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Zu früher Morgenstunde kam Gransfeld in das Postamt von Gorla. Dort gab es eine größere Anzahl von Schaltern mit verschiedenen Schildern. An dem einen konnte man Briefmarken in kleinen, am andern in größeren Mengen kaufen, hier waren Versicherungsmarken zu haben und dort wurden Telegramme angenommen. Jetzt fand Gransfeld, was er suchte. »Postlagernde Briefe« versprach das Schild über einem fünften Schalter. An diesen trat er heran.
Das Glasfenster war heruntergelassen. Ein anderes Schild stand dahinter: »Für kurze Zeit geschlossen.«
Ungeduldig stampfte Gransfeld auf den Boden. Verwünscht, wenn man's so eilig hatte wie er und die Herren Postbeamten gingen frühstücken oder waren sonstwie unabkömmlich! Jede Minute war kostbar. Es konnte kritisch werden, wenn die Person, die hinter der Chiffre X. C. 17 steckte, ihm zuvorkam oder gar mit ihm am Schalter zusammentraf.
Er sah sich im Raum um. Dort war ein Mann, der gerade ein Telegramm aufgab, da ein Kind, das von dem Schalter »Briefmarken in größeren Mengen« an den andern »Briefmarken in kleinen Mengen« verwiesen wurde, vier Fünfpfennigmarken verlangte und auch erhielt. Neben ihm, vor dem geschlossenen Schalter, stand ein jüngeres weibliches Wesen mit einem Marktkorb. Eine Hausangestellte konnte es sein, die ebenso ungeduldig wartete wie er selbst. Verstohlen musterte er sie. Von den postlagernden Briefen abgesehen, war alles andere auch an den andern Schaltern zu haben. Kaum ein Zweifel, daß diese Anna oder Minna gleichfalls Interessentin für postlagernde Briefe war. Nur die Frage blieb noch unentschieden, ob sie wohl für eigene Rechnung oder etwa im Auftrage eines Dritten kam. Dumm, wenn X. C. 17 jener Dritte war. Ungeschickter noch, wenn X. C. 17 etwa selber kam, was doch schließlich jeden Augenblick geschehen konnte. Mit wachsender Unruhe behielt Gransfeld die Eingangstür zum Postamt im Auge.
Ein Geräusch hinter ihm veranlaßte Gransfeld, sich umzudrehen. Das verhängnisvolle Schild wurde weggezogen, das Schalterfenster ging in die Höhe. Schneller als er war das Mädchen mit dem Korb am Fenster, setzte zum Sprechen an, stotterte, wurde rot und verlegen, versuchte es nochmals und verhaspelte sich dabei erst recht.
Der Beamte versuchte ihr zu helfen. »Na, na, Fräuleinchen, mal erst ganz ruhig! Mir können Sie alles sagen. Sie wollen wohl einen postlagernden Brief abholen? Von Ihrem Bräutigam natürlich, Fräuleinchen. Was soll's denn sein?«
»Ach ja, Herr Sekretär! Ich – ich wollte – sollte mal fragen, ob nicht unter ›Röschen‹ was da ist.«
Der Beamte griff in ein Fach hinter sich, zog einen Stapel von Briefen heraus und blätterte sie mit berufsmäßiger Geschwindigkeit durch. »Hier, Fräuleinchen, da haben wir's ja, ein Brief für ›Röschen‹. Die Post sorgt für alle ihre Kunden.«
Das Mädchen nahm den Brief in Empfang und zog vergnügt ab.
Gransfeld trat an den Schalter. »Ich erwarte postlagernde Briefe unter Chiffre X. C. 17.«
Gewohnheitsmäßig begann der Beamte den Stapel zu durchblättern.
»X. C. 17.« Während er die Chiffre halblaut wiederholte, hielt er plötzlich mit dem Blättern inne. Irgendein Bedenken schien ihm zu kommen. Prüfend musterte er Gransfeld und fragte dann: »Ich habe doch recht verstanden? X. C. 17 sagten Sie?«
Gransfeld hatte das Zögern bemerkt. Blitzschnell arbeitete sein Gehirn. Nur eine Erklärung gab es für das merkwürdige Verhalten des Beamten. Es mußten schon öfter Briefe unter dieser Chiffre hier gelagert haben, wahrscheinlich so oft, daß der Mann hinter dem Schalter auch die Person, die sie abzuholen pflegte, im Gedächtnis behalten hatte. Gransfeld fühlte, daß er etwas tun müsse, um den aufkommenden Argwohn zu zerstören. »Ganz recht, X. C. 17. Unter anderm erwarte ich einen Brief aus Genf«, sagte er mit erzwungener Ruhe.
