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Dritter Abschnitt: Die blinde Friedline.

Die schmucke Schneewehe hinter der Kirchhofshecke war vom draufgewehten Staube ein kläglicher Schmutzstreifen geworden, aus dem das Wasser in kleinen Rinnsalen sickerte.

[Später entfallen: Der philosophische Totengräber von Arup zeigte darauf hin: »Alles auf Erden wird zu Erde, sogar der Schnee.«]

Mit seiner Frau und Erna, die am Palmsonntage eingesegnet worden war, ging er [später: der Totengräber] zur Osterpredigt.

In einem der hintersten Stühle saß Monika, vornüber gebeugt und nicht sehr aufmerksam, denn die Naturpredigten gaben ihr nicht viel. Aber im Herzen hielt sie ihren eignen Gottesdienst. Für ein Kleines und für ein Großes hatte sie zu danken. Die sparende Frau hatte es ermöglicht, den Kindern einen Festkuchen zu backen – das war die kleine, aber vielleicht unmittelbarste Freude.

Und die große war gestern völlig überraschend gekommen. Zwei deutsche Hofbesitzer der Gemeinde hatten bei ihr vorgefragt, ob sie nicht ihren Kindern, drei Knaben und zwei Mädchen, den Fibelunterricht erteilen und das Lesen beibringen wolle. Welch ein Ostergeschenk war das! Zwölf bare Taler konnte sie vierteljährlich verdienen und für den Haushalt und etwas bessere Kleidung der Kinder verwenden.

Die Lenzauferstehung der Natur war mit dem üblichen Pathos von der Kanzel verkündet worden. Monika fragte auf dem Heimwege lächelnd ihren Mann: »Hast du während der Predigt gut zugehört?«

»Pah! Das habe ich viel eher gewußt als er, daß die Weiden Kätzchen haben … so eine Predigt könnte ich auch machen.«

Zur Linken [später ergänzt: des Friedhofs] war das Kinderviertel mit schmalen, kurzen Grabhügeln, über welche Frauen, zum Teil noch schwarz gekleidet, sich beugten.

Monika nickte: »Wie müssen wir danken, daß wir alle unsre Kinder behalten haben.«

Hans machte gedehnt: »Ja–a … aber die arme, blinde Friedline … das ist ein Kreuz.«

»Was sagst du? Das liebe, gute Kind …«

»Ja … ich weiß nicht, was einmal aus Friedline werden soll.«

»Das weiß der Herr, der wie eine Mutter seine ärmsten Kinder am liebsten hat … und sie ist [später ergänzt: so] treu … ruhig habe ich den Kleinen in ihrer Obhut gelassen.«

Adam Amatus lachte aus vollem Halse, daß die Mutter draußen stehen blieb, gleich wie eine, der den Schlägen einer Drossel lauscht.

Auf der sandbestreuten Stubendiele lagen zwei platt auf dem Bauche, und Friedline hielt eine reich vergoldete Tasse als Lockvogel weit von sich. »Komm, Liebi, und nimm die schöne Tasse!« Adam lag ihr gegenüber, auf die eine Hand gestützt und die andre gierig nach dem Geblinke ausgestreckt. Aber dennoch – weil er die Dimensionen des Raums noch nicht erfaßt hatte – kroch er beharrlich wie ein Krebs rückwärts. Die blinde Lehrmeisterin wollte ihm das Vorwärtskriechen beibringen.

»Himmel und Herrgott! Sie hat die Herzogstasse aus dem Eckschrank genommen«, schrie Hans und setzte mit einem langen Schritt über seinen Sohn hinweg, ihr das Prunkstück entreißend. Die Tasse, aus welcher der Herzog von Schleswig-Holstein-Augustenburg einmal bei einer Durchreise auf dem nahen Gute getrunken hatte, war durch Schenkung in Monikas Besitz gekommen.

Der Kleine macht Miene zum Greinen und große Augen – [später ergänzt: und] dann einen plötzlichen Ruck – und der runde, dralle Körper schnellte vorwärts. Vor Schreck oder Ärger hatte Adam die Vorwärtsbewegung gelernt. Von nun an kroch er durch Stube und Küche, und kein Ding, das er mit den Händen erreichen konnte, war vor seiner Habsucht sicher.

Aber Friedline überwachte mit ihrem Ohr den Unternehmungslustigen, damit er vor Sach- und Leibesbeschädigung bewahrt bleibe, und wußte immer, was er trieb oder treiben wollte.

Am zweiten Feiertage war Knochengilde, wie sie es nannten, d.h. das Gerippe des Osterhuhns wurde abgenagt.

Hans fand keine Faser mehr und umfaßte väterlich Ernas Kinn. »Ja, das hat geschmeckt … aber ich weiß einen Tisch, wo du täglich noch besseres Herrenessen bekommst … Der Hofbesitzer Falkenberg sprach heute mit mir … alle Tage nichts tun als spazieren gehen und spielen, mit einem kleinen, süßen Kinde spielen … gelt, das möchtest du, Erna?«

»Ja, Vater.«

»Obendrein kriegst du noch zwölf Taler jährlich … das möchtest du [später ergänzt: wohl]?«

»Ja.«

Er strich ihr das Kinn und schmunzelte väterlich. »Du bist eine verständige Tochter …«

»Und du ein sehr unverständiger Vater«, sagte die Mutter ruhig.

»W–a–as?« Er hüpfte im Stuhle.

»Fängt Erna auf dem Hofe als Kinderhüterin an, kommt sie nie wieder aus der Dienstmädchensphäre heraus. Sie soll in einem guten Hause etwas Tüchtiges lernen und zur Familie gehören.«

»Und wer wird sie kleiden? Ich frage nur bescheiden.«

Hans ging hinaus und brummte. »Immer hoch hinaus! sagte der lange Peter Töffel – da rannte er mit dem Kopf gegen den Deckbalken seiner Hütte.«

Am Nachmittage hielt eine Kalesche, von der neugierigen Dorfjugend umringt, vor dem Totengräberhäuschen. Großmutter Lina war zu einem kurzen Besuch gekommen.

