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Goldig glänzend war die Sonne des Oktobertages untergegangen. Wie ihr Widerschein lag auf allen Gesichtern der Glanz des ersten, unendlichen Glücks, das diesem Hause geworden. Im dämmernden Zwielicht saß die Familie Junker beisammen, und alle spannen lichte Hoffnungsfäden zu fest gefügten Zukunftsträumen.
Am praktischsten träumte Hans: »Ja, meine alten Beine werden schon ein bißchen pflastermüde … wenn du uns, wie du meinst, einmal mit auf die Pfarre nähmest, ließe ich mich gleich pensionieren … am Ende werde ich wieder, wie in Arup, der alte Pastorhans, der die Landwirtschaft betreibt … du würdest ja doch keine Zeit haben, dich mit Pferden, Kühen und Knechten abzugeben.«
»O, da bist du in einem großen Irrtum, gerade das würde meine Lust und Lieblingsbeschäftigung sein.«
»Hm, hm«, meinte Hans, »soll nicht der Schuster beim Leisten und der Pastor bei der Bibel bleiben?«
Ein die steile Treppe hinabhuschender Schritt unterbrach das Gespräch, eine verhüllte Gestalt trat ins Zimmer und kicherte: »Kennt ihr mich nicht?«
»Silly, Silly!«
»Ja, ich will dir von Herzen Glück wünschen, Herr Soundso. Wie soll man dich titulieren, und was bist du jetzt?«
»Weder Fisch noch Fleisch, weder freier Bursch noch unfreier Beamter … trotzdem nenne ich mich nicht ohne Stolz candidatus ministerii reverendi.«
»Ja, was heißt die lange Lateinerei?«
»Kandidat des ehrwürdigen Amts.«
»O, du Ehrwürdiger, laß dir den Schnurrbart scheren, der eine zweifelhafte Kandidatenzierde ist!«
Friedline hatte einen tollen Einfall und sagte plötzlich: »Silly, gib ihm einen Gratulationskuß … auf den Schnurrbart!«
Die lustige Kousine wurde rot und redete schnell nach der andern Seite: »Tante, wir freuen uns mit euch … mein Vater bittet euch, uns morgen zu besuchen.«
[später entfallen: »Und dein Bruder?« fragte Amatus scharf.
»Ist nicht zu Hause, sondern bei einem Studiengenossen, dem Baron Witte auf Schönhorst, zur Jagd.«
»Bei einem Baron? Himmel! Ich nehme den Hut ab … und mit der alten Salon- und Krähenbüchse?«
Die Kousine sah ihn bittend an. »Amatus, an den Spöttern hat Gott kein Wohlgefallen, weil der Spott weh tut … ich weiß es.«]
Im Gehen nickte sie ihm [später: dem Vetter] zu. »Du wirst morgen vielleicht eine alte Bekanntschaft erneuern«, und raffte den Kapuzenmantel fest zusammen, so daß das Gebrest des Rückens hervortrat. [Später entfallen: Kannte sie darum den wehe tuenden Spott?] –
Hans Gerichtsdiener bog am Sonntagnachmittag nach links, statt wie sonst den Weg durch die Allee zu wählen. Seine Frau [später entfallen: aber] blieb stehen: »Warum sollen wir den Umweg durch die Stadt machen?«
»Liebe Mutter, ich garantiere für nichts und glaube, daß die Fußsteige sehr schmutzig sind.«
So bekam er seinen Willen und marschierte stolz und stramm zwischen seiner Frau und seinem Sohne durch die Gassen Norderhafens und flüsterte bald fröhlich-pfiffig: »Merkst du nicht, Mutter, wie wir angeguckt werden, weil es in der Zeitung gestanden hat, daß er Kandidat geworden ist?«
Darum hatte er den Stadtweg gewählt.
Bei Hardesvogts wurde die alte Bekanntschaft erneuert; und Amatus, der unerwartet vor Klarissa stand, wurde sichtlich verlegen, weil er der wenig vorteilhaften Situation gedachte, als sie vor dem Wirtshause auf der Straße ihm mütterlichen Gruß bestellte.
Nachdem er die Befangenheit abgestreift hatte, redete er lebhaft mit ihr und beobachtete ihr Gesicht. Ihre Augen hatten trotz der unbestimmbaren Farbe, die zwischen grau und braun schillerte, eine eigentümliche, ruhige Klarheit, wie er sie noch nicht gesehen. Wenn auch die Züge alles andre als regelmäßig waren und die Nase am wenigsten irgend einem Ideal, weder dem römischen oder griechischen oder auch nur nordschleswigschen [später ergänzt: Nasen-Ideal], entsprach, war ihre Gestalt [später ergänzt: doch] groß, schlank und geschmeidig. Ihr Wesen und Gebaren hatte, wie ihr Körper, etwas Abgerundetes, Abgeschlossenes und Geordnetes, wie man es bei selbständigen Charakteren findet, die frühe im Strom der Welt mit eignen Händen haben schwimmen müssen.
Auf seine Frage nach dem Freunde Wilhelm erzählte sie freudig-ausführlich: Ihr Bruder, der jetzt in Berlin studiere, werde in diesem Herbst sein Examen als Chemiker machen; ein schlichter Bauer in Dithmarschen, bei dem er Hauslehrer gewesen, habe ihm ohne Schuldschein, bloß auf sein ehrliches Gesicht hin eine bedeutende Summe geliehen.
»Hat der edle Bauer vielleicht eine Tochter?« Junker konnte die Frage nicht unterdrücken.
In demselben Ton gab sie zurück: »Ja, eine Tochter … fünfjährig und im Flügelkleide.«
Die Jungen, die eine Neigung zum Untersichsein haben, gingen in den Garten. In einem Bäumchen hing ein vergessener Apfel, den Amatus als der längste herunterholen mußte. Als er ihn gepflückt hatte, stellte sich Silly ihm zur Linken und sagte: »Siehe, Paris mit dem Apfel in der Hand! Wem von uns beiden wirst du ihn wohl reichen?«
Ergötzlich schaute er von der einen zur andern, zog langsam sein Taschenmesser und teilte mit salomonischer Weisheit den Apfel in zwei Hälften.
Die erwachsene Klarissa biß sogleich mit kräftigen Zähnen in ihren Anteil hinein.
Diese kindliche Art machte ihn kecker, so daß er, als sie fragte: »Herr Junker, geht es nun ins geistliche Amt?« recht burschikose Antwort gab: »Bewahre! Ich werde noch, kürzere oder längere Zeit, draußen im Vorhof des Heiligen warten müssen, in dessen Allerheiligstem die Ge–ne–ral–supe–rin–ten–denten – ich muß immer einen Anlauf machen, um das hohe und lange Hinderniswort ohne Anstoß zu nehmen – und die Konsistorialräte sitzen und über ein armes Kandidatenschicksal entscheiden. Wohin meine Kandidatenfahrt geht, ahne ich nicht einmal … Hauslehrer? Brrr! Lieber doch eine Prädikantenstelle als das kleinere Übel!!
»Ein Übel?« Fräulein Reder sah ihn groß und verwundert an.
»Na, ein Kandidat, der bei uns in Frack und Schwalbenschwänzen auf der Kanzel steht und über die Köpfe nordschleswigscher Bauern hinwegpredigt, ist ein ziemlich undefinierbares Geschöpf.«
Eine glasklare Stimme sprach: »Wie kann ein Mann einen Beruf wählen, an dem er geringschätzend so viele Mängel findet? Wo keine ganze Überzeugung, ist keine volle Hingabe … sondern eine Halbheit.«
Dem kecken Kandidaten wurde kleinmütig, als wenn ihm über den losen Mund ein leichter Streich hingewischt worden sei. Ohne Freude an der kindlichen Klarissa stotterte er: »Ich meine nur, daß ein Prädikantenamt eine Halbheit und kein Beruf ist … ordinieren wird man mich nicht – weil ich noch zu jung bin. Nach einer weisen Konsistorialordnung darf einer nicht zu früh Kandidat werden, sondern muß bis zu den vernünftig betagten Jahren – sie nennen's das kanonische Alter – die Universitätsbänke absitzen und seine 9–10 Semester verstudieren muß, wofern er gleich nach dem Examen ordiniert werden will. Meine Mitprüflinge bekommen jetzt sämtlich die Ordination, weil sie ein paar Jahre älter sind und ein schlechteres Zeugnis haben als ich.«
»Ich verstehe Ihren Ärger«, antwortete Klarissa, »aber Ihre große Jugend ist doch keine Schande, sondern vielmehr eine Ehre.«
»Und ein schwerer Nachteil … allerdings nur bei geistlichen Behörden«, sagte er und schwieg. Obgleich sie ihm seine Ehre ließ, war ihm unbehaglich, von der Erwachsenen an seine große Jugend erinnert zu werden. Auch wirkte der Mundstreich nach, so daß er über ihr Wort nachdachte – war er ohne Überzeugung Theologe geworden? Er hielt doch alle Lehrsätze für wahr und fest fundiert und hängte sich nicht einmal des Anstands halber ein modern freisinniges Mäntelchen um, wie andre es taten, um nicht der schwarzen Finsterlings-Orthodoxie verschrien zu werden.
Silly allein blieb lustig. »Amatus, wenn ich mir vorstelle, daß du auf der Kanzel stehst und ich unten in der Kirche sitze.«
»Die Vorstellung kann am nächsten Sonntag in St. Marien zur Wirklichkeit werden … ich werde predigen.«
Klarissa kneipte mit zwei Fingern den Ellenbogen der Freundin, welches das alte Schulzeichen war, daß sie ihr etwas unter vier Augen zu sagen habe. Auf dem Flure entledigten sich die Mädchen des Geleitsmannes und gingen in das obere Zimmer.
Silly machte eine schaudernde Bewegung und lächelte. »O, Rissa, hier war meine Folterkammer, wo ich in Steckriemen lag … und es hat nichts genützt.«
»Nichts genützt? Doch!«
»Lassen wir, was ich leider weiß! Du wolltest mir etwas im Vertrauen sagen? Magst du ihn noch leiden?
Die gesetzte Reder antwortete nur auf die erste Frage mit unsicherer Stimme: »Mir ist eingefallen … ich wüßte vielleicht eine gute Prädikantenstelle für Junker … nämlich bei unserm Pastor …«
»Hier in Norderhafen? Wie schön!«
»Nein, in Alstrup … Pastor Webers sind vortreffliche Leute, die ihn wie ihr Kind halten würden.«
»Sag ihm das doch, Klarissa!«
»Nein, ich kann es nicht sagen … weil ich in der Gemeinde auf dem Hofe Egeberg konditioniere …« Die Erwachsene stockte wie ein befangenes Schulmädchen.
Und die Freundin betrachtete sie forschend. »Wie findest du ihn?«
»Ich weiß nicht ... haben wir uns nicht einmal das Versprechen gegeben, davon nicht zu sprechen?«
»Rissa, denkst du noch an das Gelübde in der Kastanienallee … und lachst du nicht darüber?«
»Ja, Silly, ich denke daran und lache nicht darüber.«
Die Kousine übernahm es, ihrem Vetter nahe zu legen, daß er sich um die Prädikantenstelle bemühe.
Junker ging auf den Vorschlag ein, in dem seine Mutter einen Fingerzeig von oben erblickte. Als er beim Abschied Fräulein Reder dankte, war er in seinem Herzen mit ihrem fertig forschen Wesen versöhnt.
Die Marienkirche, die sonst nur am ersten Weihnachtstag ganz voll wurde, war es auch am zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis. Alle Norderhafener wollten den Gerichtsdienersohn hören, manche der Kuriosität halber, und einige meinten: Ob er wohl stecken bleiben wird, wie der letzte Kandidat? Monika, die im Stuhle ihr stilles Gebet sprach, bat zu Gott, daß solch gräßliches Unheil ihm und ihr nicht widerfahren möge.
Der dort oben stand und den Schnurrbart zurückstrich, blieb nicht stecken, sondern hielt einen gewandten, geistlichen und nicht geistlosen Vortrag. Hans Gerichtsdiener starrte begeistert zur Kanzel empor, während die Mutter, aus Furcht, den Redner zu verwirren, den Kopf tief senkte, und Friedlines blinde Augen tropften ein paarmal.
Oben auf der Empore hatte der Hardesvogt mit seiner Tochter gesessen und faßte draußen sein Urteil in die Worte zusammen: »Der Bursche hat eine kräftige Suade … kommt er einmal zur Wahl, wird er gewählt, besonders wenn er so gescheit ist, sich vorher nicht zu verloben, jaja!«
Fräulein Reder war von Junkers nicht gesehen worden, aber sie hatte hinter einem Pfeiler gesessen und jedem Wort gelauscht.
Vor der Kirchtür traten die Norderhafener an den jungen Prädikanten heran, um ihm die Hand zu drücken. Der Kaufmann Petersen, genannt Christian Billig, welcher Kirchenältester war, sagte laut: »Sie haben meine volle Achtung, Sie können besser predigen als mancher Propst.«
Hans Gerichtsdiener nahm den Arm seiner Frau, und seine Stimme hatte etwas Schluchzendes: »Mutter, das war ein großer Tag.«
»Ja, ein großer Gnadentag Gottes.« – – –
Pastor Weber in Alstrup hatte seiner Frau, ohne deren Zustimmung er nichts unternahm, die Zeugnisse vorgelesen, und das alte Ehepaar war sehr befriedigt und sich bald einig, den Kandidaten, der als Sohn eines Gerichtsdieners gewiß keine Ansprüche mache, anzunehmen.
Daß Junker Prädikant in Alstrup wurde, verdankte er nächst Gott und dem Generalsuperintendenten, der seine Zustimmung erteilte, am meisten von Menschen dem Fräulein Reder; und je einheimischer er in seinem neuen Lebenskreise wurde, desto mehr Dank wußte er ihr.
Alstrup, ein bürgerlicher Flecken mit rein dänischer Kirchensprache, lag nicht weit von der Ostsee in einer fruchtbaren, von hohen Hecken kreuz und quer durchschnittenen Gegend.
Pastor Weber, ein zweiundsiebzigjähriger Greis, der sich strack hielt und einen gravitätischen Storchschritt hatte, mit welcher Haltung das freundliche Gesicht nicht in Einklang stand, empfing den Kandidaten im Schlafrock und führte ihn seiner Gattin zu, der er ins Ohr rief: »Bene, hier ist unser neuer Hausgenosse.« Leise setzte er hinzu: »Wollen Sie recht laut und deutlich sprechen, da meine Frau etwas schwerhörig ist?«
Die alte Dame, deren breites Gesicht voll Behagen war und Behaglichkeit ausströmte, nickte mit der gepufften Tüllhaube und reichte dem Fremdling wie einem guten Bekannten die Hand. »Wir wollen statt Hausgenosse sagen: Unser Sohn, denn wir haben keinen.«
Altmodisch und traulich war die Stube. Weit- und breitläufig erzählte die Pastorin von ihrer einzigen Tochter, die mit dem Pastor Ernst in der Marsch verheiratet sei, der 700 Taler Einnahme und sieben Kinder habe. »Sie werden einsehen, daß wir dort Zuschüsse machen müssen und darum nicht das höchste Prädikantengehalt zahlen können.«
»Bene, jetzt überlaß ich Herrn Junker dir … ich muß studieren.« Majestätischen Ganges entschwand der Schlafrock.
Gebrauchte der Pastor die Redensart Bene – d.i. zu deutsch gut – als ein unnötiges Flickwort? Nein, es war der Kosename, den er vor mehr als vierzig Jahren seiner Braut Benediktine gegeben und seither beibehalten hatte. In den vier Dezennien seiner Ehe hatte er alles, was sie tat und sagte, bene gefunden, gut geheißen und gebilligt. Die gute Pastorin hatte aber nie etwas Schlimmes getan und ihren Mund immer aufrichtig reden lassen. Weil in ihrem Gemüt kein Fünklein Falsch war, sprach sie bisweilen ihre Gedanken, Ansichten und Urteile mit verblüffender Offenheit aus.
Aus der Küche kam die dritte Person, die schnell vor dem Spiegel der Mädchenkammer sich besichtigt und die Stirnhaare gezwirbelt hatte, und die etwas nachlässig und beiläufig als Fräulein Eveline Nissen vorgestellt wurde und des Haushalts Stütze war – ein schmächtiges, stark geschnürtes Figürchen, darauf ein niedlicher, nicht viel sagender Puppenkopf saß. Sie spielte eine recht stumme Rolle und sollte es.
Die Pastorin erzählte gern, aber fragte noch viel lieber, und mehr, als fünf Kandidaten beantworten können. Stundenlang und unverdrossen rief Amatus der alten Dame seine Antworten ins Ohr und gewann dadurch ihre Gunst.
»Mein lieber Mann sitzt den ganzen Tag und Abend in seinem Zimmer und studiert unablässig und kommt nur zu den Mahlzeiten herüber … so hat er's gemacht, seit wir verheiratet sind … ich muß ihm noch die Untugend abgewöhnen.«
»Dann wird's Zeit, Frau Pastor.«
Sie lachte. »Jaja … warum nimmt er nicht mitunter eine von seinen alten, schönen Predigten? Ich behalte keine vom einen [später: von dem einen] Jahr zum andern im Kopfe, und die Alstruper Bauern noch weniger.«
Während des Abendessens wagte Fräulein Eveline ein paarmal nach dem neuen Hausbewohner hinüber zu äugeln, um von seinem Äußern ein Bild zu gewinnen. Gleich nach Tisch, als die Stütze in der Küche schaltete und der Pastor weiter studierte, erhielt Amatus einen Beweis sowohl von der scharfen Beobachtungsgabe als auch von der großen, geraden Offenheit seiner Pastorin, die ihm zuflüsterte: »Wenn auch meine Ohren nichts taugen, sind meine Augen um so besser … haben Sie gesehen, wie die [später ergänzt: Nissen] Ihnen Blicke machte und mit den Augenlidern klapperte? Gehen Sie nur nicht auf den Leim!«
Er wußte keine Antwort und schwieg. –
Jeden Abend von acht bis zehn Uhr saßen sie zu dreien um den Eichentisch, auf dem ständig eine mit duftendem Edelobst gefüllte Schale stand.
»Herr Junker, hier kann jeder nach Belieben zugreifen, wenn er einmal tagsüber Apfelappetit bekommt.«
Bei diesen freundlichen, nicht an sie gerichteten Worten lächelte Eveline, von der Lampe gedeckt, eigentümlich in sich hinein. Sie durfte es nämlich nicht, obgleich sie im Hause den stärksten Obsthunger hatte und auch Wege wußte, ihn zu stillen.
Frau Bene nahm die Brille ab und schwatzte behaglich, fast ein halbes Jahrhundert zurückgreifend, wie sie ihren Mann als bartlosen Kandidaten kennen gelernt und er dann bei einem lustigen Waldpicknick, aber natürlich abseits von den Leuten, in einem dichten Tannensteige plötzlich zu ihren Füßen auf die weißen, geräuschlosen Nadeln niedergesunken sei.
