wäre doch wirklich kein Verbrechen!«
»Arkadij!« sagte Wassja und blickte dabei seinen Freund so bedeutungsvoll an, daß dieser noch mehr erschrak; er hatte Wassja noch nie in solcher Unruhe gesehen. »Wäre ich allein, wie früher ... Nein, das ist nicht das Richtige! ... Ich will dir ja alles sagen und anvertrauen wie einem Freunde ... warum soll ich dich, übrigens, beunruhigen? ... Siehst du, Arkadij: den Einen ist viel gegeben, und die Andern verrichten nur Geringes, wie ich. Nun stelle dir vor, daß man von dir ein Zeichen der Dankbarkeit und Anerkennung verlangt, und du es nicht geben kannst? ...«
»Wassja, ich verstehe dich wirklich nicht!«
»Ich bin niemals undankbar gewesen,« fuhr Wassja fort, als redete er zu sich selbst. »Doch wenn ich nicht die Kraft habe, alles auszudrücken, was ich sagen will, so sieht es so aus, als ob ... Das sieht so aus, Arkadij, als ob ich wirklich undankbar wäre, und das bringt mich um.«
»Was sagst du da! Besteht denn deine ganze Dankbarkeit nur darin, daß du die Arbeit rechtzeitig ablieferst! Überlege dir selbst, was du sagst! Drückt man denn seine Dankbarkeit auf diese Weise aus?«
Wassja verstummte plötzlich und sah Arkadij mit großen Augen an, als hätte dessen unerwartetes Argument alle seine Bedenken zerstreut. Er lächelte sogar, nahm aber sofort wieder seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck an. Arkadij, der dieses Lächeln als das Ende aller Angst, und die neue Unruhe als einen Entschluß zu etwas Besserem auffaßte, war außerordentlich erfreut.
»Also, lieber Arkascha,« sagte Wassja, »wenn du während der Nacht aufwachst, so schaue nach mir: denn wenn ich einschlafe, gibt es ein Unglück. Und jetzt mache ich mich an die Arbeit ... Arkascha!«
»Was denn?«
»Nein, nichts ... Ich wollte nur ...«
Wassja setzte sich an die Arbeit, und Arkadij legte sich zu Bett. Weder der eine noch der andere hatte auch nur ein Wort von ihrem Besuch in der Kolomna-Vorstadt fallen lassen. Vielleicht fühlten sie sich beide etwas schuldig, weil sie den Nachmittag geopfert hatten. Arkadij schlief bald ein, bange Sorge um Wassja im Herzen. Zu seinem Erstaunen erwachte er um punkt acht Uhr. Wassja schlief auf seinem Stuhl, die Feder in der Hand, ganz blaß und erschöpft; die Kerze war niedergebrannt. In der Küche machte sich Mawra am Samowar zu schaffen.
»Wassja! Wassja!« rief Arkadij erschrocken aus: »Wann bist du eingeschlafen?«
Wassja schlug die Augen auf und sprang vom Stuhl.
»Ach!« sagte er, »nun bin ich also doch eingeschlafen!«
Er stürzte sofort zu seinen Papieren: alles war in bester Ordnung. Auf den Papieren gab es weder Tintenklexe, noch Talgflecken von der Kerze.
»Ich glaube, ich bin so gegen sechs eingeschlafen,« sagte Wassja. »Wie kalt es doch in der Nacht ist! Nun wollen wir Tee trinken, und dann fange ich wieder an ...«
»Nun, hat dich der Schlaf gestärkt?«
»Ja, ja, jetzt geht es!«
»Prosit Neujahr, Wassja!«
»Guten Morgen, mein Freund, guten Morgen! Auch ich wünsche dir alles Gute zum Neuen Jahr!«
Sie umarmten sich. Wassjas Kinn zitterte, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Arkadij Iwanowitsch schwieg: es war ihm recht bitter zumute. Beide tranken ihren Tee hastig herunter ...
»Arkadij! Ich habe mich entschlossen: ich gehe selbst zu Julian Mastakowitsch ...« »Er wird es doch gar nicht merken ...«
»Ich habe beinahe Gewissensbisse, mein Lieber.«
»Du sitzt doch seinetwegen da und richtest dich seinetwegen zugrunde ... Tue es lieber nicht! ... Und ich werde zu ihnen gehen ...«
»Zu wem?« fragte Wassja.
»Zu den Artemjews, ich werde auch in deinem Namen gratulieren.«
»Mein Lieber, mein Guter! Ja! Und ich werde hier bleiben. Dein Einfall ist wirklich gut; ich arbeite ja und vertrödele meine Zeit nicht! Warte nur einen Augenblick: ich werde gleich einen Brief schreiben.«
»Schreibe ihn nur, mein Lieber, schreibe! Ich werde mich inzwischen waschen und rasieren und den Frack abbürsten. Ja, Freund Wassja, nun werden wir beide zufrieden und glücklich sein. Umarme mich, Wassja!«
»Ach, wenn nur alles gut ausginge!«
»Wohnt hier der Herr Beamte Schumkow?« ertönte eine Kinderstimme auf der Treppe.
»Hier, Väterchen, hier!« antwortete Mawra und ließ den Gast eintreten.
»Wer ist da? Wer?« rief Wassja, von seinem Platz aufspringend und ins Vorzimmer stürzend. »Bist du es, Petinka?« »Guten Morgen, Wassilij Petrowitsch, habe die Ehre, Ihnen ein glückliches Neues Jahr zu wünschen!« sagte ein reizender etwa zehnjähriger Bengel mit schwarzen Locken. »Mein Schwesterchen läßt grüßen, Mamachen ebenfalls, und Schwesterchen hat mich beauftragt, Sie von ihr zu küssen ...«
Wassja hob den Boten in die Luft und drückte auf seine Lippen, die den Lippen Lisas ungemein ähnlich sahen, einen langen, honigsüßen, leidenschaftlichen Kuß.
»Küsse auch du, Arkadij!« sagte er zu seinem Freund, ihm Petja übergebend; und Petja wanderte, ohne die Erde zu berühren, in die mächtige und wirklich gierige Umarmung Arkadij Iwanowitschs.
»Willst du Tee, Schätzchen?«
»Ich danke verbindlichst! Wir haben schon Tee getrunken. Heute sind wir früh aufgestanden. Die Unsrigen gingen zur Messe. Schwesterchen hat mir zwei Stunden lang die Locken gekämmt und pomadisiert, hat mich gewaschen und mir die Hose geflickt; denn ich habe sie gestern auf der Straße zerrissen, als ich mit Saschka Schneeballen spielte ...«
»Nun, und weiter?«
»Sie putzte mich also aus, um zu Ihnen zu gehen; dann pomadisierte sie mir das Haar, dann küßte sie mich halb tot und sagte dabei: ›Geh jetzt zu Wassja, gratuliere ihm zum Neuen Jahr und frage ihn, ob er sich wohl fühlt, ob er gut geschlafen hat ...‹ Und dann sollte ich noch etwas fragen ... Ja, ob die Arbeit beendet sei, wegen der Sie gestern ... Wie hieß es noch? Sie hat es mir aufgeschrieben,« sagte der Junge und las vom Zettel ab, den er aus der Tasche holte: »Ja! Wegen der Sie gestern so besorgt waren.«
»Ich werde sie fertigmachen! Es wird schon werden! Sage ihr, daß ich die Arbeit unbedingt fertig machen werde, mein Ehrenwort drauf!«
»Und dann noch etwas ... Ach ja! Ich hätte es beinahe vergessen: Schwesterchen schickt Ihnen ein Brieflein und ein Präsent!«
»Mein Gott! Wo hast du es, mein Schätzchen? Hier! Sieh nur her, was sie mir schreibt! Die Liebe, Gute! ... Weißt du, ich sah gestern eine Brieftasche, die sie für mich gestickt hat; das Geschenk ist noch nicht fertig. Nun schreibt sie mir: ›Also schicke ich Ihnen vorläufig eine meiner Locken, und das Geschenk bekommen Sie ein anderes Mal.‹ Sieh nur her, mein Lieber!«
Und der erschütterte Wassja zeigte Arkadij Iwanowitsch eine Locke dichtester und schwärzester Haare, die es nur in der Welt gibt; dann küßte er sie und verwahrte sie in der Brusttasche, dem Herzen am nächsten.
»Wassja! Ich werde dir für diese Locke ein Medaillon machen lassen!« erklärte schließlich Arkadij Iwanowitsch sehr entschieden.
