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Edleff Wessel wollte die ihm verlobte Braut in sein hoch gelegenes Haus führen, bis er schicklichen Unterstand für sie fände.
Aber sie schlug die Hände vor das schamhafte Antlitz und tat keinen Schritt mit ihm. »Hier im Gotteshause will ich harren, bis du zurückgekehrt bist, dann wollen wir selbander noch einmal zum Vater gehen.«
Schon brach die frühe Oktobernacht herein. Mit geblähten Nüstern und keuchenden Flanken sprengte die braune Stute mühsam gegen den Orkan an, als durchschnitte ihre Brust eine reißende Meeresströmung. Im Sattel saß der Deichgraf, tief über die Mähne gebeugt. Was ging durch seinen Sinn? Nicht das Geschehnis der letzten Stunde und nicht der Gedanke an Etta, sondern nur eine bange Sorge um den Balumer Deich. Bei seinen Lebzeiten war kein solches Unwetter über die Insel gegangen.
Wer beschreibt die blinde Berserkerwut der rasenden Elemente, das Aufblasen des Nordwests zum Sturmlaufe und das Brüllen der gehetzten Meereswellen?
Der Reiter vernahm das Krachen der wie ein Rohr geknickten, uralten Dorfesche, das Zittern des Grundes, das Ächzen der Dachsparren und das pfeifende Schwirren des fort getragenen Strohdaches. Und den Mann, der stärker war als irgendeiner in den Dreiharden, überlief ein kalter Schauder. Aber er spornte die Stute.
Wenn die furchtbar erschütternden Luftstöße wie zu kurzem Atemholen einen Augenblick anhielten, trat ängstliche Stille ein, und durch die Luft drangen wimmernde Laute. Das waren die Sturmglocken, drunten in Buptee und drüben in Volksbüll. Ihr anhaltendes Gewimmer war ein Hilfeschrei, welcher alle Hände zu den gefährdeten Deichen rief; und schauerlich klang es durch die dämmernde Düsternis wie das Grabgeläute über Massengräbern nach einem großen Sterben.
Oben auf dem Damme reitet der Vogt. Zu seinen Füßen drunten ein Gischt und Strudel und alles dahinter, das Vorland und das Watt, eine weiße, kochende Brandung. Wie in Regen und Schneegestöber zumal reitet er, denn das sprühende Salzwasser überschüttet Ross und Reiter, und der Schaum, der wie handgroße Schneeflocken stiebt, blendet ihm den Blick. Ein donnerndes, ohrenbetäubendes Getöse! In langen Zügen kommen die Wellenberge, und vom Wogenanpralle geht ein stets Zittern durch den Deich, den eisernen, wie er sagte. Ach, wie klein und armselig stehet der Wall und die von Menschen geschaffene Mauer wider solche Gewalten!
Niedergebeugt über die Mähne, haftet Edleffs scharf prüfender Blick an der Böschung. Vielfach ist die Sodenbestickung hinweg gerissen und stellenweise das Erdreich aufgewühlt zu fußtiefen Löchern. Aber der Damm wird halten – und die Ebbe muss kommen! Das schreckhafte Tier steigt. Der im Sattel sitzt, preßt den Sporn in die Flanken und treibt es vorwärts bis zu dem Ort, wo einst die große Wehle war und jetzt über versenkten Prähmen und Erdmassen der Haffdeich steht.
Das Pferd bäumt sich und steht dann mit seinen Vorderhufen an einem Abgrunde, an einer langen und tiefen Auskolkung des Dammes, die bald zum völligen Deichbruch werden muss. Unter der Seehundsmütze sträubt sich das Haar des Mannes. Hier wütet die See in ihrem wildesten Ungestüm, und wider den schwächsten Ort der ganzen Küste wälzt sie ihre höchsten Wellen und ihre stärkste Brandung.
Warum just hier, wo der Deich auf tückischem Grunde steht? Weiß Frieslands Feind, daß er dort am leichtesten Sturm laufen und Bresche legen mag?
Jeder Deichkundige kennt des Westmeers Weise, und auch der Deichgraf von Westerwohld wußte es aus Erfahrung: Hartnäckig und starrsinnig ist das Meer! Wohin es einmal einen Zug hat, dahin wird es in seinen Strömungen und Wellen gehen bei jeder Flut. Seine Priele und Wasserläufe mag der Mensch mit vieler Mühe abgraben und ablenken, in einer einzigen Sturmnacht wird es den alten Weg wählen und zum Deiche sich wühlen. Es ist, als wenn es einen Hass geworfen hätte auf gewisse Örter. Wo es einmal durchbrach, wird der Wall am höchsten getürmt und die Deichwache wird am schärfsten Auslug halten, denn – so gewiß wie ein Gesetz – wird sich auf eben diesen Ort die nächste Springflut stürzen und ebendaselbst die Brandung am wildesten sieden.