Amatus versuchte, sich den gravitätischen, storchbeinigen Greis in knieender Stellung vorzustellen, und verzog den Mund.
»Lachen Sie nicht! Das war eine selige Zeit. Wir genossen das Glück der Verlobung und kosteten es gründlich aus, denn wir mußten sieben Jahre warten … doch wenn wir alle Halbjahr uns sahen und jeden Monat einen langen Brief erhielten, war das eine unbeschreibliche und unendliche Freude. Die neuen Menschen, die flugsweg heiraten müssen, kennen das Glück gar nicht, das innige Sichfreuen auf eine zukünftige Freude, welches die reinste und längste Freude ist.«
Die alten, in die Jugend zurückblickenden Augen leuchteten hell.
Dem Fräulein entschlüpfte das [später ergänzt: spöttische] Gemurmel: »Ja, eine lange Freude [später: Verlobungs-Freude]!«
Infolge einer nahe liegenden Gedankenverbindung fragte die Pastorin ohne Umschreibung: »Herr Junker, sind Sie verlobt?«
Sofort stand drüben die Häkelnadel still, und das Puppengesicht lugte unter dem Lampenschirm hinüber.
Amatus hob seine beiden ringlosen Hände hoch empor.
Frau Bene schmunzelte: »Wo ist ein Kandidat der Theologie, der nicht heimlich verlobt wäre? Sie werden's auch sein.«
»Gott sei Dank nicht! Ich bin eine rühmliche Ausnahme.«
Eveline bewegte lächelnd den Mund, als wenn ein leises Gott sei Dank auch auf ihre Lippen träte.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie schon verlobt wären«, fuhr die Pastorin fort, »hier in Alstrup müssen Sie auf der Hut sein.«
»Auf der Hut? Wovor?«
»Vor den jungen, heiratslustigen Mädchen … ja, das kann nett werden … besonders vor den Däninnen müssen Sie sich in acht nehmen.«
»O, ich habe einen Bund gemacht mit meinen Augen, daß sie nicht sehen auf eine Jungfrau.« Bei den Worten guckte er um den Schirm herum und warf dem Fräulein einen Blick zu.
Die Pastorin sah gut ohne Brille und hob den Finger. »Sie fangen wohl schon an den Bund zu halten … ich erzählte [später ergänzt: Ihnen] ja … wie weit war ich gekommen?«
»Bis zur reinen Freude der langen Verlobungen«, sagte er.
»Im Jahre 1845 bekamen wir eine Stelle in Sundewitt und verheirateten uns … bescheiden, aber groß war das Glück … und kurz, sehr kurz. Nach drei Jahren brach der Krieg aus, mein Mann bekannte offen seine schleswig-holsteinische Gesinnung und wurde aus Amt und Heim von den Dänen verjagt. Auf Geratewohl wandten wir uns nach Hamburg, wo wir in bittere Not gerieten und von den Amtsbrüdern unterstützt werden mußten. Zuletzt gab Gott uns in der Pfalz ein Amt mit 400 Talern Gehalt … o, in den dreizehn bösen, landflüchtigen Jahren haben wir gelernt, uns lassen genügen. Anno 64 kam endlich die Erlösung. Sie werden nun verstehen, daß mein Mann ein guter Deutscher ist und die Dänen nicht liebt … mit den fanatischen Wühlern, davon wir nicht wenige in Astrup haben, verkehrt er nur amtlich. Herr Junker, wie stehen Sie in politischer Beziehung?«
»Ich bin gut deutsch«, lachte er.
Sie drückte seine Hand, erkundigte sich nach seiner Verwandtschaft und fühlte ihm hinsichtlich seines theologischen Standpunktes auf den Zahn. »Wenn Sie einer von den modernen Theologen sind, die mein Mann nicht leiden mag, müssen Sie mir wenigstens versprechen, nie mit ihm zu disputieren … mein lieber Fidde« – das war der Kosename, den sie für ihren Friedrich bis ins Greisenalter beibehalten hatte – »mein Fidde wird beim Disputieren gleich hitzig, und das ist ihm nicht gesund.«
Der Kandidat erklärte, daß er ein Unmoderner sei.
»Um so besser! Also keine Dispute und kein Liebäugeln mit den Dänen und Däninnen! Unterlassen Sie die zwei Dinge, werden Sie es gut bei uns haben.«
Je weiter die Uhr vorrückte, um so längere Gesprächspausen machte die Schwatzhafte, und um so kleiner wurden ihre Augen. Das Fräulein wagte leise zu wispern: »Spielen Sie mal Domino mit ihr, dann nickt sie völlig ein.«
Die schwerhörige Frau hob den Kopf: »Was sagte die Nissen zu Ihnen?«
»Daß Sie – eine vortreffliche Dominospielerin sind.«
»Ja, wollen wir eine Partie machen, um uns munter zu halten?«
Die Steine wurden gesetzt und klapperten einschläfernd. Bald sank der ergraute Kopf der Pastorin auf die Brust, und ihre Nase machte einen melodischen Schnarcher.
Auf den Moment hatte Eveline gewartet, kam mit lachendem Gesicht hinter der Lampe hervor und ließ die Blicke lustig spielen. Im Flüsterton wurde eine lebhafte Unterhaltung geführt.
»Geben Sie mir einige gute Verhaltensmaßregeln in diesem Hause!« bat der kluge Kandidat.
Worauf Eveline schlau lispelte: »Sie sind schon auf dem rechten Wege. Wenn Sie die Prinzipalin sich warm halten, können Sie mit dem Pastor machen, was Sie wollen … bleiben Sie nur in Gottes Namen in dem Geleise!«
»Hat sie so großen Einfluß auf ihren Mann?« flüsterte er.
Statt einer Antwort kam Pastor Weber aus seiner Studierstube mit den Andachtsbüchern unter dem Arm. Im Erwachen ergriff Frau Bene mechanisch nach einem Stein und setzte ihn.
»Sie spielen Domino? Ich danke Ihnen, Herr Junker, daß Sie meine Frau unterhalten … bleiben Sie, bitte, jeden Abend im Familienkreise!« Der Pastor selbst blieb in seinem Studierzimmer und war mit seinem Kandidaten sehr zufrieden.
Eveline legte sich in ihr Bett und holte unter dem Kopfkissen drei Äpfel von der allerfeinsten Sorte hervor, die sie langsam verzehrte. Während des Kauens erwog sie, daß der neue Kandidat ihr immer besser gefalle und jedenfalls kein Mucker sei. –
Die Prädikantentätigkeit hatte begonnen. Pastor Weber erklärte, daß er noch nicht alt genug sei, um gänzlich aufs Altenteil gesetzt zu werden; an dem einen Sonntag wolle er die Predigt behalten und jeden zweiten seinem Prädikanten überlassen. »Außerdem mögen Sie die Schulversäumnislisten führen und die meisten Leichenpredigten halten und in Ihrer freien Zeit Seelsorge in der Gemeinde treiben … die habe ich bei meiner Arbeitsüberhäufung wenig üben können.«
An dem Kandidaten-Sonntag war die Männerseite halb voll von Zuhörern und die Frauenbänke waren dicht besetzt.
Der alte Pastor drückte dem jungen Kanzelredner anerkennend die Hand. Aber bei Tisch gab Frau Bene ihrem Kandidaten andere und offenherzige Aufschlüsse: »Ich glaube kaum, daß eins von den jungen Mädchen in Alstrup und den dazugehörigen Dörfern gefehlt hat. Die sind mit einem Mal fleißige Kirchgänger geworden … aber darum dürfen Sie sich nur nichts einbilden, Herr Junker! Das hat vielleicht seine Nebenabsichten.«
Amatus erwiderte: »Alles Neue findet immer Zuspruch, aber solcher Zulauf verläuft sich bald.«
»Jaja!« Lebhaft pflichtete der Pastor dieser klugen Antwort bei.
Eveline wagte zu sagen: »Marie Petersen und Bodil Hansen und Christine Nielsen und [später ergänzt: sogar] die Martha Monrad, die ich sonst nie in der Kirche gesehen habe, kommen jetzt alle zwei Wochen …«
Ihr wurde das Wort von der Prinzipalin [später ergänzt: schroff] abgeschnitten. »Schauen Sie in der Kirche nicht so viel nach rechts und links, nach oben und allen Seiten! Sehen Sie lieber zu, ob auf dem Tische nichts fehlt! Wo ist die Senfgurke?«
Senfsauer lief das Fräulein Nissen in die Küche. –
Am Sonntagnachmittage hielt die altmodische Kalesche vor der Pfarre, um alle zum Amtsnachbar hinüberzufahren. Pastor Reibeisen in Fischbäck pflegte zu sagen, daß seine völlige Kahlschöpfigkeit vom vielen Denken herrühre, und war [später ergänzt: wirklich] ein grundgelehrter Herr, der ein riesiges, antikdogmatisches Wissen, wie die Schätze eines Altertum-Museums, in sich aufgespeichert hatte.
Sofort nahm er seinen Kollegen mit sich ins Studierzimmer und las ihm aus seinem Manuskripte vor, das er seit zehn Jahren unverdrossen überarbeitete, alle Jahre zweimal an einen neuen Verleger sandte und ebenso oft unfrankiert und mit verbindlichem Dank zurück erhielt.
Amatus blieb bei den Frauen und saß neben Marie Reibeisen, die ein sanftes, stilles Mädchen von zwanzig Jahren war, welches mit dem Munde nicht viel sagte und mehr mit den großen, von langen Wimpern beschatteten Augen sprach. Der Kandidat, der kurzweilig sein konnte, brachte sie oft zum Lachen, und seine Pastorin nickte ihm zu, als wenn sie ihn in seiner löblichen Liebenswürdigkeit ermuntern wolle. Darum kehrte er sich noch ausschließlicher den sprechenden Augen zu, und Eveline nickte auch, aber nachdenklich vor sich hin.
Nach einer Weile klang durch die Wand lautes Stimmengepolter. »Nun sind sie im Studierzimmer an einander geraten«, rief Frau Bene und watschelte hinaus, »ich muß auf den Disput einen Dämpfer setzen.« Ihre Beruhigung bestand darin, daß sie ihren Mann am Arme nahm und lachend ins Wohnzimmer führte.
Die beiden jungen Mädchen waren in Maries Kammer hinaufgegangen, um sich unter vier Augen auszusprechen.
»Wie ist er?«
»O, ganz nett«, antwortete Eveline.
Weil sie unter sich waren, fragte Marie dreist und direkt: »Ob er schon eine hat?«
»Ja, ich glaube, daß er heimlich verlobt ist … mit einer Person in Norderhafen.«
»Heimlich verlobt? Greulich!« Die sanfte Stimme bekam eine gewisse sittliche Schärfe. »[Später ergänzt: Pfui!] Sind nicht die heimlichen Verlobungen das wissentliche Verschweigen einer Tatsache und eine innere Unwahrheit? Aber woraus schließen Sie es, Fräulein Nissen?«
»Nun, aus den häufigen Briefen mit dem Poststempel Norderhafen.«
Ein tief vertrauliches Gewisper! »Haben Sie schon mal einen über den dampfenden Kessel gehalten?«
»Gott bewahre, Fräulein Reibeisen, was denken Sie von mir! Aber die Adresse ist von zierlicher Frauenhand geschrieben.« Eveline lächelte vielsagend und log nicht. – – –
Der Prädikant hatte eine glänzend Predigt gehalten, und zwar über das sonderliche Joch, das der Herr auf Evas Töchter gelegt hat. Erbaulich redete er vom Kreuz der Frauen und ergreifend vom Leid der Mutter. In der Kirche flossen viele Tränen und der Kandidat, dem der Eindruck seiner oratorischen Leistung nicht entging, mußte alle seine Demut herbeirufen, um das Schwellen des Kamms zu unterdrücken.
Der Kirchenälteste Monrad, der neben ihm über den Kirchhof ging, meinte kaustisch: »Es ist ein Glück, daß die Alstruper Kirche hoch liegt … wenn Sie so predigen, setzen Sie ja die ganze Weiberseite unter Wasser.«
Eveline deckte drinnen in der Stube den Tisch und rief der Pastorin zu: »Was sagen Sie nun! Fräulein Reibeisen war in der Kirche und ist eine halbe Meile gelaufen, um Junker zu hören.«
Frau Bene verbesserte: »Um Herr [später: Herrn] Junker zu hören … was regen Sie sich auf! Es ist begreiflich, daß sie, die immer ihren Vater hört, einmal nach einer Abwechslung und andern Predigt sich sehnt.«
Als am Nachmittag eine Halbchaise vors Pastoral fuhr, murmelte Eveline, welche die Pferde kannte, vor sich hin: »[Später ergänzt: Jesses!] Die haben's [später ergänzt: aber] eilig.« Sie meinte nicht die alten Gäule.
Reibeisens machten ihren Gegenbesuch, und der Pastor, der sein Manuskript mitbrachte, ließ den Kandidaten nicht eher los, als bis er es ihm zum Durchlesen aufgeladen hatte.
Fräulein Marie bemühte sich heute, die schwerhörige Pastorin zu unterhalten. Sie zeigte für alle Interessen der alten Frau das größte Interesse, und als Frau Bene von ihren neuen, goldgesprenkelten Hühnern viel Rühmens machte, wollte sie dieselben durchaus besichtigen.
Vor dem Hühnergitter standen sie, und Fräulein Reibeisen sprach nicht von den Goldgesprenkelten, sondern plötzlich von der Vormittagspredigt. »Aus allen seinen Worten geht hervor, daß er eine gute Mutter hat, die er sehr liebt … aber er könnte auch nicht für die Frauenseele und ihre Empfindungen so tiefes Verständnis haben, wenn er nicht eine Frau liebte.«
Frau Weber antwortete laut und lebhaft: »Unsinn, liebes Fräulein! Seine Kenntnisse darüber hat er nur aus Büchern geschöpft, denn ich kann Sie versichern, daß er weder verlobt noch verliebt ist.«
Marie lächelte und schien es [später ergänzt: gar] nicht zu übel zu nehmen, daß sie Unsinn geredet habe. Sie kehrte den Hühnern den Rücken und überließ es fortan ihrer Mutter, die schwerhörige Frau zu unterhalten. – – –
Am Montagmorgen brachte der Postbote dem Kandidaten ein Brieflein, das von Frauenhand geschrieben und ohne Unterschrift war. Es enthielt in dänischer Sprache einen blumenreichen Wortstrauß der Verehrung und war der Dankerguß einer [später ergänzt: elegischen] Frauenseele für die zu Herzen gehende Predigt über das auf Evas Töchter gelegte Joch.
Die schwulstige Lobhudelei mißfiel seinem schlichten Sinn, und mit einem ärgerlichen Lachen zeigte er seiner Vertrauten, der Pastorin, das Schriftstück, das sie las und zornig hinwarf: »Solch ein Blödsinn! Das hat ein übergeschnapptes dänisches Frauenzimmer geschrieben … vielleicht die Martha Monrad.«
»Nein, die ist zu klug, um das zu schreiben.«
»Herr Junker, ich hoffe, Sie werden vernünftig genug sein, durch derartige Schmierereien sich keine Grillen in den Kopf setzen zu lassen.«
Als er das energisch bejahte, bat Eveline, ob sie einen Blick hineintun und die Handschrift sehen dürfe. Sie hatte einen bestimmten Verdacht.
Doch die Pastorin ergriff schnell das Schriftstück und sah den Kandidaten fest an. »Darf ich das Geschreibsel in den Ofen werfen?«
Junker bestand die Probe, und der anonyme Dankhymnus einer ästhetisch-frommen Frauenseele ging in Rauch und Flammen auf.
Die Schreiberin hat den Schleier der Anonymität nie gelüftet. Gegen Fräulein Reibeisen sprach der Umstand, daß sie dänisch sehr unorthographisch schrieb. – –
Amatus hatte auf dem Hofe Egeberg einen Antrittsbesuch gemacht und Klarissa gesprochen. Nur kurze Zeit war sie in der Stube geblieben, weil sie in die Küche abgerufen wurde, hatte ihm aber freudig mitgeteilt, daß Wilhelm sein Examen mit Glanz gemacht und eine einträgliche, wenn auch leider überseeische Stellung in sichrer Aussicht habe. Mehr erfuhr er von der Eiligen nicht.
Auf seinen Wunsch führte ihn der Hofbesitzer Schmidt durch die Stallungen und Scheunen. Jeder gute Bauer ist immer willig, seine Schätze in den Ställen und seinen Stolz, den Düngerhaufen aufzuweisen. Siebzig rotbunte Kühe von der großen Breitenburger Zucht leckten das Schrot- und Palmkuchengemenge aus den Krippen. Amatus ließ einen bewundernden Blick über die blanken Rücken hinschweifen und atmete aus voller Brust die Stalluft. In ihm erwachte das Bauernblut, und die Sehnsucht, solche Schätze zu besitzen, schaute ihm aus beiden Augen.
Noch erfreuter als der Besitzer betrachtete er die echten Yorkshire-Schweine, die kurze Schnauzen und Kräuselschwänze hatten, und verlangte noch einmal nach dem Kuhstall zurück. Der Kandidat prüfte den Spiegel der Kühe, trat hier und da in die Reihen, um die weiche Haut und die straffen Milchadern zu befühlen.
Schmidt bürstete ihm den beschmutzten Rock ab und lachte: »An Ihnen ist ein Agrarier verloren gegangen!
»Ja, aber ein notleidender [später: Notleidender], denn meine Väter haben die Scholle verloren.« Junker lachte nicht.
Vor dem Verlassen des Hofes schien er etwas zu suchen und trat keck entschlossen an das offne Küchenfenster, aus dem der Dampf quoll. Dort stand Klarissa, die Kleiderärmel aufgestreift, weiß- und rundarmig, in einer großen, weißen Schürze und hantierte am Herde, ihm den Rücken zukehrend. Er blieb still in Betrachtung versunken, bis sie des Zuschauers gewahr wurde und leicht errötete.
»Verzeihen Sie! Wo hat Wilhelm seine Stellung bekommen.«
»Als Chemiker in einer Fabrik in Argentinien.«
»Er wird doch vorher Ihnen und mir Lebewohl sagen?«
»Ja, Herr Schmidt hat ihn eingeladen … die paar Erholungsmonate, die ihm bis zur Abreise bleiben, wird er bei mir in Egeberg verleben.« Klarissa nickte ihm zu, und er ging. Es war sehr bezeichnend, daß Wilhelm die letzten Monate nicht bei den Eltern blieb.
