Fjodor Dostojewski
Der lebenslängliche Ehemann
Fjodor Dostojewski

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XV

Quitt

»Haben Sie gehört, haben Sie gehört?« rief Pawel Pawlowitsch, auf Weltschaninow losstürzend, sowie der junge Mann das Zimmer verlassen hatte.

»Ja, Sie haben kein Glück!« entfuhr es Weltschaninow unversehens.

Er hätte das nicht gesagt, wenn ihn nicht dieser immer wachsende Schmerz in der Brust gequält und geärgert hätte.

Pawel Pawlowitsch zuckte zusammen, als hätte er sich verbrannt.

»Na, und Sie haben mir ja wohl aus Mitleid das Armband nicht zurückgegeben, he?«

»Ich bin nicht dazu gekommen . . .«

»Weil Sie als wahrer Freund mit einem wahren Freunde von Herzen Mitleid hatten?«

»Nun ja, ich hatte Mitleid«, antwortete Weltschaninow, der ärgerlich wurde.

Jedoch erzählte er ihm in Kürze, wie er vorhin das Armband erhalten und wie Nadeschda Fedossejewna ihn beinah mit Gewalt gezwungen hatte, sich an der Sache zu beteiligen . . .

»Sie müssen doch begreifen, daß ich es sonst unter keinen Umständen genommen hätte; ich habe ohnehin schon genug Unannehmlichkeiten!«

»Aber Sie haben sich doch überreden lassen und es genommen!« kicherte Pawel Pawlowitsch.

»Sie reden töricht; aber man muß Ihnen etwas zugute halten. Sie haben ja selbst soeben gesehen, daß nicht ich bei dieser Sache die Hauptperson bin, sondern ein andrer!«

»Aber Sie haben sich doch überreden lassen.«

Pawel Pawlowitsch setzte sich hin und goß sich sein Glas voll.

»Meinen Sie etwa, daß ich sie diesem Milchbart abtreten werde? Ich werde ihm schon Angst machen; das sollen Sie sehen! Gleich morgen werde ich hinfahren und das 170 besorgen. Der soll mir nicht die Luft in der Kinderstube verderben . . .«

Er stürzte fast auf einen Zug das Glas hinunter und füllte es von neuem; überhaupt begann er sich mit einer Ungeniertheit zu benehmen, die ihm bisher fremd gewesen war.

»Nun seh einer diese lieben Kinderchen an: Nadeschdachen und Alexanderchen, hihihi!«

Er kannte sich nicht vor Wut. Wieder flammte ein blendender Blitz, dem ein furchtbarer Donner folgte, und dann goß der Regen wie aus Eimern herab. Pawel Pawlowitsch stand auf und machte das offenstehende Fenster zu.

»Er fragte Sie vorhin: ›Sie fürchten sich doch nicht vor dem Donner?‹ Weltschaninow sollte sich vor dem Donner fürchten! Und dann: ›Wenn Kobylnikow . . .‹, wie war das doch . . ., ›wenn Kobylnikow . . .‹ Und ob Sie fünfzig Jahre alt seien, wie? Erinnern Sie sich?« fragte Pawel Pawlowitsch boshaft.

»Sie haben sich hier wohl häuslich niedergelassen?« bemerkte Weltschaninow, der vor Schmerzen kaum reden konnte. »Ich lege mich hin . . . tun Sie, was Sie wollen!«

»Aber bei solchem Wetter jagt man doch nicht einmal einen Hund aus dem Hause!« erwiderte Pawel Pawlowitsch gekränkt; indes schien er sich beinah darüber zu freuen, daß er ein Recht hatte, sich beleidigt zu fühlen.

»Na, dann bleiben Sie sitzen, und trinken Sie weiter . . . meinetwegen können Sie hier auch übernachten!« murmelte Weltschaninow, streckte sich auf dem Sofa aus und stöhnte leise.

»Übernachten? Werden Sie sich auch nicht fürchten?«

»Wieso?« fragte Weltschaninow, den Kopf in die Höhe hebend.

»Ich meine nur so. Das vorige Mal schienen Sie Angst zu haben; oder ob es mir nur so vorkam?«

»Sie sind ein Narr!« konnte sich Weltschaninow nicht enthalten zu antworten und drehte sich ärgerlich nach der Wand hin.

»Ich nehme es nicht übel«, erwiderte Pawel Pawlowitsch.