Auf die so genannte Balumer Wehle hat das Meer ein tückisches Absehen und hat schon in seinen ersten Anläufen den halben Deich bis zur Kammhöhe hinweg gerissen.
Wehe, wie soll es enden? Des Deichgrafen Stimme überhallt den Sturm: »Ohoi, ohoi!!« Von den Leuten, welche Wache halten sollen, scharen die wenigen, die nicht geflohen sind, sich um ihn. Am Fuße der Innenböschung stößt er eine lange Stange in den Grund und bindet sein Ross daran.
Alle, und er voran, schaufeln Sand in die Säcke und schleppen sie die Höhe hinauf. Eine kleine Welle verspült dieselben. Zwerghaft sehen die keuchenden Männer aus, welche auf und nieder klimmen. Was vermögen zwanzig Hände auszurichten wider des Sturmes Riesenstärke und die Springflut der Titanengewalt? Ihr Werk mutet an wie der Kinder Gespiel, die im Meersande wühlen und eine Burg sich bauen!
Eine Stunde lang arbeiteten sie ausdauernd, und ein sekundenlanger Wellenschlag fegt es hinweg. Dennoch spornt der Deichgraf die Lässigen und feuert die Mutlosen an: »Ohoi, ohoi! Fällt nicht das Wasser schon …? In kurzem kommt die Ebbe!«
Um die achte Stunde des Oktobertages war es, aber die Ebbe kümmerte sich nicht um ihre Gezeit. Im Kampfesungestüm vergaß das Meer, seinen Atem zu holen.
Die finstere Nacht war gekommen. – Deine letzte Nacht, Nordstrand, ist angebrochen, und diese Nacht ist dein jüngster Tag. Wehe dir, Friesland, und allen deinen Marschen zwischen Eider und Königsau!
Die um den Deichgrafen Versammelten lassen den Spaten sinken, ein Sturzregen überschüttet sie. Der Nordwest donnert! Die höchste Woge wälzt sich heran und wandelt sich in wirbelnde, weiß siedende Brandung.
Ein kurzes Erdbeben! Ein Krachen und Bersten! Der Deich bricht und ist wieder geworden zur Balumer Wehle, durch welche ein haushoch brodelnder Wasserstrudel stürzt.
Ein Ertrinkender versinkt mit gellendem Todesschrei.
Edleff Wessel reißt die Stange aus dem Grunde, schwingt sich in den Sattel und schlägt die Schenkel wie Eisenklammern um den Leib des Tieres. Sei es Leben oder Tod, Reiter und Ross werden sich nicht trennen.
Beide reißt die Strömung hinweg, und sie tauchen in die Tiefe. Aber die braune Stute ist ein starkes und behendes Tier, welches um sein Leben kämpfend sich empor ringt, mit den Füßen gegen den Strudel stampft und schwimmend das stehen gebliebene Deichhaupt erreicht.
Das Pferd schüttelt sich und schnauft. Sein Reiter, ohne Mütze, mit wirr gesträubtem Haar, steht in den Steigbügeln und stiert hinter sich. Hatten sich nicht zwei Hände an den Schweif geklammert? Wo sind sie? Und die anderen, die neun mutigen Männer, die mit ihm standhielten? Alle ertrunken im Wassersturz der Wehle, und er inmitten dieses Weltunterganges der einzig Überlebende!
Seinem pochenden Haupt fällt das Besinnen so schwer.
Etta, Etta!, klingt es ihm ins Ohr, und er weiß nicht, daß seine eigene Stimme ihren Namen gerufen hat. Aber der Name gibt dem von Schrecknis Gelähmten die alte Reckenkraft wieder und eine klare Ruhe im tobenden Chaos. Was ist ihm der Deich? Und was ist ihm ganz Westerwohld und der Nordstrand mit allen seinen Menschen? Nur sie, sie ist seine Welt, die vom Tode errettet, vor dem Wasser geborgen und an einen hohen Ort gebracht werden muss.
Er klopft den Hals des treuen Renners: »Laufe, mein Rößlein, zur Kirchwarf, so schnell dich deine Hufe tragen!«
Oben auf dem Damme, zwischen zwei Abgründen, sprengt er dahin, zur Linken die weiße Meerbrandung, deren Schaumwogen ihn überschütten, zur Rechten die schwarze, gurgelnde Tiefe des Balumer Kooges, der im Nu voll Wasser gelaufen und zum Salzsee geworden ist.