»Aus Genf? Einen Augenblick!« Der Beamte begann abermals in dem Stapel zu blättern und zog einen Brief heraus. Jetzt griff er zum zweiten Male einen Umschlag, nickte vor sich hin und ließ mechanisch noch den Rest des Stapels durch die Finger gleiten. »X. C. 17 aus Genf. Stimmt, mein Herr. Bitte, hier ist ein Brief – und hier noch ein zweiter.«
»Ich danke.« Gransfeld nahm die Briefe an sich und verließ das Postamt.
Kopfschüttelnd schob der Beamte den Pack postlagernder Briefe wieder in das Fach. Die alte bekannte Chiffre – der sie abholte, ein Unbekannter – er bedauerte, daß seine Dienstvorschrift ihm nicht gestattete, einen Ausweis von ihm so völlig fremden Menschen zu fordern. –
Es herrschte bereits Dunkelheit, als zwei Wanderer von der Landstraße auf einen schmalen Feldweg abbogen.
»Hier mußt du führen, Rudi. Den Weg bist du ja schon einmal gegangen«, sagte Doktor Gransfeld.
»Jawohl, Herr Doktor. Ich kenne die Gegend wieder. Der Weg bringt uns unmittelbar an den Bahndamm, und dann geht's links weiter, bis wir zum Nordtor kommen.«
Schweigend verfolgten sie den schmalen Pfad durch die Wiesen und gingen am Bahndamm weiter.
Eine Gestalt tauchte aus dem Dunkel vor ihnen auf.
»Hallo, Gransfeld!«
»Bist du's, Rübesam?«
»Hier Rübesam! Man kann in der Finsternis nicht die Hand vor den Augen sehen. Seid ihr endlich glücklich ran?« Er schüttelte Gransfeld die Hand.
Unter der Führung Rübesams gingen sie weiter, bis, von einigen Laternen schwach beleuchtet, ein mächtiges eisernes Tor auftauchte. Der Chemiker ließ sie durch eine kleine Seitenpforte, die er sogleich wieder verschloß, in das Werk und führte sie zu seiner Wohnung.
»So, da sind wir. Macht's euch bequem! Und nun schieß los, Gransfeld! Am Telephon warst du fast noch wortkarger als in deinen Briefen. Ich bin gespannt wie – wie, na, sagen wir mal, wie ein Flitzbogen.«
»Du wirst die Gründe verstehen, Rübesam. Ein Telephongespräch kann zufällig von einem Dritten gehört werden. Briefe können in Hände geraten, für die sie nicht bestimmt sind, ich habe erst heute früh ein Beispiel davon erlebt.« Nun begann Gransfeld ausführlich sein Abenteuer zu berichten.
In steigender Erregung folgte der Chemiker seiner Erzählung. »Und den Brief, Gransfeld, hast du ihn?«
Gransfeld griff in die Tasche. »Einen Brief? Nein, gleich zwei. Doppelter Segen!« Er legte die Briefe vor sich hin. »Das Schreiben unserer Freundin aus Rumänien hilft uns leider nicht weiter.« Er schob Rübesam den einen Brief hin.
Dieser betrachtete ihn und schüttelte den Kopf. »Chiffriert! Da soll doch der Teufel draus klug werden! Die Bande benutzt bestimmt eine Geheimschrift, die kein Mensch ohne den Schlüssel entziffern kann.«
Gransfeld nahm den Brief wieder an sich. »Schadet nichts, Rübesam. Eines Tages werden wir auch den Schlüssel haben und diese Hieroglyphen lesen. Der Dame Dimitriescu soll nichts geschenkt werden. Aber was sagst du dazu? Der zweite Brief ist unchiffriert. Offenbar hat der edle Megastopoulos den Inhalt nicht für wichtig genug gehalten, um sich die Mühe zu machen. Wenn er eine Ahnung gehabt hätte, daß gerade ich den Brief in die Finger bekommen sollte, dann wäre er vielleicht anderer Meinung gewesen.«
Der Chemiker hatte nach dem zweiten Brief gegriffen. In dem äußeren Umschlag steckte noch ein kleinerer mit der Aufschrift: »An van Holsten weiterzugeben.« In diesem Umschlag lag ein kurzes Schreiben, das Rübesam durchflog.