»Warum hast du Karl [später entfallen: und die Kinder] nicht mitgebracht?«

[Ursprünglich: »Die sind] [Neuer Anschluss: »Der ist] für den ganzen Tag beim Bürgermeister in Norderhafen eingeladen … wir haben schon einen grossen Verkehr, natürlich mit den ersten Familien der Stadt.« Die alte Frau rückte die mit teuren Spitzen besetzte Tüllhaube zurecht. »Monika, wie schön, daß du die kleine Schule bekommst … nun habt ihr es nicht mehr so knapp.«

Hans machte ein liebliches Gesicht und legte die Ohren zurück. »Nein, wir schwelgen und schlemmen wie der Amtmann in Norderhafen und haben auch ein Fräulein im Hause.«

Monika trat ihn auf den Fuß.

»Ja«, sagte Frau Berg, »Erna ist jetzt konfirmiert … habt ihr schon eine passende Stellung?«

»Nein, nur eine höchst unpassende … aber weißt du nicht einen guten Platz, wo sie Fräulein spielen kann, möglichst viel Lohn bekommt und möglichst wenig zu tun hat« meinte Hans und legte die Ohren noch weiter zurück.

Frau Junker sah ihn streng an. »Unsinn! Erna soll tüchtig arbeiten und keinen Lohn im ersten Jahr haben … Mutter, könntest du sie nicht in der Stadt unterbringen?«

Die Großmutter wiegte wichtig das Haupt. »Vielleicht … vielleicht könnten wir sie nehmen … wir haben zwei Dienstmädchen … und das eine, das tagsüber innerlich schläft und nur abends munter wird, wenn es bei den Soldaten auf der Straße stehen kann, muß entlassen werden.«

»Das ist nichts!« Hans knipste mit den Fingern. »Erna soll nicht in die Dienstmädchen-Atmungsswere, wie Mona sich ausdrückt, hinein.«

»Sie würde doch zu uns gehören und am Tische essen …«

»Ja, so … nimmst du sie gleich in der Kalesche mit?« fragte Junker hastig.

»Nein, vor November kann Erna nicht antreten … so lange müßt ihr sie behalten … aber was die da? Die müßte doch endlich einmal aus dem Hause und in die Anstalt … das arme Ding!« Der Großmutter Blick zeigte auf Friedline.

Aber die Mutter flüsterte erregt und leise: »Still … sie hört und versteht alles.«

Die Blinde hielt auf dem Schoße das Brüderchen, das den Schuh ausgezogen hatte und in den Mund steckte, und horchte dem Gespräch, das zu andern Dingen übersprang. Durch ihr Köpfchen schossen dunkle, erschreckende Fragen und Folgerungen: In die Anstalt? Was ist das? Und von der Mutter weg? Ihre kleine Seele zitterte. –

In der großen Bettstatt schlief Friedlinchens »Liebi«. Sie trat mit ihrem tastenden, geräuschlosen Schritt aus dem Hause und hockte sich unter den Fliederstrauch, wohin die warmen Sonnenstrahlen fielen. Vergrübelt war das Kinderantlitz, und die Augen blickten in die Sonne.

Hinter der Hecke führte ein Fußsteig vorbei und übers Feld. Auf dem Richtwege kam die Großmutter, die Bekannte im Dorfe besucht hatte, mit der Mutter. So laut und lebhaft sprachen die Frauen, daß das Kind nicht zu horchen brauchte.

»Das Kirchspiel muß das Kostgeld in der Blindenanstalt bezahlen.« Das war der Großmutter Stimme.

»Ach, für Friedlinchen wird Gott uns immer ein Stück Brot geben.«

»Aber soll sie wie die Wilden aufwachsen und nichts lernen? Bedenke das, Mona!«

»Sie ist so lernleicht … kann einen Vers, wenn man ihr ihn dreimal vorsagt, auswendig … ich kann mich noch nicht von dem Kinde trennen.«

»Du mußt es um ihretwillen … und damit ihr besser euer Auskommen habt.«

Keine Silbe des Gesprächs war verloren gegangen. Das Mägdlein hatte alles behalten und suchte den Sinn [später ergänzt: des Gehörten] zu verstehen. Sie sollte von der Mutter fort und in ein fremdes, großes Haus! Aber das blinde Kind, das nachdenklich und tiefsinnig war vor andern seines Alters, ließ keinen grübelnden Kummer sich merken. Nur abends lag es in seinem Bettchen lange wach und dachte viel [später ergänzt: und traurig hin und her]. – – –

»Freude über Freude!« rief Frau Junker frühmorgens, als ihr Mann, der zuerst aufstand, von draußen an die Fensterscheibe klopfte und meldete: »Die Braune hat ein Kalb bekommen, ein schönes Tier mit weißer Stirnbleß.«

Monika sprang halb bekleidet in den Stall und hockte nieder, um das strotzende Euter zu erleichtern. Während die Braune behaglich den Kopf kehrte und den Ärmel der Melkerin leckte, torkelte das Kälbchen auf den unbeholfenen Beinen und glotzte erstaunt die zweibeinigen Menschenwesen an. Bis zum Rande des Eimers schäumte die Milch.

Erna und Friedline, die in ihrer Dachkammer Ungewöhnliches merkten, standen unvermutet in ihren Hemdlein hinter den Eltern und schrien: »Ein Kalb, ein Kalb!«

Hans strich über den Rücken der Kuh. »Dreimal täglich einen Eimer voll macht sieben Kannen … und das gibt mindestens acht Pfund Butter die Woche … wenn wir nur zwanzig Schilling fürs Pfund setzen … Erna, nun zeige, daß du rechnen kannst! Wie viel macht das die Woche?«

Sie preßte das Hemdchen um den frierenden Leib und murmelte eifrig. »Vater, ich hab's … zehn Reichsbankmark!«

Der Vater, erfreut über das Rechenresultat, knipste mit den Fingern und redete die Kuh an: »Zehn Reichsbankmark! Wenn du auf das frische Maigras kommst, gibst du noch mehr in den Eimer … Liebe Mutter, nun können wir einmal recht sparen.«

»Ach, überall fehlt's, und viel muß angeschafft werden«, antwortete Monika und wandte sich an Erna: »Hol' die Zinnschale!«

Hans aber brummte leise das Sprichwort: »Der Hamster, der im Sommer nicht sammelt, muß im Winter schmachten.« –

[Später entfallen: Tüchtig saugte das Kälbchen an den hingehaltenen Fingern, steckte aber beharrlich und töricht die Schnauze aufrecht in die leere Luft, statt in die volle Milchschale hinein. Nachdem viel Milch verschüttet, und nach vielen geduldigen Versuchen erlernte es endlich die schwere Kunst des Trinkens und wurde sogleich zum rechten Söffel, der sein Maß nicht kennt.