Sein Haar flattert. Das Ross wendet sich nach Osten und fliegt auf dem Mitteldeiche dahin, wie vom Sturme getragen.
Die Springflut kehrt sich nicht an die Gesetze noch Gezeiten. Um die neunte Stunde des elften Oktobertages, da es längst hätte ebben sollen, stieg der Orkan aufs Höchste und die Wasser schwollen zur Sündflut an. Von sämtlichen zwanzig Kirchtürmen des Landes klagten die Glocken und heulten durch die Nacht um Hilfe. Aber kann ein todsiecher Mann seinem sterbenden Nachbar beistehen? An sehr vielen Stellen nämlich brachen die Deiche um diese Stunde.
Edleff Wessel musste den Westerwohlder Koog durchqueren, um das Dorf und die Kirchwarf zu gewinnen. Auch von diesem Kooge hatte der blanke Hans schon Besitz ergriffen – zwar nicht blank, sondern schwarz und unheimlich plätscherte das Wasser gegen den Mitteldeich und stieg reißend schnell im Kooge.
Edleff trieb sein Ross hinein. Des Lenkers Auge bohrte sich in den Grund, die Tiefe zu messen. Des Tieres Nüstern blähten sich, als könnten sie den Weg wittern, seine Hufe tappten sich schrittweise vorwärts, als wüßten sie die Fallgruben der tiefen Gräben zu vermeiden.
Endlich ging es aufwärts. Der ermattete Fuß stolperte über einen Leichenstein – erklommen war die Kirchwarf.
Nur eines grabesstille, leblose Finsternis gähnte ihm entgegen, als er die Kirchtür aufwarf, und sein suchender Angstruf: »Etta, Etta!« hallte von der leeren Empore zurück. Aber ein Gewand raschelte, eine Gestalt erhob sich vom Altare, vor dem sie bis jetzt wie hingestürzt gelegen hatte; durch das Dunkel leuchtete das weiße Antlitz ihm entgegen.
Er riß sie an seine Brust: »Meine Liebste, mein Leben!« – Und die drei Worte: »Die Wehle brach!« kündeten ihr alles. – Dann zog er sie hinweg: »Eile, meine Etta, und schlinge deine Arme um meinen Hals, daß wir reiten, ob wir noch den Moordeich und das hohe Moor erreichen … Dort bist du geborgen, mein Leben!«
Aber gewaltsam bog sie sich zurück und hielt sich fest am Gestühle: »Nein, nein … Mein Vater wird sterben, und er hat mich nicht gesegnet … Niedriger ist keine Warf als seine, und das Haus und die Pfosten vermorscht; aber deine Wohnung ist höher und stärker als alle … Eile, Edleff, um Christi willen, und rette meinen Vater und führte ihn nach deiner Warf.«
Er beschwor sie, daß sie mit ihm nach dem sicheren Moore fliehe. Aber Etta blieb fest.
Zwiefache Last trug das erschöpfte Tier und wollte durchaus nicht ins Wasser hinein, als sage sein Instinkt ihm, wie tief es geworden sei, und es musste mit Schlägen hineingetrieben werden.
Wie das in wenigen Minuten schwoll, als wären tausend unsichtbare Quellen aufgebrochen! Die Stute gab einen stöhnenden Laut von sich und verlor den Grund unter den Füßen. Aber beim kosenden Zuruf des Herrn »Schwimme, mein Rößlein, schwimme!« spitzte sie die hängenden Ohren und tat eine letzte Kraftanstrengung, welche anhielt, bis sie festen Grund fühlte. Auf der Vogtwarf brach sie zusammen und blieb wie tot liegen, mit dem Hinterkörper im Wasser und den Hals weit von sich gestreckt.
Zum ersten Male betrat Etta Boethius dieses Haus, und sie verstand, warum die Leute es den Vogtpalast geheißen hatten. Trotz der großen Erregnis, in der sie war, stutzte sie beim Betreten des prächtigen Pesels, und ihr Auge glitt bewundernd über den Schmuck der Wände und das kostbare Hausgerät hin.
Nur eine flüchtige Minute! Dann warf sie sich weinend an seine Brust und drängte: »Eile, mein Edleff, und rette meinen Vater!«
Über die Diele rannte er und durch den Stall, wie ein Suchender, aber es standen vor den Krippen, ruhig und im Heu raufend, nur schwerfällige Ackergäule, denen er solches Rettungswerk nicht zutrauen durfte.