»Und zum Mittag gibts bei uns heute Kalbsbraten, und morgen Hirn. Mama will auch noch Zuckerbrot backen ... Hirsenbrei wird es heute nicht geben!« setzte der Junge nach kurzer Überlegung hinzu, um seinen Bericht abzuschließen.
»Teufel noch einmal! Was das für ein hübscher Knabe ist!« rief Arkadij Iwanowitsch aus: »Wassja, du bist wirklich der glücklichste der Sterblichen!«
Der Junge trank seinen Tee aus, erhielt einen Brief samt tausend Küssen und ging, glücklich und munter, wie er gekommen war, nach Hause.
»Nun siehst du, mein Lieber,« begann hocherfreut Arkadij Iwanowitsch, »wie schön alles ist! Alles hat sich zum Besten gewendet, verzage nicht und jammere nicht! Vorwärts, mach deine Arbeit fertig! Um zwei Uhr bin ich wieder zurück. Ich fahre zu ihnen und dann zu Julian Mastakowitsch.«
»Lebe wohl, mein Lieber, auf Wiedersehen! Ach, wenn doch alles gut ablaufen wollte! ... Also gut, geh!« sagte Wassja: »Ich habe mich endgültig entschlossen, nicht zu Julian Mastakowitsch zu gehen.« »Lebe Wohl!«
»Warte noch, mein Lieber; sage ihnen ... Nun, das wirst du schon selbst wissen, was du sagen sollst; küsse sie von mir ... Und später, wenn du zurück bist, wirst du mir alles ganz genau berichten ...«
»Gewiß, gewiß, ich werde schon wissen, was zu sagen! Das Glück hat dich wohl ganz verrückt gemacht! Es kam zu plötzlich ... Seit gestern bist du aus Rand und Band. Du hast dich von den gestrigen Eindrücken wohl noch nicht erholt. Nun Schluß! Nimm dich zusammen, Wassja! Lebe wohl!«
Endlich trennten sich die Freunde. Arkadij Iwanowitsch war den ganzen Morgen über zerstreut und dachte nur an Wassja. Er kannte ja dessen schwache und leicht erregbare Natur. »Ja, das Glück hat ihn verrückt gemacht!« sagte er zu sich selbst: »Ich habe mich nicht getäuscht! Mein Gott! Er hat ja auch mich mit seiner Aufregung angesteckt. Und woraus dieser Mensch eine Tragödie macht! Dieser Heißsporn! Ach, ich muß ihn retten, ich muß ihn retten!« wiederholte Arkadij Iwanowitsch vor sich hin: er merkte gar nicht, daß auch er selbst aus einer kleinen häuslichen Unannehmlichkeit ein großes und wahres Unglück gemacht hatte. Erst gegen elf Uhr langte er im Vorzimmer des Julian Mastakowitsch an, um seinen bescheidenen Namen der endlosen Namenreihe anderer ehrfurchtsvoller Gratulanten hinzuzufügen, die sich schon auf der in der Portierloge ausliegenden, verschmierten und vollgekritzelten Liste eingetragen hatten. Wie groß war sein Erstaunen, als er auf dieser Liste die eigenhändige Unterschrift Wassja Schumkows entdeckte! Das wirkte auf ihn geradezu niederschmetternd. »Was ist mit ihm geschehen?« fragte er sich. Arkadij Iwanowitsch, der erst vor kurzem wieder zu hoffen angefangen hatte, verließ die Portierloge ganz bestürzt. Irgendein Unglück war im Anzug – das stand fest. Doch was für ein Unglück und woher sollte es kommen?
Nach der Kolomna-Vorstadt kam er mit trüben Gedanken und war anfangs sehr zerstreut. Nach einer Unterredung mit Lisa verließ er das Haus mit Tränen in den Augen, denn er war wegen Wassja in größter Angst. Er eilte nach Hause im Laufschritt und stieß am Newakai mit Schumkow zusammen, der ebenfalls irgendwohin rannte.
»Wo willst du hin?« schrie ihn Arkadij Iwanowitsch an.
Wassja blieb stehen, so bestürzt, als hätte man ihn an einem Verbrechen ertappt. »Ich bin nur so ... etwas ausgegangen, wollte etwas spazieren ...«
»Konntest es nicht aushalten? Wolltest eben nach der Kolomna-Vorstadt gehen? Ach, Wassja, Wassja! Warum bist du nun doch zu Julian Mastakowitsch gegangen?«
Wassja gab zuerst keine Antwort. Dann winkte er mit der Hand ab und sagte:
»Arkadij! Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist! Ich ...«
»Gut, Wassja, beruhige dich! Ich weiß ja, was es ist. Beruhige dich! Du bist ja noch von den gestrigen Eindrücken so aufgeregt! Bedenke doch: es ist wirklich nicht schwer, diese Aufregung zu überwinden! Alle lieben dich, alle machen dir den Hof, deine Arbeit geht gut vorwärts, du wirst sie fertig machen, du wirst sie unbedingt fertig machen, ich weiß es! Du hast dir wohl etwas eingebildet, hast irgendeinen unbegründeten Angstanfall.«
»Nein, nein, es ist nichts ...«
»Weißt du es noch, Wassja? Du hast schon einmal dasselbe gehabt. Kannst du dich noch erinnern? Als du befördert wurdest, verdoppeltest du vor lauter Glück und Dankbarkeit deinen Eifer, und die Folge davon war, daß du eine ganze Woche lang jede Arbeit verdarbst. Und nun bist du im gleichen Zustande ...«
»Ja, ja, Arkadij ... Doch jetzt ist die Sache anders, ganz anders ...«
»Warum soll es jetzt anders sein? Ich bitte dich! Die Arbeit ist vielleicht gar nicht so dringend, und du richtest dich ganz unnütz zugrunde ...«
»Nein, nein, es macht nichts ... Gehen wir!«
»Also nach Hause und nicht zu ihnen?«
»Nein, mein Lieber! Mit diesem Gesicht kann ich doch nicht zu ihnen kommen! Ich habe es mir schon überlegt. Ich konnte es ohne dich zu Hause nicht aushalten; doch jetzt, wo du wieder bei mir bist, mache ich mich gleich an die Arbeit. Gehen wir!«
Sie gingen zusammen weiter. Anfangs schwiegen sie beide. Wassja hatte jetzt wieder große Eile.
»Warum erkundigst du dich nicht nach ihnen?« fragte Arkadij Iwanowitsch.
»Ach ja! Arkascha, wie war es dort?«
»Wassja! Du bist plötzlich ganz verändert!«
»Es macht nichts, es macht nichts. Erzähle mir alles, Arkascha!« sagte Wassja mit flehender Stimme, als wollte er allen weiteren Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen. Arkadij Iwanowitsch seufzte auf: das Benehmen Wassjas brachte ihn ganz aus der Fassung.
Der Bericht aus der Kolomna-Vorstadt belebte Wassja wieder. Er wurde sogar gesprächig. Zu Hause angelangt, aßen sie zuerst zu Mittag. Die alte Dame hatte Arkadij Iwanowitschs Taschen mit Zuckergebäck vollgestopft; die Freunde verzehrten es nun und kamen allmählich in gute Stimmung. Wassja versprach, sich gleich nach dem Essen hinzulegen, um später die ganze Nacht aufbleiben zu können. Er legte sich auch wirklich hin. Noch am Morgen hatte jemand, dem man nicht absagen konnte, Arkadij Iwanowitsch zum Tee eingeladen. Die Freunde mußten sich nun trennen. Arkadij nahm sich vor, möglichst bald heimzukommen, vielleicht schon um acht Uhr. Die drei Stunden der Trennung kamen ihm wie drei Jahre vor. Endlich gelang es ihm, aufzubrechen, und er eilte nach Hause. Im Zimmer war es dunkel. Wassja war nicht zu Hause. Er fragte bei Mawra. Mawra sagte ihm, daß Wassja gar nicht geschlafen, sondern die ganze Zeit über geschrieben habe; dann sei er im Zimmer auf und ab gegangen, und dann, etwa vor einer Stunde, sei er weggelaufen und hätte Mawra gesagt, daß er nach einer halben Stunde wieder da sein würde. »Und wenn der Herr inzwischen kommt, so sag ihm, Alte,« schloß Mawra ihren Bericht, »daß ich spazieren gegangen sei, – das hat er mir drei, oder sogar viermal befohlen.«
»Er ist bei den Artemjews!« sagte sich Arkadij Iwanowitsch und schüttelte den Kopf.