»Für den Eingeweihten ist alles vollkommen klar, Gransfeld. In zwei Tagen treffen sie sich in Paris im Ritz-Carlton. Mynheer van Holsten – der Mensch muß also noch in Gorla stecken – soll einen amerikanischen Nabob, mit dem er irgendwie persönlich bekannt ist, wissen lassen, daß dein Freund Megastopoulos ihm ein seltenes und wertvolles Kunstwerk vorführen will. Er soll ihn ordentlich scharf auf die Sache machen. Gewinnbeteiligung: ein Viertel des erzielten Preises. Hm, eine gewisse Großzügigkeit kann man Herrn Megastopoulos bei seinen Geschäften nicht absprechen. Ja, mein lieber Freund, wenn du da rechtzeitig zur Stelle bist und richtig zufaßt, dann hast du einige Aussicht, deine Statuette wiederzubekommen.«
»Die Statuette und den Mann, Rübesam.«
Der Chemiker zuckte die Achseln. »Ob du den kriegen wirst, ist mir ziemlich zweifelhaft. Überlege doch, bitte, einmal! Der Diebstahl ist von einem Manne aus Kleinasien an einem Deutschen in Ägypten begangen worden, und in Frankreich soll der Dieb verhaftet werden. Wird schwer zu machen sein. Sei zufrieden, wenn du die Statuette zurückbekommst!«
Gransfeld schlug auf den Tisch. »Das werden wir sehen! Jedenfalls will ich sofort nach Paris und den Burschen stellen. Ich muß heute noch mit dem Nachtzug abreisen. Und jetzt komme ich mit einer Bitte.«
Rübesam nickte. »Ist im voraus gewährt, Gransfeld, wenn sich's irgendwie machen läßt.«
»Ja also, ich möchte Rudi für die Zeit meiner Abwesenheit deiner Obhut übergeben.«
»Ach, Herr Doktor, ich soll immer hier bleiben, wenn Sie verreisen! Paris möchte ich auch gern kennenlernen.«
»Still, Rudi, nicht aufgemuckt!« unterbrach Rübesam den Jungen. »Das ist übrigens ein guter Gedanke, Gransfeld. Hier im Werk, bei mir in meiner Wohnung, wird die Bande den Jungen zu allerletzt vermuten. Ich glaube, hier ist er so sicher wie in Abrahams Schoß. Hauptsache ist nur, daß er in der Wohnung bleibt und sich nirgends außerhalb des Hauses sehen läßt.«
Rudi machte ein mißmutiges Gesicht. Die Aussicht, daß er hier sozusagen in Stubenarrest in der Bude hocken sollte, während Doktor Gransfeld nach Paris fuhr, gefiel ihm durchaus nicht.
Halb ärgerlich, halb lachend suchte Rübesam ihm die Sache schmackhaft zu machen. »Sei zufrieden, Junge, daß du dich hier einmal ein paar Tage in Ruhe erholen kannst! Solltest doch von der Bande nachgerade genug haben. Sieh mal, hier«, er wies auf die Bücherregale an der Wand, »da ist genug Lesefutter, das deinem Schnabel munden dürfte. Das wird dir die Langeweile vertreiben.«
Interessiert musterte Rudi die Bücherreihen. Seine Mienen hellten sich wieder einigermaßen auf, als er einige seiner Lieblingsschmöker entdeckte. »Aber Sie werden auch nicht zu lange fortbleiben, Herr Doktor?«
»Höchstens eine Woche, Rudi. Versprich mir, solange vernünftig zu sein und Herrn Rübesam zu folgen! Die ganze Sache wird zwecklos, wenn dich irgendeiner von der Bande hier zu Gesicht bekommt.«
Nach dem Abendessen brachte der Chemiker seinen Freund wieder durch das Nordtor des Werkes hinaus und geleitete ihn bis zum Bahnhof, während Rudi sich in die Abenteuer eines Indianerbuches vertiefte. –
Am Nachmittag des gleichen Tages kam Henke auf das Postamt und ging an den Schalter für postlagernde Briefe. »Ist etwas unter X. C. 17 da?«
Der Beamte sah ihn einen Augenblick an. »X. C. 17? Sie haben Ihre Briefe doch schon heute früh abgeholt – oder abholen lassen! Wird wohl kaum etwas Neues da sein.«
Während der Postbeamte in dem Briefstapel blätterte, wandte Henke sich ab. Röte und Blässe wechselten in seinen Zügen. Er mußte erst Fassung gewinnen, bevor er dem Beamten sein Gesicht wieder zeigen konnte. Jemand anders war hier gewesen und hatte die unter X. C. 17 lagernden Briefe abgeholt? Wer zum Satan konnte das gewesen sein? Der Bengel? Er atmete kurz auf. Der war Gott sei Dank erledigt. Der verdammte Doktor? Ausgeschlossen. Der war nach Genf abgereist. Wer aber – wer konnte seine Briefe hier abgeholt haben?
