Hans Dominik
König Laurins Mantel
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Oswald Winterloo saß in seinem Büro in Rio de Janeiro. Die Nachrichten von Wildrakes Brief und Tat hatten ihn wie ein Donnerschlag getroffen. Es war klar, daß der Tollkühne sich damit außerhalb des Gesetzes stellte. Menschlich begreiflich war sein Verhalten vielleicht; aber gesetzlich durch nichts zu rechtfertigen. Schwerste Strafe mußte ihn treffen, wenn er in die Hände seiner Gegner fiel. Die vielen Stimmen, die damals für Wildrake eintraten, als ihm der Prozeß wegen seiner Kriegshandlungen gemacht werden sollte, mußten jetzt schweigen.

Im eigenen Volke freilich würde sein Tun freudigen Widerhall finden. Die Geschichte wohl aller Völker kannte ja Beispiele genug, wie die Taten solcher waghalsiger Männer verschieden gewertet wurden: von den Freunden verherrlicht, von den Feinden als Verbrechen gebrandmarkt. Wildrakes Feind war Brasilien. Es erklärte ihn in Acht und Bann. Er, Winterloo, war brasilianischer Bürger. So durfte es für ihn keine andere Auffassung geben als die seiner Regierung.

Edna?! Immer tiefer die Schlucht, die ihn von ihr trennte. Mußte er nicht nach Pflicht und Ehre jedes wärmere Gefühl für sie unterdrücken?

Ein Bote trat ein, brachte seine Privatpost. Obenauf ein amtliches Schreiben. Er öffnete es und las. Je weiter er kam, desto erregter wurde er.

Was war das? Wäre das möglich? Über ein Jahr war vergangen, daß Victoria und ihre Eltern den Tod gefunden. Und jetzt?

Da fiel sein Blick auf ein Briefblatt, das als Anlage beigefügt war. Seine Augen eilten darüber hin. Sein Herz stockte.

Der Inhalt dieser Zeilen – deutlich erinnerte er sich daran. War's doch der letzte Brief gewesen, den er an Victoria Tejo geschrieben hatte! Das Blatt, eine amtliche Kopie, brachte wortgetreu den Text.

Er sprang auf, ging im Zimmer auf und ab. Solch merkwürdige Verkettung von Umständen! Und die Erklärung erst jetzt! Mit Mühe gelang es ihm, sich zu sammeln. Noch einmal nahm er das Schreiben vor. Es kam von der Polizeiverwaltung in São Salvador.

Vor drei Tagen waren in einer hochgelegenen Schlucht des Plateaus von Matogrosso, die wegen ihrer Unzugänglichkeit und Unwirtlichkeit selten von eines Menschen Fuß betreten wurde, die Trümmer eines Flugzeuges gefunden worden. Die Leichen der Insassen wurden als zweier Männer und zweier Frauen festgestellt. Alle außer der einen, die eine jüngere weibliche Person zu sein schien, waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt; etwaige Erkennungspapiere durch die Witterungseinflüsse vernichtet. Jedoch fand sich in der Tasche des jungen Mädchens ein Brief ohne Umschlag, auf dem der Name Oswald Winterloo als Absender angegeben war.

Die Polizeiverwaltung bat um Auskunft, ob er in der Lage sei, die Leichen zu agnoszieren. Winterloo griff sich an die Stirn. Waren das wirklich, wie es den Anschein hatte, die Leichen von Victoria und ihren Eltern – die vierte wohl die des Piloten –, dann war ja die ganze Feststellung, sie seien beim Brande von São Salvador umgekommen, ein Irrtum gewesen . . .

Unwillkürlich stiegen Gedanken, Bilder in ihm auf, die er unwillig beiseite schob. Er mußte sofort nach São Salvador. Aber vorher mußte er versuchen, Tejo zu sprechen. Doch wo war er? Ihre Verbindung war seit längerer Zeit abgebrochen. Endlich am nächsten Tage gelang es ihm, den Aufenthalt des Majors in Brasilia festzustellen. Das nächste Flugzeug brachte ihn dorthin.