Eine Minute später sprang er auf, von einer neuen Hoffnung beseelt: »Er ist wohl einfach fertig geworden, das wird es sein! Und dann hielt er es nicht aus und lief hin. Aber nein! Er hätte doch auf mich gewartet ... Ich will einmal nachschauen, wie es mit seiner Arbeit steht!«
Er zündete die Kerze an und ging an Wassjas Schreibtisch: die Arbeit ging gut vorwärts, und es blieb anscheinend gar nicht so viel übrig. Arkadij Iwanowitsch wollte weiter blättern, doch in diesem Augenblick trat Wassja ein.
»Ach! Du bist hier?« rief er aus und fuhr vor Schreck zusammen.
Arkadij Iwanowitsch schwieg. Er fürchtete, Wassja irgend etwas zu fragen. Wassja schlug die Augen nieder und begann ebenfalls in den Papieren zu blättern. Schließlich begegneten sich ihre Blicke. Wassjas Blick war so bittend, flehend und hoffnungslos, daß Arkadij zusammenfuhr. Sein Herz erbebte und floß über:
»Wassja, Bruderherz, was ist mit dir? Was hast du?« schrie er, auf ihn losstürzend und ihn in seine Arme schließend. »Erkläre mir doch alles! Ich verstehe dich nicht, auch deine Traurigkeit verstehe ich nicht! Was ist mit dir, du mein Märtyrer? Was? Sage mir doch alles, ohne etwas zu verheimlichen. Es kann doch nicht sein, daß nur diese eine Ursache ...«
Wassja schmiegte sich fest an ihn und konnte kein Wort hervorbringen. Sein Atem stockte.
»Genug, Wassja, schon gut! Nun, nehmen wir an, daß du mit der Arbeit nicht fertig wirst, – was ist denn dabei? Ich verstehe dich nicht! Erzähle mir offen, warum du so leidest. Du siehst doch, daß ich für dich ... Ach, mein Gott, mein Gott!« sagte er, immer auf und ab gehend und nach jedem Gegenstand greifend, der ihm gerade unter die Hände kam, als suchte er eine Arznei für Wassja. »Ich werde morgen statt deiner zu Julian Mastakowitsch gehen, ich werde ihn bitten, ihn um einen Tag Aufschub für dich anflehen. Ich will ihm alles, alles erklären, wenn er dich so quält ... «
»Gott behüte!« schrie Wassja auf. Er war kreidebleich und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»Wassja! Wassja!«
Wassja kam zu sich. Seine Lippen bebten. Er wollte etwas sagen, konnte aber nur stumm und krampfhaft Arkadijs Hand drücken. Seine Hand war kalt. Arkadij stand vor ihm in banger, qualvoller Erwartung. Wassja blickte ihn wieder an.
»Wassja! Gott sei mit dir! Du hast mein Herz zerrissen, du mein lieber, guter Freund!«
Tränenfluten stürzten aus Wassjas Augen; er fiel in Arkadijs Arme.
»Ich habe dich betrogen, Arkadij,« sagte er, »ich habe dich betrogen! Verzeihe es mir ... Verzeihe ... Ich habe meinen besten Freund betrogen ...«
»Was ist denn, Wassja? Was?« fragte Arkadij voller Entsetzen.
»Hier!«
Und Wassja holte mit verzweifelter Gebärde aus der Tischschublade sechs sehr dicke Hefte hervor, die genau so aussahen wie das, das er abschrieb, und schleuderte sie auf den Tisch.
»Was ist denn das?«
»Das alles muß ich bis übermorgen abschreiben! Ich kann kaum den vierten Teil davon fertig machen!«
»Frage nicht, frage nicht, wie das geschehen ist,« fuhr Wassja fort: er wollte sich nun offenbar das Herz erleichtern. »Arkadij! Mein Freund! Ich weiß selbst nicht, was mit mir war. Es ist mir, als ob ich jetzt erst aus einem Traume erwachte. Ich habe ganze drei Wochen verloren. Ich bin immer ... zu ihr gelaufen ... Das Herz tat mir weh, ich verzehrte mich ... in Ungewißheit ... Ich konnte nicht schreiben. Ich konnte an die Arbeit nicht einmal denken. Und erst jetzt, wo das Glück mir schon so nahe ist, bin ich zur Besinnung gekommen.«
»Wassja!« begann Arkadij Iwanowitsch energisch. »Wassja! Ich werde dich retten! Jetzt begreife ich alles. Die Sache ist wirklich ernst. Ich werde dich retten! Höre, höre, was ich dir sagen werde: ich gehe gleich morgen zu Julian Mastakowitsch ... Schüttele nicht den Kopf, sondern höre mir zu! Ich werde ihm den ganzen Sachverhalt erzählen; du mußt mir erlauben, das zu tun ... Ich will ihm alles erklären! ... Ich gehe bis zum Äußersten! Ich werde ihm erzählen, wie unglücklich du bist und wie du dich quälst ...«
»Weißt du auch, daß du mich jetzt umbringst?« versetzte Wassja, den es vor Schreck kalt überlief.
Arkadij Iwanowitsch erbleichte zunächst; dann überlegte er sich und lachte auf.
»Ist das alles? Bedenke doch, Wassja, was du sprichst! Schämst du dich gar nicht? Höre einmal! Ich sehe, daß ich dich kränke. Du siehst also, daß ich dich verstehe, und daß ich weiß, was in dir vorgeht. Wir leben ja, Gott sei Dank, schon fünf Jahre zusammen. Du bist ein zarter, guter Mensch, doch sehr schwach, unverzeihlich schwach. Das hat auch schon Lisaweta Michailowna bemerkt. Außerdem bist du auch ein Träumer, und das ist ebenfalls nicht gut; man kann dabei leicht den Verstand verlieren, mein Lieber! Höre einmal, ich weiß ja, was du willst! Du willst zum Beispiel, daß Julian Mastakowitsch ganz außer sich vor Freude sei, weil du heiratest, und aus diesem Anlasse sogar einen Ball geben möchte ... Warte, warte! Du verziehst das Gesicht. Siehst du, schon wegen dieser paar Worte bist du für Julian Mastakowitsch beleidigt! Ich will also nicht mehr von ihm sprechen. Ich verehre ihn ja nicht weniger als du. Aber das wirst du nicht bestreiten und mir auch nicht zu denken verbieten: dein Wunsch ist, daß es keinen einzigen unglücklichen Menschen auf Erden mehr gäbe, wenn du heiratest ... Ja, mein Lieber, du mußt mir zugeben, daß es dein Wunsch ist, daß zum Beispiel ich, dein bester Freund, plötzlich ein Kapital von hunderttausend Rubeln besäße; daß alle Feinde, die es nur in der Welt gibt, sich ganz plötzlich ohne sichtbaren Grund aussöhnten, daß sie sich mitten auf der Straße vor Freude umarmten und dann vielleicht alle zu dir in die Wohnung zu Gast kämen. Mein lieber Freund! Ich spaße gar nicht, denn es ist so! Du hast mir schon oft genug ähnliche Bilder ausgemalt! Weil du glücklich bist, willst du, daß auch alle andern glücklich seien. Es ist für dich schwer und kränkend, allein glücklich zu sein! Darum bemühst du dich mit aller Kraft, dich deines Glückes würdig zu erweisen und willst zur Beruhigung deines Gewissens irgendeine Heldentat vollbringen! Nun, ich verstehe es sehr gut, daß du dich quälen mußt, wenn du bei irgendeiner Gelegenheit, wo es deinen Eifer, dein Können und, sagen wir einmal, deine Dankbarkeit zu zeigen gilt, es zu tun versäumst! Dich kränkt und bedrückt der Gedanke, daß Julian Mastakowitsch die Nase rümpfen und vielleicht auch wirklich böse werden wird, wenn er sieht, daß du die auf dich gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt hast. Es ist dir bitter, daran zu denken, daß du vielleicht von dem, den du für deinen Wohltäter hältst, Vorwürfe zu hören bekommst, und das gerade in einem solchen Augenblick! In einem Augenblick, wo dein Herz von Freude überströmt, und du nicht weißt, auf wen du deine Dankbarkeit ergießen sollst ... Es ist doch so? Nicht wahr?« Arkadij Iwanowitsch sagte das mit bebender Stimme. Nun schwieg er und holte tief Atem.
Wassja blickte seinen Freund voller Liebe an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
Sein Gesicht belebte sich sogar in Erwartung einer Hoffnung.