Auf dem ganzen Heimwege hatte Junker abwesende Augen, vor denen, wie Fatamorganas, leuchtende Luftbilder auftauchten. Die siebzig Breitenburger Kühe und die hunderte von Morgen schweren Bodens! Wenn diese Herrlichkeit sein eigen wäre, ja dann fort mit dem schwalbenbeschwänzten Prädikantenrock und den Agrarierstock unter den Arm! Klarissas Bild, wie sie am Herde schaltete, wob sich hinein. Wenn die auf seinem Gütlein als Hausfrau wirtschaftete …
Hier erwachte der Kandidat und verscheuchte die dummen Träume. Der Hof Egeberg war unter Brüdern mindestens hunderttausend Taler wert – und Klarissas Bild entschwebte ebenso unerreichbar und unnahbar. – –
Heuer gab's weiße Weihnachten, welches in diesem Nordlande eine Ausnahme ist. Jedes Geräusch der Erde vom weichen Teppich gedämpft, kein Laut in der Luft, und das weite Land ein prangendes Wintermärchen! Schöner als im Sommer waren die hohen Hecken, deren schneekristallene Zweige in der Sonne blitzten.
In der glatten, knirschenden Räderspur wanderte Amatus frohgemut hinaus, um Seelsorge zu treiben. Dieses Stück des pastoralen Amts war ihm allein und nach freiem Ermessen überlassen worden.
Ein vierundzwanzigjähriger Kandidat, dem der Himmel voller Geigen hängt, in den Hütten der Sorge, an den Betten der Sterbenden als Trostbringer und Todvorbereiter! – das ist ein Unding; aber seine Schultern fühlten nicht die ganze Schwere der Last, sondern er machte, seinem Genius und Gemütsinstinkte folgend, die Sache, so gut er's [später ergänzt: eben] verstand.
Das Weinen einer armen Mutter, deren zwei Kinder die grausame Diphtheritis erwürgt hatte, vermochte er mit allen möglichen Bibelsprüchen freilich nicht zu stillen. Als aber sein pastoraler Mund ins Schalkhafte spielte und sagte: »Warten Sie ein Weilchen! Wenn der Frühling und der Storch wiederkommt … wer weiß, ob nicht der Herrgott in Gestalt eines kleinen Meierleins Ihnen Ersatz gibt«, – da mußte die leis errötende Frau Meier lächeln und ward bestärkt in ihrer Hoffnung.
Neben dem dampfenden Düngerhaufen eines Bauern stand eine strohgedeckte, verfallene Hütte, in die der lange Kandidat mit gekrümmten Rücken hineinkroch. In einem Raume zusammen mit dem Hund, zwei Katzen und drei Hühnern hausten hier der alte Klaus Katzenschlachter und sein noch älteres Weiblein.
Der Greis wischte ein Huhn vom Strohstuhl herunter und nötigte zum Sitzen. Junker hob die Rockschöße hoch und ließ sich auf der äußersten Kante nieder.
»O, Herr Pastor, bei armen Leuten ist der Winter ein böser Gast.«
Der Kandidat wies den Titel zurück. »Ich bin nicht Pastor.«
Drüben murmelte ein Echo: »Nichts zu brennen und nichts zu beißen.«
Klaus winkte seinem Weibe Schweigen. »So schlimm ist es nicht, Herr Pa–, Herr –, daß wir Katzen schlachten und braten … die Alstruper sind verleumderische Menschen und sagen mir das nach, weil ich einmal einer kohlschwarzen, die an Gift eines natürlichen Todes starb, das Fell abzog und dem Kürschner verkaufte.« Zum Beweise seiner Katzenliebe streichelte er [später ergänzt: zärtlich] die Graue. »Es ist aber ein hungerleidiges Leben für unsereinen, Herr Pa–; alte und arme Leute, die zu nichts mehr nütze sind auf der Welt, müßten von Staats wegen [später: Staatswegen] umgebracht werden.«
»Sie haben doch von Staats wegen [später: Staatswegen] eine Altersrente«, antwortete der Kandidat.
»Ja–a, Mutter, wie viel ist es? Mein Kopf behält nichts mehr.«
Frau Klaus, die keine Zähne mehr im Munde, aber noch einige von den darauf gewachsenen Haaren behalten hatte, zischelte: »Der alte Pastor Weber mag uns nicht leiden, weil man Mann im Jahre 48 unter den Dänen gedient hat …«
»Mutter, das wissen wir nicht und können wir nicht beweisen.«
»Wir wissen aber, daß wir von den Fangelschen Legaten nie einen Pfennig gekriegt haben … unsre Nachbarin Bodil bekommt sechzig Mark jährlich, und ihr Sohn, der in Amerika ist, sendet ihr alle Quatember zehn Taler … ja, die kann wohl lachen und starken Kaffee sich kochen.«
»Bodil?« Junker besann sich. »Ist das nicht die fleißige Kirchgängerin?«
Frau Klaus grinste. »Ja, Bodil betet viel, mitunter auch zur Buddel.«
Der Seelsorger wiegte sehr bedenklich den Kopf und sagte plötzlich: »Liebe Frau, lassen Sie doch mal Ihren Speiseschrank sehen!«
Klaus humpelte über die löchrige Diele. »Haben Sie die Güte, Herr … das hat uns die Bäuerin geschenkt.«
Im Schrank lag ein unappetitliches Gekröse, davon der Kandidat hurtig die Nase zurückzog. Nachdem er drei Mark auf den Tisch gelegt hatte, reichte er beiden die Hand. »Ich will sehen, ob ich Ihnen eine kleine Unterstützung verschaffen kann.«
»Herr Pastor, Herr Pastor!« Hinter ihm erhoben die Alten ein Freudengewimmer.
Welch ein armseliges Alter voll Not und – voll Neid!
Der Bauer Christensen hatte eine blutjunge, schwindsüchtige Tochter. Als Junker sich ans Bett setzte, blickte sie in ängstlicher Scheu empor. Sie wußte, daß der Prädikant eine Art von Pastor sei, und betrachtete, wie die Landbevölkerung, des Geistlichen schwarze Erscheinung als einen Todesspuk. Auch den Seelsorger befiel eine Angst. Wie sollte er hier trösten? Mit langen, stummen Pausen erkundigte er sich nach dem Befinden und stotterte hin und her. Endlich ließ er seinen menschlich mitleidigen Gefühlen freien Lauf und erzählte von der Kochschen Lymphe, die damals großes Aufsehen machte, und weckte eine Lebenshoffnung in dem Mägdlein, das ihn herzlich bat, bald wiederzukommen.
Blaßrötlich leuchtete der Schnee auf allen Hecken im Sonnenuntergange. Auf ihren Schlitten sausten die Knaben den Hügel hinab. Einer, der beim Anblick des Kandidaten ausbiegen wollte und herunterkollerte, zog, noch platt auf dem Rücken liegend, ehrerbietig die Mütze.
In der Ferne klang das Schellengeläut und hier an der Straße lustiger Dreschflegelklang. Hei, wie wacker klopfte noch der Kätner Krästen Aarö die Roggengarben auf der Tenne! Amatus trat heran, grüßte und brach in ein Gelächter aus.
»Was ist das, Krästen? Sie sind ja am Fuße festgebunden, wie ein getüdertes Huhn.«
»Ja, eine Gluckhenne bin ich auch und habe sechs Kinder, und das älteste ist acht Jahre alt und die Mutter im Himmel … das hier ist von wegen des kleinsten Küchleins. Die Leine, die ich um den Knöchel geknotet habe, läuft in den Pesel hinein und ist an der Wiege befestigt … sobald nun die Kleine sich rührt, zieh [später: zieh'] ich mit dem Fuße und setze die Wiege in Bewegung. Sehen Sie! So wird's gemacht. Gleichzeitig führe ich den Flegel mit den Fäusten. So!«
»Ja, nun ist die Maschine in Gang«, lachte Amatus, »das heißt zwei Fliegen mit einem Schlage.«
Krästen schmunzelte: »Mitunter sind's noch mehr … treten Sie näher! Hier krabbeln die Würmer herum.«
Das zweitjüngste, ein pausbackiges, auf den krummen Beinen watschelndes Jahrkind, trug eine Panzerkappe auf Kopf und Schultern, nämlich einen unförmlichen, mit dicker Watte gefütterten Fallhut.
»Der da«, sprach Aarö, auf den dritten Sprößling zeigend, »ist ein kleiner Taugenichts und will immer ausrücken und Nichtswürdigkeiten machen … darum ist er festgetüdert.«
Wie ein lustiges Äfflein hockte der kleine Hans auf dem Stuhle und schnitt Gesichter. Von seinem Gürtel lief ein Ledergurt, der am Tischbein kunstgerecht verknotet, von seinen unnützen Fingern nicht gelöst werden konnte. Alle Kinder waren wohlgenährt und guter Dinge, und Hänschen griff dreist nach der blinkenden Uhrkette des Fremdlings. Darum wurde er aufs Knie genommen und durfte mit der Talmikette spielen.
»Krästen, haben Sie kein Haushälterin?«
»Nein, ich muß alles allein machen … es ist zu viel für einen Witmann [später: Wittmann] mit drei Kühen und sechs Kindern.«
»Warum nehmen Sie sich nicht eine tüchtige Person ins Haus?«
»Hm, wenn das Nehmen so leicht wäre, Herr Kaplan … von den hiesigen will keine einen Kätner mit sechs unmündigen Kindern haben … die alte Langmari, die derlei besorgt, ist überall herumgewesen.«
»Ah, so! Eine Frau suchen Sie?«
»Ja, die verlangt keinen Lohn, und wie könnte ich den aufbringen? Neulich kam mir der Gedanke, der Pastor, der die Ehe einsegnet, könnte mir ein bißchen behilflich sein. Ich bat ihn nur, eine Annonce für die Flensburger Zeitung mir aufzusetzen, natürlich kurz und klar, etwa: Eine Haushälterin mit später nicht ausgeschlossener Heirat wird gesucht. Aber Prost, Herr Pastor! Da kam ich schön an, das sei sündhaft und eine Entwürdigung der Ehe, schrie [später ergänzt: und schnauzte] der Alte.«
Das herzhafte Lachen des Kandidaten machte Krästen Mut. »Lieber Herr Kaplan, Sie haben ja den Zustand hier gesehen … wenn Sie mal eine passende Person ausfindig machen, denken Sie an mich und meine Kinder! Auf Schönheit mache ich keinen Anspruch, aber auf gesetzte Jahre, und ein kräftiges, sparsames und vernünftiges Frauenzimmer muß es sein.«
Junker nickte und lachte: »Ich will sehen, was ich tun kann.« Dieses halbe Versprechen war der Beschluß seines Seelsorgeramts an dem Tage. Vielfachen und grundverschiedenen Trost begehrten die Astruper von ihrem Seelsorger-Prädikanten.
Der Winterabend dunkelte, als Amatus über den hellen Schnee des Kirchhofs ging. Ein schmächtiger Mann kam bergunter getrabt und packte plötzlich den Überraschten an beiden Armen.
»Sie! Was wollen Sie?« Der Schmächtige wurde abgeschüttelt und lag im Schnee und fragte: »Amatus, kennst du mich nicht?«
»Wilhelm, Wilhelm!«
Oben in der Kandidatenstube, auf dem ungepolsterten Sofa der guten, alten, abgehärteten Zeit, saßen die Freunde in warmer Wohligkeit und traulichen Erinnerungen. Nur der Stiefmutter, der langen Stine, wurde nicht gedacht.
»Was willst du drüben auf den weiten Grasebenen der Pampas? Büffel weiden?«
»Nein, Büffel schlachten und einen neu erfundenen, flüssigen Fleischextrakt, ›Bos‹ genannt, massenweis bereiten … ›Bos‹ wird Liebig aus dem Felde schlagen.«
»Gehst du zum Weihnachtsfest nach Norderhafen?«
»Eben nicht, vor meiner Abreise will ich noch einmal ein rechtes, inniges Weihnachtsfest zusammen mit meiner Schwester feiern.«
Lange währte das Wiedersehen der Freunde. Spät abends stampfte Wilhelm Reder auf dem Flure von Egeberg den Schnee ab. Klarissa hängte seinen Mantel fort und sagte: »Mir hat's vor dem Ohr gesungen … ist von mir in Alstrup gesprochen worden?«
»Nein, mit keiner Silbe!«
»So!« sagte sie kurz.
Der Bruder, der einen Einfall hatte, küßte sie: »Rissa! Willst du nicht mit mir nach Argentinien und mir den Hausstand führen?«
Sie sann einen Augenblick. »Nein … in der Fremde wäre ich verloren … auch wirst du bald eine Frau finden, die mich überflüssig machen würde.«
Er schüttelte sich. [Hinw. d. Hg.: Im Interesse der Werktreue trotz der rassistischen Aussage im Original wieder gegeben] »Drüben in der spanischen Barbarei sind nur Mulatten- und Mestizenweiber … du weißt, die Kouleur ist mir verleidet, weil man mich schon als Knaben den bräunlichen Wilhelm genannt hat.«
»Was, wenn du eine Frau dir mitnähmest, Wilhelm?« sagte sie.
»Woher nehmen und nicht stehlen … oder etwa auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege?«
»Denkst du nie an Silly Berg? Eine treuere und bessere wird kein Mann finden.«
Er sagte nichts, aber [später nach dem Verb] lächelte vielsagend.
Klarissa wurde eifriger. »Silly würde dich sehr glücklich machen.«
Nun platzte er heraus. »Du bestehst ja darauf, als wenn das besprochen wäre …«
»Nein! Pfui, Wilhelm! Nein!« Sie ließ entrüstet das Thema fallen und hatte – ohne wohl an das Backfischgelübde zu denken und ohne [später ergänzt: alle] Nebenabsichten – zwei Menschen, die sie liebte, glücklich machen wollen. –
Der Kandidat verlebte seine Abende im Familienkreise. Die gemütliche Frau Bene amüsierte sich köstlich über den Bericht seiner seelsorgerischen Erlebnisse. Nachdem er Klaus Katzenschlachters Armut mit grellen Farben geschildert, sagte er: »Wollen Sie nicht bei Herr Pastor ein gutes Wort einlegen, damit die alten Leute eine Kleinigkeit aus dem Fangelschen Legat bekommen?«
Sie nickte gönnerhaft und geschmeichelt. Auf diesem Umwege, durch Vermittlung der guten Prinzipalin, setzte er sehr oft bei seinem Vorgesetzten nicht nur seine eignen, sondern auch andrer Leute Wünsche durch.
Eveline, die sich ungefragt nicht ins Gespräch mischen durfte, häkelte wie eine Maschine. Nach neun Uhr regte sich in der zur Stummheit Verurteilten das [später ergänzt: menschliche] Verlangen, den Mund einmal aufzutun, und hinter der Lampe zeigte sie mit den Augen nach dem Dominokasten hinüber. Amatus nahm das Spiel als Einschläferungsmittel zur Hand, und der erste Schnarcher war das Signal zum flüsternden Gewisper.
Fräulein Nissen schüttete ihr Herz aus. »Ja, Sie können machen, was Sie wollen … aber ich darf mich nicht mucksen.«
Auch an diesem gedrückten Gemüt übte er sein Seelsorgeramt und tröstete: »Sie sind hier völlig unentbehrlich.«
» Wie so [später: Wieso]?« Ein voller, freudiger, fragender Blick traf ihn.
»Durch ihre kulinarische Kochkunst.«
Ärgerlich antwortete sie: »Ja, die werden Sie morgen am Weihnachtsabend bewundern … wir konnten keine Karpfen bekommen … nun raten Sie, was es statt dessen zum [später: als] Festessen gibt! Gekochten Dorsch mit Senfsauce!«
Am Morgen zerlegte Eveline den Weihnachtsdorsch, während die Pastorin im Studierzimmer mit ihrem Manne sprach.
Am Vormittag des Weihnachtsabends aber trug Amatus eine Portion des Fangelschen Legats in Klaus Katzenschlachters elende Hütte. Auch andern Bedürftigen der Gemeinde brachte er eine gleiche Gabe, und ihm, der leise ein Weihnachtsliedchen summte, war zu Mute, als wenn er schon am Vormittage das Schönste des Festes gefeiert und vorweggenommen hätte. – –
Auf Egeberg brannte der Tannenbaum zum drittenmal. Der Kandidat hatte dem Fräulein geholfen, die Lichter anzuzünden, und Klarissa hatte heute Zeit, die Hände ruhen zu lassen, und saß neben ihm. Ihre Blicke waren [später ergänzt: überaus] lieb und leuchtend, aber selten auf ihn und meist auf die Lichter des Baums gerichtet.
Jene uralte und wenig anders beantwortete Frage, was Glück sei, wurde aufgeworfen. Die Stieftochter der langen Stine rühmte seine Mutter Monika und meinte, daß er in ihr schon das größte Menschenglück gefunden habe.
Amatus sah sie von der Seite an. »Wenn aber ein Mensch Vater und Mutter verlassen muß, soll das ein noch größeres Glück sein.«
Auf das Thema ging sie nicht ein, sondern holte [später: nicht eingehend, holte sie] einen andern Gegenstand herbei. »Heute war die Kirche sehr voll.«
»Ja, ich sah Sie und würde Sie unter Hunderten sehen.«
Klarissa blickte schelmisch. »Sie sehen mich aber nicht immer, sondern verhältnismäßig selten in Ihrer Predigt.«
»Ja leider, so muß ich wohl sagen.«
Hinter dem Tannenbaum flüsterte sie, damit Webers, die auch auf Egeberg waren, nichts [später ergänzt: davon] hörten: »Nein, ich besuche ebenso oft den Gottesdienst des alten Pastors, der in einer schlichten und treuen Weise jahrelang gut genug gepredigt hat.«
»Das ist sehr richtig, Fräulein Reder«, pflichtete er bei.
»Ja, mein Rechtlichkeitsgefühl sträubt sich, und ein Arger [später: Ärger] sogar regt sich in mir, wenn ich gewahren muß, wie sie den Alten verlassen und seine Rednergabe verkleinern und dem Jungen nachlaufen, der eine bessere Stimme und eine … eine gewisse poetische Ader hat.«
Junker verneigte sich, obgleich ihr Rechtlichkeitsgefühl ihm fast zu groß erschien.
Wieder ein schelmischer Seitenblick! »Danken Sie nicht zu früh! Der junge Prädikant sollte nur nicht den Oberkörper so viel und so gewaltsam bewegen – das geht über das [später ergänzt: rechte] Maß hinaus – und auch mit Kraftworten sich etwas mäßigen.«
Dieses Mädchen war der einzige Mensch in Alstrup, der seine Predigt bekrittelt hatte. Doch nahm er die gut gemeinte Kritik gern an und sagte: »Ich will versuchen, mir das Maßlose abzugewöhnen … von seinen wahren Freuden soll man die Wahrheit erfahren.«
Sie verschwieg, daß die vielen jungen Mädchen, die plötzlich so gottesfürchtig und kirchfleißig geworden waren, auch ihrem Rechtlichkeitssinn ein verdrießliches Lachen bereiteten.