Hans Totengräber war zur Arbeit im Pfarrhofe gegangen. Während er des Pastors Kühe fütterte, dachte er stolz, daß er auch seine zwei Haupt Rindvieh im Stalle stehen habe. –

Gegen neun Uhr vormittags wurde die Kleinkinderschule im Totengräberhäuschen eröffnet, ohne Eröffnungsfeier und ohne Ansprache des Pastors. Aber Monika sagte ein freies und herzliches Gebet, in dem sie dasselbe für sich und die Kleinen, nämlich Gottes Segen und willigen Gehorsam, erflehte. Weil sie eine demütige Lehrerin war, gelang ihr die ungelernte Kunst recht wohl.

Drei Knaben und zwei Mädchen saßen in recht zweifelhafter Erwartung der Dinge um den Tisch herum. Mit dem ABC der Fibel, dem Ur- und Anfangsgrunde aller Wissenschaft, wurde begonnen.

Friedline hörte aufmerksam im Winkel zu und wollte mitlernen. Der unruhige Adam Amatus aber kroch über die Diele hin und her und lallte vergnüglich: »A–a–a!«

Von ihm erlernten die Schüler das A und konnten am Schluß der Stunde vier Buchstaben unterscheiden. Dann nahmen sie die Griffel in die tapsigen Finger, um auf der Tafel gerade Striche zu malen, die aber auf ein Haar dem Zick-zackwege zwischen Arup und Tarup ähnelten.

Täglich ging der Unterricht vorwärts, weil Monika treu und nicht ungeschickt war. Nach jeder Stunde hatten die Kleinen, um nicht zu ermüden, eine lange Spielpause und tollten sich vor dem Hause.

Plötzlich eines Morgens wurden die tobenden Kinder mäuschenstill. Der Küster und Schulmeister von Arup, der eine Leiche auszusingen hatte und vorbeikam, hatte grimmig die Augen und die Hakennase auf sie gerichtet. Vor seiner furchterregenden Nase krochen sie dicht an der Hecke zusammen.

Steil, gerade und gallig ging er weiter und dachte: Allen Menschen, dem Nähr- und Lehrstand, Hinz und Kunz, ja sogar Königen und Dichtern von und ohne Gottes Gnaden, muß die leidige Konkurrenz das Leben verleiden.

Bisher war der Aruper Schulmeister völlig konkurrenzlos gewesen – und nun die neue, infame Schule!

Nach der Leichenpredigt stand der überlange Küster in der Sakristei vor dem schmächtigen Pastor, wie eine vornübergewehte Bohnenstange. »Ew Wohlehrwürden, jetzt hätten wir im dänischen Dorfe Arup eine deutsche, eine deutsche Schule … wollen Ew. Wohlehrwürden das dulden?«

Hartwig zuckte die Achseln. »Nach unserm freien dänischen Grundgesetz können Privatschulen nicht verboten werden.«

Über die Hakennase hinweg glitt ein lauernder Blick. »Ist nicht Hans Totengräber dänischer Kirchenbeamter … und seine Frau erfrecht sich …«

»Ja, die Junker ist eine hochmütige Person, aber er [später ergänzt: ist] ein bescheidener Mensch … Ich kann ihr die Schule nicht schließen …« Im Weggehen summte der Pastor » Aber [später: Doch] vielleicht den Brotkorb etwas höher hängen.«

Vor dem Totengräber, der das Grab zuschaufelte, blieb der Küster stehen und krähte: »Ha, ha! Viel zu harte Arbeit, Hans! Wollen Sie nicht lieber Schule halten und die Kleinen die Schönschrift lehren?«

»Nein«, gab jener lachend zurück, »ich kann am besten mit der Dreizinkigen schreiben.« Hinter dem Küster aber murmelte er eine leise Verwünschung: »Wenn die Preußen einmal kommen, sollen sie dich zuerst holen, du langes Laster.« –

Der April war ein wirklicher, warmer Frühlingsmonat gewesen. Am letzten Tage desselben schirrte Hans die Pferde ab und ließ sie mit einem freundlichen Klaps in den Stall laufen. Beinahe hätte der Schimmel den Pastor umgerannt [später umgestellt an den Schluss des Satzes], der vor der Krippe stand und den Häckselhafer untersuchte.

Von dem Kopfe, der in der Stalltür auftauchte, flog die Mütze, und Hans wollte seinen Brotherrn in gute Laune bringen. »Morgen ist Maitag, Herr Pastor, und morgen müssen die Kühe heraus … der Klee ist so lang, daß eine Gans sich darin verstecken kann.«

Hartwig hörte die Botschaft und antwortete eifrig: »Ja, meine Kühe können ausgetrieben werden … aber Ihre Kuh kann ich diesen Sommer nicht gräsen.«

»Wa–a–as? Herr Pastor … um Gottes Willen [später: Gotteswillen] …« Hans, dem die Mütze in die Streu fiel, war dem Weinen oder einer Ohnmacht nahe.

»Ich will die zwei frisch kalbenden Färsen zusetzen und habe knapp Futter für mein eignes Vieh.«

»Herr Pastor, das kann nicht Ihr Ernst sein … ziehen Sie mir einen oder zwei Taler mehr vom Sommerlohn ab!«

»Nein, gräst die Kuh anderswo, aber nicht auf meinem Klee!«

»Kein Bauer nimmt sie auf die Weide … o, Herr Pastor!« Hans bog und krümmte den Körper. »Keine Kuh … das bedeutet für uns die bitterste Not.«

Herr Hartwig kehrte sich kurz auf den Hacken und warf die Worte hinter sich: »Was lamentieren Sie? Ihre Frau kann ja mit Schulehalten leicht die ganze Familie ernähren …die großen deutschen Hofbesitzer haben einen großen Geldbeutel.«

Der Totengräber, dem die Beine schlotterten, lief zum Kirchspielvogt – und wurde barsch abgefertigt. »Laut Gemeindebeschluß dürfen nur Schafe, aber nicht Kühe auf den Wegen gegräst werden, weil sie die Gräben und Knicks ruinieren.«

Aufgeregt riß Hans die Tür seiner Wohnung auf und sank in einen Stuhl.