»Also höre, was ich dir sage,« fuhr Arkadij Iwanowitsch fort, von neuer Hoffnung begeistert. »Es ist doch nicht nötig, daß du Julian Mastakowitschs Gewogenheit verlierst. Es ist doch so, mein Lieber? Ist das nicht der Kernpunkt der Sache? Und wenn das wirklich der Kernpunkt ist, so will ich mich für dich opfern!« Arkadij Iwanowitsch sprang bei diesen Worten vom Stuhle auf. »Ich werde gleich morgen zu Julian Mastakowitsch gehen ... Widersprich mir nicht! Wassja, du machst aus deiner kleinen Nachlässigkeit ein Verbrechen. Julian Mastakowitsch ist aber großmütig und barmherzig, er ist auch ein ganz anderer Mensch als du! Er wird uns anhören und dir aus der Klemme helfen. Nun, bist du jetzt beruhigt?«
Wassja, dem die Tränen in den Augen standen, drückte Arkadijs Hand.
»Laß gut sein, Arkadij!« sagte er. »Es ist nun beschlossene Sache. Ich habe die Arbeit nicht fertig gemacht, – gut! Daran ist eben nichts zu ändern. Du brauchst gar nicht hinzugehen: ich will selbst zu ihm gehen und ihm alles erzählen. Ich bin jetzt ruhig, vollkommen ruhig. Du brauchst also nicht hinzugehen ... Höre nur ...«
»Wassja, teurer Wassja!« rief Arkadij Iwanowitsch freudig aus. »Ich habe ja nur deine eigenen Gedanken ausgesprochen. Ich freue mich, daß du nun zur Besinnung gekommen bist und dich beruhigt hast. Was mit dir auch geschehen wird, – ich bin immer bei dir, vergiß das nicht! Ich sehe, dich quält der Gedanke, daß ich mit Julian Mastakowitsch sprechen will. Gut, ich will mit ihm nicht sprechen, du wirst selbst mit ihm sprechen und ihm alles sagen. Siehst du, du mußt morgen zu ihm gehen ... Oder nein: du bleibst zu Hause und schreibst weiter, verstehst du mich? Und ich werde zu erfahren suchen, ob die Sache sehr dringend ist oder nicht, ob die Arbeit unbedingt zum Termin abgeliefert werden muß oder nicht, und was du riskierst, wenn du den Termin versäumst. Und dann komme ich sofort zu dir und berichte dir alles ... Du siehst also: schon gibt es eine Hoffnung! Stelle dir nur vor, daß die Sache gar nicht dringend ist, – dann hast du alles gewonnen! Es ist auch möglich, daß Julian Mastakowitsch das Ganze vergessen hat – dann bist du gerettet!« Wassja schüttelte zweifelnd den Kopf. Doch er blickte seinen Freund noch immer dankbar an.
»Nun gut! Ich bin so schwach, so matt,« sagte er, um Atem ringend. »Ich will auch selbst nicht mehr daran denken. Sprechen wir von etwas anderm! Ich werde jetzt sogar nicht mehr schreiben; höchstens nur noch zwei Seiten, bis ich zu einem neuen Absatz komme. Höre ... Ich wollte dich schon lange fragen: wieso kennst du mich so gut?«
Aus seinen Augen fielen Tränen auf Arkadijs Hände.
»Wenn du wüßtest, Wassja, wie sehr ich dich liebe, würdest du nicht so fragen!«
»Ja, ja, Arkadij, das weiß ich eben nicht, denn ich weiß nicht, wofür du mich so lieb gewonnen hast! Ja, Arkadij, weißt du auch, daß deine Liebe mich schon oft bedrückt hat? Weißt du, wie oft ich weinte, wenn ich vor dem Einschlafen an dich dachte (wenn ich mich schlafen lege, muß ich immer an dich denken), und wie mein Herze bebte, weil ... Nun weil du mich so sehr liebst, und ich mein Herz nicht erleichtern und dir nicht so danken kann, wie ich es gerne möchte ...«
»Siehst du, Wassja, siehst du: so bist du immer! ... Sieh nur, wie aufgeregt du jetzt bist,« sagte Arkadij, dem das Herz weh tat beim Gedanken an den gestrigen Auftritt auf der Straße.
»Schon gut! Du willst, daß ich mich beruhige, ich war aber noch nie so ruhig und glücklich, wie ich es in diesem Augenblick bin! Weißt du ... Höre einmal, ich möchte dir so gerne alles sagen, ich fürchte aber, dich zu kränken ... Denn wenn du gekränkt bist, schreist du mich an, und ich erschrecke dann ... Sieh nur, wie ich jetzt zittere, ich weiß selbst nicht, warum ... Ich wollte dir also folgendes sagen. Mir scheint, daß ich mich bisher selbst nicht gekannt habe, – ja! Auch die andern Menschen habe ich erst gestern richtig kennen gelernt. Ich konnte sie bisher nicht verstehen und richtig einschätzen. Mein Herz ... war verhärtet ... Höre einmal, wie kam es, daß ich keinem Menschen etwas Gutes getan habe, weil ich es einfach nicht tun konnte, weil auch mein Äußeres unangenehm ist? ... Und jeder Mensch hat mir Gutes erwiesen! Du aber am meisten: sehe ich es denn nicht? Ich habe nur geschwiegen, immer geschwiegen!«
»Wassja, genug!«
»Ja, Arkascha, ja ... Ich habe ja nichts gesagt ...« unterbrach ihn Wassja mit tränenerstickter Stimme »Ich habe dir gestern von Julian Mastakowitsch erzählt; du weißt auch selbst, daß er sonst streng und unzugänglich ist; auch dir hat er schon einigemal Rügen erteilt; nun hat er aber gestern mit mir gescherzt, war so gütig zu mir und hat mir sein gutes Herz gezeigt, das er sonst vor allen andern wohlweislich verbirgt ...«
»Was folgt daraus, Wassja? Nur daß du deines Glückes durchaus würdig bist.«
»Ach, Arkascha! Wie gerne möchte ich die Arbeit fertig haben ... Doch ich werde wohl selbst mein Glück vernichten! Ich habe so eine Vorahnung! ... Nein, nicht deswegen,« unterbrach sich Wassja, als er merkte, daß Arkadij nach dem zentnerschweren Papierstoß auf dem Tische schielte: »Das ist ja nur beschriebenes Papier, also nichts ... Unsinn! Diese Frage ist ja schon erledigt! Arkascha, ich war heute in der Kolomna-Vorstadt ... Ich bin nicht hineingegangen, so schwer und bitter war es mir zumute! Ich stand nur eine Weile vor der Türe. Sie spielte Klavier, und ich hörte draußen zu. Denn siehst du, Arkadij,« fügte er leise hinzu, »ich wagte nicht einzutreten ...«
»Höre, Wassja, was hast du? Warum schaust du mich so an?«
»Was? Nichts! Mir schwindelt ein wenig im Kopfe, die Beine zittern mir; das kommt, weil ich die ganze Nacht aufgeblieben bin. Ja! Es ist mir ganz grün vor den Augen. Und hier ...«
Er zeigte auf sein Herz und wurde ohnmächtig.
Als er wieder zu sich kam, wollte Arkadij Gewaltmaßregeln ergreifen. Er wollte ihn gewaltsam ins Bett legen. Wassja wollte sich nicht fügen. Er weinte, rang die Hände, wollte sich wieder an die Arbeit machen, um unbedingt noch die zwei Seiten fertig zu schreiben. Um ihn nicht noch mehr aufzuregen, ließ ihn Arkadij an den Schreibtisch gehen.
»Siehst du,« sagte Wassja, während er sich vor seinen Tisch setzte, »siehst du, auch ich habe eine Idee, eine Hoffnung.«
Er lächelte Arkadij zu, und über sein blasses Gesicht schien wirklich etwas wie ein Hoffnungsstrahl zu huschen.