Er aber fing an von der gemeinsamen Kindheit zu reden und erinnerte an die Bootfahrt und den Froschsprung ins Wasser und das Versteckspiel im Garten des Onkels. Eine leichte Röte glitt über ihre Wangen und eine weiche, warme Welle über sein Herz.
Man ging zu Tisch. Mit Wilhelm, der seine freie, frohe Zeit auskosten wollte, verabredete Junker einen Besuch bei Pastors Reibeisens, woselbst er den neugebackenen Doktor bereits zur großen Freude des Hauses eingeführt hatte, und blinzelte ihm zu: »Cave puellam!«
»Was heißt das?« fragte Klarissa.
Amatus übersetzte frei: »Heiratsfähiger Jüngling, hüte dich vor den Mägdlein!«
Etwas unverschämt gab sie zurück: »Sie brauchen sich noch nicht zu hüten …«
»Von mir war nicht die Rede.« Der Prädikant verstummte [später ergänzt: verlegen] im Bewußtsein seiner Halbheit und Heiratsunfähigkeit.
Während der Heimfahrt in der schüttelnden Kalesche sagte Pastor Weber zu seinem Gehilfen: »Seit fünfzehn Jahren ist meine Kirche nie so voll gewesen, wie heute … Dreihundertvierundzwanzig Zuhörer waren da.« Es klang ein wenig bitter.
»Haben Sie denn zählen lassen, Herr Pastor, daß Sie die Zahl so genau wissen?«
Ich habe meine eigene Zählmethode, um den Kirchenbesuch statistisch festzustellen … wenn ich den Klingenbeutel ausleere, zähle ich die Ein- und Zweipfennige und die sparsam eingestreuten Nickelmünzen … die Zahl der Stücke ergibt ziemlich zuverlässig die Zahl der Besucher.« –
An dem Epiphaniassonntag, welches ein sogenannter Pastorsonntag war, trieb Weber auch seine Statistik und zählte dreiundzwanzig Münzen.
Bei Tisch sagte Frau Bene besorgt: »Mein Fidde, fehlt dir etwas?«
Er biß sie kurz ab: »Du fragst immer zuviel, nichts fehlt mir.«
Die üble Laune verschwand am Montag und kehrte nach vierzehn Tagen genau zur selben Stunde wieder. Während der alte Herr sein Mittagsschläfchen hielt, sprach sich die Frau ihrem Günstling gegenüber offenherzig aus: »Meinem Manne fällt es schwer auf die Seele, daß die Gemeinde, der er fünfundzwanzig Jahre gedient hat, sich von ihm abwendet und der Kirchenbesuch bei ihm immer schlechter wird.«
Der Prädikant, der den periodisch wiederkehrenden Mißmut seines Brotherrn längst gemerkt und gedeutet hatte, machte ein sehr betrübtes Gesicht, weil das gute Verhältnis bedroht schien. Lange summte und sann er über die Klingelbeutelstatistik hin und her, bis er still in sich hineinlächelte.
Über zwei Wochen saß Amatus als passiver Zuhörer in der Kirche und warf statt des üblichen Groschens zehn Zweipfennigstücke in den Beutel. So zahlte und zählte er für zehn Kirchenbesucher und hatte nicht umsonst von seinem Vater Hans ein Gränchen Pfiffigkeit geerbt.
Pastor Weber, der vierzig Kirchenbesucher gezählt und gebucht hatte, war mittags wohlgelaunt und hat nichts von dem heimlichen Geber und der gut gemeinten Täuschung gemerkt [später am Satzende], die bei schlechtem Kirchenbesuch regelmäßig geübt wurde.
Eines Tages stürzte Wilhelm in das Kandidatenzimmer [später entfallen: und war] in Aufregung.
»Was ist dir begegnet?«
»Ein dummer Brief aus Norderhafen, den mir der Postbote draußen vor dem Dorfe gab …«
»Haben deine Eltern dich zurückberufen?«
»Nein … unser früheres Dienstmädchen Karoline hat zum zweitenmal an mich geschrieben und hängt sich wie eine Klette an mich.«
»Darf ich den Brief lesen, Wilhelm?«
»Nein, dann lachst du mich aus, aber ich will dir den Inhalt sagen. Sie schmiert einen entsetzlich rührseligen Brei zusammen und schreibt, daß sie zwei Monate lang ›Ichias‹ , womit sie wohl das böse Hüftweh meint, gehabt und noch immer krank und außer Stellung sei … sie erinnert mich an die treue mütterliche Liebe, die mir als Kind von ihr allerdings zuteil geworden ist. Was soll ich machen?« Wilhelm fuhr sich in die Haare.
Junker machte ein drollig ernstes Gesicht. »Aus Dankbarkeit mußt du sie heiraten.«
»Adieu, wenn du mich in meiner Not verhöhnen willst … du kennst die Klette nicht.«
In den Kandidaten fuhr ein Schalksgedanke. »Du! Ich will versuchen, Karoline hier unter und vielleicht sogar unter die Haube zu bringen … aber meinen Plan verrate ich nicht.«
»Wenn du es könntest, Amatus … die arme Person tut mir sehr leid und hat mich oft [später vor dem Verb] als Kind gedeckt und vor [später ergänzt: vielen] Prügel behütet … aber ich kann sie doch nicht zu mir nehmen, wie sie mir zumutet.«
»Nun, [später ergänzt: ganz] abgesehen von Karoline, mein lieber Wilhelm … du mußt heiraten und eine Frau mit nach Argentinien nehmen.«
»Kommst du mir auch mit deiner Kousine Silly?«
»Auch?«
»Ja, meine Schwester preist ihre Freundin in hohen Tönen an … aber Silly ist mir doch zu ungerade.«
»O, ein mehr gerades Gemüt und Herz wirst du nirgends finden, aber ich gönne sie dir kaum, und sie wird dich gar nicht nehmen … was unsre Eveline Nissen?«
»Zu billig ist nicht begehrenswert … eine andre gefällt mir.«
»Ihr Name?«
Der noch immer angebräunte Wilhelm wurde kupferrot und lispelte: »Marie Reibeisen!«
»Haha! Die du zweimal gesehen hat, hat es dir angetan?«
»Ich habe Reibeisens mehrfach allein besucht.«
»Ah, hinter deinen trocknen Ohren sitzt ein Schelm … nimm dir ein Mannesherz und deinen Stab in die Hand und mache dich fürbaß nach Fischbäck hinüber … sie wird dich nehmen, so wahr …«
»So wahr?«
»So wahr ich sie nicht nehmen möchte.«
Der Doktor Reder wanderte von Alstrup nach Fischbäck, welches Reibeisens Pfarrdorf war.
Junker schrieb allwöchentlich nach seiner Heimat, so daß die Mutter drei Seiten, Friedline die vierte und der Vater viele Grüße bekam. Die Ankunft des Briefes brachte mitten in der Woche einen zweiten Sonntag in die Dachwohnung hinein.
Heute gingen zwei Episteln nach Norderhafen. Er hatte auch an Karoline geschrieben [später ergänzt: , nämlich also]: Der Kätner Aarö sei ein Mann in den besten Jahren mit wenig Schulden und sechs Kindern, die aber vom Vater am Bande gehalten würden und sehr artig wären. Er sei gegen seine erste Frau ein trefflicher Ehegatte gewesen und suche jetzt eine Haushälterin. Sie dürfe zwar nur auf geringes Gehalt rechnen, aber [später nach ›könne sich‹ ] könne sich einen Gotteslohn verdienen.
Noch bevor Monika ihr Antwortschreiben abgefaßt hatte, kam Karolines Brief in Alstrup an. Sobald ihr »Ichias« sich so weit gebessert habe, daß sie ohne Stock gehen könne, werde sie eintreffen. Doch müsse der Mann ihr sogleich den Gottespfenning schicken, damit das Verhältnis – worunter sie das Dienstverhältnis verstand – ganz fest gemacht werde. Eine Mark in Freimarken würde genügen.
Amatus ging mit dem Brief nach Alstrupfeld. Krästen Aarö riß vor Aufregung mit seinem Fußtüder drei Kinder um, als er aus dem Bettstroh seinen Beutel holte. »Herr Kaplan, wollen Sie ihr zwei Mark als Gottesgeld senden?«
Als der Kandidat diese heikle Aufgabe seines Seelsorgeramts einer glücklichen Lösung so nahe gebracht hatte, führte ihn sein Weg an dem Hofe des Hufners und Kirchenältesten Monrad vorüber. Schon hatte er zögernden Schritts die Pforte passiert, kehrte jedoch um und ging ins Haus, wo er selten kam, aber [später ergänzt: immer] sich gut unterhielt und herzlich empfangen wurde. Sein Pastor hatte nämlich, nicht in Worten, sondern in der leicht verfinsterten Miene eine Mißbilligung dieser Besuche ausgesprochen und die offenherzige Prinzipalin kein Hehl daraus gemacht, daß sie die Monrads nicht möge.
Monrad war Mitglied aller dänischen Vereine und ein eifriger Agitator für Südjütlands verlorene Sache. Seine Tochter besuchte regelmäßig die Kandidatenpredigt, während sie an dem Pastorensonntag [später ergänzt: ebenso regelmäßig] fehlte.
Das Dänenfräulein, für ein Bauernkind höchst zierlich und beweglich, hatte einen kleinen, klugen Kopf und große, lebhafte Augen und war ein ansprechendes und gewandtes Persönchen, das nicht viel, aber vielerlei wußte und über alles zu reden verstand, auch recht gutes Deutsch sprechen konnte, aber nicht sprechen wollte. Jenseits der Grenze in aller Weisheit, Litteratur [später: Literatur] und allen Lebensformen der Dänen ausgebildet, besaß Martha [später ergänzt: nicht wenig] Schick und Schliff.
Monrad bat mit einer Handbewegung den Gast, auf dem Sofa Platz zu nehmen, über dem zwei kleine Danebrogsbanner hingen, und kniff kurios die Augen. »Wofern Sie unter den rotweißen Fahnen Platz zu nehmen wagen … der alte Pastor tut es beileibe nicht, sondern setzt sich ängstlich ans Fenster.«
Junker riskierte lachend, sich auf das dekorierte Kanapee niederzulassen.
Martha, die eine vollständige Bibliothek der neuen, nordischen Dichter besaß, sprach von Henrik Ibsens »Nora«, die damals auf allen Bühnen ihren Fandango tanzte und Furore machte. Amatus sprach ihr das Frauenrecht ab, ihren Mann und ihr Pappenheim zu verlassen, und übte bescheidene Kritik.
Und mitten im schöngeistigen Disput machte der Kandidat einen plötzlichen Sprung aus dem Ästhetischen in das Agrarische hinein und wandte sich an den Vater: »Herr Monrad, ich höre, Sie haben 24 Jütochsen gekauft … wollen Sie die mästen?«
»Ja, das ist meine Absicht, wenn die Ochsen wollen, wie ich will.«
»Mit Bohnenschrot und Sonnenblumenkuchen? Haben Sie auch Steckrüben genug?«
Monrad nickte belustigt: »Ei, was ein Pastor nicht alles weiß! Stammen Sie aus Bauerngeschlecht?«
»Ja, meine Vorfahren waren Bauern.«
»Hm, nun verstehe ich [später ergänzt: vieles] … weil Sie ein echter, unverwässerter Nordschleswiger sind, predigen Sie anders als die deutschen Schriftgelehrten, mit denen man uns beglückt.«
Junker runzelte die Stirn und verleugnete seine Gesinnung nicht. »Sie irren sich, ich bin ein guter Preuße.«
Sarkastisch blinzelte der Bauer: »Kein meerumschlungener Sleswigholsteiner [später: Schleswigholsteiner]?«
»Auch das! Aber nur im Anschluß an Preußen können und wollen wir Schleswigholsteiner Deutsche sein.«
Martha lenkte geschwind das gefährliche Gespräch ab und lächelte: »Sie wären auch ein trefflicher Bauer geworden.«
Er lächelte zurück: »Auch? Ja, wenn ich mit einem Geldsack von 50 000 Mark geboren wäre, würde ich es wahrscheinlich geworden sein.«
»O, Herr Junker, Ihre Predigtgabe ist noch größer … schade, wenn die [später ergänzt: schöne] Gabe brach geblieben wäre!«
Sie ging seine letzte Kanzelrede durch und hob einzelne Schönheiten derselben hervor, und er machte die für einen Prädikanten höchst angenehme Entdeckung, daß das Dänenfräulein seine ganze Predigt im Kopfe habe. –
Die abendliche Familienunterhaltung im Pastorat, die an Einförmigkeit litt, war ein Opfer, welches der Kandidat seiner guten Gönnerin brachte. Während er sonst seine Erlebnisse kurzweilig berichtete, schwieg er von dem Besuche bei Monrads.
Eveline blieb hinter dem Lampenschirm und fand keine Gelegenheit mehr zu kleinen Flüsterreden mit dem Kandidaten. Unter dem Weihnachtsbaum nämlich hatte ein neues Spiel, »Halma« genannt, gelegen, welches Frau Bene mit derartigem Eifer betrieb, daß keine Schlafsucht in ihre Augen kam. Heißroten Kopfes saß sie über das Brett gebeugt und konnte [später ergänzt: sehr] erregt werden, wenn sie verlor. Darum ließ er ihre unbesonnenen Züge unbenutzt und nahm zu an Gunst und Gnade bei der alten Dame.
Eveline Nissen aber haßte das Halma und liebte den Kandidaten – so meinte sie wenigstens, oben hinter ihrer Kammertür stehend, wenn er nach zehn Uhr die Treppe hinaufschritt. Nur drei Schritte von einander, in den Giebelstuben einander gegenüber, wohnten sie. Und sie hörte, wie er auf und ab ging, die Stiefel auszog, in das Bett sich warf, und wie alles stille wurde.
Dann schlüpfte sie ins kalte Bett [später ergänzt: hinein] und schüttelte sich, [später ergänzt: und] knusperte keine Äpfel mehr, sondern biß die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Ihre Mädchenträume waren bisher nichts als [später ergänzt: herbe] Enttäuschung gewesen. Schon in manche schöne und versorgte Situation hatte sie sich hineingeträumt, als Doktor-, Assessor- und Lehrerfrau und jetzt als fromme Pastorin, und keine der vier Fakultäten war ihr fremd – aber alle, alle Situationen waren [später ergänzt: eitel] Illusionen geblieben. – –
Wie das Osterfest nach dem Monde sich richtet, so wandelbar und regelmäßig wurde am ersten Montag nach eingetretenem Vollmond die Predigerkonferenz, die im Turnus rund ging, abgehalten, und diesmal bei Reibeisens.
Amatus wunderte sich, daß Wilhelm Reder eingeladen war, und sprach ihn an: »Quid Saulus inter prophetas? Was will Saul unter den Propheten?«
Der Doktor der Naturwissenschaften fühlte sich aber anscheinend sehr wohl in der geistlichen Atmosphäre. Weil er sich nicht an der wissenschaftlichen Konferenz im Studierzimmer beteiligte, erbat und erhielt auch der Kandidat die Erlaubnis, bei der Jugend zu bleiben. Hätte er es [später ergänzt: nur] nicht getan!
Drüben saßen die älteren Damen und tranken starken Kaffee und unterhielten sich lebhaft von der Dienstmädchennot der neuen und bösen Zeit.
Hüben schwatzten und kicherten die jungen Leute, und ein sehr kleiner Witz rief schon ein helles und herzhaftes Lachen hervor. Ein alter Kalauer! Ein komischer Blick! Ein verlegenes Sichversprechen! Ein törichter Einfall! Eine drollige Gebärde! Das genügte schon! Und das ist das glückselige Vorrecht der Jugend, daß sie zur ausgelassenen Heiterkeit so geringen Anlasses bedarf.
Nur Wilhelm, der die Schüchternheit nicht ganz abgestreift hatte, rückte bisweilen auf dem Stuhle, wenn Marie Reibeisen mit den sprechenden Blauaugen den furchtbar redseligen Kandidaten anzureden schien.
Die Pastoren konferierten im Studierzimmer und rauchten eifrig Zigarren. Von der Exegese schweiften sie auf das Gebiet der Predigtkunst hinüber. Reibeisen, der seinen Bauern zu gelehrt redete, warf die Frage auf: »Wie sollen wir predigen, um ein volles Gotteshaus zu haben?«
Pastor Weber räusperte sich. »Ein alter, erfahrener Theologe hat einmal gesagt: Man muß die Leute erst herauspredigen und dann wieder in die Kirche hineinpredigen.«
»Ja«, rief Reibeisen, »das Herauspredigen hätten wir [später ergänzt: gründlich] besorgt, aber das Hineinpredigen … hic Rhodus!«
Pastor Hahn ein kahlköpfiges Männchen, blitzte listig durch die Brille, und seine Stimme erinnerte an ein gedämpftes Gekrähe. »Lieber Amtsbruder, wir müssen von dem Kandidaten Junker in Alstrup lernen, wie wir volle Häuser – ich meine natürlich Gotteshäuser – erzielen.«
Reibeisen verteidigte den Abwesenden. »Er ist übrigens ein sehr angenehmer junger Mann … und dem Neuen laufen die Menschen nach.«
Pastor Hahn wurde hitziger: »Es ist aber doch arg, sogar Leute aus meiner Gemeinde sind nach Alstrup zur Kirche gerannt.«
Pastor Weber räusperte sich: »So, aus Ihrer Gemeinde? Junker hat [später ergänzt: ja] eine gewisse, nicht wegzuleugnende Gabe zum Predigen.«
Hahn schlug leicht auf den Tisch. »Wir Alten müssen eben bei dem Kandidaten in die Schule gehen … aber, lieber Bruder Weber, was die Seelsorge betrifft, wollen wir ihn doch lieber nicht zum Vorbild nehmen … da soll Ihr Junker ja, wie verlautet, tolle Sachen machen.«
»Tolle Sachen? Wieso?«
Hahn legte sich langsam zurück und berichtete breit: »Kommt er neulich zu einer Frau, die an Schwermut leidet … er tröstet hin und her und rät ihr zuletzt, morgens, wenn die Anfälle am ärgsten, ein Glas Grog zur Erheiterung des Gemüts zu nehmen. Ja, solche Theologie gefällt unsern Bauern.«
Mehrere Stimmen riefen: »Ist es möglich!«
»Dann die blutjunge Tochter des Bauern Bög …«
»Die sich das Leben nehmen wollte?« warf Weber dazwischen.