Fünf Minuten, nachdem er sich hingelegt hatte, war der 171 Kranke bereits eingeschlafen. Die ganze unnatürliche Anspannung seiner Nerven an diesem Tage, noch dazu da seine Gesundheit in der letzten Zeit ohnehin schon stark angegriffen gewesen war, hatte plötzlich gewissermaßen zum Zerreißen geführt, und er war so kraftlos geworden wie ein kleines Kind. Aber der Schmerz gewann doch die Oberhand und trug über die Müdigkeit und das Schlafbedürfnis den Sieg davon; nach einer Stunde wachte er wieder auf und erhob sich in arger Pein vom Sofa. Das Gewitter war verstummt; das Zimmer war voll Tabaksrauch; die Flasche stand leer da, und Pawel Pawlowitsch schlief auf dem andern Sofa. Er lag auf dem Rücken, mit dem Kopf auf dem Sofakissen, ohne etwas von seinen Kleidern ausgezogen zu haben, und in Stiefeln. Die Lorgnette war ihm aus der Tasche geglitten und hing an der Schnur beinah bis auf den Fußboden. Sein Hut lag daneben auf der Diele. Weltschaninow blickte ingrimmig nach ihm hin; aber er weckte ihn nicht. Sich vor Schmerz zusammenkrümmend ging er, weil er das Liegen nicht mehr aushalten konnte, im Zimmer hin und her, stöhnte und dachte über seinen Schmerz nach.

Er fürchtete diesen Brustschmerz, und nicht ohne Grund. Diese Anfälle waren bei ihm schon vor langer Zeit zum erstenmal aufgetreten, hatten ihn aber nur sehr selten heimgesucht, in Abständen von einem oder zwei Jahren. Er wußte, daß sie von der Leber herrührten. Zuerst sammelte sich gleichsam an irgendeinem Punkte der Brust, unter der Herzgrube oder höher hinauf, ein noch dumpfer, nicht besonders starker, aber aufregender Druck an. Der Schmerz wuchs dann, mitunter zehn Stunden hintereinander, fortwährend an, erreichte schließlich eine solche Stärke, und der Druck wurde so unerträglich, daß der Kranke glaubte, er müsse sterben. Bei dem letzten Anfalle, den er vor einem Jahre gehabt hatte, war er, nachdem der Schmerz zehn Stunden lang gedauert und sich dann gelegt hatte, so matt geworden, daß er, auf dem Bette liegend, kaum eine Hand rühren konnte und der Arzt ihm wie einem Säuglinge für einen ganzen Tag nur ein paar Teelöffel schwachen Tees und ein wenig in Bouillon aufgeweichtes Brot erlaubt hatte. 172 Dieser Schmerz stellte sich infolge sehr verschiedener Zufälligkeiten ein, aber immer nur, wenn die Nerven bereits vorher angegriffen waren. Eigentümlich war auch die Art, wie er wieder verging: Manchmal gelang es, ihm gleich beim Anfang, in der ersten halben Stunde, durch einfache warme Umschläge Einhalt zu tun, und alles war dann wie mit einem Schlage vorbei; manchmal aber (und so war es bei dem letzten Anfall gewesen) wollte nichts helfen, und der Schmerz verging erst nach zahlreichen, stufenweise gesteigerten Dosen eines Brechmittels. Der Arzt gestand nach dem letzten Anfall, daß er an eine Vergiftung geglaubt habe. Jetzt war es bis zum Morgen noch lange hin; in der Nacht den Arzt holen zu lassen hatte er keine Lust; er mochte überhaupt von den Ärzten nicht viel wissen. Zuletzt aber konnte er es nicht mehr aushalten und fing an laut zu stöhnen. Dadurch wurde Pawel Pawlowitsch aufgeweckt; er richtete sich auf dem Sofa auf und saß eine Weile da, indem er ängstlich horchte und mit seinen Blicken Weltschaninow verfolgte, der beinah im Laufschritt in beiden Zimmern auf und ab ging. Die Flasche Champagner, die er getrunken hatte, hatte offenbar ungewöhnlich stark auf ihn gewirkt, und er konnte lange Zeit seine Gedanken nicht sammeln; endlich begriff er, was vorging, und stürzte mit einer Frage zu Weltschaninow hin; dieser murmelte etwas als Antwort.