Vor der Hoftür schaute er ratlos nach der nahen Pastoreiwarf hinüber, und sein Blick fiel auf einen großen und schweren Braubottich, den die Mägde gestern gesäubert und zum Trocknen gegen die Südwand gelehnt hatten. Schnell holte er eine lange Heustange von der Tenne und seiner Kraft war es ein Kleines, das unförmige Gefäß zu handhaben und den Abhang hinunterzurollen. Dem Manne, der in einem Strohkahn über die Schmaltiefe setzte, dünkte der Braubottich ein gutes und starkes Boot, in dem er leichtlich zur Pastoreiwarf hinüberfahren könne.
Wie eine runde Nußschale taumelte es auf der Flut. Aber mit der Stange trieb er es vorwärts gegen Sturm und Strömung, und dieser Steuermann zwang sein ungelenkes Fahrzeug zum Gehorsam.
Im hell erleuchteten Pastoreipesel saßen alle Insassen des Hauses, Peter Boethius, sein Sohn Karl Heimreich, Hertie und die Magd, nur Boje, der Knecht, war spurlos verschwunden. Schon am Spätnachmittage war der Umsichtige nach dem hohen Moor gelaufen, wo er ein Geschwisterkind hatte, einen armen und nicht gut beleumundeten Torfstecher.
Drei Lichter brannten auf dem Tische. Daneben waren die Kirchenbücher aufeinander gehäuft, und was Boethius sonst an schätzbarem Schreibwerk und kleinen Kostbarkeiten besaß, hatte er zusammengetragen, damit es bei der Hand sei, wenn man auf den Dachboden fliehen müsse.
An den Fensterläden rüttelte der Sturm, als wollte er hinein, durch die Wände ging ein stetes Zittern und durch die Dachbalken und Sparren droben ein banges Ächzen.
Die Hausbibel lag vor ihm aufgeschlagen, und er las mit starker Stimme: »Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzet und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibet, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich traue.«
Die Tür flog auf. Ein von Nässe triefender Mann trat über die Schwelle.
»Pastor Boethius! Das Wasser sickert schon über den Estrich Eurer Diele … Ich habe einen Kahn draußen.«
»Ich kenne Euch nicht! …«
»Diese ist eine der geringsten Warfen … Um des Himmels willen, hört Ihr denn nicht, daß die Mauern schon wanken? Boethius, um Eures Kindes, um Eures Sohnes willen, folget mir nach der hohen Warf meines Hauses!«
»Wollt auch Ihr ein Sakrileg mir antun?«
Wessel prallte zurück: »Boethius – Boethius!«
Die eiserne Ruhe verließ den Pastor, er erhob sich. »Meine zwei Kinder hier und die Magd mögen wählen, ob sie mit Euch gehen wollen … Auch die Kirchbücher wüßte ich gern geborgen, wenn Ihr die an einen sichern Ort schaffen wolltet … Ich aber muss in meinem Hause bleiben!«
Ohne Antwort ergriff Edleff den hohen Bücherhaufen. Zollweise wuchs das Wasser mit jeder Sekunde, daß er hindurchwaten musste bis zur Hoftür, gegen deren Schwelle der schaukelnde Bottich schlug. Behutsam legte er die Bücher hinein, den geschriebenen Kirchspielschatz, der mehr als dreihundert Jahre bis zur Rungholter Sündflut zurückreichte.
Wieder stand der Vogt im Pesel, über dessen Bretterdiele ein Bächlein rieselte. Auf seinem Gesicht eine eiserne Ruhe, ein unbeugsamer Entschluss!
Die Lippen öffneten sich: »Schnell, schnell. Einer zur Zeit und Ihr zuerst, Boethius!«
»Habe ich Euch als Fährmann gedungen?«
»Ich aber habe ein Menschenamt von Gott bekommen und dazu auch Befehl und Auftrag von Eurer Tochter, daß ich ihres Vaters Leben retten soll.«
»Von meinem Gott, in dessen Hände ich meine Seele befehle und in dessen Hut mein Leib und Leben stehet, habe ich kein Gebot, Euch zu folgen …«
»Wohlan, hier stehet Wille gegen Wille und Gewalt gegen Gewalt … Ihr müßt mir gehorchen, Boethius!«
Die beiden starken Männer rangen miteinander – der Pastor fühlte sich von einer Riesenkraft umfaßt, umklammert, daß er kein Glied regen konnte – Wessel war der Stärkere und der Sieger in diesem – in ihrem letzten Kampfe.
Boethius ward hinweg getragen und stand erst im Boote wieder auf seinen Füßen. Da streckte er die Hände aus und umklammerte den Türpfosten seines Hauses. Der Fährmann beugte sich nach der Stange.
Ein schauerliches Brausen erscholl und alsogleich ein Bersten – eine hohe Flutwelle schoß durch die Tür. Edleff taumelte zurück und stand bis zur Brust im Wasser.