»Ja, die, weil sie den Vorknecht ihres Vaters nicht haben sollte, in den Teich sprang, der zum Glück nicht tief genug war … und was tut Ihr Junker? Mit seiner Beredsamkeit nimmt er nicht die Tochter ins Gebet, sondern bearbeitet [später ergänzt: er] so lange den Bauern, bis der mürbe wird und seine Einwilligung gibt. Ja, solche Seelsorger mögen unsre jungen Mädchen.«
Junkers Pastor schüttelte den Kopf, und Hahn schloß seine Rede: »Ich kann natürlich nicht alles Gerede der Leute verbürgen … aber sehen Sie Ihrem jungen Seelsorger etwas auf die Finger, Bruder Weber!«
Die pastorale Konferenz tagte weiter.
Drüben im Zimmer saß einer zwischen den jungen Mädchen und hielt mitten im Lachen inne. »O, es saust vor meinem Ohr, man redet von mir.«
»Gewiß nur Gutes!« wisperte die sanfte Marie.
»Nein, vor dem schlechten Ohre singt es schrill«, sagte der Kandidat Junker. –
In der Dienstagfrühe begrüßte Frau Bene ihren Schützling förmlicher als sonst, und der Pastor ließ einen [später ergänzt: sehr] ernsten Blick über seinen Prädikanten hingleiten. Aber gesagt wurde nichts, und Amatus war zu stolz, um zu fragen.
Das Barometer sank tief, und draußen goß der Regen nieder und gurgelte in den Traufen.
Nachmittags kam Reder in der peitschenden Nässe, wider das Unwetter mit dem Egeberger Wagenschirm bewaffnet. Tiefsinnig rauchend, kauerte er im Kandidatensofa, das den Körper nicht verweichlichte, und taute trotz der Nässe nicht auf.
»Du bist so feierlich, Wilhelm.«
»Nach vier Wochen muß ich reisen.«
»Fällt dir der Abschied so schwer?«
»Ja, sehr!«
»Von mir?«
»O ja–a–a!«
»Das war ein lang gedehntes Ja«, lachte Amatus, »aber von Klarissa?«
»Ja, auch von ihr.«
»Sonst noch von jemand? Von der blauäugigen Pastorentochter?«
Die zusammengedrückte Gestalt schnellte empor. »Sei ehrlich, Amatus, und sag es mir! Hast du ein Einverständnis ..?«
»Mit wem?«
»Mit der kleinen Marie ..?«
»Haha! Nein und dreimal nein! Wilhelm, liebst du sie wirklich?«
»Ja, ich liebe sie, o …«
»Mensch, habe ich es dir nicht schon gesagt? Sei getrost und freudig, tue dein bestes Gewand an, salbe dein Haar und setze einen hohen Zylinderhut darauf, gehe nach Fischbäck und mache deinen Antrag … [später ergänzt: wahrlich ich sage dir,] sie wird dich nehmen.«
Trotz der Verheißung fiel Wilhelm von neuem in die geknickte Stellung zurück. »Ach, ich finde keine Gelegenheit, sie allein zu sprechen, und wenn ich sie fände, fände ich nicht [später ergänzt: die] Worte, es ihr zu gestehen.«
»Mache dir doch vorher einen Vers, den du im geeigneten Augenblick mutig hersagst!«
»Nein, ich bin zu blöde geboren und durch meine Erziehung verschüchtert.«
Der Prädikant, der sonst seiner Herde die Demut predigte und pries, paßte seine Seelsorge dem einzelnen Fall an und suchte in dem schüchternen Gemüt des Freundes das Selbstbewußtsein zu wecken. »Du bist normal gestaltet und ein solider Mensch, du bist mit einem heiratsfähigen Einkommen dotierter Doktor der Chemie … Mensch, was willst du mehr?«
Wilhelm war von diesen Gründen völlig überzeugt, aber seine Blödigkeit blieb unüberwunden.
In schwierigen Fragen und Lagen kam der Genius der schnellen Ratschlüssigkeit dem Kandidaten zur Hilfe, und er löste einfach den vertrackten Kasus. »Ich setze den hohen Hut auf und mache für dich den Antrag.«
Wilhelm der Schüchterne machte erst mißtrauische, dann aber fröhlich-dankbare Augen, als er die Überzeugung gewann, daß der scherzhaft klingende Vorschlag ernst und redlich gemeint sei. –
In Fischbäck wunderte man sich, daß der Kandidat schon heute zu Besuch kam, aber die Verwunderung war eine sehr angenehme Überraschung. Zwischen Mutter und Tochter saß der Freiwerber und suchte seinen heiklen Auftrag möglichst schnell auszurichten. »Fräulein Reibeisen, wofür interessieren Sie sich am meisten? Für die Musik?«
»Nein!« antwortete die Pastorin statt der Tochter, »für die Wirtschaft und das Hauswesen.«
»Da ist die löblichste Frauentugend.«
»Und die prosaischste«, flüsterte Marie.
»Doch die, welche alle andern Tugenden überdauert … aber eine Liebhaberei werden Sie haben, Fräulein Reibeisen?«
Bei diesen Worten fand ein sanfter Aufschlag der blauen Augen statt. »Sie nehmen mich ja ins Verhör … [später ergänzt: nun,] wenn Sie es wissen wollen, meine Lieblinge sind meine Pekingenten, hihi!«
Das war ein kindliches Lachen, und er sagte lebhaft: »Sie sind tierlieb! Das Muhen der Kühe im Stall, das Schnattern der Enten, sogar das Quieken der Ferkel ist mir eine trauliche Musik. Darf ich mal Ihre [später ergänzt: weißen] Enten sehen?«
Fräulein Marie ging mit ihm zum Teiche hinaus.
Die Mutter stand am Fenster und sah ihnen mit einer fragenden Miene nach, die allmählich ins Pfiffige hinüberspielte.
Amatus achtete nicht auf die Enten, sondern ging ohne Einleitung, unverblümt und unverblüfft auf sein Ziel los. »Ich habe Gelegenheit gesucht, mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit zu reden.« Der Schelm sah sie fest an.
Ein leichtes, zaghaftes Zittern lief über ihre Gestalt, weil sie dachte: Nun kommt's. Scheu senkte sie die Lider und suchte verstohlen durch die Wimpern zu lugen.
Und es kam. »Ich kenne einen ehrenwerten Mann in einträglicher Lebensstellung …« Er hielt inne.
Das Fräulein stotterte: »In einträglicher Stellung …« Das verstand sie nicht.
»Der Sie lieb gewonnen hat und in Ihrem Besitze unendlich glücklich sein würde … mein Freund Doktor Reder liebt Sie … in seinem Auftrage biete ich Ihnen sein Herz und seine Hand an.«
»O Himmel, o Himmel!« Fräulein Reibeisen stand einen Augenblick, wie aus den Wolken gefallen, und lief dann bestürzt ins Haus. Aber sie hatte Besinnung genug, hinter sich zu rufen: »Warten Sie, bitte, hier ein paar Minuten!«
Junker betrachtete die weißen Enten und zog oft die Uhr. Marie saß bei der eifrig redenden Mutter und hatte den Kopf in den Händen begraben.
Als sie zum Teich [später: Teiche] zurückkehrte, war sie nicht blutrot, sondern er meinte, auf den etwas blassen Wangen dunklere Spuren zu sehen.
Sie hatte wohl Freudentränen geweint und sagte mit einem der ernsten Stunde entsprechenden Ernst: »Ich nehme Doktor Reders Antrag an.«
Junker wünschte ihr Glück und rühmte [später ergänzt: sehr] den Freund: »Wilhelm ist ein herzensguter Mensch, der bisher im Leben wenig Liebe gefunden hat und darum sehr viel Liebe gebraucht, aber auch voll und ganz verdient.«
Marie dankte, ohne die Augen aufzuschlagen.
In Regen und Sturmschritt ist Doktor Reder nach Fischbäck gelaufen, und dem Schüchternen wurde der schwere Anfang dadurch erleichtert, daß Herr und Frau Reibeisen ihn auf dem Flure als Schwiegersohn begrüßten und umarmten.
Nach zwei Tagen aber kehrte Wilhelm der Fröhliche seiner Verlobten das Notenblatt um, und sie sang lächelnd zu ihm empor:
In Sturm und Regen
Bist du gekommen,
Mein Herz beklommen
Schlug dir entgegen.
Sie waren des Alleinseins froh. Der Pastor mendierte an seinem ewigen Manuskripte, und Frau Reibeisen war in der Kalesche ausgefahren, um alle Nähterinnen [später: Nähmamsellen] der fünf umliegenden Kirchspiele zu dingen.
Nach der gelungenen Werbung – gelungen im doppelten Sinne – lachte Amatus in sich hinein, mit seinem Erfolge zufrieden. Jedoch am Morgen rumorten Gewissensbedenken in ihm. Wird die Ehe ihm und ihr zum Heile gereichen? Oder habe ich mutwillig auf einem morschen Grunde Menschenglück gründen wollen?
Sein Pastor, der die frühere Herzlichkeit nicht wiedergefunden hatte, fragte beim Kaffee mit einem Anflug von Spott: »Haben Sie auch gestern nachmittag Seelsorge getrieben?«
Die Frage wurde kurz verneint.
Kaum hatte der Kandidat in seinem Giebelzimmer die Klappe der hundertjährigen Schatulle, die auch als Pult diente, niedergeschlagen, als unten auf dem Flur polternd gerufen wurde: »Herr Junker, ich muß Sie sprechen.«
Pastor Weber warf das blaue Heft der Schullisten zornig auf den Tisch. »Was haben Sie hier gemacht? Wissen Sie nicht so gut wie ich, daß der Schulinspektor jedes Kind nicht mehr als zwölf Tage im Jahre dispensieren darf? Und der Anne Klühn, die längst ihre Tage weg hat, haben Sie trotzdem drei Tage frei gegeben. Ich bin es, der in Ungelegenheiten kommt und, wenn der Kreisschulinspektor es merkt, sich schulmeistern lassen muß. Die Lehrer, die heutzutage an gelindem Größenwahn leiden, ergreifen jeden Anlaß, um einen Pastor zu kompromittieren.« In seiner Hitze vergaß der alte Herr die übliche Reserve.
Junker erwiderte ruhig: »Ja, peccavi, ich habe wider den Buchstaben der Vorschrift gesündigt. Aber Frau Klühn liegt mit einem Neugeborenen im Bett, der Vater muß auf Arbeit gehen, und bei der Mutter und den vier jüngeren Geschwistern war niemand im Hause als Anne … als ich das mit eigenen Augen sah, erlaubte ich ihr, die Schule zu versäumen.«
»So, so!« Dem Greis stieg die Röte ins Gesicht. »Ich habe Ihnen mein Vertrauen geschenkt und werde fortan die Schullisten selber führen.«
Der Prädikant nahm niedergeschlagen seinen ersten Verweis hin und war doch herzensfroh, des leidigen Schulamts enthoben zu sein. Den Bitten der armen Tagelöhnerkinder und -mütter vermochte er kein hartes Nein entgegenzusetzen.
Trotzdem kamen die Mütter [später ergänzt: auch fernerhin] zu dem Kandidaten und quälten ihn, bei dem Pastor ein gutes Wort einzulegen, damit sie nicht gemeldet und bestraft würden. Und Junker ging mehr als einmal zu den Lehrern von Alstrup, bei denen er keinen Größenwahn bemerkte, als Bittsteller und Armenanwalt. Er erfuhr nicht, ob die Lehrer ein Auge zudrückten, so daß sie den Buchstaben des Gesetzes übersahen; aber die ärmsten Familien wurden in Alstrup äußerst selten gedrückt.
Eines Morgens flossen dem Kandidaten die schönsten und erbaulichsten Gedanken in die Feder, und sein Geist schwebte auf den Höhen der Pastoralpoesie. Da rissen ihm Flug und Faden ab, ein Klecks troff auf das Papier. So urkräftig klopfte es an die Tür und kam sogleich herein, mit der gebauschten Mantille und dem hochstehenden Hute den Türrahmen ausfüllend.
»Karoline!«
Ja, sie humpelte, auf den Regenschirm gestützt, ins Zimmer und fiel mit ihrer ganzen Körperschwere ins Sofa und sagte: »Au – au! Herr Junker, hierin versinkt man nicht.« Ihre Augen musterten die Einrichtung. »Na, für einen Pastor könnte es auch ein bißchen feiner sein … bei der Wohltätigen war die Schiffskiste mit der Decke darüber ebenso weich gepolstert.«
Unten auf dem Flure stand die schwerhörige Frau Bene und horchte nach oben und lief in die Stube zum Fräulein: »Eveline, wer war die [später ergänzt: korpulente] Person wohl?«
Das Puppengesicht lächelte schlüpfrig: »Ja, das möchte ich auch gern wissen … aber der Herr Kandidat hat ja viele Bekanntschaften und verkehrt bei Monrads täglich.«
»Was will er bei dem Stockdänen?«
»Vielleicht sich mit Fräulein Martha unterhalten … aber ich weiß nichts.«
Frau Bene kraute das Haar zurück und begab sich beunruhigt zu ihrem Manne.
Amatus mußte der schwatzhaften Karoline eine volle Stunde opfern. Obgleich er ihr zweimal den Weg zu dem Kätner Aarö erklärte, verstand sie seinen Wink erst, als er ihr auf einem Blatt Papier eine deutliche Wegskizze machte und das Haus durch einen viereckigen Klecks bezeichnete. »Hier, Karoline, ist Ihr zukünftiges Heim.«
»Gott gebe, daß es ein Heim würde!« seufzte sie und humpelte von dannen.
Bei Tisch wurde der Kandidat fragend angesehen, aber er schwieg.
Frau Bene ertrug die Folter der Neugier nicht länger und fragte: »Wer war die Dame, die Sie besuchte?«
»Eine Dame? Haha! Ein Dienstmädchen aus Norderhafen war es, dem ich bei dem Kätner Aarö einen Platz als Haushälterin vermittelt habe.«
»So, so?« Pastor Weber klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Aarö ist einmal auch bei mir gewesen … Sie haben, mit anderen Worten, nicht den Stellen-, sondern den Heiratsvermittler gespielt. Herr Junker, in was für Dinge stecken Sie die Finger! Ich muß Sie dringend ersuchen, mit mir in jedem Falle Rücksprache zu nehmen, bevor Sie in meiner Gemeinde Seelsorge treiben.«
Der Kandidat verneigte sich stumm und hatte seinen zweiten Verweis erhalten.
Als er aber mit der guten Pastorin allein war, schüttete er ihr sein Herz aus. »Es ist anders [,] als im Anfang [,] geworden … was haben Sie gegen mich?«
Die Offenherzige antwortete: »Sie gehen uns zu viel zu Monrads.«
»Sind Monrads nicht ehrenwerte Leute?«
»Nein, der Vater ist ein Fanatiker, und der Tochter hängt auch eine Anrüchigkeit an.«
Amatus horchte auf. »Mir gegenüber hat noch kein Mensch ihren guten Ruf angezweifelt … was hat sie denn gemacht [später: verbrochen]?«
Frau Benes Mienen bekamen einen Ausdruck sittlicher Entrüstung. »Martha Monrad ist vor zwei Jahren politisch sehr lästig geworden … sie ist eine von den sogenannten südjütschen Mädchen!«
»Ach, sie gehört zu den tausend nordschleswigschen Jungferlein, die eine gemeinsame Reise durch Dänemark machten«, lächelte Amatus.
»Ja, die Monrad hat den Plan der Demonstrationstour ausgeheckt und war die Leiterin der mit rotweißen Bändern geschmückten Schäflein, die überall im kleinen Vaterlande von den Dänen angeredet, angesungen und angeulkt wurden.«
Junker erklärte lachend, daß er ein guter Deutscher sei und darum ungefährdet mit Dänen und südjütschen Mädchen verkehren könne.
Nachmittags trat er seinen gewöhnlichen Spaziergang in verdrießlicher Stimmung an. Seelsorge durfte und wollte er nicht mehr treiben, aber Besuche abzustatten, ließ er sich nicht verbieten und kehrte darum bei einem Hofbesitzer ein, der froh und ohne Sorgen lebte und einer robusten Gesundheit sich erfreute. Seine Lippen zuckten spöttisch: »Meinem Pastor gegenüber ist hier sogar der böse Schein, als wenn ich auf Seelsorge ausginge, gemieden.«
Zwei Nachbarn saßen in der Stube und tranken mit dem Hausherrn Rumgrog. Der Kandidat nahm auch ein Glas und ließ sich zum zweiten nötigen.
Mit dem Essen – und noch mehr mit dem Trinken kommt der Appetit. An der Landstraße lag ein Wirtshaus, in das er auf dem Heimwege nach kurzem Zögern einbog. Die Bauern sprangen empor und räumten ihm den [später ergänzt: Ehren-]Platz im Sofa ein und fragten höflich, ob er ihnen die Ehre antun wolle. Er tat's und trank.
»Ja, das ist nett von Ihnen, Herr Kandidat, daß Sie Mensch mit Menschen sind … Sie sind bei allen äußerst beliebt und einen solchen Prädikanten haben wir Alstrup noch nicht auf der Kanzel gehabt … wenn wir einmal den Alten verschlissen haben, wer weiß …«
»Still davon, wenn ich nicht aufstehen soll!« sagte er [später: der Kandidat] energisch.
Aber seine Energie reichte nicht aus, [später ergänzt: um nein zu sagen,] als sie noch zweimal ihn baten, ihnen die Ehre zu erweisen.
Abends im Familienkreise war Amatus, der seinerseits keine Verstimmung mehr fühlte, sehr heiter und lebhaft, so daß Eveline hinter dem Schirm sein Gesicht beobachtete und mit dem Näschen nach ihm hinüber roch. Die Kluge witterte etwas.
Frau Bene lachte über seine Witze. »Heute sind Sie aber aufgeräumt.«
»Ja, bei klarem Frostwetter werde ich springlebendig, wie ein Frosch in seinem Liebesfrühling … überdies habe ich etwas erlebt.«
»Erzählen Sie!«
»Draußen traf ich den Greve, den Holsteiner, der sich vor zehn Jahren in die Landstelle hineingeheiratet und die achtzigjährige Schwiegermutter auf dem Altenteil hat; und folgendes Zwiegespräch fand statt. In seinem geliebten Plattdeutsch fing er an: ›Herr Pastr!‹ – ›Ich bin nicht Pastor‹ . – ›Herr Kaplan‹ . – ›Ich bin nicht Kaplan.‹ – ›Herr Kandidaat, ik heff en Doden int Hus‹ – ›Was für einen Toten?‹ – ›De ole Minsch is dod.‹ – ›Was für ein alter Mensch?‹ – ›Min Swigermoder, Herr Pa–, Herr Kandidaat.‹ – Bitte sagen Sie es ihrem Manne aber nicht, daß ich trotz des Verbots gewissermaßen Seelsorge getrieben habe … ich konnte nämlich nicht unterlassen, dem Schlingel so lange ins Gewissen zu reden, bis er um seine Schwiegermutter ein paar Tränen vergoß.«
Eveline warf dem lustigen Kandidaten einen langen Blick zu und sagte bald Gutenacht und verschwand.