»Ich denke es mir so: ich will ihm übermorgen einen Teil der Arbeit bringen. Und wegen des Restes will ich ihm etwas vorlügen, werde sagen, daß das übrige verbrannt ist, oder feucht geworden, oder daß ich es einfach verloren habe ... nun, schließlich, daß ich nicht fertig geworden bin; ich kann ja nicht lügen! Ich will ihm, weißt du, alles erklären und ihm ganz offen sagen, wie sich die Sache verhält ... Ich will ihm von meiner Liebe erzählen; er hat ja selbst vor kurzem geheiratet, also wird er mich verstehen! Ich werde das alles natürlich in höchst ehrfurchtsvollem, bescheidenem Tone vorbringen; er wird meine Tränen sehen, und sie werden ihn rühren ...«
»Ja, gewiß, gehe nur zu ihm hin, erkläre ihm alles ... Du brauchst sogar die Tränen nicht! Wozu auch? Wassja, du hast mich wirklich mit deiner Angst angesteckt.«
»Ja, ich werde hingehen, ich werde hingehen. Und jetzt laß mich weiterschreiben, Arkascha. Ich tue ja keinem Menschen etwas, laß mich schreiben!«
Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassja nicht, er traute ihm gar nicht. Wassja war zu allem fähig. Doch um Entschuldigung bitten? – warum, wozu? Es handelte sich doch um etwas ganz anderes. Es handelte sich doch darum, daß Wassja einer übernommenen Pflicht nicht nachgekommen war, daß er sich vor sich selbst schuldig fühlte; daß er dem Schicksal gegenüber undankbar zu sein glaubte, daß er von seinem Glück erschüttert und erdrückt war und sich dieses Glücks für unwürdig hielt; und schließlich daß das Ganze für ihn nur ein Vorwand war, während er in Wirklichkeit nach all dem Unerwarteten, das er gestern erlebt hatte, noch nicht recht zur Besinnung gekommen war. Das ist es! sagte sich Arkadij Iwanowitsch. Man muß ihn retten. Man muß ihn mit sich selbst versöhnen. Denn er selbst hat sich beinahe aufgegeben. Er dachte noch lange nach und entschloß sich endlich, sogleich zu Julian Mastakowitsch zu gehen, vielleicht schon morgen, und ihm alles zu erzählen.
Wassja saß und schrieb. Arkadij Iwanowitsch, der sehr müde war, legte sich etwas hin, mit der Absicht, noch etwas über die Sache nachzudenken. Er schlief ein und erwachte erst gegen morgen.
»Teufel! Schon wieder!« schrie er auf. Er sah nach Wassja: dieser saß und schrieb noch immer.
Arkadij stürzte zu ihm hin, nahm ihn in seine Arme und legte ihn mit Gewalt ins Bett. Wassja lächelte; die Augen fielen ihm vor Mattigkeit zu. Er konnte kaum sprechen.
»Ich wollte mich schon selbst hinlegen,« sagte er. »Weißt du, Arkascha, was mir einfällt? Ich werde doch noch fertig werden! Ich habe das Tempo beschleunigt! Noch länger aufbleiben kann ich nicht. Wecke mich, bitte, um acht.«
Er kam nicht weiter und schlief sofort ein.
»Mawra!« sagte Arkadij Iwanowitsch ganz leise zu Mawra, die eben den Tee hereinbrachte. »Er will um acht Uhr geweckt werden. Das darf um keinen Preis geschehen! Er soll meinetwegen zehn Stunden schlafen, verstehst du?«
»Ich verstehe, Väterchen, ich verstehe, Herr!«
»Mittagessen brauchst du nicht zu kochen; du sollst dich nicht mit dem Brennholz zu schaffen machen und überhaupt nicht lärmen, – sonst wehe dir! Wenn er nach mir fragt, so sagst du ihm, ich sei in die Kanzlei gegangen. Verstehst du?«
»Ich verstehe, Väterchen. Soll er nur schlafen, soviel er mag, – was gehts mich auch an? Ich freue mich, wenn die Herren gut schlafen, und passe auf alles auf, was den Herren gehört. Und was die zerschlagene Tasse betrifft, wegen der mir die Herren neulich Vorwürfe machten, so war das nicht ich, das war die Katze ... Ich hatte auf sie nicht acht gegeben; mach daß du fortkommst, hab ich ihr gesagt, du Mistvieh ...«
»Pssst! Schweig, schweig!«
Arkadij Iwanowitsch geleitete Mawra in die Küche, ließ sich den Schlüssel geben und schloß sie ein. Dann ging er in die Kanzlei. Unterwegs überlegte er sich, wie er vor Julian Mastakowitsch erscheinen sollte, und ob es auch nicht unverschämt von ihm wäre? Als er in die Kanzlei kam, fühlte er sich ziemlich unsicher; er erkundigte sich schüchtern, ob Exzellenz schon anwesend sei. Man sagte ihm, Exzellenz sei nicht da und werde heute überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch wollte im ersten Augenblick sofort zu ihm in seine Wohnung gehen; doch er sagte sich gleich, daß Julian Mastakowitsch, wenn er zu Hause geblieben sei, offenbar zu Hause zu tun haben müsse ... Er blieb also in der Kanzlei. Die Stunden erschienen ihm wie Ewigkeiten. Er versuchte, unter der Hand etwas von der Arbeit zu erfahren, mit der Julian Mastakowitsch Wassja betraut hatte. Niemand konnte ihm aber darüber etwas sagen. Man wußte nur, daß Julian Mastakowitsch Wassja mit besondern Aufträgen zu betrauen pflegte, doch was es für Aufträge waren, das wußte niemand. Endlich schlug es drei, und Arkadij Iwanowitsch eilte nach Hause. Wie er das Amt verlassen wollte, hielt ihn ein Schreiber an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkow so gegen ein Uhr dagewesen sei und sich erkundigt hätte, »ob Sie da seien, und ob Julian Mastakowitsch dagewesen wäre.« Als Arkadij Iwanowitsch das hörte, nahm er eine Droschke und fuhr, ganz außer sich vor Angst, nach Hause.
Schumkow war zu Hause. Er ging in großer Aufregung auf und ab. Als er Arkadij Iwanowitsch erblickte, kam er gleichsam zur Besinnung und gab sich sichtbare Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Er setzte sich stumm an den Schreibtisch. Er schien den Fragen seines Freundes ausweichen zu wollen, sie direkt zu fürchten. Er hatte wohl selbst irgendeinen Entschluß gefaßt und zugleich beschlossen, ihn auch vor Arkadij Iwanowitsch geheim zu halten, »da er sich auch auf die Freundschaft nicht mehr verlassen konnte.« Das wirkte auf Arkadij beinahe niederschmetternd, und sein Herz krampfte sich vor schwerem, bohrendem Schmerz zusammen. Er setzte sich auf das Bett, nahm irgendein Buch in die Hand, übrigens das einzige, das er besaß, wandte aber keinen Blick von dem armen Wassja. Dieser schwieg hartnäckig und schrieb, ohne vom Papier aufzublicken. So vergingen einige Stunden, und Arkadijs Seelenqualen steigerten sich auf das höchste. Endlich, gegen elf Uhr, hob Wassja den Kopf und sah Arkadij mit stumpfem, starrem Blicke an. Arkadij wartete. So vergingen einige Minuten. Wassja schwieg. – »Wassja!« rief Arkadij. Wassja gab keine Antwort. – »Wassja!« rief er noch einmal und sprang vom Bette. »Wassja, was ist mit dir? Was hast du?« schrie er auf und lief zu ihm zu. Wassja hob den Kopf und richtete auf ihn wieder den gleichen stumpfen und starren Blick. »Er hat den Starrkrampf!« sagte sich Arkadij, von Grauen gepackt. Er nahm die Wasserkaraffe, hob Wassja etwas vom Stuhle, goß ihm Wasser über den Kopf, benetzte seine Schläfen und rieb seine Hände in den seinigen; und Wassja kam zu sich. – »Wassja! Wassja!« schrie Arkadij. Tränen stürzten aus seinen Augen: er konnte sich nicht mehr beherrschen. »Wassja, richte dich nicht zugrunde! Denke doch nur an ... « Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er hielt Wassja fest in seinen Armen. Wassjas Gesicht drückte einen schweren inneren Kampf aus; er rieb sich die Stirne, griff sich an den Kopf, als fürchtete er, daß er ihm zerspringen würde.
»Ich weiß nicht, was mit mir ist!« sagte er schließlich. »Ich glaube, ich habe mich überarbeitet. Gut, gut ... Höre auf, Arkadij, jammere nicht, höre auf!« wiederholte er immer wieder, ihn mit traurigen, müden Augen anblickend. »Was beunruhigst du dich? Höre doch auf!«
»Jetzt willst du mich gar trösten!« rief Arkadij aus, dessen Herz zerriß. – »Wassja,« sagte er schließlich, »lege dich hin, versuche etwas einzuschlafen, ja? Quäle dich nicht umsonst! Es ist besser, wenn du dich später wieder an die Arbeit machst!«
»Ja, ja!« sagte Wassja, »Gut! Ich lege mich hin ... Ja, gut ... Siehst du: ich wollte die Arbeit beenden, jetzt habe ich es mir anders überlegt, ja ... «
Und Arkadij schleppte ihn zu Bett.