»Ach Gott, mein lieber Mann, bist du krank geworden, und merkst du das Wechselfieber wieder?«

Er lispelte mit matter Stimme: »Mutter … wir sind verloren … der Pastor will die Kuh nicht mehr gräsen.«

Monika fing an zu weinen. Auch sie hatte der unerwartete und schwere Schlag tief getroffen. »Daß ich die kleine Schule habe, ist ihm ein Dorn im Auge … und das [später ergänzt: ist] des Dänen kleinliche Rache.«

Der verzweifelte Hans sprang empor, und die erloschene Stimme polterte jetzt laut: »Mona, du bist daran schuld, du! Warum liefest du hin und ließest den kleinen Adam umtaufen? Aus purem Eigensinn! Das hat der Pastor nun bezahlt.«

Sie kniff die Lippen zusammen. »Ich mußte nach meinem Gewissen handeln.«

Hans riß sich im Haar: »Nun müssen wir alle Hunger leiden.«

Weinend klammerte sich Friedline an die Röcke der Mutter. Die große Erna steckte fassungslos den Finger in den Mund. Der kleine Adam erwachte und schrie aus Leibeskräften.

Zur Nacht lag Friedline oben in ihrem Bette und betete: »Lieber Gott, wenn du auch das Kälbchen nimmst, laß uns die Braune behalten!«

Ihr opferwilliges Gebet wurde nicht erhört.

Wehe Trauer war im Totengräberhäuschen eingekehrt. Die eine Kuh im Stalle, die Milch und Butter und Bargeld gab, war der armen Familie Reichtum und Schatz, Freude und Stolz gewesen.

Am Morgen ging Hans in Ärger und Überstürzung hin und verkaufte die Braune mitsamt dem Kalbe an den Bauer Töge, allerdings für einen hohen Preis, was ihn ein klein wenig in seinem Herzeleid tröstete.

Als der Knecht sie holte und die Kuh den kleinen, klugen Kopf gegen das Fenster erhob und laut brüllte, schrie Friedline auf und schlug hin zu den Füßen der Mutter, die brennende Tränen vergoß.

»Muß Gott [später ergänzt: uns] nicht hören, wenn wir beten?« fragte das Kind.

Wortlos waren alle im Hause, sogar die Nachbarin Malehn war verkümmert, denn sie hatte manchen Tropfen Milch abbekommen.

Nur Adam Amatus lachte und lallte: »Pah, pah!« als wenn er alle Not der Welt verachte.

Auch Hans Totengräber brachte es am Abend zu einem halben Schmunzeln, nämlich, als er die großen Speziestaler in langer Reihe auf den Tisch legte und viermal zählte. –

Die langschäftigen Stiefel waren mit Tran geschmiert worden. In denselben marschierte Hans nach Norderhafen und kehrte bei dem neuen Hardesvogt ein. Zehn Taler, die der Schwager vor zwei Jahren ihnen als Hypothek auf die Kuh geliehen hatte, wurden hingezählt. Junkers Augen standen starr darauf gerichtet. Ob er sie wohl nehmen wird? Schnell und ruhig strich Berg die Summe in die Tasche.

Hans ging danach auf den Markt und kaufte für den Rest zwei Schafe, die in Wolle waren und je zwei Lämmer hatten.

Mit der Herde zog er heimwärts. Weil er vor der Marktfahrt seiner Frau versprochen hatte, in kein Wirtshaus einzukehren, hielt er Wort. Da aber der Maientag warm war und der Durst sich einstellte, ging er in die Gehöfte an der Landstraße und machte ein pfiffig freundliches Gesicht. »Guten Tag, wenn Ihr einen Tropfen Wasser oder irgend etwas Feuchtes hättet …«

Bewahre, trockenes Wasser geben die gastfreien Leute dieser Grenzgegend nicht. In seinen Holzschuhen klapperte der Bauer über die Diele und holte aus dem Wandschrank die durchsichtige Flasche mit der klaren Flüssigkeit und dazu ein Glas trübes Dünnbier.

Zum Danke erzählte der Aruper vom Markte und den Marktpreisen. Diese Unterhaltungen wiederholten sich, und die Heimreise nahm Zeit.

Das Abendgeläut in Arup war verklungen. Auf dem Kirchhofshügel stand Monika mit allen Kindern und strengte die Augen an und sah über das Dorf und den Landweg hinweg, der zwischen grünen Knicks wie ein lehmgrauer Fluß sich schlängelte. »Wo bleibt er doch?«

Erst als das Öllämpchen lange gebrannt hatte, klang ein mehrstimmiges Blöken vor dem Hause.

»Was meinst du nun, Mona? Eine ganze Schäferei!« Hans war aufgeräumt und hungrig.

Die weißen Lämmer schmälten müde. Wohl klang das Mäh–mäh wie ein traulicher Trost und war doch nicht das kluge, vielsinnige Muh der Bleß-Braunen.

Überall fehlte die Kuh. Täglich trat es deutlicher zutage, daß sie eine Haupternährerin der Familie gewesen. Die gekaufte Magermilch gab dünne Süpplein, auch der Grützbrei, der so weiß und süß gewesen, hatte einen bläulichen Schimmer.

Frau Junker, die das Butterfaß nicht zu sehen vertrug, hatte es auf dem Boden versteckt. Als Hans es eines Tages fand, schrie er: »Himmel, hier vertrocknet's ja, und die Dauben fallen auseinander.« Darum füllte er es am Brunnen mit Wasser und verkaufte es bei nächster Gelegenheit.

Das Abholen des Butterfasses war auch ein Abschied, der Tränen in die Augen preßte.

Monika kratzte auf die dicken Brotschnitten immer dünnere Butter, und Sonntags wurde ein wenig Syrup darüber gepinselt, und die Kinder leckten sich die Finger.

Eines Abends zog Hans den Rock aus und erzählte, daß im Pastorate Gesellschaft gewesen und er vom Herrenessen eine tüchtige Portion bekommen [später ergänzt: habe], Fisch und Kapaunenbraten, sogar ein paar Austern, aber das eklige Rotzzeug habe er weggeworfen.

Monika seufzte: »Wir können nicht trockenes Brot essen …«

»Was?« Er tat, als wenn er schwerhörig wäre.