Er hörte die Stimme des Beamten und wandte sich wieder dem Schalter zu. »Es ist doch noch etwas gekommen. Hier ein Brief X. C. 17 aus London.«
Henke griff nach dem Brief. Einen Augenblick zögerte er. Wenn er den Beamten nur fragen, wenn er in Erfahrung bringen könnte, wie der aussah, der hier seine Briefe abgeholt hatte! Doch er sah keine Möglichkeit. Jede Frage seinerseits mußte Verdacht erwecken, mußte die Sache, die schon schlimm genug war, noch schlimmer machen.
Mit kurzem Dank ging er vom Schalter fort und trat an eines der Schreibpulte. Hastig riß er den Brief auf und erblickte die krausen Buchstabengruppen der Chiffreschrift. Ein höhnischer Zug spielte um seine Lippen. Mochte die andern Briefe abgeholt haben, wer da wollte! Ohne den Schlüssel würde der doch nicht klug werden, ohne den Schlüssel, den nur die Wissenden besaßen. Aus der Brusttasche zog er ein winziges Heftchen und begann mit dessen Hilfe den Brief Wort für Wort zu entziffern. Der übliche Anfang! Er runzelte die Stirn. Wieder einmal hatte die Londoner Zentrale allerlei an seiner Arbeit auszusetzen. Sollten's doch selber machen, die schlauen Herren in England, wenn sie alles besser wußten!
Er las weiter und merkte kaum, daß der Federhalter in seiner gekrampften Rechten wie ein Streichholz zerbrach. Was war das? Was schrieb die Londoner Zentrale da? Pfuscharbeit? Falscher Bericht? Der vermaledeite Lümmel, der Wagner, gesund und munter in Genf angekommen? Die Knie wankten ihm, schwer stützte sich sein Körper auf das Pult. Wagner lebendig in Genf? Hatte ihn die Hölle genarrt, damals, als er den Dampf in den Kessel ließ, als er den Todesschrei hörte? Wenn der noch am Leben war, dann wurde es am Ende Zeit, von hier zu verschwinden.
Nur allmählich gewann Henke so viel Fassung, daß er weiterlesen konnte: Der Junge und der Doktor jetzt in Genf – werden dort durch die Organisation erledigt – Luft rein – laufendes Geschäft in Gorla mit Nachdruck weiterbetreiben – starker Bedarf an Ware.
Er suchte sich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen. Sein Anschlag war mißlungen. Rätselhaft, vollkommen rätselhaft, wie dies möglich war! Doch es war so. Aber die Organisation war hinter den beiden her, würde hoffentlich – sicherlich, verbesserte er sich in Gedanken – Mittel und Wege finden, sie unschädlich zu machen. Während er den Brief und den Chiffreschlüssel in seine Brusttasche schob, faßte er den Entschluß, wenigstens vorläufig auf seinem Posten auszuharren.
Jenen Brief, der für van Holsten bestimmt war und Gransfeld in die Hände fiel, hatte Megastopoulos selbst auf dem Genfer Bahnhof in den Postzug gesteckt. Er war dann in das »Hotel des Etrangers« zurückgekehrt. Bei einer Tasse Tee, die er sich in den Leseraum bringen ließ, zog er das Ergebnis der letzten Tage.
Dumm war die Sache in Yvoire. Es würde einige Mühe und Bestechungsgelder kosten, um da wieder alles in Ordnung zu bringen. Noch unangenehmer war aber die Geschichte mit Bouton. Es war wirklich unverantwortlich von Morton, sich derart hinreißen zu lassen. Es würde schwerhalten, auch diese Angelegenheit mit Geld wieder glatt zu machen. Jedenfalls mußte es versucht werden, und zwar möglichst schnell. Er beschloß, Bouton noch im Laufe des Tages aufzusuchen und die Sache wieder einzurenken. Morton durfte jedenfalls Bouton nicht wieder vor die Augen kommen. Megastopoulos kannte die Rachsucht dieser Romanen gut genug, um das vollkommen zu begreifen. Der Schotte mußte aus Genf verschwinden, sobald er das jetzige Unternehmen zu Ende gebracht hatte.
Megastopoulos warf einen Blick auf die Wanduhr. Zwei Uhr. Wenn alles gut ging, war Morton jetzt schon auf dem Gletscher, und wenn es diesmal endlich klappte . . . Unwillkürlich mußte er jenes Tages in Syut gedenken, an dem er George Gransfield zum letzten Male gesehen hatte. Die Statuette! Viel einfacher und gefahrloser würde sich der Verkauf tätigen lassen, wenn die verdammten Spürhunde endlich erledigt waren.