Als er bei Tejo eintrat, machte der ein erstauntes Gesicht, fragte kühlen Tones nach seinen Wünschen.

Winterloo erklärte in wenigen Worten den Zweck seines Kommens, übergab Tejo das Schreiben aus Bahia. Der las es, wandte sich dann ab. Stand hoch atmend lange. Gewiß – waren seine Angehörigen für ihn auch längst tot, so erschütterte ihn die Nachricht von dieser so ganz anderen Katastrophe doch aufs tiefste.

Endlich drehte er sich um. »Du kommst zu mir, weil du annimmst, die Toten seien meine Eltern und Victoria? Ich selbst habe kaum Zweifel, daß es sich so verhält. Wir wissen ja, daß in den Trümmern unseres Hauses keine Spur von ihnen gefunden wurde. Ich eile sofort nach Bahia, um mir Gewißheit zu verschaffen. Es dürfte kaum nötig sein, daß du mich begleitest.«

Winterloo unterdrückte die scharfen Worte, die ihm auf der Zunge lagen. Er verneigte sich kurz. »Ich sehe, es ist dein Wunsch, allein zu fahren. Ich überlasse dir diese Papiere und bitte dich, mir von deinen Erkundungen Nachricht zu geben.«

Mit steifem Gruß verließ er das Zimmer. – – –

Ein paar Tage später traf abermals ein Schreiben der Polizeiverwaltung von São Salvador ein. Es bestätigte, daß die Leichen der in dem Flugzeug verunglückten Passagiere mit Bestimmtheit als die des Ehepaares Tejo und ihrer Tochter Victoria erkannt worden seien.

*

Ein paar Wochen waren vergangen. Die tägliche Frage: »Wo steckt Wildrake?« begann zu verstummen. Einige Zeitungen hatten bald nach der Torpedierung der beiden Panzerschiffe mit Tatarennachrichten das Publikum in Aufregung gehalten. Bald hier, bald da sollte Wildrakes U-Boot gesichtet worden sein. In Schiffahrtskreisen wurde man unruhig, bis das Kriegsamt den Sensationsmachern das Handwerk legte. Das Rätselraten, wo Wildrake seine Stützpunkte haben könnte, woher das Boot stamme, wer ihm Waffen und Betriebsstoffe lieferte, begann die Leser immer weniger zu interessieren. Die umfassenden Vorsichtsmaßregeln, die unausgesetzte Wachsamkeit ließen wohl kaum noch etwas befürchten.

Da weckte wie schnell aufeinanderfolgende Blitzschläge eine Reihe furchtbarer Ereignisse die Sorglosen.

Die »Pelotas«, das größte, neueste Flugzeugmutterschiff der brasilianischen Marine, befand sich mit achtzig Flugzeugen an Bord auf einer Marschfahrt von Fernando de Noronha nach Süden. Auf dem dreiundzwanzigsten Grad südlicher Breite und dem sechsundzwanzigsten Grad westlicher Länge wurde sie am achtzehnten April in der zehnten Abendstunde von zwei Torpedoschüssen mitschiffs getroffen. Die Besatzung vermochte noch die Boote klarzumachen und sich in Sicherheit zu bringen. Dann sank die »Pelotas« in die Tiefe.

Auf die SOS-Rufe der »Pelotas« war ein leichtes Kreuzergeschwader von vier Schiffen von seinem Heimathafen ausgelaufen. Das Divisionsschiff an der Spitze, das Geschwader in Kiellinie. Der Kommandant steht über die Karte gebeugt. Die Schiffe fahren mit äußerster Maschinenkraft, und doch wird es nicht möglich sein, vor Anbruch des Morgens die Unfallstelle zu erreichen.