»Das kommt bei Ihnen von der Leber her; ich kenne das!« sagte Pawel Pawlowitsch, der auf einmal sehr lebendig geworden war. »Das war bei Pjotr Kusmitsch Polossuchin ganz dieselbe Geschichte; das kommt von der Leber. Da muß man warme Umschläge machen, Pjotr Kusmitsch machte sich immer warme Umschläge . . . Daran kann man ja sterben! Soll ich zu Mawra hinunterlaufen, ja?«

»Nicht nötig, nicht nötig!« wehrte Weltschaninow in gereiztem Tone ab. »Es ist gar nichts nötig.«

Aber Pawel Pawlowitsch war, Gott weiß warum, ganz außer sich, als wenn es sich um die Rettung seines eigenen Sohnes gehandelt hätte. Er hörte auf keine Ablehnung und bestand hartnäckig darauf, daß warme Umschläge nötig seien und 173 außerdem noch zwei, drei Tassen schwachen Tees, schnell hintereinander getrunken, »aber nicht einfach heiß, sondern kochend!« Er lief, ohne eine Erlaubnis abzuwarten, zu Mawra, machte mit ihr zusammen in Weltschaninows sonst nie benutzter Küche Feuer und brachte den Samowar in Gang. Bis dieser kochte, hatte er auch schon den Kranken ins Bett gebracht, ihm die Oberkleider ausgezogen, ihn in die Bettdecke gewickelt, und es waren kaum zwanzig Minuten vergangen, als er den Tee und den ersten warmen Umschlag fertiggestellt hatte.

»Das ist ein gewärmter Teller; er ist glühend!« sagte er ordentlich begeistert und legte einen erhitzten, in eine Serviette geschlagenen Teller auf Weltschaninows kranke Brust. »Andere Umschläge sind nicht da, und ihre Beschaffung würde zu lange dauern; aber Teller sind sogar, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, das allerbeste: Ich habe es bei Pjotr Kusmitsch erprobt, mit eigenen Augen und Händen. Daran kann man ja sterben. Trinken Sie den Tee; schlucken Sie nur gehörig; es schadet nichts, wenn Sie sich auch dabei verbrennen; das Leben ist wertvoller – als alles Großtun.«

Er trieb die verschlafene Mawra eifrig an; die Teller wurden alle drei, vier Minuten gewechselt. Nach dem dritten Teller und der zweiten, schnell hinuntergestürzten Tasse siedend heißen Tees fühlte Weltschaninow plötzlich eine gewisse Erleichterung.

»Wenn nur der Schmerz erst einmal ins Wanken kommt, dann können wir Gott danken; das ist ein gutes Zeichen!« rief Pawel Pawlowitsch und lief erfreut hin, um einen neuen Teller und neuen Tee zu holen.

»Wenn wir nur erst den Schmerz gebrochen haben! Wenn es uns nur gelingt, den Schmerz zurückzutreiben!« wiederholte er alle Augenblicke.

Nach einer halben Stunde hatte der Schmerz fast ganz aufgehört; aber der Kranke fühlte sich so zermartert, daß er trotz der inständigsten Bitten Pawel Pawlowitschs sich nicht dazu verstand, »noch ein einziges Tellerchen« auszuhalten. Die Augen fielen ihm zu vor Müdigkeit. 174

»Schlafen, schlafen«, sagte er mit schwacher Stimme.

»Auch das!« stimmte ihm Pawel Pawlowitsch bei.

»Bleiben Sie die Nacht über hier . . . Was ist die Uhr?«

»Bald zwei, drei Viertel auf zwei.«

»Bleiben Sie die Nacht über hier!«

»Gut, gut, das werde ich tun.«

Eine Minute darauf rief der Kranke Pawel Pawlowitsch wieder zu sich heran.

»Sie, Sie«, murmelte er, als dieser herbeigelaufen kam und sich über ihn beugte, »Sie sind besser als ich! Ich verstehe alles, alles . . . ich danke Ihnen.«

»Schlafen Sie, schlafen Sie!« flüsterte Pawel Pawlowitsch und begab sich so schnell wie möglich auf den Zehen zu seinem Sofa.

Der Kranke hörte im Einschlafen noch, wie Pawel Pawlowitsch rasch und leise sein Bett zurechtmachte, sich auszog und endlich, nachdem er die Kerze ausgelöscht hatte, kaum atmend, um nicht zu stören, sich auf seinem Sofa ausstreckte.