Der Hotelportier kam mit zwei Herren in den Lesesaal. Prüfend blickten die beiden sich um, sprachen leise ein paar Worte mit dem Portier und gingen dann geradeswegs auf den Griechen zu. »Paßkontrolle mein Herr! Dürfen wir Ihren Paß sehen?«
Während Megastopoulos in die Brieftasche griff, überschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Gewiß, Paßkontrollen wurden bisweilen vorgenommen, doch weshalb kamen die Polizeibeamten zuerst zu ihm? »Bitte sehr, meine Herren!« Er hielt ihnen seinen Paß hin. Nach kurzer Prüfung gaben die Beamten ihn zurück. »Danke sehr! Ihre Papiere sind in Ordnung.«
Wieder sprachen die Beamten mit dem Portier. Megastopoulos strengte seine Ohren auf das äußerste an und hörte Bruchstücke der Unterhaltung.
»Mister Morton ist mit dem Frühzug nach Cluses gefahren – kann vor morgen abend kaum hier sein. – Ja, sein Gepäck ist noch hier.«
Megastopoulos rührte mechanisch mit dem Löffel in seiner Tasse, in der kein Tee mehr war. Die Polizei hier im Hotel und an Morton interessiert? Dieser mußte sofort gewarnt werden, durfte am besten gar nicht mehr ins Hotel zurückkommen. Doch wie sollte er ihn erreichen? Ob er ihm gleich nachfuhr? Megastopoulos verwarf den Gedanken, fand keine andere Möglichkeit, sann unschlüssig hin und her.
»Ein Telegramm für Monsieur Megastopoulos!« Der Ruf des Hotelpagen riß ihn aus seinen Gedanken.
»Ja, geben Sie her! Das ist für mich.«
Während er nach der Depesche griff, bemerkte er eine zweite in der Hand des Pagen und sah die Adresse: »An Mister Morton«.
»Die können Sie auch hier lassen. Ich gehe gleich nach oben und werde sie Mister Morton selber geben.«
Die beiden Depeschen in der Hand, eilte Megastopoulos auf sein Zimmer. Er riß die erste auf und las: »Dienstagabend 8 Uhr Picadilly-Street.« Erst jetzt sah er, daß es die für Morton bestimmte Depesche war, und öffnete nun auch die andere. Sie enthielt den gleichen Text.
Die Organisation rief sie beide nach London. Noch am Abend mußte er reisen, wenn er die Frist innehalten wollte. Was sollte aus Morton werden? Fuhr er allein fort, dann rannte dieser hier blindlings der Polizei in die Hände. Was sollte er tun?
Während die Stunden träge dahinschlichen, machte Megastopoulos sein Gepäck fertig und ließ es zum Bahnhof bringen. Er sah keinen Weg, Morton sofort zu erreichen. Nur die eine Möglichkeit blieb, einen Brief für ihn beim Portier zu hinterlegen. Wenn Morton morgen abend bei der Rückkunft dieses Schreiben gleich erhielt und wenn er sofort danach handelte, dann konnte die Sache vielleicht noch glimpflich ablaufen.
Megastopoulos setzte sich an den Tisch und schrieb den Brief. Ein ausführliches Schreiben wurde es, das Morton vor der drohenden Gefahr warnte und ihm riet, unverzüglich unter Zurücklassung seines Gepäckes Genf zu verlassen und schnellstens nach London zu kommen. Doch während der Grieche den Klartext Wort um Wort verschlüsselte, kamen ihm wieder Zweifel, ob das Schreiben seinen Zweck erfüllen würde. In Gedanken malte er sich aus, wie Morton morgen, vielleicht auch erst übermorgen, zurückkommen würde, je nach dem Ausgang des Unternehmens verdrossen oder in guter Laune. Er würde den Brief erhalten und natürlich gar nicht daran denken, ihn sofort zu lesen. Er würde auf sein Zimmer gehen und sich erst einmal den unvermeidlichen Whisky mit Soda bestellen. Ungenutzt würde er kostbare Viertelstunden verstreichen lassen, und inzwischen mußte das Verhängnis sich erfüllen.
Als Megastopoulos das Hotel verließ, um zum Bahnhof zu gehen, hatte er wenig Hoffnung, daß seine Warnung Morton rechtzeitig erreichte. Da bis zum Abgang des Zuges noch reichlich Zeit war, schlenderte er langsam durch die Straßen. Plötzlich stutzte er. An der nächsten Straßenecke erblickte er einen langen Touristen, der die genagelten Bergschuhe klirrend auf das Pflaster setzte. Schnell lief er auf ihn zu. »Gott sei Dank, daß ich Sie noch treffe, Morton!«
Der andere knurrte ihn zornig an. Seit Stunden hatte er sich in den Gedanken verrannt, daß der Grieche ihn wegen seines Mißerfolges verspotten würde, und war entschlossen, ihm sofort gehörig über den Mund zu fahren. »Weg sind die Hunde! Wie vom Erdboden verschwunden waren sie in Cluses«, knirschte er wütend und wollte weitergehen.