»Wir haben keine Butter mehr, Hans, du mußt mir etwas Geld geben.«

Ja, er gab es ihr, aber sagte: »Schmalz ist die Butter der armen Leute … wir müssen sparen.«

Ach, es wurde gekargt und gespart. Der Hunger wohnte nicht in dem sauberen Häuschen, aber die verschämte Dürftigkeit, die hinter weiß gewaschenen und gestopften Gardinen und in proprer, wenn auch geflickter Kleidung sich verbirgt.

Die Butter des armen Mannes wurde aufs Brot gestrichen, und die Kinder, die sich ihr Sonntagsrecht nicht nehmen lassen wollten, aßen mit Behagen die Schmalz-Syrup-Schnitte.

Adam Amatus verlangte jetzt dreimal täglich nach fester Löffelspeise. Die Atzung des Knäbleins war des Hauses Freude, und die friedsame Friedline stritt sich sogar mit der Schwester, weil auch sie den Löffel führen wollte. In salomonischer Weisheit schlichtete die Mutter den Streit, indem beide einen Löffel bekamen und abwechselnd päppelten.

Lang waren die sonnenhellen Tage. Lang war auch Frau Junkers Arbeitstag und währte siebzehn [später: 17] Stunden. Wenn der Tag die Strahlenwimpern seines Sonnenauges eben aufschlug, ging sie hinaus nach dem grünen Wege und pflöckte die Schafe auf einen frischen Grasfleck. Ein zutunliches Lamm, das sich gerne krauen ließ, folgte ihr oft bis zum Kirchhofshügel.

Dort klomm sie in den Turm hinauf, um das Morgengeläut zu besorgen. Während ihre Hand den Glocken mächtige Töne entlockte, zog ein leises, inniges Morgengebet durch ihre Seele. Sie lobte den Herrn, den treuen Hüter, den Menschenvater, der ihre Kinder schirmte, sie bat nie viel und nur um das tägliche Brot. Nach einem Blick auf die leuchtende Erde, die als ein immer neues Wunder dort unten in Hag und Hecke, in Wald und Wiese lag, stieg sie hinab, und die Glöcknerin wurde zur Lehrerin der deutschen Schule in Arup.

Die Schüler buchstabierten am liebsten im Chor, welches ihnen ein Gaudium [später entfallen: und Genuß] war, weil dabei ein gewisses, einander überbietendes Brüllen erlaubt wurde. Dieweil hütete Friedline den Bruder, den unruhigen Hospitanten, und hatte ihre liebe Not, daß er nicht den Buben unter die baumelnden Beine kroch. Wenn die Schüler mit kleinen, ihrer Körperlänge entsprechenden Zahlen rechneten, plapperte er dreist dazwischen: »Aa–aa–ma–ma–mam–mam.«

Dann machte die Wärterin ihr »Ham, ham«, hob ihn auf und setzte sich draussen im Schatten, ins offene Fenster hineinhorchend. Dort saß das sinnende Kind, das mit den sehlosen Augen nach innen zu schauen und eine eigene Gedankenwelt sich zu bilden schien, während es mit dem Brüderchen spielte.

Wenn das ganze Dorf Arup seinen Mittagsschlaf hielt, mußte Monika hinaus zu den Schafen, die umgetüdert werden wollten. Friedline bat mitzugehen, um einmal Matz – so hieß das Lämmchen – zu streicheln.

Die Mutter schritt langsamer als sonst und hielt das Kind an der Hand [später ans Satzende gestellt], das einen breiten, versonnenen Mund machte.

Schüchtern klang ein Stimmlein. »Mutti, warum nimmst du die fremden Kinder und mich nicht in die Schule … ich möchte gern …«

»Ach, mein Liebling, du kannst ja nicht sehen, was im Buche steht.«

»Ich kann aber doch buchstabieren, noch besser als Friedrich Vogel … willst du hören? K–a–t–kat–z–e–ze–Katze.«

»Was? Du hast die Buchstaben vom Zuhören gelernt?«

Über Friedlines Gesicht ging ein stolzes Lächeln, und sie schnurrte das ganze A-B-C herunter, wie ein Katholik seinen Rosenkranz.

Monika erstaunte. »Das hast du vom Zuhören behalten?«

»Mutter, ich kann noch mehr, auch rechnen … 4 und 5 sind 9 … 10 weniger 8 sind 2 … alles, was die andern können, weiß ich auch.« Monika streichelte ihr kluges Mägdlein, das kühner bat: »Warum darf ich nicht in deine Schule?«

»Die Blinden, die nicht sehen können, haben ihre eigene Schule und ihre eigenen Bücher, woraus sie mit den Fingern lesen.«

»Warum komme ich nicht in die Schule?«

»Die ist weit, weit von hier in der großen Stadt.«

Friedline schwieg und grübelte, die Mutter nickte und hatte traurige Augen.

Endlich zuckte der Kindermund: »Wenn du mich einmal wiederholst [später getrennt geschrieben], möchte ich wohl in die Blindenschule.«

Die traurigen Mutteraugen wurden feucht. »Ja, ja, es muß sein … bald wirst du neun Jahre alt … es muß sein … aber du kommst alle zwei Jahre auf vier Wochen nach Hause, mein liebes, gutes, herziges Friedlinchen! Möchtest du fort?«

»Ja, ich will lesen und rechnen und schreiben, wie die anderen Mädchen … und … für euch …«

Friedline stotterte und schwieg. Aus dem Gespräch der Großmutter wußte sie, daß es für die Eltern leichter würde, wenn ein Esser das Haus verließ.

Abends im Bette hatten die Totengräberleute eine lange Unterredung. Zuletzt polterte Hans: »Du versündigst dich gegen dein leibliches Kind, wenn du es unwissend aufwachsen läßt … wie habe ich es meinem Vater vorgeworfen, daß er mich nichts lernen ließ … hätt' ich nicht um des Verstandes willen so gut wie dein Bruder Hardesvogt werden können?«

Monika wollte sich nicht versündigen und entschloß sich schweren Herzens dazu, durch ihren Bruder Friedlines Aufnahme in der Blindenanstalt beantragen zu lassen.