Aus der Finsternis draußen kam ein Schrei, die Meereswogen übertönend, und es war des Pastors Stimme: »Gnad mit Gott! Ich scheide! Sage meinem Kinde, daß ich sie segne …«
Die von der Mauer zurückprallende Brandung riß das Boot hinweg und Boethius' Hände vom Pfosten seines Hauses.
Der Kirchherr von Westerwohld trieb in dem Bottich hinaus in die Sündflutnacht.
Edleffs stiere Augen sahen ihn nicht mehr, aber sein Ohr vernahm einen dreifachen Schrei. Die Peselwand des Hauses war eingeschlagen worden.
Den Frauen reichte das Wasser bis zum Halse. Cito, der Hund, schwamm hin und her und umstrich winselnd seinen Herrn, welcher wie geistesabwesend das Tier aufhob und seinen Liebling an sich preßte.
Schon hatte die verständige Magd die Stiege erfaßt und klomm aufwärts, als Edleff die versinkende Hertie auffing und jener eilig folgte. Auch Karl Heimreich erreichte mit seiner Last den Heuboden unter dem Dache. Das ist des Friesen letzter Zufluchtsort im Sturmgeflute.
Hier saßen drei von Frost und Todesfurcht durchschauerte Menschen, umgeben von Grabesfinsternis, und hörten, wie unter ihnen die Gewässer tobten und an den Pfosten rüttelten.
Nur der vierte, welcher nicht zum Hause gehörte, zitterte nicht, sondern zog sein Dolchmesser aus der Scheide und schnitt einen Spalt in das Strohdach, wie ein kleines Auslugfenster.
Auch nicht der matteste Lichtstrahl, auch nicht der leiseste Sternenschimmer drang herein. Gegen den Spalt legte Edleff die heiße Stirn, sein sehnsüchtiges Auge suchte die Finsternis zu durchmessen und vermochte es nicht.
Wo war seine Warf und seine Wohnung? Und wo war sie, Etta – sein Weib? Denn als wäre sie es schon, also eins und unzertrennlich fühlte er sich mit ihr. Und der Vater hatte in seiner Todesnot sie gesegnet. Aber sein Auge sah nichts als schäumende Flut und die scheidende Kluft, und daß sein Dorf Westerwohld zur Westsee geworden sei.
Seine Stimme rief: »Etta, Etta!« Und seine Seele war verzehrt von unendlicher Sehnsucht.
Hörte sie den Ruf? Ein Licht flackerte dort drüben auf wie ein matt verlöschendes Sternlein, und er erkannte seine Warf. Mit dem Messer schnitt er im Spalte, bis eine gähnende Öffnung im Dache entstand, warf Stiefel und Jacke von sich, zwängte den Körper hindurch und sprang hinunter und in die Flut.
Wessel war der beste Schwimmer auf dem Nordstrande und durchschnitt mit starken Armen die Wellen; aber fast hätte die Strömung ihn übermocht, und er rang lange und bis zu seiner letzten Kraft mit ihr. Dennoch blieb er Sieger auch in diesem Kampfe.
Triefend entstieg er dem Meere, und die Laterne, die Etta hielt, erlosch. Zum Hause wateten sie Hand in Hand. Schon an die Schwelle klatschte und klopfte die Flut.
Sie lagen sich in den Armen und hielten sich umschlungen mitten im Weltuntergange und ließen nicht mehr von einander.
Etta weinte um den Vater. Er aber sprach: »Etta, meine starke Sturmbraut! Nun soll weder das Leben, noch der Tod uns mehr scheiden!« –
Der Orkan wächst, das Meer wallt höher, die Nacht ist zur Finsternis und die Springflut zur Sündflut geworden. Längst verstummten die Sturmglocken, kein Glöckner reißt mehr an ihren Strängen, sondern jeder sinnt nur, sein armseliges Leben, und wenn es hoch kommt, Frau und Kind an einen hohen Ort zu retten. An die Dachsparren klammerten sie sich, Mann und Weib, Mutter und Kind, mit Seilen und Stricken binden sie sich aneinander fest.
Das Zittern der Heubarge und Häuser im Wogendrange, das Ächzen der brechenden Pfosten, das Krachen der stürzenden Mauern, das Angstgebrüll der ertrinkenden Tiere, die Sterbeseufzer und Gebete der lebendigen Seelen! Dieser vielstimmige Todesschrei einer sterbenden Inselwelt schlägt zum Himmel empor. Hört der Herr ihn, und gebietet er nicht seinen Winden und Wellen, Einhalt zu tun?