»Halt! Keinen Schritt weiter, Morton!«
»Nonsense, lassen Sie mich!«
»Mister Morton, die Polizei wartet im ›Hotel des Etrangers‹ auf Sie.«
Der Schotte stutzte, fragte und erhielt Antwort. In wenigen Sekunden wandelte sich sein Wesen. Aus einem blindwütigen, zu jeder Gewalttat bereiten Manne wurde im Augenblick ein klar denkender und überlegender Mensch.
»Well, Megastopoulos! Wir haben noch eine Stunde bis zum Abgang des Zuges. Ich werde zum Bahnhof vorausgehen und die Karten lösen. Sie müssen wohl oder übel noch einmal ins Hotel, mein Gepäck fertigmachen und die Rechnung bezahlen.«
So geschah es, daß Mister Morton in der Ausrüstung eines Alpinisten von Genf nach Calais fahren mußte und daß die schweizerische Polizei vergebens auf seine Rückkunft vom Arvegletscher wartete.
Sie kam nur in den Besitz eines chiffrierten Briefes, dessen Entzifferung auch den geübtesten Dechiffreuren dieser erfahrenen Behörde unmöglich war. Einstweilen wurde das Schriftstück zu den Akten genommen.
Erst auf dem Kanalboot nach Dover kam Mister Morton in die Lage, sich wieder einigermaßen standesgemäß anzuziehen. Am Vormittag traf er in seiner Wohnung in der Picadilly-Street ein, und als es Abend wurde, begannen die Mitglieder des Bundes sich dort zu versammeln. Viele waren es, die diesmal kamen. Etwas Bedeutendes mußte vorliegen, das den Chef veranlaßt hatte, seine wichtigsten Leute, soweit sie in Kürze erreichbar waren, zusammenzurufen.
Mit dem achten Glockenschlag eröffnete Mac Andrew die Besprechung. Viel häufiger als jemals in früheren Versammlungen gebrauchte er dabei das Wort »leider«. »Gentlemen, ich muß Ihnen leider mitteilen, daß in Port Said Verhaftungen vorgekommen sind. Die ägyptische Polizei hat unsern Agenten Tarantola geraume Zeit beobachtet. Sie hat fünf Unteragenten, die wegen der Ware zu ihm kamen, festgenommen und zuletzt ihn selbst verhaftet.«
Stimmengewirr unterbrach den Chef. Die ägyptische Polizei hatte plötzlich zugegriffen. Wie war das möglich?
»Leider, Gentlemen, ist es so. Es haben sehr genaue Nachrichten vorgelegen. Man hat auch die Vorräte Tarantolas beschlagnahmt.«
»Unmöglich!« – »Unerhört!« – »Verrat!« scholl es dem Sprecher aus der Versammlung entgegen.
Dieser gebot Ruhe. »Ich bin noch nicht zu Ende, Gentlemen. Die ägyptische Polizei hat auch unsern Agenten Rasati verhaftet, als er an Land war. Die Polizisten sind dann an Bord der ›Usakama‹ gekommen und haben seine Vorräte ebenfalls beschlagnahmt.«
Wieder wuchs Stimmengewirr empor. Ägyptische Polizei an Bord eines deutschen Dampfers? Unerhört! Von wem ging das aus? Hatte der deutsche Konsul da seine Hand im Spiele?
Mac Andrew wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte. »Gentlemen, der deutsche Konsul in Port Said ist ein sehr korrekter Herr. Amtlich hat er mit der Sache nichts zu tun. Amtlich geht alles von dem neuen Kommandeur der ägyptischen Polizei in Port Said aus, den wir leider noch nicht bearbeiten konnten.«
»Aber inoffiziell?« – »Wie ist das zugegangen?« – »Was ist geschehen?« So kamen Fragen aus der Gesellschaft.