»Höre, Wassja,« sagte er energisch, »mit der Sache muß man doch endlich ein Ende machen! Sage mir, was du beschlossen hast.«
»Ach!« erwiderte Wassja. Er winkte schwach mit der Hand und wandte den Kopf auf die andere Seite.
»Mut, Wassja! Entschließe dich! Ich will nicht dein Henker sein, ich kann nicht länger schweigen. Du wirst doch nicht einschlafen, ehe du einen Entschluß gefaßt hast, das weiß ich!«
»Wie du willst! Wie du willst!« wiederholte rätselhaft Wassja.
– Er wird schon nachgeben! – sagte sich Arkadij Iwanowitsch.
»Folge mir, Wassja,« sagte er. »Denke daran, was ich dir gesagt habe: morgen werde ich dich retten, morgen wird sich dein Schicksal entscheiden! Was sage ich – Schicksal! Du hast mir solche Angst gemacht, Wassja, daß ich nun auch mit deinen Worten spreche. Schicksal ist Unsinn! Du willst dir die Gewogenheit und meinetwegen auch die Liebe Julian Mastakowitschs erhalten, nicht wahr?! Du wirst sie dir auch erhalten, du wirst sehen ... Ich ...«
Arkadij Iwanowitsch könnte noch lange sprechen, doch Wassja unterbrach ihn. Er setzte sich im Bette etwas auf, umschlang stumm mit beiden Händen Arkadijs Hals und küßte ihn.
»Genug!« sagte er mit schwacher Stimme. »Genug! Genug davon!«
Und er kehrte seinen Kopf wieder zur Wand,
– Mein Gott! – sagte sich Arkadij – Was hat er nur? Er ist ja ganz von Sinnen. Was mag er beschlossen haben? Er wird sich ja zugrunde richten! –
Arkadij sah ihn ganz verzweifelt an.
– Wenn er doch ernsthaft erkranken würde, – dachte sich Arkadij – so wäre das vielleicht besser. Die Krankheit würde alle Sorgen verdrängen, und dann könnte man die ganze Angelegenheit sehr gut ordnen. Doch was für einen Unsinn rede ich? Ach, mein Gott ...
Wassja schien inzwischen eingeschlummert zu sein. Arkadij Iwanowitsch freute sich darüber. – Ein gutes Zeichen! – sagte er sich. Er nahm sich vor, die ganze Nacht bei Wassjas Bette zu wachen. Wassja war aber sehr unruhig. Jeden Augenblick zuckte er zusammen, warf sich im Bette hin und her und schlug immer wieder die Augen auf. Die Müdigkeit nahm schließlich doch überhand, und er schlief scheinbar fest ein. Es war gegen zwei Uhr morgens. Arkadij Iwanowitsch nickte auf seinem Stuhle ein, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt.
Sein Schlaf war unruhig, und er hatte einen sonderbaren Traum. Ihm war es, als ob er nicht schliefe, während Wassja noch immer auf dem Bette läge. Doch seltsam! Es schien ihm, daß Wassja sich nur schlafend stellte, daß er ihn hinterginge und mit halbgeöffneten Augen belauerte, und sich schließlich zum Schreibtisch schliche. Ein brennender Schmerz durchzuckte Arkadij Iwanowitsch; es ärgerte ihn und war für ihn unerträglich, daß Wassja ihm mißtraute und sich vor ihm in acht nahm. Er wollte ihn packen, er wollte ihn anschreien und aufs Bett zurückschleppen ... Wassja schrie aber in seinen Armen laut auf, und Arkadij trug nur seine leblose Leiche aufs Bett. Kalter Schweiß trat ihm in die Stirne, und sein Herz klopfte entsetzlich. Er schlug die Augen auf und erwachte. Wassja saß nun wirklich vor dem Tische und schrieb.
Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und sah auf das Bett: Wassja war nicht im Bett! Arkadij, der noch ganz im Banne seines Traumes war, sprang entsetzt auf. Wassja rührte sich nicht. Er schrieb weiter. Nun merkte Arkadij voller Entsetzen, daß Wassja mit trockener Feder über das Papier fuhr, unbeschriebene weiße Seiten umblätterte und sie in größter Hast mit unsichtbaren Zeilen füllte, so geschäftig, als ob seine Arbeit aufs beste vorwärts ginge!
– Nein, das ist kein Starrkrampf! – sagte sich Arkadij Iwanowitsch und erzitterte an allen Gliedern. »Wassja, Wassja! Antworte mir doch!« schrie er auf, ihn an der Schulter packend. Aber Wassja schwieg und schrieb mit der trockenen Feder weiter.
»Endlich habe ich das Tempo beschleunigt!« sagte er, ohne Arkadij anzublicken.
Arkadij packte seine Hände und entriß ihm die Feder.
Ein Stöhnen drang aus Wassjas Brust. Er ließ die Rechte sinken und blickte Arkadij an; dann fuhr er sich mit gequältem Ausdruck über die Stirne, als wollte er sich einer schweren, bleienen Last entledigen, die sein ganzes Wesen bedrückte; schließlich ließ er seinen Kopf leise, gleichsam nachdenklich auf die Brust fallen.
»Wassja! Wassja!« schrie Arkadij Iwanowitsch verzweifelnd, »Wassja!«
Nach einer Minute sah ihn Wassja wieder an. Seine großen, blauen Augen schwammen in Tränen, und sein blasses, sanftes Gesicht drückte unerträgliche Qual aus ... Er flüsterte etwas vor sich hin.
»Was? Was?« rief Arkadij, sich über ihn beugend.
»Womit ... Womit hab ich es verdient?« flüsterte Wassja, »Wofür? Was habe ich getan?«
»Wassja! Was hast du? Was fürchtest du? Was?« schrie Arkadij verzweifelnd und sich die Hände ringend.
»Warum muß ich unter die Soldaten gesteckt werden?« fragte Wassja und blickte seinem Freunde gerade in die Augen. »Wofür? Was habe ich getan?«
Arkadij standen die Haare zu Berge; er traute seinen Sinnen nicht. Er stand vor seinem Freunde ganz vernichtet.
Im nächsten Augenblick kam er zur Besinnung. – Das ist nichts, das geht bald vorüber! – sagte er sich, noch immer bleich, mit blauen, zitternden Lippen. Er begann sich, hastig anzukleiden, um nach einem Arzt zu laufen. Plötzlich rief ihn Wassja beim Namen. Arkadij stürzte zu ihm hin und umarmte ihn, wie eine Mutter, der man ihr Kind entreißen will ...
»Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du? Es ist mein Unglück, und ich will es allein tragen ...« »Was sagst du? Was sagst du? Wassja, besinne dich doch!«
Wassja seufzte tief auf, und Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Warum soll man sie umbringen? Was hat denn sie verbrochen?« keuchte Wassja herzzerreißend. »Es ist meine Sünde, meine Sünde!«
Er schwieg eine Weile.
»Lebe wohl, Geliebte! Lebe wohl, mein Schatz!« flüsterte er, und bewegte seinen armen Kopf hin und her ... Arkadij fuhr auf, nahm sich zusammen und wollte wieder zum Arzt ... »Gehen wir! Es ist Zeit!« schrie Wassja auf, der diese Bewegung Arkadijs mißverstand. »Gehen wir, Freund, gehen wir, ich bin bereit ... Begleite mich!« Er verstummte und warf Arkadij einen fast leblosen, tief unglücklichen und mißtrauischen Blick zu.
»Wassja! Um Gottes willen! Bleibe hier! Erwarte mich hier, ich komme bald zurück! Ich komme sofort zu dir zurück,« sagte Arkadij, der selbst den Kopf verloren hatte. Er griff nach seiner Mütze, um zum Arzt zu laufen. Wassja setzte sich plötzlich auf. Er schien still und folgsam, doch in seinen Augen brannte eine verzweifelte Entschlossenheit. Arkadij kehrte noch einmal um, nahm vom Tisch ein offenes Federmesser weg, warf noch einen Blick auf den Ärmsten und lief hinaus.
Es war nach sieben Uhr morgens. Das Tageslicht hatte bereits die Dämmerung im Zimmer verscheucht.