Ohne Zweifel schlief Weltschaninow und war nach dem Auslöschen der Kerze sogar sehr schnell eingeschlafen; er erinnerte sich daran nachher deutlich. Aber während der ganzen Dauer seines Schlafes, bis unmittelbar zum Augenblicke des Erwachens, träumte ihm, daß er nicht schlafe und trotz all seiner Schwäche absolut nicht einschlafen könne. Schließlich träumte ihm, daß er in wachem Zustande zu phantasieren beginne, und daß er die ihn umdrängenden Truggestalten schlechterdings nicht verscheuchen könne, trotz des vollen Bewußtseins, daß es eben nur Produkte seiner irren Phantasie seien und keine Wirklichkeit. Diese Vision selbst war ihm vollständig bekannt: Es schien ihm, daß sein ganzes Zimmer voll Menschen sei und die Tür nach dem Flur offenstehe; ganze Scharen von Menschen kamen herein und drängten sich auf der Treppe. An einem mitten im Zimmer stehenden Tische saß ein Mensch, genau so wie damals, in einem ebensolchen Traume, den er vor einigen Monaten gehabt hatte. Wie damals, so saß dieser Mensch mit aufgestützten Ellbogen am Tische und wollte nicht 175 reden; aber jetzt hatte er einen Zylinderhut mit einem Trauerflor auf dem Kopfe. »Wie? Sollte das wirklich auch damals Pawel Pawlowitsch gewesen sein?« dachte Weltschaninow; aber bei einem Blicke in das Gesicht des schweigsamen Menschen überzeugte er sich, daß das ein ganz anderer war. »Warum trägt er denn einen Trauerflor?« fragte sich Weltschaninow verwundert. Der Lärm, das Reden und das Geschrei der Menschen, die sich beim Tische drängten, war furchtbar. Diese Menschen schienen auf Weltschaninow noch mehr ergrimmt zu sein als damals in jenem Traume; sie drohten ihm mit den Armen und schrien ihm aus voller Kehle etwas zu; aber was es eigentlich war, das konnte er durchaus nicht verstehen. »Aber das ist ja nur eine Fieberphantasie; das weiß ich ja!« ging es ihm durch den Kopf; »ich weiß, daß ich nicht einschlafen konnte und jetzt aufgestanden bin, weil ich vor Beklemmung nicht liegen konnte!« . . . Aber doch war das Geschrei der Menschen und ihre Gestikulationen und alles so deutlich, so wirklich, daß ihm manchmal ein Zweifel kam: »Ist das auch wirklich nur Fieberphantasie? Was wollen diese Menschen von mir, mein Gott? Aber . . . wenn das nicht Fieberphantasie wäre, wie wäre es dann möglich, daß ein solches Geschrei Pawel Pawlowitsch noch nicht aufgeweckt hätte? Aber er schläft ja dort, dort auf dem Sofa!« Endlich ereignete sich auf einmal etwas, wieder wie damals in jenem Traume; alle wandten sich nach der Treppe hin, und es entstand in der Tür ein furchtbares Gedränge, da von der Treppe her sich eine neue Menschenschar ins Zimmer hereinwälzte. Diese Menschen brachten etwas getragen, etwas Großes, Schweres; es war zu hören, wie die Tritte der Träger schwer auf die Treppenstufen aufstampften, und wie sie sich untereinander mit keuchender Stimme etwas zuriefen. Im Zimmer schrien alle: »Sie bringen es, sie bringen es!« Alle Augen funkelten und richteten sich auf Weltschaninow; alle wiesen drohend und triumphierend nach der Treppe. Er zweifelte jetzt in keiner Weise mehr daran, daß das alles nicht Fieberphantasie, sondern Wahrheit war, und stellte sich auf die Zehen, um über die Köpfe der Leute weg schneller zu sehen, was sie da 176 eigentlich brächten. Sein Herz pochte gewaltig, und auf einmal wurde, genau wie damals in jenem Traume, dreimal mit größter Heftigkeit an der Klingel gezogen. Und wieder war dies ein so deutlicher, so bis zur Greifbarkeit wirklicher Ton, daß er einen solchen Ton unmöglich nur träumen konnte! . . . Er schrie auf und erwachte.