»Ich bin in der Lage, Gentlemen, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Unser Mittelsmann in Port Said war zwar nicht mehr imstande, Rasati und Tarantola rechtzeitig zu benachrichtigen – seine Warnung kam leider eine halbe Stunde zu spät – doch er hat mir genauen Bericht über das gegeben, was wirklich geschehen ist.«
Während der letzten Worte hatte Mac Andrew ein Schriftstück aus der Tasche genommen. »Mister Perbrandt, der deutsche Konsul in Port Said, bekam einen Brief aus Deutschland. Ich habe die Kopie hier, Gentlemen.« Er deutete auf das Schriftstück. »In diesem Brief werden Rasati und Tarantola als gewerbsmäßige Händler bezeichnet, und es wird mitgeteilt, wo sie ihre Vorräte aufbewahren. Mister Perbrandt hat den Brief mit einem kurzen Anschreiben dem neuen Polizeikommandeur zugeschickt, und dieser – ich sagte ja bereits, daß wir noch nicht an ihn heran konnten – hat kurzerhand zugegriffen. So ist das geschehen, Gentlemen. Sieben von unsern Leuten sind verhaftet und ihre Vorräte beschlagnahmt worden.«
Wieder erhob sich Lärm. »Der Schuft!« – »Der Lump!« – »Wer ist der verräterische Hund?« – »An den Galgen mit ihm!«
Mac Andrew sprach weiter: »Sie wollen wissen, Gentlemen, wer den Brief geschrieben hat? Das kann ich Ihnen sagen. Der Brief ist unterzeichnet: Doktor Gransfeld.«
Ein kurzes Aufbrausen in der Gesellschaft, dann tiefe Stille. Alle, die hier versammelt waren, kannten den Namen. Sie hatten auch gehört, daß es ein gefährlicher Spion war, dessen Beseitigung die Organisation mit allen Mitteln betrieb.
Mac Andrew steckte den Brief wieder ein. »Gentlemen, wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, die dieser Mensch für unsere Organisation bedeutet.«
»Der Schuft muß beseitigt werden, er und der verdammte Bengel!« unterbrach Morton.
Mac Andrew blickte ihn scharf an. »Ruhe, Mister Morton! – Gentlemen, zu der vorliegenden Sache möchte ich sagen, daß unsere Mittelsleute mit allen Kräften an der Arbeit sind, um die Verhafteten wieder loszubekommen. Leider – ich darf das nicht verschweigen – wird uns die Angelegenheit viel Geld kosten. Wir werden deshalb gezwungen sein, die Preise für unsere Ware zu erhöhen.«
Mac Andrew machte eine Pause, um das Stimmengewirr, das seine letzten Worte wieder erweckt hatten, abflauen zu lassen. Erst nach geraumer Zeit konnte er fortfahren. »Gentlemen, ich verstehe und teile Ihre Entrüstung. Es ist in der Tat unerhört, daß das Auftreten dieses Menschen, eines einzelnen Mannes . . .«
»Den Bengel nicht zu vergessen!« rief Morton dazwischen.
». . . unsere Geschäftsführung derart stören konnte. In den letzten Jahren haben wir bei einem Aufschlag von dreitausend Prozent auf die Ware gut verdient. Aber die Spesen für die Zwischenfälle der letzten Zeit fangen an, den Nutzen aufzufressen. Wir werden in Zukunft dreieinhalbtausend Prozent nehmen müssen.«
Wieder hielt er inne und gab der Versammlung Gelegenheit, sich zu dem Vorschlag zu äußern. Ein erregtes Hin- und Herreden entstand im Zimmer.
»Dreieinhalbtausend Prozent! Viel Geld!« – »Das ist gleich; wenn es sein muß, muß es eben sein. Unsere Kundschaft zahlt schließlich jeden Preis.« – »Aber wir haben nichts davon; es geht alles für die Unkosten drauf.« – »Warum? Weil der Hund uns in die Quere kommt; der Schuft muß weg!«
»Gentlemen, die Lage ist außerordentlich ernst. Für den Augenblick ist es diesem Doktor Gransfeld gelungen, unser ganzes Geschäft nach Ägypten lahmzulegen. Unsere Mittelsleute auf den Schiffen weigern sich, für uns zu arbeiten, solange diese Gefahr nicht beseitigt ist.«
Fäuste ballten sich, Worte flogen durch den Raum.
»Dem Schuft ein Messer in die Rippen!« brüllte Morton wütend.