Arkadij konnte keinen Arzt finden. Er lief schon eine ganze Stunde herum. Er befragte jeden Hausknecht, der vor einem Haustore stand, ob in dem Hause nicht ein Arzt wohne. Doch alle Ärzte, deren Adressen er auf diese Weise erfuhr, waren schon ausgefahren: entweder, um ihre Kranken zu besuchen, oder in privaten Angelegenheiten. Endlich fand er einen, der gerade Sprechstunde hatte. Dieser fragte seinen Diener, der ihm den Beamten Nefedewitsch meldete, lange und umständlich aus: von wem er geschickt sei, und wer der Herr sei, und was er wolle und sogar wie er aussehe, – und sagte schließlich, daß er unmöglich hinfahren könne, weil er ohnehin viel zu tun habe, und daß man einen Kranken dieser Art in ein Spital bringen müsse.
Arkadij, der einen solchen Mißerfolg nicht erwartet hatte und ganz verzweifelt und erschüttert war, gab alles auf, verzichtete auf alle Ärzte, die es nur in der Welt gab, und begab sich eilig nach Hause, in höchster Angst um Wassja. Er rannte die Treppe hinauf und kam in die Wohnung. Mawra kehrte den Fußboden, als ob nichts geschehen wäre, und spaltete Holz, um den Ofen einzuheizen. Er stürzte ins Zimmer: Wassja war fort.
– Wohin? Wohin mag er weggelaufen sein, der Unglückliche? – fragte sich Arkadij, vor Schreck erstarrend. Er begann Mawra auszufragen. Diese wußte von nichts und hatte nicht einmal gehört, wie Wassja weggegangen war. – »Gott sei ihm gnädig!« Nefedewitsch lief nach der Kolomna-Vorstadt.
Es fiel ihm, Gott weiß warum, ein, daß Wassja dort sein müsse.
Es war schon gegen zehn Uhr, als er zu den Artemjews kam. Man hatte ihn nicht erwartet und wußte von nichts. Er stand vor ihnen erschrocken und erschüttert und fragte: Wo ist Wassja? Die alte Mutter fiel vor Entsetzen auf das Sofa hin. Lisa, die am ganzen Leibe zitterte, begann ihn auszufragen, was eigentlich geschehen sei. Was konnte er ihr sagen? Arkadij Iwanowitsch fertigte sie so schnell als möglich ab, indem er irgendeine Fabel auftischte, an die natürlich niemand glaubte; er lief fort und ließ beide Frauen erschüttert und außer sich vor Angst zurück. Er eilte in seine Kanzlei, um den Beginn der Amtsstunden nicht zu versäumen und den Vorfall mit Wassja zu melden, damit man unverzüglich Maßregeln ergreife. Unterwegs fiel ihm aber ein, daß Wassja bei Julian Mastakowitsch sein könne. Das war wohl das Wahrscheinlichste! Arkadij hatte noch vor seinem Besuch bei den Artemjews an diese Möglichkeit gedacht. Als er am Hause seiner Exzellenz vorbeifuhr, wollte er die Droschke anhalten lassen, überlegte sich aber die Sache, und befahl dem Kutscher, weiterzufahren. Er beschloß, sich vorher in der Kanzlei zu erkundigen, ob dort irgend etwas Besonderes vorgefallen sei, und dann erst zu Julian Mastakowitsch zu gehen, um über Wassja Bericht zu erstatten. Jemand mußte doch den Bericht erstatten!
Schon im Vorzimmer umringten ihn seine jüngeren Kollegen, die fast alle im gleichen Rang mit ihm standen, und begannen ihn wie ein Mann auszufragen, was mit Wassja geschehen sei? Und alle berichteten einstimmig, daß Wassja verrückt geworden sei und sich eingebildet hätte, man wolle ihn für eine Nachlässigkeit im Dienste unter die Soldaten stecken. Arkadij Iwanowitsch beantwortete alle Fragen, die ihm gestellt wurden, oder richtiger, antwortete niemandem etwas Bestimmtes und eilte in die inneren Gemächer des Dienstgebäudes. Unterwegs erfuhr er, daß Wassja sich im Arbeitszimmer Julian Mastakowitschs befinde und daß alle Beamten mit Esper Iwanowitsch an der Spitze sich ebenfalls dorthin begeben hätten. Er blieb stehen. Einer der Vorgesetzten fragte ihn, wohin er wolle und was er wünsche? Ohne den Vorgesetzten zu erkennen, sagte er ihm irgend etwas über Wassja und lief geradewegs zum Arbeitszimmer, aus dem die Stimme Julian Mastakowitschs drang. Dicht vor der Türe fragte ihn jemand: »Wo wollen Sie hin?« Arkadij Iwanowitsch wurde verlegen und wollte schon umkehren, als er plötzlich durch die halbgeöffnete Türe den armen Wassja erblickte. Er drängte sich in das Zimmer hinein. Julian Mastakowitsch schien in großer Aufregung zu sein, und deshalb herrschte im Zimmer allgemeine Verwirrung. Um Julian Mastakowitsch scharten sich alle höheren Beamten; sie besprachen den Fall, konnten aber zu keinem Ergebnis kommen. In einiger Entfernung stand Wassja. Als Arkadij ihn erblickte, krampfte sich sein Herz zusammen. Wassja stand ganz bleich da, mit erhobenem Kopf, in militärischer Haltung, die Hände an der Hosennaht, wie ein Rekrut vor seinem neuen Vorgesetzten. Er blickte Julian Mastakowitsch gerade in die Augen. Arkadij Iwanowitsch wurde sofort bemerkt, und jemand meldete seiner Exzellenz, daß er Zimmergenosse Wassjas sei. Arkadij mußte vortreten. Er wollte die Fragen, die man ihm vorlegte, beantworten, doch als er Julian Mastakowitsch anblickte und in seinem Gesicht den Ausdruck aufrichtigen Mitleids sah, erzitterte er am ganzen Körper und begann wie ein Kind zu schluchzen. Er tat noch mehr: er ergriff die Hand des Vorgesetzten, drückte sie an seine Augen und benetzte sie mit Tränen, so daß Julian Mastakowitsch genötigt war, die Hand zurückzuziehen, mit ihr durch die Luft zu fahren und zu sagen: »Genug, mein Bester, genug! Ich sehe, daß du ein gutes Herz hast.« Arkadij schluchzte weiter und warf allen Anwesenden flehende Blicke zu. Es war ihm, als ob sie sich alle als Brüder seines unglücklichen Wassja fühlten, sich in Gram um ihn verzehrten und ihn beweinten. »Wie ist denn das geschehen?« fragte Julian Mastakowitsch: »Wieso hat er den Verstand verloren?«
»Aus Dank – dankbarkeit!« brachte Arkadij Iwanowitsch stotternd hervor.
Alle waren erstaunt, als sie diese Antwort hörten, und es erschien ihnen sonderbar und unwahrscheinlich, daß ein Mensch aus Dankbarkeit den Verstand verlieren könne. Arkadij erklärte so gut er konnte den Sachverhalt.
»Mein Gott, wie schade!« sagte schließlich Julian Mastakowitsch, »und dabei war die Arbeit, mit der ich ihn betraut habe, weder besonders wichtig noch dringend. So ist der Mensch wegen nichts zugrunde gegangen! Nun, man muß ihn ins Irrenhaus schaffen! ...« Jetzt wandte sich Julian Mastakowitsch wieder an Arkadij und begann ihn von neuem auszufragen. »Er bittet,« sagte er auf Wassja zeigend, »daß man irgendeinem jungen Mädchen nichts davon erzähle ... Ist es seine Braut?«
Arkadij erklärte ihm alles. Wassja schien angestrengt über etwas nachzudenken, oder sich auf eine sehr wichtige Sache besinnen zu wollen, die ihm in diesem Augenblick nützlich sein könnte. Zuweilen ließ er seinen gequälten Blick in der Runde schweifen, als erwartete er, daß ihn irgend jemand an das Vergessene erinnern würde. Dann heftete er seinen Blick auf Arkadij. Endlich schimmerte in seinen Augen etwas wie Hoffnung auf; mit dem linken Fuß vortretend, machte er drei Schritte auf Julian Mastakowitsch zu, so militärisch stramm, wie er es nur konnte und schlug, stehen bleibend, die Hacken zusammen, wie es die Soldaten tun, wenn sie auf einen Offizier zugehen, der sie angerufen hat. Alle erwarteten gespannt, was jetzt kommen würde.
»Ich habe ein körperliches Gebrechen, Exzellenz, ich bin klein gewachsen und schwach, und tauge nicht zum Militärdienst,« sagte er kurz und trocken.