Als Amatus leise trällernd die Treppe hinaufkam, regte sich etwas auf dem engen und dunklen Flur.
»Ist hier jemand?« sprach er ohne Gespensterfurcht.
Eine flüsternde, zitternde Stimme [später ergänzt: wisperte]: »Rufen Sie nicht so laut! Ich habe meine Streichhölzer verlegt und kann mich nicht zurecht finden.«
Sofort rieb er ein Streichholz an, mit dem er die Finsternis und sonderbare Situation beleuchtete. Eveline sah mit verschleierten Augen, die einen feuchten Schimmer hatten, unverwandt zu ihm empor und sagte kein Wort. Wenn er nur einen Finger ausgestreckt hätte, wäre sie weich und willenlos in seinen Arm gesunken.
Doch er ließ die Arme schlaff hängen und rieb ein frisches Zündholz an und hob die kleine Leuchte empor, weil ihm gespensterfurchtsam zu Mute wurde. »Reden Sie doch, Fräulein Nissen!«
Sie stammelte; »O, Sie kamen heute so heiß … so heiß …«
»Nein, Fräulein, hier ist hundekalt, und wenn Sie noch lange stehen bleiben, werden Sie sich einen fürchterlichen Schnupfen holen.«
Eveline schrie nicht, sondern stürzte abgekühlt und durcheisigt in ihre Kammer, ohne seine Streichhölzer zu nehmen. In ihrer Gedankenlosigkeit hatte sie vergessen, daß sie auf der Treppe ihre Schachtel in die eigne Tasche gesteckt hatte.
Am Morgen fühlte sich Amatus wehleidig und mißmutig, wie seit Monaten nicht. Nicht nur war als natürliche Rückwirkung des gestern genossenen Getränks eine seelische Depression eingetreten, sondern das zwitterhafte Prädikantenamt schien ihm verleidet, und sein getrübtes Urteil erblickte alles grau in grau. Als der Versuch zu arbeiten völlig mißlang, steigerte sich das erdrückende Unbehagen zu einem Anfall des alten Feindes.
Aber seinem benommenen Kopfe blieb eine klare Besinnung und die vorsichtige Überlegung, daß er sich um jeden Preis nicht bloßstellen dürfe. Auch kannte er die Bauern, die ins Gesicht schmeicheln, aber über die Popularität eines grogtrinkenden Geistlichen hinter dem Rücken [später ergänzt: desselben] ihre Glossen machen. Darum ging er in kein Wirtshaus, sondern bestellte beim Kaufmann eine Kiste Portwein, die ihm ins Haus gebracht wurde.
Amatus wurde zum heimlichen Trinker.
Obgleich er auf der Hut war und jede Gesprächigkeit vermied, machten doch Evelines forschende Blicke und witternde [später ergänzt: Stumpf-]Nase gewisse Beobachtungen. Als er einmal sein Zimmer verließ, schlich sie sich hinein, zog leise die Schubläden auf und guckte in alle Winkel. Ah, unter der Garderobe stand eine halbvolle Flasche.[Später: Flasche!]
Fräulein Nissens schnell gefaßte Zuneigung war in eine noch augenblicklicher entstandene Antipathie umgeschlagen.
Ihrer Herrin flüsterte sie in die schwerhörigen Ohren: »Was hat Herr Junker gestern und heute? Haben Sie nichts gemerkt?«
»Was sollte er haben?«
»Er ist anders als sonst … ich glaube, er trinkt.«
Frau Bene, statt, wie erwartet, neugierig zu werden, fertigte das Fräulein grob ab: »Was scheren Sie sich um unsern Kandidaten? Stecken Sie die Nase in die Küchentöpfe, daß nichts ansengt und versalzen wird!«
Die kleine Denunziantin hielt fortan in der Stube den unnützen Mund, aber schwatzte und klatschte um so mehr in der Küche mit der Brotfrau und dem Gartenarbeiter und den Bettelweibern.
Am dritten Tage stand Amatus neben seinem Waschtisch und schüttete in einer plötzlichen, heiligen Zornwallung den Rest der Flasche in das Schmutzwasser. Wie war die furchtbare und zur Umkehr entschlossene Reue über ihn gekommen? In der andern Hand hielt er einen eben erbrochenen Brief seiner Mutter, die innig und in ihrem Zartgefühle nur andeutend schrieb: »Mein Amatus, jetzt sind es fünf volle Monate, daß du glücklich bist – wir wollen Gott loben und preisen.«
Er stöhnte, und die Scham schrie in ihm, daß er ein heimlicher Trinker geworden. Nach fünfmonatlichem siegreichen Kampfe war er in den Staub gesunken und durch seine Seele ging der tiefe Seufzer: Das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
Aber sein jugendlicher Sinn hat nach einigen Tagen die Betrübnis überwunden. Gleich einem Genesenden, der nicht über die vergangenen Schmerzen grübelt, sondern ins Sonnenlicht schaut, wandte Amatus den Blick von der rätselhaften Sphinx seiner Seele und seines Willens hinweg, um nicht die neu erwachende Lebens- und Arbeitslust zu lähmen. Rückwärts lag der Schleier eines Dunkels, den sein heller Verstand doch nicht lüften noch durchleuchten konnte, und vorwärts strebten und stürmten seine regen Kräfte. – – –
Pastor Reibeisens machten die Hochzeit ihrer einzigen Tochter. Amatus, der auch eingeladen war, begrüßte die Schreckgestalt seiner Kindheit, die lange Stine, die ihn einmal bei den Haaren unter dem Tisch hervorgezaust hatte, und kannte die Frau kaum wieder. So groß war ihre Liebenswürdigkeit, und ihr längliches Gesicht verzog sich zu einem stereotypen Lächeln, während sie nach seinem Ergehen, seinen Zukunftsplänen und Aussichten eingehend sich erkundigte. Sie war darüber schon orientiert, daß an Kandidaten gegenwärtig kein Überfluß sei, und hörte mit Teilnahme, daß er bald das kanonische Alter erreiche und, wenn es Gott und dem Konsistorium gefiele [später gefalle], ordiniert werden könne.
Klarissa Reder war ihm als Tischdame zugewiesen worden – daß dieses auf einen Wink der Stiefmutter hin von Frau Reibeisen arrangiert worden [später entfallen: war], blieb beiden verborgen – und Junker war während der Tafel ein vergnüglicher Plauderer und ein sehr mäßiger Trinker. Zuweilen, wenn er am lebhaftesten sich unterhielt, meinte er zu bemerken, daß Frau Reders Auge gnädig auf ihm ruhte, und daß [später: wie] sie ihrer Tochter mütterlich zunickte. Dann aber blickte Klarissa tief in den Teller hinein.
Amatus beugte sich leicht über den Arm seiner Dame und flüsterte: »Ihr Bruder ist für die übrige Gesellschaft abwesend und ganz in den Anblick seiner Gattin versunken. Sehen Sie, wie das Glück seine Züge verklärt hat, wie seine Frau strahlend zu ihm emporschaut! Das muß doch eine schöne Stunde sein«, setzte er leiser hinzu.
Klarissa sah ihn voll und fest an: »Die Franzosen haben ein Wort: Corriger la fortune. Herr Junker! Ihre Finger haben Korrektur getrieben und bei diesem Glück nicht wenig nachgeholfen.«
»Ich habe nur dem Schüchternen als Sprachrohr gedient.«
Worauf sie erwiderte: »Ja, ich hoffe und glaube, daß es zum Guten geschehen ist und gelingen wird … aber mir wäre die Verantwortung zu groß gewesen.«
Er schwieg betroffen.
Klarissa aber wurde schelmisch. »Wenn ich nun versuchen wollte, Ihr Glück zu machen?«
»Zu große, zu große Verantwortung, Fräulein Reder! Wollen wir eine Wette machen, daß ich weiß, was jetzt kommt?«
»Was denn?«
»Silly! Ja, meine Kousine ist ein liebes, hochherziges Mädchen – aber meine Kousine!«
Bei diesen Worten ging ein gespanntes Aufmerken, nicht wie eine Wolke, sondern wie ein flüchtig verschwindender Glanz, über Klarissas Antlitz.
Der Zollinspektor, den seine Frau bedeutungsvoll angesehen hatte, stand auf und hob in schlecht gefügten und wohl gemeinten Sätzen sein Glas auf das Wohl des Kandidaten, des Jugendfreundes seines Sohnes, indem er seine Rede mit einem Vivat sequens schloß. Um mit Junker anzustoßen, langte die lange Stine [später ergänzt: mit dem langen Arme] über die ganze Breite des Tisches. Fräulein Reder aber hielt ihr Glas so ungeschickt, daß es mit dem seinen [später: des Kandidaten] kaum zusammenklirrte.
Am folgenden Tage spürte Amatus nur angenehme Folgen des frohen Hochzeitsmahles und wanderte frischgemut nach Alstrupfeld hinaus, wo Krästen Aarös Kate sein Ziel war. Hänschen stand ungetüdert im Hofe und zog, mit den Holzschuhen im Schlamme wühlend, Abzugsgräben für das Dungwasser. Sobald er den Ankömmling gewahrte, lief er hin und umschlang des Kandidaten lange Beine. Der gut angelernte Bursche streifte auf dem Flure nicht bloß die Holzschuhe ab, sondern zeigte auch auf die Matte und ermahnte in seiner Sprechweise: »Stiefel reine machen … sonst Tante böse.«
Aus der Küche kam Karoline hereingehumpelt und stemmte stolz die Hände in die Hüften, als Junker mit seinem Lobe nicht zurückhielt. [Später entfallen: Trotz des Verbots konnte er die Seelsorge nicht ganz unterlassen. Karoline nämlich fing an sich die Augen zu wischen und zu wehklagen, daß sie ein lahmer Krüppel bleiben werde; welche Tränen er mit seinem zuversichtlichen Troste stillte.]
Draußen im Stalle, wo Krästen sein Vieh fütterte, besichtigte er zunächst die drei Kühe und erkundigte sich dann, die Stimme dämpfend: »Na, wie können Sie mir ihr auskommen?«
»Ist eine stramme, propre und zuverlässige Person … aber in meinem eignen Hause habe ich nicht viel mehr zu sagen.«
»Sie sind nicht ganz zufrieden?«
»Herr Kaplan, ich bin sehr zufrieden mit ihr als Haushälterin, aber …« Krästen kraute sich. »Aber die Sache hat einen Haken … eine lahme Person kann doch nicht heiraten, eine Bauerfrau muß vor allem gesunde Hände und gesunde Beine haben.«
Amatus, der das eine Auge zukniff, war seinem pfiffigen Vater zum Sprechen ähnlich. »Wenn ich nun ein Sympathiemittel weiß und die Beine bespreche, so daß Karoline nach sechs Wochen stramm wie ein Musketier marschieren kann, was dann, Krästen?«
»Dann marschiere ich sofort zum Pastor, daß er uns von der Kanzel wirft … sonst ist sie ja ein sauberes und schönes, ein rasches und rassiges Frauenzimmer.«
Das Sympathiemittel des Kandidaten war die alles, auch das Hüftweh allmählich heilende Zeit.
Junker ging an der Monradschen Hofstelle nicht vorbei, sondern betrat, Frau Benes Warnung zum Trotz, das Haus [später ergänzt: des Dänen], weil er sich seinen Verkehr nicht vorschreiben lassen wollte. Die Wohnstube war leer. Draußen in der Küche redete Marthas laute Stimme in einem fort. Sie schien den Mädchen eine donnernde Standrede zu halten, und er [später: der Kandidat] räusperte sich vergebens.
Das Auge des Wartenden fiel auf die Sofawand, [später entfallen: und] ein Schalk und Schelm fuhr plötzlich in ihn. Er löste die Danebrogsfähnlein aus der Schleife und versteckte sie in der Hausbibel, auf der Seite, wo zu lesen stand: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist!
Die Philippika in der Küche riß nicht ab. Darum klinkte er leise die Tür auf und blieb verwundert und angewurzelt auf der Schwelle stehen. Martha stand vor dem Herde, rührte mit dem Löffel im Topfe und hielt in der linken Hand ein dramatisches Büchlein, aus dem sie laut deklamierte. Die bewegliche, bachstelzenhafte Person hatte trotz der komischen Situation etwas unendlich Graziöses und Anmutiges, besonders da sie auf den Zehenspitzen wie eine Ballettänzerin sich drehte und herzhaft auflachte, als der ungesehene Zuhörer in die Hände klatschte.
»Ich lerne meine große Rolle … wir wollen [später ergänzt: ja] hier in Alstrup eine Dilettantenvorstellung geben und ›Die Welt, in der man sich langweilt‹ aufführen.«
Amatus wandte nicht die Augen von ihrer Gestalt. »Fräulein Monrad, ich möchte Sie auf der Bühne sehen.«
»Dazu bietet sich ja sehr bald Gelegenheit. Werden Sie wirklich hingehen, um meine schauspielerische Kunst zu bewundern oder zu bekritteln?«
»Ja, ich werde kommen.«
»Ein Wort?« fragte sie, um die Zusage fest zu machen.
»Mein Wort darauf!«
Nun hatte er sich gebunden, in unbedachter Eile, und zu spät, als er schon zu Hause auf dem Kandidatensofa saß, stellten sich einige Bedenken ein. Was würden sein Präpositus und seine Präposita dazu sagen?
Sobald sich Gelegenheit bot, Frau Bene unter vier Augen zu sprechen, schlug er selbst das Theaterthema an, um seine etwas beklommene Brust zu erleichtern.
»Ich werde mir Spaßes halber die Bauernkomödie ansehen.«
Sie zog das breite, gutmütige Gesicht [später ergänzt: sehr] in die Länge. »Das wird meinem Mann durchaus nicht passen.«
»Aus pastoralen Gründen, weil der Theaterbesuch sich für den Prädikanten nicht schickt?«
»Nein, weil es eine ausgesprochen dänische Geschichte wird.«
»Das Stück ist eine harmlose, französische Übersetzung und unpolitisch.«
»Gehen Sie nicht hin, Herr Junker!«
»Ich muß hingehen, denn ich habe es versprochen und schon mein Wort gegeben.«
Frau Bene schüttelte den Kopf. »So, Sie haben [später ergänzt: schon] Ihr Wort gegeben und der Monrad sich versprochen?«
»Nein, das nicht!« lachte er gezwungen.
Im Pastorat lag eine Verstimmung in der Luft, und Eveline fand bei der schwerhörigen Herrin mehr Gnade und ein williges Gehör. – – –
Alstrup hatte zwei Wirts- und Tanzlokale. In dem einen, dessen Besitzer Hans Petersen hieß und am liebsten dänisch sprach, aber dem deutschen Reichstagskandidaten seine Stimme gab, verkehrte der nationale und der neutrale Teil der Bevölkerung. In dem andern, Hotel Danmark genannt, dessen dicker Wirt – Peter Petersen mit Namen – zum dänischen Wahlverein einen beträchtlichen Beitrag zahlte, sollte am Abend des ersten April Komödie gespielt werden.
Frühmorgens fand der Kandidat, der zum Kaffeetische kam, auf seinem Teller ein Brieflein.
»Ist für Sie abgegeben worden«, sagte Fräulein Eveline mit einer hinweisenden und wegwerfenden Handbewegung.
Seine Finger rissen den Brief auf, der ohne Unterschrift war, und er las mit Hast die zwei Zeilen:
Wen Anonymes hoch beglückt,
Wird meistens in April geschickt.
»Hihi, fifi!« Das Fräulein schlug eine kreischende Lache auf, und die Frau Pastor, die hinter dem Ofenschirm gestanden hatte, fiel mit ihrem Basse ein: »Hoho, hoho, April, April!«
Pfui Spinne! dachte Junker und tat das Klügste, was ein in den April Gesandter tun kann, er lachte überlaut mit.
Der Tag, der mit einer lächerlichen Nasführung begonnen hatte, endete mit einer lustigen Theateraufführung. Auf dem plüschroten, nummerierten [später: numerierten] Sitz zu zwei Mark saß der Kandidat und zog die Lippen krumm, wenn die Bauernmädchen unhörbar lispelten und lichtfiebrig den Souffleur anstarrten, die Bauernjünglinge aber hinter [später: aus] den Kulissen gleich preußischen Rekruten hervorstrampelten, steif und stramm vor ihren Damen standen und wie Schulbuben ihren Sermon herleierten.
In den Szenen [später entfallen: aber], wo die Hauptheldin, Martha Monrad, auftrat, beugte er sich weit vor, von ihrem Spiel gebannt. Jede Replik fiel, wie vom Augenblicke eingegeben, von ihren Lippen. Ihr Mienenspiel, ihr Lächeln, jedes Zucken der Brauen war so natürlich und anmutig, daß er kein Auge von der Bretterhöhe, welche die Bühne vorstellte, wandte. Nach jeder Szene schlug er zuerst die Hände zusammen.
Die zierliche Monrad war die geborene Schauspielerin. Erstaunt und immer entzückter lauschte er ihrem Spiel und hatte am Schluß einen kleinen Anfall jener Begeisterung, welche die Theaterfexe befällt. Sein rechter Handschuh platzte – so starken Beifall klatschte er und riß [später: klatschend, riß er] die bedächtigen Bauern dermaßen mit sich, daß »Danmarks« alte Fachwände vom Applaus erzitterten.
In der Garderobe half er Fräulein Martha den Mantel umwerfen. Immer neue Worte der Bewunderung entströmten seinem Munde.
Sie sah den Eindruck, den sie gemacht, und schaute ihm voll ins Gesicht. »Draußen ist Aprilschnee gefallen … wollen Sie mich nach Hause geleiten? Sie wundern sich vielleicht … so würde wohl keine von Ihren deutschen Damen sprechen.«
Er wunderte sich über nichts mehr und war bezaubert. Dicht neben einander gingen sie, und hinter ihnen im weichen, weißen Schnee standen vier tiefe Fußspuren.
Martha fragte schalkhaft: »Sie haben meine Danebrogfähnchen mitgenommen, um Ihr Zimmer damit zu schmücken? Ja, Blut ist dicker als Wasser … Sie sind und bleiben eben Nordschleswiger, Herr Junker.«
»Um Himmels willen, die Fahnen stecken in Ihrer Bibel«, stammelte er.
»Ich weiß, ich weiß … aber kennen Sie meine Hoffnung? Durch die Nacht blitzten ihre Augen zu ihm empor.
»Ihre Hoffnung wird wohl die südjütische sein«, erwiderte er ärgerlich.
»Ja … und die, daß Sie noch Ihrer selbst sich besinnen und erkennen werden, wie Ihre Väter auf diesem Boden gewohnt und dänisch gesprochen haben.«
»Lassen wir die Politik, die den Charakter – und die Freundschaft verdirbt! Fräulein Monrad wird mich nimmermehr zum Proselyten machen.«
Martha stieß mit dem Fuße den stiebenden Schnee. Seine Begeisterung war abgekühlt zu einem unbehaglichen Gefühl, als wenn er auch heute abend in den April gegangen sei.