In diesen Julitagen hatte es den Anschein, als wenn Adam Amatus Nummer zwei geworden sei, weil die Mutter Friedlinchen so oft auf den Schoß nahm und ans Herz schloß. – – –

Der Tagwagen, ein viereckig unförmlicher Kasten, der auf Federn ruhte, die nicht federn wollten, holperte und stolperte auf der Landstraße, die von Norderhafen südwärts führte. In dem engen Gehäus war stickend heiße Hundstagsluft. Monika achtete nicht auf das Geschwätz der Mitreisenden, sondern saß wie lauschend auf die Gespräche, die ihre eignen Gedanken hielten.

Großmütig und ganz von selbst hatte ihr der Bruder sechs Taler zur Reise gegeben – aber ihre eigne leibliche Mutter! Die hatte sie nicht getröstet, als sie ihren Kampf um das tägliche Brot nicht verschwieg, sondern kalt ihr den Vorwurf gemacht: »Wie der Mensch sich bettet, so wird er liegen – warum hast du einen Bauernknecht geheiratet?« Macht der Wohlstand die Herzen hart?

Da hatte sie die Mutter hart angesehen, und es war ihr entfahren: »Warum? So frägst du? Ich mußte, und nicht um meinetwillen, aus dem Hause.« Wie vom Schlage getroffen, war darauf die Großmutter im Lehnstuhl zusammengesunken. Bitter bereute jetzt Monika die grausame Antwort. Härten auch die Sorgen das Herz?

Am Mittag hörte das Geschüttle und Gerädre auf, im Kruge zu Immervad wurde Rast gehalten. Bescheiden erkundigte sich die blasse Frau, ob sie ein bißchen zu essen bekommen könne. Nein, viel und was Gutes, sie hätten heut einen Hasen! Die Bestellerin erschrak, um die Rechnung besorgt.

Es gab ein Gericht, davon Monika nie gehört, geschweige denn gekostet hatte, nämlich eine Hasensuppe, die kräftig mundete, und dazu das gekochte Häslein, eine rötlich schwammige Masse, an die nur der Hunger sich wagte. Doch auch die Rechnung war bescheiden.

Am Nachmittage saß vorne beim Kutscher ein junger, auf die erste Wanderschaft ausziehender Handwerksgesell und sang und johlte:

»Nun aber raus, raus in die Welt
Auf leicht beschwingter Socke,
Frei von des Meisters Meisterei
Und frei vom Mutterrocke!«

Der Singsang schnitt in die betrübte Seele, und Monika wischte sich mit dem Taschentuch leise über die Augen.

Friedline horchte und flüsterte: »Mutti, warum weinst du? Ich habe dort Essen und Kleider … nun können Adam und Erna meinen Teil bei Tische teilen und mehr bekommen.«

»Mein liebes Kind, wie kommst du darauf?«

»Ich weiß, für mich bezahlt der Kirchspielvogt.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Die Großmutter sagte es zu dir, und auch, daß wir zu arm seien, um so viele Esser im Hause zu behalten.«

Monika preßte Friedline an ihre Brust: »Du liebes, tapferes, treues Kind!«

Der Wunsch des Kindes, in die Blindenanstalt zu kommen, war nicht so sehr Lernbegier als opferfreudige Entsagung gewesen. Die kleine Seele hatte gekämpft und gesiegt, und Friedline lächelte, wie große Menschen, die ihr Selbst überwunden haben.

Von der Stadt F. an sollte die neue Eisenbahn benutzt werden. Die Blinde, die von Menschenlärm und das Prusten der Maschine hörte, schmiegte sich an die Mutter: »Ich fürchte mich.« Auch Frau Junker, die zum erstenmal eine Eisenbahn sah, betrachtete beklommen das rauchspeiende Ungeheuer.

Endlos, entsetzlich rasselten die Räder.

Eine müde, völlig abgespannte Frau schleppte sich und das Kind durch die Straßen der großen Stadt und sank im Sprechzimmer der Blindenanstalt auf einen Stuhl. Ihr Blick irrte unstät und flimmernd, ihre Lippen sprachen mechanisch: »Ja, Friederike Karoline Junker.« Alles, was vorging, vollzog sich im Halbtraume.

Eine schwarzgekleidete Dame sagte: »Mein Kind, küsse deine Mutter!« und führte Friedline bei der Hand hinweg.

Schritte verhallten – eine Tür schlug zu – hinter der zugeschlagenen Tür klang ein Aufschrei, eines Kindes erschütternder Schrei.

Monika wankte durch die Gassen und hörte immer den letzten Wehlaut der vom Mutterherzen Hinweggerissenen.

Auf dem Bahnhofe irrte und eilte sie, um den Zug nicht zu versäumen – ein Beamter riß sie vom Geleise zurück. »Zum Donnerwetter! Sind Sie blind?« Der heiße Atem des fauchenden Ungeheuers streifte ihre Wange.

Der Mann brummte: »Danken Sie Gott, daß ich hier stand!«

Sie vermochte weder zu danken noch zu denken.

Als der Tagwagen rüttelte, erwachte Monika aus der Erstarrung. Und sie hörte Friedlines Schrei. Habe ich mein Kind von mir getan, da mir der ersehnte Sohn geboren wurde, damit für ihn mehr Raum und reichlicher im Hause werde?

Nein, sie hatte es nie auch nur gedacht und peinigte sich dennoch mit Selbstvorwürfen. Warum werden einige bresthaft oder blöde oder blind geboren? Warum muß das Schauerliche, das der schaffenden Vernunft widerspricht, sein, und woher kommt das? Von Gott? Nein, denn er ist Weisheit und Güte. Also vom Menschen! Aber nicht vom unschuldigen Kinde, mithin von Vater und Mutter! Mein Gott, habe ich gesündigt, daß diese blind geboren wurde? Monika suchte in ihrem Leben und fand keine entsetzlich verdammliche Schuld, so harter Strafe würdig [später: keine verdammliche Schuld, die so entsetzliche Strafe verdient hätte]. –

Frau Junker kam zu Fuß von Norderhafen und sah ihr Häuschen wieder [später: bog um den Kirchhof].

Hans Totengräber sprang in Hemdsärmeln vom Kirchhof [später: herbei] und Erna, das Knäblein vor sich herschleifend, aus der Haustür. Sie riefen [später ergänzt: wie aus einem Mund] »Mutter, er geht!« [–] »Der Jung kann laufen!« Jeder von beiden wollte zuerst das große Ereignis verkünden.