Aber er stürzte nicht wie damals zur Tür hin. Welcher Gedanke seine erste Bewegung lenkte, und ob er überhaupt in jenem Augenblicke irgendwelche Gedanken hatte, das ist schwer zu sagen; aber es war, als ob ihm jemand zuflüsterte, was er tun müsse: Er raffte sich vom Bette auf und schickte sich an, mit vorgestreckten Armen, wie um sich vor einem Angriff zu schützen, gerade nach der Seite hin zu stürzen, wo Pawel Pawlowitsch schlief. Aber plötzlich stießen seine Arme mit einem Paar anderer Arme zusammen, die schon über ihm ausgestreckt waren, und er packte sie mit kräftigem Griffe; es hatte also jemand bereits neben ihm gestanden und sich über ihn gebeugt. Die Gardinen waren zugezogen; aber es war nicht ganz dunkel, da aus dem andern Zimmer, in welchem keine solchen Gardinen vorhanden waren, schon ein schwacher Lichtschimmer herüberdrang. Auf einmal zerschnitt ihm etwas äußerst schmerzhaft die Innenfläche und die Finger der linken Hand, und er begriff sofort, daß er in die Schneide eines Dolches oder Rasiermessers gegriffen und sie sich stark in die Hand gedrückt hatte. In demselben Augenblicke fiel etwas Gewichtiges, einmal aufschlagend, auf den Fußboden.

Weltschaninow war vielleicht dreimal so stark wie Pawel Pawlowitsch; aber das Ringen zwischen ihnen dauerte dennoch lange, volle drei Minuten. Er drückte ihn zwar bald zu Boden und zwängte ihm die Arme nach hinten; aber aus irgendwelchem Grunde wollte er ihm diese zurückgezwängten Arme durchaus zusammenbinden. Während er mit der verwundeten linken Hand den Mörder festhielt, tastete er mit der rechten nach der Schnur des Fenstervorhanges und konnte sie lange Zeit nicht finden; aber endlich bekam er sie doch zu fassen und riß sie vom Fenster ab. Er selbst wunderte sich später über die außergewöhnliche 177 Kraftanstrengung, die dazu erforderlich gewesen war. Während dieser ganzen drei Minuten sprach weder der eine noch der andere ein Wort; man hörte nur ihr keuchendes Atmen und das dumpfe Geräusch des Ringens. Endlich war es ihm gelungen, seinem Gegner die Arme auf dem Rücken zusammenzubinden. Weltschaninow warf ihn auf den Fußboden, stand auf, schob den Fenstervorhang zur Seite und zog das Rouleau in die Höhe. Auf der menschenleeren Straße war es schon hell. Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, blieb er an demselben ein Weilchen stehen und zog, tief atmend, die Luft ein. Es war schon vier Uhr durch. Er schloß das Fenster wieder, ging schnell zu einem Schranke, nahm ein reines Handtuch heraus und wickelte es ganz fest um seine linke Hand, um das daraus hervorquellende Blut zu stillen. Zufällig kam er mit dem Fuße an das geöffnete Rasiermesser, das auf dem Teppich lag; er hob es auf, klappte es zusammen, legte es in seinen Rasierkasten, den er am Vormittag auf einem kleinen Tischchen, dicht neben dem Sofa, auf dem Pawel Pawlowitsch schlief, aus Vergeßlichkeit hatte stehen lassen, und schloß den Kasten in seinen Schreibtisch ein. Und nachdem er das alles ausgeführt hatte, trat er zu Pawel Pawlowitsch und betrachtete ihn.

Unterdessen hatte dieser es mit Anstrengung fertiggebracht, vom Teppich aufzustehen und sich auf einen Lehnstuhl zu setzen. Er war nur mit dem Unterzeuge bekleidet und hatte auch keine Stiefel an. Sein Hemd war am Rücken und an den Ärmeln mit Blut befleckt; aber dieses Blut war nicht das seinige, sondern stammte aus Weltschaninows zerschnittener Hand. Allerdings war dies Pawel Pawlowitsch; aber jemand, der ihn unversehens erblickt hätte, würde ihn im ersten Augenblicke kaum haben erkennen können, so hatte sich sein Gesicht verändert. Er saß auf dem Lehnstuhl in gezwungener gerader Haltung infolge der auf dem Rücken zusammengebundenen Arme; sein qualvoll verzerrtes Gesicht war grünlich geworden und zuckte von Zeit zu Zeit. Unverwandt, aber mit trübem Blicke, als ob er alles noch nicht deutlich unterscheiden könne, sah er Weltschaninow an. Auf einmal lächelte er stumpfsinnig, deutete 178 mit dem Kopfe nach der Wasserkaraffe, die auf dem Tische stand, und flüsterte kurz:

»Bitte, Wasser!«

Weltschaninow goß ihm ein Glas voll ein und hielt es ihm an den Mund. Pawel Pawlowitsch machte sich gierig daran zu trinken. Nachdem er etwa drei Schlucke genommen hatte, hob er den Kopf in die Höhe, blickte den mit dem Glase in der Hand vor ihm stehenden Weltschaninow starr an, sagte aber nichts und trank das Wasser zu Ende aus. Darauf seufzte er tief. Weltschaninow nahm sein Kopfkissen, ergriff seine Kleider und begab sich in das andere Zimmer, nachdem er Pawel Pawlowitsch in dem ersten Zimmer eingeschlossen hatte.

Der Schmerz von vorhin war vollständig vergangen; aber nach der jetzigen, momentanen Anspannung seiner Kraft (er wußte nicht, wo er auf einmal so viel Kraft hergenommen hatte) empfand er eine außerordentliche Schwäche. Er machte einen Versuch, sich das Geschehene im Kopfe zurechtzulegen; aber er vermochte seine Gedanken nur sehr mangelhaft miteinander zu verknüpfen; der Schock war gar zu stark gewesen. Manchmal fielen ihm die Augen zu, mitunter sogar für zehn Minuten; dann wieder zuckte er zusammen, erwachte, besann sich auf alles, erinnerte sich an seine schmerzende, mit dem blutgetränkten Handtuche umwickelte Hand und begann eifrig und fieberhaft nachzudenken. Nur eines war ihm vollkommen klar: Daß Pawel Pawlowitsch ihn tatsächlich hatte ermorden wollen, daß er aber vielleicht noch eine Viertelstunde vorher nicht gewußt hatte, daß er das tun würde. Der Rasierkasten war ihm vielleicht erst am Abend flüchtig vor die Augen gekommen, ohne bei ihm irgendwelche Gedanken zu erwecken, und war ihm nur im Gedächtnis geblieben. (Das Rasierzeug lag sonst immer eingeschlossen im Schreibtisch, und nur am vorigen Vormittage hatte Weltschaninow es herausgenommen, um einige überflüssige Haare neben dem Schnurrbart und dem Backenbarte zu entfernen, wie er das manchmal tat.)

»Hätte er schon seit längerer Zeit die Absicht gehabt, mich zu töten, so würde er sicherlich einen Dolch oder eine Pistole 179 bereitgehalten und nicht auf mein Rasiermesser gerechnet haben, das er vor gestern abend noch nie gesehen hatte«, dachte er unter anderem.

Endlich schlug es sechs. Weltschaninow riß sich von seinen Gedanken los, kleidete sich an und ging zu Pawel Pawlowitsch hin. Als er die Tür aufschloß, konnte er nicht begreifen, warum er ihn eigentlich eingeschlossen und ihn nicht vorhin einfach aus dem Hause hinausgelassen hatte. Zu seiner Verwunderung war der Gefangene schon vollständig angekleidet; offenbar hatte er eine Möglichkeit gefunden, sich der Fesseln zu entledigen. Er saß auf dem Lehnstuhle, stand aber bei Weltschaninows Eintritt sogleich auf. Den Hut hielt er schon in der Hand. Sein unruhiger Blick schien eilig zu sagen:

»Fang nicht an zu reden; das ist zwecklos; wir haben einander nichts zu sagen.«

»Gehen Sie weg!« sagte Weltschaninow. »Nehmen Sie Ihr Etui mit!« fügte er, ihm nachrufend, hinzu.

Pawel Pawlowitsch kam von der Tür noch einmal zurück, nahm das Etui mit dem Armband vom Tische, steckte es in die Tasche und ging auf die Treppe hinaus. Weltschaninow stand an der Tür, um hinter ihm zuzuschließen. Ihre Blicke begegneten einander ein letztes Mal; Pawel Pawlowitsch blieb auf einmal stehen; beide blickten einander etwa fünf Sekunden lang, wie unschlüssig, in die Augen; schließlich winkte Weltschaninow ihm matt mit der Hand, er möchte gehen.

»Nun, dann gehen Sie!« sagte er halblaut und schloß die Tür zu.

 


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