Die vier Fußspuren wurden sogleich von zahlreichen Tritten vertreten. Aus dem Saale strömte die Menge, und die Ellenbogen der Frauen und Mädchen gerieten in heftig stoßende Bewegung. »Sieh, sieh, unser Kandidat geht mit der Monrad … das gibt zu denken.« Frauen, die sich etwas denken, machen aus ihren Gedanken kein Geheimnis.
Als der zweite April graute, trat die Brotfrau in die Pastoratsküche und zählte die Semmel auf den Tisch. »Ja, Fräulein Nissen, Sie wären eine passendere Partie für ihn gewesen.«
»Für den da oben? Ich danke!«
Die Frau erzählte und sagte: »Ein Pastor kann doch keine Schauspielerin heiraten.«
»Ein Kandidat kann überhaupt nicht heiraten«, lachte Eveline, sich zum Troste, und tischte der Pastorin die Neuigkeit auf.
Amatus kam und gab sich unbefangen und berichtete drastisch von der Bauernschauspielerei im Hotel Danmark. Doch sein Präpositus verzog keine Miene, und die mütterliche Frau Bene nickte malitiös: »Lassen Sie sich von den Dänen nur nicht in den April schicken! Die tun's bei einem Deutschen zu gern.«
Nicht nur in der Pfarre wußte man alles und noch ein wenig mehr, in Alstrup und umliegenden Dörfern wurden alle Neuigkeiten in ein paar Stunden herumgetragen und selbst den taubsten Leuten im Armenhause ins Ohr geschrieen. Überall schloß das Gespräch mit der Andeutung, daß sich [später nach dem Substantiv] der Kandidat demnächst verloben werde. Obgleich auf dem Hofe Egeberg der Schlachter den ersten Bericht erstattet, der Milchfuhrmann ihn bestätigt und die Eierkäuferin ihn durch Einzelheiten ergänzt hatte, war Klarissa die einzige Person, die Geklatsch haßte und dem [später: das] Gerücht nicht glaubte.
Pastor Weber aber, der seit seiner dreizehnjährigen Landflüchtigkeit dem Dänentum abhold war, hörte auf das Gerede. Der Prädikant schrieb die Verstimmung auch einer andern Ursache zu. Als nämlich der warme Lenz kam und auf allen Feldern die Saat bestellt wurde, verschlechterte sich der Kirchenbesuch, nicht an seinem, sondern am Pastorensonntag, trotzdem er mit dreister Freigebigkeit zwölf Kupferstücke in den Klingelbeutel steckte.
An einem Maientage, als die Frösche in allen Tümpeln und Viehtränken quakten, schlenderte Junker nach Alstrupfeld hinaus. Karoline kam vom Acker mit den vollen Milcheimern, gleichmäßig auf den kräftig-gesunden Beinen marschierend und die Hände in die Hüften gestemmt.
Er lachte: »Krästen, meine Besprechung hat schnell gewirkt.«
Der Kätner grinste zurück. »Ja, wir sind uns schon einig … wollen Sie beim Pastor das Aufgebot bestellen?«
Karoline kicherte vergnügt: »Hihi, Herr Junker, nun kommen Sie dran … wann soll Ihre Verlobung sein?«
»Wenn der Papst in Rom auf Freite geht«, antwortete er.
»Von der Monrad und Ihnen munkelt man allerlei.«
»Ja«, sagte Krästen, »wer die kriegt, zieht das große Los … einzige Tochter … und achtzig Tonnen Land hat der Alte und Hypotheken, aber nicht auf seinem Hofe, sondern auf andern Landstellen.«
Die ärgerlichen, ewigen Anspielungen verdrossen Amatus, so daß er beschloß, seinen Verkehr bei [später: mit] Monrads noch mehr einzuschränken.
Bald aber lächelte er vor sich hin und sah im Traume Krästens und Karolines Lebensroman zur Zufriedenheit sich entwickeln, wie die Familie um drei flachsblonde Köpfchen wuchs, wie aber auch Land zugekauft wurde und drei neue Kühe im Stalle muhten und gemolken wurden.
Sein Traum hat sich im Lauf der Jahre erfüllt. –
Im Alltagsgeleise gingen eintönige Wochen. Je länger die Tage wurden, desto mehr lösten die Familienabende sich auf. Die Pastorin, der ihr Kandidat im Garten schneiden und begießen half, blieb freundlich und der Pastor gemessen. Es war nicht mehr das alte Vertrauensverhältnis, obschon ohne Erlaubnis keine Seelsorge getrieben wurde.
Ein Gefühl der Einsamkeit und des Alleinstehens beschlich Amatus und eine große Sehnsucht nach seiner Mutter. Er hegte den heißen Wunsch, daß sie ihn einmal besuche, und gab seiner Gönnerin einen deutlichen Wink. Aber Frau Bene wollte ihn nicht verstehen und sagte im Studierzimmer zu ihrem Manne: »Fidde, wir können doch nicht die Frau des Gerichtsdieners als Gast in unser Haus laden.« Monika blieb uneingeladen und ihre Sehnsucht nach dem Sohne ungestillt. – –
Es war der längste, hellste und herrlichste Tag des Jahres, der zu Rüste ging. Die nordschleswigschen Bauern ließen, trotz des Alstruper Gensdarms, es sich nicht nehmen, nach alter Vätersitte auf den Hügeln von dürrem, mit Petroleum getränktem Reisig ein lohendes St. Hansfeuer zu zünden.
Junker saß mitten in einer Herrengesellschaft auf der Gartenterrasse von Egeberg, und die deutschen Hofbesitzer feierten das Fest, welches auch Herr [später: Herrn] Schmidts Geburtstag war, und tranken weidlich und trinkfest die Minne des guten St. Johannes und das Wohl des [später ergänzt: wackren] Geburtstagskindes. Nachdem viel kalter Punsch vertilgt war, knallten die Champagnerpfropfen.
Zwei Herren stießen besonders fleißig mit dem Kandidaten an, der seit Monaten wenig Spirituosen genossen hatte, des Getränks ungewohnt war und darum immer auf- und angeheiterter wurde. Er war ja eine Art von Geistlichkeit, und einem Pastor hängen manche mit Vorliebe ein Räuschlein an.
Den beiden behäbigen, dickbäuchigen Agrariern machte es Spaß, ihn zu animieren und zu einem überschäumenden Born von lustigen Anekdötchen zu machen.
Die Fenster des Hauses standen offen, und er [später: Junker] erzählte: »Hier in Alstrup lebte vor vielen Jahren ein Pastor, der ein alter Trotzkopf war und ein Gläschen nicht verschmähte. Nun war im Dorfe eine Frau Hansen, die ihm üblen Leumund gemacht hatte. Es traf sich, daß sie eines Kindleins genas und danach ihren üblichen Kirchgang hielt. Nach der Weise der Wöchnerinnen setzte sie sich in die Sakristei, wo der Pastor ein paar passende Worte zu sprechen pflegt, auf die Bank. Er tritt herein, betrachtet sie von oben bis unten und sagt barsch: ›Geh du nur!‹ Nach dem Gottesdienst haben ja die Wöchnerinnen die Gepflogenheit, dem Pastor zu opfern. Auch Frau Hansen geht um den Altar herum, vor dem der Pastor steht, und macht Halt, legt aber kein Opferstück hin, sondern sieht ihn starr an und sagt. ›Steh du nur!‹ «
Allgemeines, schallendes Gelächter! Nur Klarissa, die drinnen hinter der Gardine saß und die laute Stimme des Erzählers hörte, kniff die Lippen zusammen und hatte keine Freude an dem Gelage.
Bald brachte sie einen Nachtimbiß von belegten Butterbröten den Herren hinaus. Sahen Amatus umnebelte Augen recht? Ja, sie blinzelte ihm, zwar mit gerunzelten Brauen, zweimal verstohlen zu, und er mußte den Wink als eine Aufforderung zu einem kleinen Gespräch unter vier Augen verstehen.
Berauscht vom Schaumwein und einer plötzlichen Verliebtheit sprang er auf, um abseits zu gehen, was nicht auffiel, und betrat auf leisen Sohlen den Hausflur.
Ja, wahrhaftig, sie wartete auf ihn. Mit klopfendem Herzen und ausgestreckten Armen stürzte er vor. »Klarissa!«
Sie aber trat weit zurück. »Ich heiße Fräulein Reder.« Und sie schmälte und schulmeisterte: »Herr Junker, was sind das für Eulenspiegeleien für einen Kandidaten, der auf der Kanzel predigt?«
Sein eroberungskühnes Herz entfiel [später ergänzt: ihm], er stand, wie von einem kalten Wasserstrahl begossen, und bekam einen, der noch nässer war.
Rasch und resolut faßte Klarissa seinen Arm und führte ihn in ihr Zimmer. »Schämen Sie sich! Sie haben zu viel getrunken … nun waschen Sie sich hier tüchtig, damit der Kopf klar und rein wird!« Das sagte sie auf der Schwelle, machte die Tür hinter ihm zu und wartete draußen, auf das Plätschern horchend.
Gewaschen und begossen kam er heraus.
Sie betrachtete und musterte sein Gesicht: »So! Nun geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie, ohne irgend etwas zu trinken, in beherrschter und bestimmter Weise von den Herren Abschied nehmen und sofort nach Hause sich begeben.«
Das gelobte er mit einem klein- und demütigen Ja. Aber in schüchterner Dankbarkeit wagte er nach ihrer Hand zu greifen, die sie jedoch nicht fassen ließ. »O, Fräulein Reder, was tun Sie für mich, Sie treue Warnerin!«
»Um – um – Ihrer braven Mutter willen habe ich es getan«, stammelte sie.
Dann lief sie fort, schlich sich aber durch die Küche in den Garten, schob den Kopf durch die Hecke und überzeugte sich davon, daß er aus dem Torweg trat und nach Hause ging.
Amatus war ernüchtert und von Scham und Reue erfüllt. Vor diesem klaren, klaren Blick hätte er sich am wenigsten in seiner Schwäche bloßstellen mögen. Aber auch Klarissas Resolutheit war jetzt verflogen. Sie lag in ihrem Bette und schämte sich schamrot und weinte beinahe über ihre rasche, törichte Tat. »Was wird und muß er von mir denken! O Gott, o Gott!« Sie betete und tröstete sich, daß wenigstens Gott nichts Böses sich dabei denken werde. –
Nach einigen Tagen begab sich der Kandidat nach Egeberg und fand nur eine flüchtige Minute, mit dem Hausfräulein allein zu sein.
»Entschuldigen Sie, daß ich an jenem Abend so schwach mich zeigte!«
»Ja, sehr schwach«, lautete ihre kurze Antwort, »aber sprechen wir nicht davon!« Die Zartfühlende, welche meinte, sich etwas vergeben zu haben, das sie wett machen müsse, begegnete ihm ernst und kühl.
Er aber sah nur ihres Wesens schroffe Schale und verließ Egeberg mit der erdrückenden Überzeugung, daß sie ihn als einen Trinker und charakterlosen Menschen verachte.
Zwischen den beiden, die als Kinder zusammen gespielt hatten und gute Freunde gewesen waren, baute das Mißverständnis seine Mauer. –
Der Alstruper Prädikant fand an seinen Amtspflichten nicht mehr die unvergleichliche [später ergänzt: , schöne] Freude der ersten Liebe. Wurden die Leute, denen er predigte, irgendwie besser? Ober blieben sie ganz, was sie immer gewesen waren, nordschleswigsche Bauern, vernünftig im Wandel, verschmitzt im Handel, bedächtig im Fleiß und oft unbewußt katholisch in ihrer Kirchfrömmigkeit? Weder mit dem Pastor, der noch auf dem [später ergänzt: Toten-]Schragen sie ausschänden, aber auch durch einen guten Leichensermon ihnen nützlich sein [später: Ehre erweisen] konnte, viel weniger mit Gott, dem Herrn und Besitzer des Himmels, wollten sie es verderben. Vor Proprietären und großen Leuten hatten sie überhaupt eine angeborne Hochachtung. Ja, so waren und blieben sie – ein wenig geizig und sehr gastfrei und immer gutmütig, so lange der Geldbeutel unbehelligt blieb, und trotz ihrer dänischen Gesinnung gehorsame und steuerwillige Untertanen.
Wenn er von der Kanzel herunterstieg und die tief befriedigten Gesichter der Zuhörer sah, plagte ihn der Gedanke, daß seine wohl gesetzte und wohl gehaltene Rede ihnen eine angenehme Unterhaltung gewesen sei und sie in eine behagliche Sonntagsvormittagsstimmung versetzt habe. Ein Prediger müsse anders wirken und die Menschen umwandeln, aber wie, wie? Was richtete er aus? Wenig oder nichts! Und vor der ungeheuren Verantwortung des geistlichen Amts entsetzte er sich.
Das Gefühl der tiefen Vereinsamung inmitten der vielen, der 1500 Seelen, welche die Gemeinde zählte, beschlich ihn; in schwermütigen Stunden pochte die Sehnsucht nach der Mutter laut und stark an sein Herz,
Auf seinen Spaziergängen kam er dem Hofe Egeberg oft so nahe, daß er durch die Linden die roten Ziegel des Hauses schimmern sah und die Enten schnattern hörte; aber im Bogen umging er das Gut und warf sich unter eine hohe, schattende Buche hin, die auf der Lichtung einsam stand und aus kleinem Eichengestrüpp und Birkengelichter emporragte.
Wenn einmal das Sturmgewitter durch die Lüfte braust, werden die Birken und Bäumlein ihre Wipfel ducken, aber die hohe Buche wird brechen, weil sie nicht unter ihresgleichen steht. Ach, alles Edle ist und war und wird einsam sein auf Erden, und näher und jäher ist dem Großen der Fall, als dem Kleinen und Gemeinen, das im Staube der Alltäglichkeit kreucht. Ihn umwob mitten am hellichten Sommertage ein düstrer Schatten, von einem unbestimmten und doch grauenhaft handgreiflichen Etwas vorausgeworfen, eine finstre Ahnung, daß er vor einer Gefahr und einem Absturz stände. Waren diese ängstigenden Traumbilder nicht ein Erbteil seiner Mutter, die von solchem Vorspuk viel gelitten?
Fern war sie und fern Friedline und er allein und nirgends ein Freund, den er in seiner Unruh fragen konnte. Klarissa, die er wert achten gelernt, schätzte [später: verachtete] ihn als einen minderwertigen Charakter [später entfallen: gering].
Unter dem tiefblauen Himmel und über der staubgrauen Erde glühte die Hundstagshitze. Nun war auch in seinem Leben Hochsommer geworden und er dem Glück und der Ernte seiner langen, mühevollen Arbeit am nächsten gekommen. Aber ihm schwante, daß seine ganze Ernte durch ein Unwetter verloren gehen könne.
Welche Unrast trieb ihn von der Arbeit? Nicht bloß Klarissas Verachtung! Nein, eine Verstimmung war in seinem Körper und seiner Seele. Was hängte sich an seinen Geist mit Bleischwere des Denkens und zog ihn herunter? Was war das für ein finstrer Schatten, der näher schlich?
Er fragte und fragte und fand die Antwort: Es ist die Unfreiheit, der alte Tyrann, der um meinen Willen die eherne Kette werfen will. Aber ich will kämpfen und meinen Feind dämpfen.
Amatus eilte von dannen, als wenn er dem Schatten und Gespenst seines Lebens entfliehen wolle.
Die Pastorin Weber war damit beschäftigt, ihr Fuchsienbeet im Garten zu begießen, und er ging ihr bereitwillig zur Hand. Sie mochte auf seinen Gesichtszügen Schattenreste sehen und sagte mütterlich: »Herr Junker, Sie sind nicht mehr so fröhlich wie früher … lassen Sie die Torheit fahren!«
»Welche Torheit?«
»Die Leute erzählen sich, daß der junge Christensen bei Martha Monrad angehalten und einen Korb sich geholt hat … ich hätte mich sehr gefreut, wenn sie ihn genommen hätte … die kleine, gebildete, vielleicht nur eingebildete Dänin ist nichts für Sie.«
Junker erwiderte: »Frau Pastor, Sie sind in einem großen Irrtum, wenn Sie wähnen, daß Fräulein Monrad mehr Raum in meinen Gedanken einnimmt, als einem guten Nächsten und angenehmen Mitmenschen zukommt.«
Die Schwerhörige wollte nicht hören und ihm einmal reinen Wein einschenken. »Es gibt ja Pastoren in Nordschleswig, die mit den Dänen sehr freundlich tun, vielleicht um Liebe oder Beliebtheit zu gewinnen, vielleicht aus andern Gründen. Gesetzt, Sie würden sich mit der Monrad verloben, würden Sie von dem Dänentum auf den Schild gehoben und ungeheuer populär werden.«
Er schrie ihr die Versicherung ins Ohr, daß er an eine derartige Verlobung und Volkstümelei nicht denke.
Frau Bene jedoch blieb unbeirrt und unbelehrt in ihrem Texte. »Eine solche Volksgunst würde die Ungnade Ihrer vorgesetzten Behörde nach sich ziehen, und Sie möchten lange auf Ordination und Beförderung warten … das Konsistorium könnte Ihnen beim besten Willen nicht helfen, denn es muß immer erst nach dem Regierungssitz hinsehen, ehe es sich entscheiden und seine Überzeugung aussprechen kann. Das bedenken Sie! Ich bin eine Frau, die es gut mit Ihnen meint.«
Stolz wurde seine Haltung. »Ich werde meine deutsche Überzeugung stets offen bekennen … ich würde aber auch nie, im Falle daß ich Martha Monrad liebte, um eignen Vorteils oder andrer Menschen Vorurteile willen meine Liebe verleugnen.«
»Jaja, wenn … wofern … im Falle daß …« brummte Frau Bene und begab sich ins Haus. Ihr Mißtrauen war nicht beseitigt, sondern bestärkt.
Und Eveline blies ihr mancherlei Berichte ins Ohr und schürte so des Argwohns glimmende Kohlen.
Um Zerstreuung zu haben, besuchte Junker Pastor Reibeisens. O Unheil, das ihn verfolgte! Das theologische Manuskript war zum elftenmal zu einem Verleger gewandert und gestern zurückgekommen. Aus Höflichkeit mußte er drei Stunden lang sich vorlesen und um seine Meinung sich befragen lassen. In seinem Ärger faßte er den Entschluß, fortan dem handschriftlichen, vierhundert Seiten umfassenden Werk eine Wegmeile aus dem Wege zu gehen.