Adam Amatus lief zwar nicht, aber stapfte breitspurig, die dicken Arme wie Balanzierstangen vom Leibe haltend, eine kleine Strecke und fiel in die Hände der Mutter, welche wieder lächelte und um ihre Tochter sich trösten lassen wollte.

Adams braune Augen blickten klug in die Welt, in die er nicht mehr als Vierfüßler, sondern als Mensch mit aufrechtem Gange hineintrat. Immer weiter dehnte er seine Ausflüge aus, und das Ententeichlein war ihm der liebste, weil verbotene Ort.

Er hatte zwar viele Wünsche, die er in kurzen Silben ausdrückte, aber er weinte nie ohne Grund, und nur dann, wenn er seinen Willen nicht bekam.

In einer Augustnacht vernahm Monika im Träume Friedrichs Schrei und weckte ihren Mann: »Hans, hörst du nichts?«

»O, Mona, wenn du etwas hörst, dann krieg' ich es mit der Angst und kann nicht schlafen.«

Ihr [später ergänzt: Gemüt] war unruhig, wie von einer bösen Vorbedeutung. Ihr Mann atmete aber kräftig durch die Nase und schlief [später ergänzt: sofort] weiter.

Der August hatte die Felder abgeerntet, und die Kühe gingen los und genossen der freien Gräsung.

Monika machte sich mittags fertig, um die Schafe zu besorgen. Der Knabe hing an ihren Röcken und rief immerzu: »Mat–mat–mat!« Er meinte Matz, das zahme Lamm, zu dem er mitgenommen werden wollte.

Der beharrliche Bittsteller bekam seinen Willen, und es wurde ein Schneckenmarsch nach dem grünen Wege.

Matz sprang ihnen blökend entgegen und fraß Brot aus der Hand. Als er aber gefressen hatte, machte er einen übermütigen Bocksprung, bog den Kopf und stieß den Burschen um, der auf dem Rücken lag.

Der [später: Doch Amatus] greinte nicht, sondern krabbelte auf die Beine und streckte vorsichtig die Hand aus, um das flegelhafte Lamm zu begütigen.

Hinter der Hecke gingen an dreißig Kühe, die dem Bauer Töge gehörten, und rupften das Gras. Wie glücklich würde sie [später: die Frau] sein, wenn sie nur eine einzige Bleßbraune ihr eigen nennen könnte.

Da raschelten die Brombeerranken, die Zweige der Nußsträucher knackten, ein gehörnter Kopf, ein dumpf brüllendes Maul kam zum Vorschein, eine weiße Kuh brach durch den Knick.

Monika riß den Knaben an sich und sprang entsetzt zurück vor den spitzig langen Hörnern. Aber die Kuh folgte ihr, den Schweif hebend und die Stößer senkend.

Die Mutter stellte [später ergänzt: schnell] den Knaben hinter sich, mit ihrem Leibe ihn deckend, und schrie in ihrer Angst nicht nach Menschen, sondern zum Himmel empor: »[später ergänzt: Mein] Gott Vater!«

Ihre Hände streckten zu ohnmächtiger Abwehr sich aus und faßten die Hörner. »Adam, lauf, lauf! Gott Vater [später: O Gott]!«

Ein knatternder Knall, einer Kugel Gezisch!

Das Tier brach zusammen, wie vom Blitz des Himmels erschlagen.

Aus der Rauchwolke drüben auf dem Stoppelfelde lief ein Mann. »Es mußte gewagt werden und ist gut gegangen, Frau Junker.«

Sie war bei klarem Bewußtsein und dankte dem Hofbesitzer Falkenberg, der, von der Jagd heimkehrend, auf fünfzig Schritt den gewagten, aber sicher gezielten Schuß abgegeben hatte. [–]

Falkenberg [später entfallen: , der vor einem Jahr das Zeitliche segnete,] rühmte sich bis zu seinem Ende dieses Tellschusses, wenn die deutschen Hofbesitzer von der Hasenjagd kamen und im Wirtshaus ihr Jägerlatein trieben. »Keine halbe Handbreit war zwischen dem Körper der Frau und dem Auge der Bestie, das ich treffen mußte.« Er log nicht, obgleich die Jäger lächelten. [–]

Monika preßte ihren Adam ans pochende Herz und trug ihn nach Hause. »Du kleiner mutiger Mann hast keine Miene zum Weinen gemacht.«

Sogleich erhob er ein [später ergänzt: gründliches] Geheul, um das Versäumte nachzuholen.

»Still, mein Liebi, du bist auch Gottes Liebi und Liebling [später entfallen: , welcher den Jägersmann als seinen Engel sandte].«

Von neuem war ihr der Sohn von Gott gegeben, der ihr nach dieser wunderbaren Errettung ein kleiner Auserwählter des Himmels dünkte [später ans Satzende umgestellt und umformuliert: von Gott geschenkt worden]. – – – –

Der Herbstwind rannte über die Stoppeln und schlug mit peitschenden Schauern die Rücken der Rinder [später entfallen: , die mit dem Schweifende dem niedersausenden Naß die Stirn boten].

In dem Unwetter mußte Monika zweimal täglich hinaus, um die Schafe umzupflöcken. Von dem modrigen Laube am Walle stieg's wie Leichengeruch der Natur, und das Herbstabsterben betrübte das Auge. Eine Schwermütigkeit befiel die Frau auf ihren einsamen Feldgängen. Was und wozu ist das alles mit seinem Werden und Welken? Und warum die Mühe? Nach dreißig Jahren bin ich tot, und nach achtzig Jahren ist auch mein Adam Amatus nicht mehr.

Auf Augenblicke brach die Sonne durch die Wolken, und die Frau blickte empor. Zwei Regenbogen, in allen Farben leuchtend, überspannten das Himmelsgewölbe. Die waren ihr wie eine Lichtbrücke zwischen dem Endlichen und Ewigen, auf der ihr Geist sich emporschwang zu dem Einen, bei dem kein Wandel noch Wechsel ist. –

An einem Tage liefen die Schafmütter unruhig in ihrem Tüder, denn sie hatten am Morgen zwei von ihren Kindern verloren, die der Fleischer geholt. Matz aber war guter Dinge und sprang der Herrin entgegen, mit dem Kopfe nach der Kleidertasche stoßend, aus welcher sie die Brotbissen holte.