Um neun Uhr ist kein Anzeichen, daß Ebbe und Ende der Not werden will. Nein, das Ende dieser Welt ist gekommen.
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Um zehn Uhr abends war alles vorbei. Da war Nordstrand nicht mehr, in einer Stunde war es untergegangen im salzen Wasser mit mehr als 6 200 Menschen und mehr als 50 000 Stück Vieh. 1 300 Wohnungen der Menschen waren zerstört, zwanzig Gotteshäuser zertrümmert und die blühende Heimat von 8 000 Inselbewohnern vernichtet. Nicht bloß 44 Wehlen waren gerissen, sondern das Wasser lief an vielen Stellen über die Deiche hinweg. Und die Westsee-Gewässer sind dahin gekommen, wo sie niemals, weder vorher noch nachher, gewesen sind.
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In der Kirche zu Tondern ist in der Mauer ein eiserner Strich zu sehen, auch in andern Gotteshäusern der hohen Geest findet man ihn und über demselben die kurze Inschrift: »Anno 1634!« Diese Striche der Geestkirchen sind bleibende Wahrzeichen, daß die Westsee in jener Nacht war, wo nimmer sonst ihre Welle rollte.
Zeitgenossen schildern uns die entsetzliche Größe dieser landverderblichen Flut, welche die ganze Westküste Nordalbingiens von der Elbe bis zur Königsau verheerte und die Tausende von Menschen hinwegraffte. Aber die wenigen, wirklichen Augenzeugen, welche den Untergang Nordstrands überlebten und schreibkundig waren, haben nur spärliche Nachrichten hinterlassen.
Kurz gedrängte, aber ergreifende Notizen sind es, die wir haben, gleichsam Randzeichnungen und Anmerkungen der verloren gegangenen Historie dieser großen Flut. Der Schreiber dieses hat überall Nachspürung getan und geringe Nachlese gefunden. Aber von solchen kurzen Notizen und Anmerkungen der Augenzeugen mögen etliche hierher gestellt sein.
»In Westerwohld waren an dem Sonntage Leute beisammen im Kruge. Da das Wasser unversehens kam, liefen sie eilig die Stiege hinauf, und der Wirt watete noch unten im Hause, um von seiner Habe einiges zusammen zu raffen. Aber ein voller Zapf unter ihnen, welcher bereits unter dem Dache saß, hat herunter geschrieen und Bier gefordert, worauf ihm einer seiner Genossen Antwort gab: »Warte, du wirst bald genug zu trinken bekommen!«
Der Mann, der nach Getränk schrie, war Tolke, und der ihm die Antwort gab, war Tedje. Bald klammerten sich die Kumpane von Olufswarf an den Dachsparren und kämpften miteinander, um den höchsten und festesten Ort zu gewinnen.
»In dieser Wassersnot ist ein Haus samt allem Volke verbrannt, weil die Magd ein brennendes Licht auf dem Tische hinterlassen hat und der Tisch, als das Wasser eindrang, mit dem Licht in die Höhe geschwemmt und bis an die Decke gehoben wurde, woselbst das Stroh entzündet worden ist.«
Dieses Haus war das Westerwohlder Bierhaus. Wie Gezisch vieler Schlangen züngelte die Flamme im Stroh empor, als sollten die Kumpane von Olufswarf nicht im Wasser ertrinken, sondern des Feuertodes sterben. Tolkes Glotzaugen traten aus ihren Höhlen. Keine Minute, um ein Stoßgebet zu sprechen! Schon sanken sie hinunter in die rote Glut.
Aber zweie klommen hinan, brachen mit ihrem Körper durch den First und sprangen in die weiß brandende Flut. Beide erhaschten ein treibendes Gebälk. Aber das Holz trug nicht beide. Und sie rangen Brust an Brust miteinander um die Planke und fluchten und stießen sich.
Da versank Tedje mit einem Schrei. Der andere hatte heimlich sein Dolchmesser gezogen und hinterrücks gezückt. Tolke trieb auf dem Wasser, an das Gebälk sich klammernd, eine volle Stunde lang, und sie dünkte ihm wie eine Ewigkeit der Qual. Zuletzt kam eine starke Welle und schlug ihn herab, wie man mit einem einzigen Wasserguß einen Unratflecken ins Nichts hinwegspült.
Was das Landrecht über den Jungfernschänder aussprach, hatte sich erfüllt an ihm: Er war gestoßen in ein tiefes Wasser, daß er mit seinen Augen weder Erde noch Himmel sehen konnte, noch auch den Grund erreichen weder mit Händen noch Füßen.