Hintennach aber kam die Freude, als Frau Reibeisen ihm den letzten argentinischen Brief, der von beiden Gatten geschrieben und sechzehn Seiten lang war, zum Lesen reichte. Wilhelm der Wortkarge sang einen Lobhymnus der Eheliebe, und die junge Frau hatte für ihren Gatten nicht weniger als fünf verschiedene, für den Uneingeweihten ziemlich unverständliche Kosenamen. Ganz Argentinien war eitel Wonne, die nur ein kleiner Stoßseufzer unterbrach, [später ergänzt: nämlich] wegen der Wohnung, die von Holz war, und wegen der Wanzen, die trotz aller Gifte unsterblich schienen.
Amatus las und hatte nun ein gutes, beruhigtes und behagliches Gewissen.
Nur über zwei an den Rand geschriebene Zeilen der Tochter hielt die Mutter den Finger. Und er, der reich an Ahnungen war, legte ahnungsvoll lächelnd den Finger an die Nase. –
In den Wochen, welche die Pastoren die magere Trinitatiszeit nennen, gab es wenig zu tun, alle vierzehn Tage eine Predigt, sonst nichts. Die Alstruper hatten während der Ernte keine Zeit zum Freien, zum Taufen und Sterben. Dennoch befiel den Kandidaten die alte Geistesmüdigkeit. Beim Arbeiten mußte er oft die Gedanken erzwingen, aber das Herausgezwungene mißfiel seinem ästhetischen Sinn, und sein Mißmut warf mitten im Satze die Feder hin.
Matt war seine Seele, und in seinem Munde ein fader Geschmack. Der stetig wühlende Wurm einer unerklärlichen Unlust quälte und unruhte [später: beunruhigte] ihn; aber er stritt und stampfte wider den Stachel.
Nachdem die Ernte unter Dach und Fach gebracht worden, gab Holger Monrad, ein Neffe des Hofbesitzers, große Hochzeit. Halb Alstrup, auch das gesamte Pastorat war eingeladen, sogar das Pfarrmädchen hatte eine Invitation für den dritten Hochzeitstag erhalten [später am Satzende], welcher das Knochenfest hieß, weil an ihm die Reste verspeist wurden.
Weber sah seinen Prädikanten mit einer Miene an, aus der man nicht klug werden konnte, und sagte: »Wir bleiben zu Hause, aber Sie werden selbstverständlich hingehen und mögen mich vertreten. Doch einen [später ergänzt: guten] Rat gebe ich Ihnen. Wenn die Bauern so viel des sauren Weins genossen haben, daß sie anfangen, verbotene dänische Lieder zu singen, entfernen Sie sich!«
Der Pastor hatte das Paar in der Kirche getraut und ein sehr reichliches Opfer erhalten. Der Kandidat begab sich auf das Hochzeitsmahl, das in einem Riesenzelt abgehalten wurde [später: hergerichtet war].
Man führte ihn auf den Ehrenplatz, wo er die Gesundheit der Neuvermählten in geschickten Worten ausbrachte. Amatus' Augen wurden glänzend und seine Unterhaltung lebhaft. Der Wein dünkte ihm schmackhaft, so daß er ihn mit Behagen trank und zu fühlen meinte, wie die dickflüssigen Säfte seines Körpers in schnelle und heitere Bewegung gerieten.
Ja, die Hochzeitsgäste und der Kandidat wurden immer fröhlicher. Das Barometer der Feststimmung stieg, die Bauern hielten Dauerreden. Der Witzbold von Alstrup brachte auf sich selber einen Toast aus, und Hans mit der Hasenscharte brummelte in den Bart hinein und ließ irgend etwas hoch leben, und alle brachten dem unverständlichen irgend Etwas ein dreimal donnerndes Hurra.
Ein Bruder des Bräutigams, namens Rolf Krake Monrad, war anwesend, und zwar, weil er zur Zeit seiner Soldatenpflicht genügte, auf Urlaub und in Musketier-Uniform. Sein Oheim, der Kirchenälteste, nahm das Wort, nachdem Hans mit der Hasenscharte sich gesetzt hatte, und redete gewiegt und wohl bedacht.
»Wer im Fett sitzt, den soll man nicht mit Schmalz begießen. Mein lieber Rolf Krake, es ist schwer, dir noch etwas Gutes zu wünschen, was ich doch gern möchte, weil du, die Brust nach vorn und den Steiß nach hinten geworfen« – er äffte die Haltung nach – [später ergänzt: » weil du] »im vollen, fetten Soldatenglück sitzest und die Ehre, bei den Preußen zu dienen, dir aus Augen und Nase leuchtet.«
Der Redner räusperte sich, spuckte aus und ließ die pfiffig plierenden Augen den Tisch hinauf- und herunterlaufen. Auf allen Gesichtern lag der unterdrückte Anfang eines Gelächters, nur Junker blickte finster und stemmte die Hände, wie zum Aufsprunge, auf den Tisch.
Monrad nahm seinen Faden auf. »Ja, Rolf Krake, man meint zu sehen, wie der Kamm deiner kurz geschornen Haare geschwollen ist … du bist fein heraus, wie der Jude sagt, ja, feinfein! Die alte, schlechte [später: schlichte], nordschleswigsche Bauernjacke hast du in den Schrank geworfen und dafür die schöne, bunte Uniform mit den blanken Knöpfen angezogen und die Pickelhaube mit dem Blitzableiter und dem goldenen Kuckuck …«
Da machte der Kandidat seinen Aufsprung und schoß zu seiner vollen Länge empor. »Herr Monrad, wenn Sie hier in hämischer Weise den Rock des Königs verhöhnen wollen, werde ich sofort die Hochzeit verlassen.«
Martha warf ihm einen vorwurfsvollen, flehenden Blick zu.
Monrad aber verneigte sich vor ihm. »Entschuldigen Sie! Allen Respekt vor König und Obrigkeit! Dir aber, mein lieber Rolf Krake, wollen wir ein ganz stilles Glas bringen … du und wir alle wissen, was ich meine … also ein stilles Glas ohne Hohn und Hurra!«
Junker ließ sein Glas stehen. Martha warf ihm einen bittenden, besänftigenden Blick zu. Darum beteiligte er sich weiter an dem Hochzeitsgelage, welches jetzt unpolitisch verlief. Oder konnte er nicht fort, weil der Wein ihn fest hielt und die Willensfreiheit ihn bestrickte?
Man begegnete ihm mit doppelter Liebenswürdigkeit und titulierte ihn von allen Seiten. Nicht weniger als dreimal wurde auf ihn getoastet, und Monrad feierte ihn als einen Pastor, an dem ein Bauer verloren gegangen sei.
Nur der junge Christensen, der von Martha einen Korb bekommen hatte, streifte den Gefeierten, der gewissenhaft sein Glas leerte, mit einem bösen, feindseligen Blick.
Die meisten Frauen waren noch nüchtern, sonst aber niemand.
Zwei Bauern, die seit einem Jahre um eine tuberkulöse Kuh prozessiert hatten, schlossen sich ans Herz.
Weil etliche Kehlen Singlaute machten, stimmte Martha schnell ein harmloses Volkslied an. Als aber die Melodie zu Ende war, sang der junge Christensen plötzlich mit lauter Stimme:
Wir wollen heim, heim
Zur rot und weißen Fahne.
Die südjütsche Sehnsuchtsweise entzündete einen Brand der Begeisterung, und die ganze Tafelrunde brüllte den Kehrreim mit.
In dem Kandidaten aber erregte die Protestkundgebung einen patriotischen Zorn. Er schnellte empor, daß der Stuhl hinter ihm umstürzte, schlug auf den Tisch und fand nach dem ersten Vers so viel Ruhe, daß er in die Versammlung hineinrufen konnte: »Ich könnte mich still und vorsichtig aus dem Staube machen, aber sage meine Überzeugung frei heraus und darf als Deutscher nicht dulden, daß verbotene dänische Lieder gesungen werden. Darum hebe ich hiermit die Tafel auf.«
Alle waren wie auf den Mund geschlagen und gehorchten. Nur Christensen flüsterte: »Was bildet der sich ein? Der schwarze Gensdarm!«
Im Hofe ergingen sich die Hochzeitsgäste, während das Zelt für den Tanz ausgeräumt wurde.
Christensen trat ins Haus und in das Zimmer, wo in einem Blumenscherben zwei Danebrogsfähnchen, die er von draußen gesehen hatte, als Fensterschmuck prangten. Nachdem er die Kreuzbanner lange betrachtet hatte, zuckten seine Finger in patriotischem Diebsgelüst und steckten beide in die Tasche.
Die Frauen im Hofe stießen sich mit den Ellenbogen an. Junker nämlich hatte sich an Fräulein Monrad herangemacht und ging neben ihr. Zu stramm war sein Schritt und zu unsicher sein Blick.
Um so bestimmter war ihr Blick, als sie ihn ansah und also sprach: »Ich will Ihre Komplimente nicht erwidern, sondern offen und unliebsam Ihnen sagen, daß Sie genug getrunken haben … trinken Sie nicht mehr! Wir wollen ein wenig auf und ab spazieren und uns unterhalten.«
Dem treuen, vorsorglichen Mägdlein schlug sein Herz in plötzlicher Rührung entgegen, und sie gingen neben einander. Als sie am Garteneingange durch die Menge sich schoben, drängte sich Christensen von hinten heran und machte sich, grinsend und fingergewandt, an den hinteren Rockknöpfen des Kandidaten zu schaffen [später: Christensen sich unbemerkt von hinten heran. Grinsend und fingergewandt fühlte und fingerte er leise an den hinteren Rockknöpfen des Kandidaten herum].
Fräulein Monrad und Herr Junker waren [später ergänzt: ganz] in ihr Gespräch vertieft.
Der Musketier zeigte mit dem Finger ihnen nach und kicherte: »Hihi.«
Bauernmädchen pufften sich in die Rippen und hielten das Taschentuch vor den Mund, um ein Hoho zu unterdrücken.
Ein Bauernbursche krümmte sich und hielt sich den Bauch, als wenn er von den vielen Gerichten Leibbeschwerden bekommen hätte. Andren jungen Männern entplatzte eine laute Lache.
Immer mehr Volks schritt grinsend und fingerzeigend in den Fußstapfen der beiden [später: des Paars].
»Was haben die dummen Menschen?« sprach Martha schnippisch.
»Man lacht vielleicht über uns, weil wir zusammen gehen«, sagte er. Sie verließen darum den Garten, wo die Jugend ihre Possen trieb; aber viele Trabanten setzten sich in Trab, um dem Paare zu folgen.
Im Hofe wurde es noch ärger. Die ganze Menge brach in ein Gekicher aus, das zum Gekreisch und Gewieher anschwoll. Der beliebte Kandidat wurde trotz seiner Beliebtheit allgemein ausgelacht.
»Bin ich so betrunken?« fragte Junker seine Begleiterin entsetzt.
»Nein«, erwiderte Martha und blickte zornig um sich und schrie: »Pfui! Abscheulich! Pfui! Man hat Ihnen zwei Danebrogsfahnen an die Rockknöpfe gehängt.«
Sie riß die Banner ab und schleuderte sie auf die Erde und stampfte mit dem Fuße.
Drüben im Hause fragte Christensen: »Ist der Kandidat mit dem Danebrogsorden dekoriert worden?«
Junker, dessen rötlich strahlendes Gesicht fahl wurde, knirschte: »Das ist eine Niedertracht und eines Lumpen Heldentat.« Er stürmte durch die Menge und stürzte hinweg.
Fräulein Monrad hob die Fähnchen aus dem Staub und trug sie ins Haus, woselbst [später: wo] sie [später ergänzt: sogleich] ihren Hut nahm, um die Hochzeit zu verlassen.
Amatus lag lang ausgestreckt auf seinem harten Sofa in [später ergänzt: ekelhafter] Ernüchterung und unsagbarem Elend. Die furchtbare Ahnung, daß er vor einem Absturz stände, hatte sich erfüllt und war zum erstarrenden Gefühl der Gewißheit geworden, daß seine Stellung vernichtet und sein Leuchter von seiner Stätte gestoßen sei.
Wehe mir, ich bin bloßgestellt und in Alstrup unmöglich geworden. [später: geworden!] Ich habe die größte und unverzeihlichste Dummheit meines Lebens begangen, welches die Sünde ist, die von Menschen nicht vergeben wird.
Unter seinen über die Augen gepreßten Händen quollen die Tränen der Zornscham, die bitterbösen, die den Schmerz nicht lindern.
Der Vorfall, den zweihundert Augenzeugen gesehen hatten, wurde nicht bloß in Alstrup, sondern in der ganzen Umgegend besprochen und belacht. Die Lacher dachten nicht daran, daß die Zukunft eines jungen Menschen in Frage gestellt [später ergänzt: und vielleicht vernichtet] sei.
Der Verlachte aber drängte die unmännlichen Tränen in die Brust zurück. Was einer tut, das muß er tragen! Der Genius der Geistesgegenwart und Fassung kam auch in diesem jäh hereinbrechenden Ungemach als sein guter Geist ihm zu Hilfe. Alles beichtete er seiner guten Gönnerin, und sie war im Studierzimmer des Pastors eine warme Fürsprecherin.
»Fidde, er ist der beste und bescheidenste von allen Kandidaten, die wir gehabt haben … wir müssen ein Auge zudrücken und die dumme Geschichte vertuschen.«
Der Pastor aber wand sich ängstlich im Stuhle. »Bene, der Skandal ist nicht bloß in der Gemeinde bekannt, sondern kommt meinen Amtsbrüdern zu Ohren und wird weiter getragen. Ich möchte herzensgern Junker helfen, aber du weißt, daß ich die Altersgrenze erreicht habe und wacklig stehe. Ein kleiner Anstoß kann mich aus dem Amt und in den ehrenvollen Ruhestand stoßen.«
Dies eine Mal tat er [später: Weber] nicht nach Wunsch und Willen seines Weibes, sondern erstattete dem Konsistorium [später ergänzt: ungeschminkten] Bericht und fragte vor, was er zu tun oder zu lassen habe.
Umgehend traf die kurze und kanzleimäßige Antwort ein: Der Kandidat des ehrwürdigen Amtes habe sich als des Amts unwürdig gezeigt und sei als Prädikant zu entlassen. Auch sei demselben zu eröffnen, daß er bis auf weiteres im Kirchendienst keine Verwendung finden werde.
Der Pastor wunderte sich, wie gefaßt und ruhig Junker diese Eröffnung hinnahm, durch die der Kandidat brotlos geworden war, noch ehe er Amt und Brot erhalten hatte. Mitleidig ergriff er die Hand seines bisherigen Gehilfen. »Bleiben Sie vier Wochen, bleiben Sie zwei Monate … solange Sie wollen, als Gast in meinem Hause! Sie sind meiner Frau und mir ein lieber Hausgenosse gewesen.«
»Nein, ich gehe nach Hause zu meiner Mutter.«
Als er seinen Reisekorb packte, wurde ihm ein Brief gebracht, der den Poststempel Alstrup trug. Martha Monrad hatte ihn geschrieben und mutig mit ihrem vollen Namen unterzeichnet.
»Lieber Herr Junker! Ich war der mittelbare Anlaß, daß Sie kompromittiert wurden und vielleicht Ihrer Stellung verlustig gehen. Das bedrückt mich wie eine unverschuldete Schuld und wird mein Schreiben erklären und entschuldigen.
»In [später: In] herzlicher Teilnahme möchte ich trösten, möchte ich raten. Mir erscheint es als kein Glück, wenn ein Mann im dänischen Nordschleswig deutscher Pastor sein muß. Wäre ich Sie [später: der Kandidat Junker], würde ich getrost in Gottes Namen den Predigerrock an den Nagel hängen. In der Not darf man einem Menschen seine Tüchtigkeit als einen Stab vorhalten, damit er daran sich wieder aufrichte. Viele Wege liegen noch offen vor Ihnen, denn Sie haben viele Fähigkeiten. Wollen Sie die poetische Ader, die oft in Ihren Predigten strömte, weiter entwickeln, so werden Sie nach langem Ringen auch auf diesem Gebiet Erfolge erreichen. Sie selbst haben mir gesagt, daß ein starker Rest des Bauernbluts sich in Ihnen regt – und darum sage und frage ich: Wer ist freier als der Bauer, der allein vom Himmel und Herrgott abhängig ist? Fassen Sie einen unentwegten Mut und einen festen Entschluß! Dies schreibt in Freundschaft Ihre Martha Monrad.«
Amatus hielt lange den Brief in der Hand und starrte aus dem Fenster und in den blauen Himmel hinein. War das ein Wegweiser der Vorsehung, der durch die Not und Nacht eines hoffnungslosen Menschen ohne klar leserliche Schrift schimmerte? Lag nicht in den unverfänglichen Worten der Wink eines aufrichtigen Mädchenherzens, das ohne Prüderie einer unmittelbaren Eingebung gehorchte?
Als einer Verehrerin seiner Predigten, als einer guten Freundin war er der kleinen Dänin zugetan, und sie hatte ihm sehr gefallen, weil – weil er ihr zu gefallen glaubte.
Aber er liebte sie nicht.
Martha war das einzige Kind ihres wohlhabenden Vaters und die Erbin des [später ergänzt: schönen] Hofes. Die alte Sehnsucht, die bis auf diesen Tag durch seine Träume wob, ein freier und unabhängiger Bauer auf eigner Scholle zu sein, umspann ihn.
Aber sein Gewissen zersetzte das Ränkegespinst der klug rechnenden Vernunft, und seine Lippen sprachen ein lautes Pfui. [Später ergänzt: Nein!] Ich darf nicht unfrei werden und mehr als meine Stellung und meine Zukunft – mich selbst verlieren.
Amatus Junker, der die größte Demütigung seines Lebens hinter sich hatte, richtete sich gerade und groß auf und beschloß, von Norderhafen aus Fräulein Monrad mit herzlichen Worten zu danken.
Beim Abschiede drückte er am innigsten die Hand der guten Frau Bene, die aufrichtige Kummertränen vergoß, und sagte: »Ich werde Ihnen ein dankbares Herz bewahren, denn Sie haben getan, was Sie konnten.«
An dem Abend, als der Kandidat Alstrup verlassen hatte, lag Klarissa Reder mit geschlossenen Augen in ihrem Bette, und ihr Finger wischte zuweilen über die Wimpern hin. Sie wollte es nicht wissen noch wahrhaben, daß sie Tränen des Mitleids weinte und nicht um ihn, nicht um ihn. Nein, brennend leid tat ihr die alte, arme und brave Mutter eines jungen und nichtsnutzigen Menschen.
Amatus Junker und Martha Monrad sahen sich nie wieder.
Das kleine Dänenfräulein hat dennoch jenen Bauernsohn, der um seiner Heldentat willen den langen Beinamen Danebrogs-Christensen er- und behielt, zuguterletzt zum Ehemann genommen.
Da waren aber drei fruchtbare Sommer ins Land gegangen und über die alte Geschichte viel Gras gewachsen.