Monika nahm die zusammengeschmolzene Herde mit nach Hause und streichelte gerührt das Lamm, das sich dicht an sie schmiegte. Ach, morgen sollte es geschlachtet werden.

Vom Kirchhofe kam Hans herunter, die fetten Tiere betrachtend, und sie bat ihren Mann, ob Matz nicht am Leben bleiben und als Überjähriger bis zum nächsten Sommer sich bezahlt machen könne.

»Das beste von allen und ein Bocklamm! Mutter [später: Ich bitte dich], brauch deine Vernunft! – Mutter, sieh! Ist das nicht der Teufelsjunge?«

Ja, das war sein leiblicher Sohn, der heimlich der Schwester entwischt war und jetzt in der tiefsten Wasserpfütze strampelte und juchzte.

Der Vater entriß seinen Sprößling dem schmutzigen Element und meinte [später ergänzt: energisch]: »Mutter, nun [später: Nun] muß er die ersten Schläge haben.«

»Ja, gib du sie ihm!«

»Nein, das ist deine [später ergänzt: Mutter]Pflicht.«

»Ich denke, der Vater soll sein Kind strafen.«

»Es wirkt besser, wenn du es tust.«

Weil die Gatten sich über die Züchtigungspflicht nicht einigen konnten, unterblieb die Strafe. Und Erna wurde vom Vater angebrummt: »Weil du nicht aufgepaßt hast, hättest du die Prügel verdient.«

Adam war ein frühreifer und frühredseliger [später groß geschrieben] [später entfallen: , dessen Plappermund immer verständlicher »pohlte«]. Frühmorgens im Bette streckte er die Arme aus und krähte: »Buder … auf–er–ste–en, auf–er–ste–en.« Weil die Schwester ihn Bruder nannte, legte er sich auch selbst den Namen bei.

Mittags bei Tische lallte er: »Buder Feisch haben!« Er war ein tüchtiger Essen und zum Vegetarianismus nicht veranlagt.

Um Fleischvorrat für den Winter zu haben, sollten die beiden Lämmer ihr Leben lassen. Als der Oktobertag sich erhellte, war im Hofe große Geschäftigkeit. Adam krähte immer lauter: »Auf–er–ste–en!«

Darum nahm Erna den Schreier im Hemde heraus und trug ihn ans Fenster, denn sie wollte sich das blutige Schauspiel des Schlachtens ansehen. In allen Menschen steckt die Lust [,] sich zu gruseln.

Matz, dessen letztes Stündlein schlug, rupfte in Unbewußtsein seines bevorstehenden Endes das Gras am Brunnen. Schon lag sein Stiefbruder geduldig auf der Schlachtbank, und das Messer stach zu.

Adam, der die Nase platt an die Scheibe drückte, blickte zu, neugierig, großäugig, bedenklich, erschrocken, zuletzt fassungslos und das Gesicht verzerrend, als der dicke Blutstrahl aus der Kehle schoß. Dann stieß das Kind einen Schrei aus, der zum Schreikrampf wurde.

Beide Eltern stürzten ins Haus, und Hans riß den Knaben an sich. »Was? Du große, unvernünftige Dirne läßt ihn das ansehen?« Erna erhielt ihren letzten Puff im Vaterhause.

Adam wand sich im Arme des Vaters und brüllte immerzu: »Mat, mat, mat!«

Gerührt nickte die Mutter: »Ach, er bittet für das Lamm, daß es am Leben bleiben soll.«

Hans wurde überrumpelt. »Mein süßer, kleiner Adam, sei nur still … du sollst deinen Willen haben.«

In derselben Sekunde hörten die Schreikrämpfe auf.

Zu dem Schlachter ging der Totengräber hinaus und sagte mit handelsmännischer Miene: »Ich habe mich wegen des Bocklamms anders besonnen … das kann als Überjähriger sich besser bezahlt machen und vielleicht als Zuchtbock verkauft werden.«

Weil Matz am Leben blieb, mußten allerdings die Fleischrationen des Winters eingeschränkt werden.

Zum November trat Erna ihre Stellung im Hause des Onkels an. Am Tage vor ihrer Abreise wollte sie von den Freundinnen des Dorfes Abschied nehmen. Seitdem sie ihr bestes Kleid angezogen, quälte Adam: »Buder mit, [später ergänzt: Buder] mit!« und beobachtete jeden ihrer Schritte.

Während die Mutter im Stuhle nickte, stahl sich Erna hinten aus der Küche. Aber Adam, der [später ergänzt: wie ein Grenzjäger] aufgepaßt hatte, stolperte ihr nach und warf die kurzen Struvelbeine so überstürzt, daß er im Garten längelang hinschlug. Darum machte sich die Schwester ruhig aus dem Staube. Aber Monika erwachte von dem Schrei und lief in den Garten [später anders: Auf dem Richtsteine jenseits der Hecke flatterte Ernas Rock. Der Kleine stieß einen Schrei aus und war dann mäuschenstill. Darum machte sich die Schwester ruhig aus dem Staube. Aber Monika erwachte von dem Schrei und lief in den Garten].

Da lag ihr Liebling völlig regungslos, platt auf Nase und Bauche im Sande – und der Sand war von Blut gerötet.

»Mein Gott!« jammerte die Mutter und warf sich nieder. »Liebi, Liebi, was fehlt dir?« Sie hob ihn empor und fand keine andre Verletzung, als daß die gestoßene Nase blutete. »Liebi, sag doch etwas!«

Der Bursche lag schlaff mit geschlossenen Augen und wisperte ersterbend: »Buder geslachtet!«

Wollte sich der Schelm verstellen? Nein, er wähnte mausetot zu sein, weil ihm noch vom Anblick des geschlachteten Lammes ein Grauen in den Gliedern lag und sein Kindskopf von Blutfließen auf Sterben und Totsein einen logischen Schluß machte.

[Später entfallen: Die Nasenwunde heilte bald. Aber für Adam Amatus kam der erste Kummertag seines Lebens. Von dem Morgen an, wo Erna fortzog, bis zum Abend brüllte und schluchzte er mit kurzen Zwischenräumen: »Ena, Ena!« Weder durch Zucker noch Apfel wollte er sich trösten lassen.

Da entdeckte die Mutter eine neue Eigenschaft an ihrem Kinde und sagte: »Der Kleine hat ein tiefes Gemüt.«]


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