Blättern wir weiter in den Anmerkungen der Augenzeugen – und wir sehen ein anderes Bild, wie es den Frommen, die auf den Herrn hoffen, ergangen ist.
»In einem sehr geringen Häuschen, das zu allererst zerschlagen worden ist, wohnte eine alte, gottesfürchtige Frau. Die hat in Stille sich Gott befohlen, und als das Haus brach, ist sie in ihrem Bette die Warf hinauf geschleudert und in die Kirchtür hineingetrieben, und ist ihre Oberdecke nicht einmal naß geworden von dem vielen Wasser.«
Die Frau war das Weib des Westerwohlder Dachdeckers, war Gunne, die Greisin, welche gelähmt in ihrem Bette lag. In der Kirche rief man ihr zwar zu: Es ist kein Raum hier für Euch! Denn die nächstwohnenden Bauern hatten ihr Vieh auf die Kirchwarf getrieben und, als das Wasser wieder stieg, das Gotteshaus mit ihren Kühen und Kälbern angefüllt. Und einige Hände wollten ihr Bett wieder hinaus stoßen in die Flut. Aber es waren in dem Haufen auch vier barmherzige Samariterhände, welche die hilflose Greisin mitsamt ihrem Lager flugs hinweg rissen und die Stiege zum Kirchboden hinauftrugen. Dort lag Gunne gebettet in der Weltuntergangsnacht.
Hans Pauls und Alget hielten ihre Hände und hörten, wie das hinfällige Weib Worte des Lebens sprach, darinnen eine große Kraft und eine gewaltige Tröstung war. Immer mehr Menschen, von Furcht und Kälte zitternd, sammelten sich auf dem Kirchboden und lagen auf den Knien ringsumher und lauschten ihren Worten und ihren Gebeten. War ein Gottesdienst, wie er noch niemals in der Kirche zu Westerwohld gehalten worden war.
Die Mauern wurden zertrümmert, und was an Menschen und Vieh drunten in der Kirche und zwischen den Gestühlen sich befand, verging in der Flut, auch der Turm mit seinen Glocken versank, aber die Pfosten des Gotteshauses waren fest gegründet, und der Kirchboden mit dem Dache hielt stand bis zum Morgen, wo die Sonne aufging und die Winde still wurden. Die Geretteten begrüßten ihre Strahlen, die durch das kleine Dachfenster ihrer Arche brachen, als sähen sie Gott und seine Gnade von Angesicht zu Angesicht.
Beim Morgengrauen des neuen Tages waren sämtliche Köge Nordstrands Salzseen, aus denen einzelne Warfe emporragten. Überall sah man Trümmer, Gebälk und Hausgerät treiben, ertrunkenes Vieh und tote Menschen, oft eine ganze Familie zu vieren oder fünfen mit Seilen aneinander gebunden. Die meisten Wohnungen waren spurlos verschwunden, hier und dort flatterte von einem Dache, dessen Einsturz drohte, die schwarze Notflagge.
O, dieser Morgen des zwölften Oktobers! Ein Notschrei ging auf vom Nordstrande und von allen Meerländern. Aber die barmherzigkeitsarme Zeit des siebzehnten Jahrhunderts tat wenig für den Nächsten, nur ein paar Böte stießen ins Wasser, um die Überlebenden aufzunehmen. Die meisten mußten in Backtrögen und auf schnell gezimmerten Flößen sich selbst in Sicherheit bringen.
Ein Augenzeuge, der auf das hohe Moor sich rettete, berichtet:
»An tausend Menschen mögen hierselbst zusammengekommen sein, und mancher hat durch ein Mirakel sein Leben behalten. Als wir ausgingen, um das Strandgut aufzulesen, welches uns, da wir nackt und hungrig waren, gute Dienste leisten mochte, fanden wir einen Sarg angeschwemmt. Und wir wollten ihn verscharren, wie wir mit den anderen Toten, die angetrieben, getan hatten. Als wir aber den Sarg aufhoben, schüttelte der Tote den weißen Kopf, als wolle er Einsprache tun gegen unser Vorhaben. Er war auch gar nicht tot, sondern lebte, und nachdem er die Sprache wiedergewonnen hatte, erzählte er, daß er drüben von Westerwohld sei.«
Dem alten Sönke, der sich den Sarg zur Schlafkammer gewählt und in jener Nacht zum Sterben sich hingelegt hatte, war der Sarg zur rettenden Arche geworden, die ihn auf den Wassern der Sündflut trug!