Mac Andrew unterbrach ihn. »Gentlemen, Sie wissen, daß ich die Beseitigung dieses Menschen und seines Helfershelfers schon bei unserer letzten Zusammenkunft angeordnet habe. Die Ausführung dieses Planes ist bisher nicht möglich gewesen. Im Augenblick – ich bedaure außerordentlich, das sagen zu müssen – hat unsere Organisation jede Spur der beiden verloren. Wir wissen nur, daß ihr Gepäck noch in Genf lagert und daß sie das »Hotel du Lac« zu einem Ausflug in das Arvetal verlassen haben.«
»Genarrt haben sie uns!« schrie Morton. »Ich habe im selben Zug mit ihnen gesessen. Spurlos sind sie zwischen Genf und Cluses verschwunden.«
»Also, Gentlemen, müssen wir sie zurzeit an jedem Punkte Europas vermuten und uns dementsprechend einrichten. Mister Megastopoulos hat in Genf Gelegenheit gefunden, sie zu photographieren. Ich habe sofort Kopien der Bilder an unsere Agenten verschickt. Wo die beiden jetzt auch auftauchen – unsere Leute werden sie kennen . . .«
». . . und das Urteil vollstrecken«, vollendete Morton den Satz.
»Ich hoffe es, Gentlemen. Trotzdem dürfen wir den Ernst der Lage durchaus nicht unterschätzen. Es besteht sicherer Verdacht, daß Doktor Gransfeld mehrere unserer Mitglieder genau kennt. Bis zu seiner Erledigung müssen wir gewisse Umgruppierungen vornehmen. Es muß vermieden werden, daß diese Mitglieder womöglich den beiden nochmals über den Weg laufen.«
Seine letzten Worte gingen im Stimmengewirr unter. War es doch das erstemal seit dem Bestehen der Organisation, daß ein einzelner Gegner die Gesellschaft zu so weitgehenden Maßregeln zu zwingen vermochte.
Mac Andrew ließ den Sturm vorübergehen und sprach dann weiter: »Mistreß Dimitriescu wird bis auf weiteres bei unserer Vertretung in Paris tätig sein.«
»Oh, Mister Mac Andrew, warum soll ich nach Paris gehen?« fragte die Rumänin.
»Weil Doktor Gransfeld Sie kennt«, war die kurze Antwort des Chefs. »Mister Megastopoulos wird auf deutschen und englischen Linien den Dienst nach Newyork übernehmen.«
Der Grieche widersprach nicht. Er empfand ein Gefühl der Erleichterung bei dem Gedanken, daß die neuen Anordnungen des Chefs ihn der gefährlichen Nähe dieses Doktors entrückten.
Mac Andrew fuhr in seinen Anweisungen fort: »Die Organisation braucht einen geschickten Mann für Ägypten. Es ist unbedingt notwendig, den neuen Polizeikommandeur in Port Said auf unsere Seite zu bringen. Freilich ist Ägypten ein gefährlicher Boden. Sie kennen die ägyptischen Verhältnisse genau, Mister van Holsten. Würden Sie den Auftrag übernehmen?«
Nur einen Augenblick zögerte der Holländer, dann bejahte er die Frage.
»Gut, Mister van Holsten. Doch ich wiederholte es: der Auftrag ist gefährlich. Sie werden alle Ihre Künste nötig haben.«
»Ich werde sie zu gebrauchen wissen, Mister Mac Andrew«, entgegnete van Holsten und lehnte sich gleichmütig in seinen Klubsessel zurück. »Aber Geld wird die Sache kosten. Ich fürchte, so billig, wie Megastopoulos den alten Kommandeur gekauft hat, werden wir den neuen nicht bekommen.«
»Das Geld ist da, van Holsten. Die Hauptsache ist, daß der Mann gewonnen wird. Wie Sie es machen, das bleibt Ihre Sache. – Ich habe Ihnen endlich noch mitzuteilen, daß unser Mitglied Rasmussen mich gebeten hat, auf seine Mitarbeit im laufenden Geschäft zu verzichten. Ich habe zuverlässige Nachrichten, daß er in der Tat krank ist, und habe deshalb seiner Bitte entsprochen. Wir werden nur noch in dringenden Fällen auf ihn zurückgreifen. – Sie, Morton, werden morgen mit mir für einige Zeit nach Schottland gehen.«
Mit diesen Mitteilungen war die Sitzung beendet. Der Chef verließ als erster den Raum; nach ihm brachen die andern auf.
Morton blieb allein zurück. Er klingelte dem Butler, ließ sich Whisky-Soda und die Abendpost bringen. Ein Brief war darunter mit deutscher Marke, Poststempel Gorla. Es war eine Meldung von X. C. 17, daß ein Unbekannter dessen Briefe am Schalter abgeholt hatte, weiter die Bitte, die postlagernden Briefe künftig unter der andern beigegebenen Chiffre zu senden.
Morton ließ den Brief sinken und stürzte ein Glas Whisky herunter. Ein anderer hatte die Korrespondenz für X. C. 17 in Gorla abgehoben! War dieser verteufelte Doktor wieder in Gorla? War der es gewesen? Seine Faust schlug auf den Tisch, daß Gläser und Flaschen tanzten.