Alle, die im Zimmer waren, alle ohne Ausnahme, hatten in diesem Augenblick das Gefühl, als ob ihnen jemand das Herz zusammenpreßte, und auch Julian Mastakowitsch, der ja sonst durchaus nicht weichherzig war, vergoß einige Tränen. »Führt ihn weg!« sagte er und winkte mit der Hand ab.
»Also tauglich!« sagte Wassja halblaut, machte linksum kehrt und verließ das Zimmer. Alle, die sich für sein Schicksal interessierten, stürzten ihm nach. Arkadij drängte sich mit den übrigen um Wassja, den man, in Erwartung der offiziellen Verfügung und eines Wagens, der ihn ins Spital bringen sollte, im Vorraume auf einen Stuhl gesetzt hatte. Er saß schweigend da und schien in größter Sorge zu sein. Sobald er jemanden erkannte, nickte er ihm, gleichsam Abschied nehmend, zu. Er sah jeden Augenblick nach der Türe und wartete wohl, daß jemand sagte: »Nun ist es Zeit!« Alle standen dicht um ihn gedrängt; alle schüttelten den Kopf, alle jammerten. Viele drückten ihr Erstaunen über die Geschichte aus, die ganz plötzlich allen bekannt geworden war. Die einen besprachen eingehend den Fall, die anderen bemitleideten Wassja und lobten ihn; sie sagten, er sei ein so bescheidener, stiller und vielversprechender junger Mann gewesen; man erzählte sich, wie strebsam und lernbegierig er gewesen sei, wie er nach Bildung und Wissen lechzte. »Mit eigener Kraft hat er sich aus niederem Stande emporgearbeitet!« bemerkte jemand. Man sprach mit Rührung von der Sympathie, die ihm seine Exzellenz entgegenbrachte. Einige versuchten eine Erklärung dafür zu finden, daß Wassja gerade darauf verfallen war, daß man ihn unter die Soldaten stecken würde, falls er seine Arbeit nicht beendete. Man erzählte sich, daß der Ärmste erst vor kurzem, dank der Verwendung Julian Mastakowitschs, der in ihm Talent, Gehorsam und einen ungewöhnlich sanften Charakter entdeckt hatte, aus dem Kleinbürgerstande, dem er angehörte, in die erste Beamtenklasse eingereiht worden war. Es gab mit einem Worte sehr viele Ansichten und Meinungen. Unter denen, die das Geschehnis besonders erschüttert hatte, machte sich ein auffallend klein gewachsener Kollege Wassja Schumkows bemerkbar. Er war durchaus nicht mehr jung, sondern so in den Dreißigern. Er war kreideblaß, zitterte am ganzen Körper und lächelte sehr sonderbar, vielleicht deswegen, weil jeder Skandal und jeder Unglücksfall den unbeteiligten Zuschauer nicht nur erschreckt, sondern zugleich auch irgendwie erfreut. Er lief immer um den Kreis herum, der sich um Wassja gebildet hatte, stellte sich, da er klein gewachsen war, auf die Zehenspitzen, faßte jeden, der ihm in den Weg kam, am Rockknopf, d. h. nicht jeden, sondern nur diejenigen, bei denen er sich das erlauben durfte, und sagte, daß er ganz genau wisse, wie alles gekommen sei, daß der Fall durchaus nicht so einfach, sondern sehr schwierig sei und daß man ihn nicht als erledigt ansehen dürfe. Dann stellte er sich wieder auf die Zehenspitzen, flüsterte seinem Zuhörer etwas ins Ohr, nickte mit dem Kopf und lief zu seinem nächsten Kollegen. Endlich fand die Szene ihren Abschluß: ein Amtsdiener und ein Heilgehilfe gingen auf Wassja zu und sagten ihm, daß es nun Zeit sei, aufzubrechen. Er sprang in großer Unruhe auf und folgte ihnen, sich immer im Kreise umsehend. Er suchte jemand mit den Augen! »Wassja! Wassja!« rief Arkadij Iwanowitsch schluchzend. Wassja blieb stehen, und Arkadij Iwanowitsch drängte sich zu ihm heran. Sie fielen sich zum letztenmal in die Arme, und umklammerten einander schwer und fest. Es war ein trauriger Anblick. Welch ein phantastisches Schicksal preßte aus ihren Augen diese Tränenfluten! Worüber weinten sie? Wo lag das Unglück? Warum konnten sie einander nicht verstehen?
»Da, nimm es, nimm es! Bewahre es auf!« sagte Schumkow und drückte Arkadij ein Stück Papier in die Hand. »Sonst werden sie es mir noch fortnehmen. Du kannst es mir später bringen, ja bringe es mir später! Verwahre es ...« Wassja kam nicht weiter, denn er wurde gerufen. Er lief schnell die Treppe hinunter und nickte allen zum Abschied zu. Sein Gesicht drückte Verzweiflung aus. Schließlich setzte man ihn in eine Kutsche, und die Kutsche rollte davon. Arkadij öffnete hastig das Papier: es war die schwarze Locke Lisas, die Schumkow bei sich getragen hatte. Heiße Tränen traten Arkadij in die Augen: »Ach, arme Lisa!«
Nach Schluß der Kanzleistunden ging er nach der Kolomna-Vorstadt. Es ist gar nicht zu beschreiben, was dort vorging! Selbst Petja, der kleine Petja, der nicht recht verstehen konnte, was mit dem guten Wassja geschehen war, ging in eine Ecke, bedeckte sein Gesicht mit seinen kleinen Händen und begann aus vollem Kinderherzen zu schluchzen. Es dämmerte bereits, als Arkadij nach Hause ging. Am Newa-Kai blieb er für eine Weile stehen und warf einen durchdringenden Blick den Fluß entlang in die nebelige frostige Ferne, die im letzten Abglanz des Abendrots, das am grauen Horizont erstarb, in blutigem Purpur schwamm. Die Nacht senkte sich über die Stadt, und auf der ganzen weiten, vom hartgefrorenen Schnee angeschwollenen Fläche der Newa funkelten in den letzten Sonnenstrahlen unzählige Myriaden von Eisnadeln. Der Frost erreichte zwanzig Grad. Milchweißer Dampf stieg von den müdegehetzten Pferden und den laufenden Menschen auf. Die eisige Luft erzitterte vom leisesten Geräusch, und wie Riesen erhoben sich von allen Dächern auf beiden Seiten des Stromes Rauchsäulen in den kalten Himmel; sie flochten sich ineinander und lösten sich wieder, so daß über den alten Gebäuden neue entstanden, und sich in der Luft eine neue Stadt türmte ... Es war, als ob diese ganze Welt, mit allen ihren Bewohnern, den Mächtigen und den Geringen, mit allen ihren Behausungen, den Bettlerherbergen und den goldstrotzenden Palästen – der Freude der Mächtigen der Erde, sich in dieser Dämmerstunde in einen phantastischen Märchentraum verwandelte, der jeden Augenblick entschwinden und sich im dunkelblauen Himmel als Rauch auflösen würde. Ein sonderbares Gefühl ergriff den verwaisten Freund des armen Wassja. Er fuhr zusammen, und über sein Herz ergoß sich plötzlich eine heiße Blutwelle, die von einem starken, ihm bis jetzt unbekannten Gefühl aufgepeitscht war. Erst jetzt begriff er den Sinn der ganzen Unruhe, und warum der arme Wassja, der sein Glück nicht tragen konnte, den Verstand verloren hatte. Seine Lippen zitterten, in seinen Augen brannte ein Feuer, er erblaßte, und es war ihm, als ob er jetzt eine neue Erkenntnis gewonnen hätte ...
Von nun an wurde er schweigsam und verschlossen und verlor seine ganze frühere Fröhlichkeit. Die alte Wohnung wurde ihm unerträglich, und er zog in eine neue. Zu den Artemjews wollte er nicht mehr gehen; er konnte es einfach nicht. Nach zwei Jahren traf er einmal Lisa in einer Kirche. Sie war verheiratet, und ihr folgte die Amme mit ihrem Kinde. Sie begrüßten einander und vermieden es anfangs, vom Vergangenen zu sprechen. Lisa erzählte, daß sie, Gott sei dank, glücklich sei, daß ihr Mann ein vermögender und auch guter Mensch sei, den sie liebe ... Doch plötzlich, mitten in der Rede, füllten sich ihre Augen mit Tränen, ihre Stimme versagte, sie wandte sich ab und kniete nieder, um ihren Kummer vor den Menschen zu verbergen ...