Weiterhin heißt es: »Es sollen von den Predigern Nordstrands die elfe oder zwölfe in dieser Flut umgekommen sein … Einer aber, der vornehmlich gegen das übermäßige Trinken in seiner Gemeinde geeifert hat, ist – mirabile ductu – in einem großen Braubottich, als wie in einem Boote, auf dem stürmischen Meere gefahren und heil und unversehrt zu uns gekommen.«
Pastor Boethius stieg mitsamt den erhaltenen Kirchenbüchern des untergegangenen Kirchspiels Westerwohld auf dem Moore ans Land und war gerettet.
Zum Schlusse noch zwei Anmerkungen dieser Sündfluthistorie.
»Um die zehnte Vormittagsstunde standen wir auf dem Festlandsdeiche von Hattstede und sahen nach dem Westen und nach dem verschwundenen Lande. Hell und lieblich schien die Sonne über diesem großen Greuel der Verwüstung. Ein Heuberg schwamm auf dem Wasser und trieb gegen den Strand zu. Unsere Augen gewahrten bald, daß lebende Wesen darauf waren, und wir unterschieden, daß es ein Mann war und ein Weib, und daß ein Hund zwischen ihnen saß, welcher laut und freudig zu bellen begann.«
Der Heuberg der Westerwohlder Pastorei wurde von den Wogen in zwei Teile zerschlagen, und der eine mitsamt der Magd ist nicht mehr gesehen worden. Aber die andere Hälfte, auf die Karl Heimreich und Hertie mit dem Hunde sich geflüchtet hatten, trieb drei Meilen über das Meer und bis an den Festlandsdeich, wo Bewohner von Hattstede sie ans Land trugen und sorgsam pflegten, bis sie von den ausgestandenen Leiden und Ängsten sich erholt hatten.
Ja, selig sind die Stillen im Lande, denn sie werden durch Feuer und Wasser gehen!
»Plötzlich in der Morgenfrühe hat sich der Wind gänzlich gelegt, und es ist eine Stille geworden, daß man mit dem brennenden Lichte in freier Luft hätte gehen können. Am Tage nach dieser Nacht aber fuhren einzelne entartete Menschen in leichten Kähnen einher, um treibendes Gut aufzufangen und die Häuser zu berauben …«
Boje, der elende Predigerknecht, ruderte im Boote über dem untergegangenen Westerwohld, und seine habgierigen Augen blickten immerfort nach der Vogtwarf, deren Schätze er heben wollte. Schauderte ihn nicht, als sein Ruder an einen Menschenleib stieß? Es waren zweie, die sich im Tode noch umschlungen hielten, und ein langes, goldblondes Haar floß auf dem Wasser. Schreckten ihn nicht die todesstarren Augen des Vogts, die auf ihn gerichtet waren, daß er hinwegeilte von dieser Stätte? Nein, mit ein paar Ruderschlägen trieb er sein Boot an die Warf.
Einzelne Teile des Gemäuers standen noch, und mit den gierigen Augen durchstöberte er jeden Raum. Hart unter der sich neigenden und überhängenden Wand stand eine Truhe – er zerrte sie mit den Händen hervor – ein lautes Krachen und Stürzen – ein gellender Schrei – und dann wieder die einsame Todesstille, die über dem Ort brütete.
Das unterwühlte Gemäuer hatte seinen letzten Halt verloren und in seinem Sturze ihn erschlagen und begraben zumal. Der Knecht, der heimliche Schandtat übte und um Judaslohn seinen Herrn verriet, fand seinen Tod am Tage nach der Flut und ein Grab, das kein Menschenauge gefunden hat.
Reiche Ernte hatte der Tod gehalten auf dem Nordstrande in dieser Oktobernacht. Tot war Edleff, der starke Deichgraf, der einen eisernen Deich bauen wollte, und mit ihm im Tode vereint Etta, welche ihres Vaters liebstes Kind gewesen war, und die der Sturmwind ihres Herzens verweht hatte.
Tot war Klaus Rickmers, der Kleier und Prophet, der sich vermessen hatte, vorauszuwissen Tag und Stunde, und daß der große Gerichtstag und der Untergang aller Welt kommen werde am letzten Sonntage vor dem Advent dieses selben Jahres. Das Gericht war gekommen, aber um vier Wochen seiner Weissagung zuvor.
Tot war seine Tochter, die einst mit ihrem Sohne hinausfahren wollte auf das freie Meer und weit, weit, wohin kein Nordstrandinger je gekommen. Und sie trieb mit der Strömung hinaus in das Westmeer, und die Arme der toten Mutter drückten noch das Kind ihrer Schmach an die kalte Brust.
Tot waren sie, mehr als sechstausend Menschen, und wer zählt ihre Namen? Sie sind in kein Totenregister eingetragen und in keinem Kirchenbuche der zwanzig untergegangenen Kirchspiele aufgezeichnet worden.