Wo mochte Wildrake stecken? Würde er sich wiederum irgendwo »verkriechen« wie damals? Der Kommandant schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht an das »Verkriechen«, wie die Zeitungen es auszudrücken beliebten. Nach allem, was er von Wildrake wußte, mochte der wohl besondere Gründe für die lange Untätigkeit gehabt haben.

Im Gegenteil würde er vielleicht gar die Gelegenheit benutzen, Schiffe, die zur Hilfe herbeieilten, anzugreifen. Die dunkle Nacht war wohl geeignet dafür. Es galt auch für den Kommandanten des Kreuzergeschwaders, rechtzeitig Sorge zu tragen, daß er nicht selbst von Wildrake überrumpelt würde. Doch noch trennten ihn ja über zweihundert Seemeilen vom Ort des Überfalls. Selbst wenn Wildrake mit stärkst forcierter Fahrt nach Norden jagte, war ein Zusammentreffen mit ihm vor der vierten Morgenstunde nicht denkbar. Immerhin beschloß der Kommandant alsbald, alle Vorsichtsmaßregeln zu treffen.

Da rissen ihn zwei schnell aufeinanderfolgende Detonationen aus seinen Gedanken. Er fuhr herum, sah hinter sich. Die beiden folgenden Schiffe . . . einen Augenblick raubte ihm die Überraschung den Atem. Die Schiffe waren torpediert, hatten schon schwere Schlagseite. Die Positionslichter zeigten es untrüglich an.

Der Maschinentelegraph spielte in der Hand des Kommandanten. Der Kreuzer drehte im scharfen Bogen ab. Da, bei dem letzten Schiff, das eben aus der Kiellinie ausschor, eine schwere Explosion. Der Kreuzer war zwischen die Schrauben getroffen, das Hinterschiff aufgerissen. Der Bug hob sich immer höher aus dem Wasser. Kurze Zeit nur, und das Schiff versank in den Wogen. – –

»Eine Schreckensnacht!« Die Schlagzeile der Morgenzeitungen von Rio de Janeiro. Die »Pelotas« und drei Kreuzer versenkt! Wildrake? Nein, die Entfernung zwischen den beiden Unglücksstellen war ja so groß, daß nicht dasselbe U-Boot, das die »Pelotas« torpedierte, auch die Kreuzer vernichtet haben konnte.

Die Bestürzung und Verwirrung in den Hafenstädten war unbeschreiblich. Kaum wagten es Schiffe mit brasilianischer Flagge, die Häfen zu verlassen. Das Marineamt wurde mit entrüsteten Anfragen überschüttet.

Der nächste Morgen brach herein. Noch zitterten in allen die Gedanken an die furchtbaren Ereignisse der vorletzten Nacht, da trafen Nachrichten ein, die geeignet waren, neues Entsetzen in ganz Brasilien hervorzurufen.

Feindliche Flugzeuge hatten im Laufe der Nacht durch Bombenabwürfe die Kraftwerke von Porto Allegre schwer beschädigt, die Munitionsfabriken in Campinas und Goyaz vernichtet. Die gegen Mittag eintreffende Nachricht, ein Marinetransportdampfer sei zwanzig Meilen vor Bahia versenkt, fand zunächst keine besondere Beachtung. Doch bald darauf erkannte einfachste Überlegung, daß die U-Boot-Gefahr überall vorhanden war.

Drei U-Boote? Ein Flugzeuggeschwader? Woher nahm Wildrake solche Kräfte? Nur eine Meinung: Bruch des Waffenstillstandes! Venezuelische Waffen! Nichts anderes konnte es sein.

Ein heftiger Pressefeldzug gegen Venezuela begann. Von allen Seiten wurde die Regierung bestürmt, die Friedensverhandlungen sofort abzubrechen und den Krieg fortzusetzen. In den Ministerien reihten sich erregte Konferenzen aneinander. Der Außenminister Torno hatte einen schweren Stand. Von Caracas kamen die heiligsten Beteuerungen, es sei ausgeschlossen, daß venezuelische Kräfte in Aktion getreten. Man bat um Entsendung einer Kommission, um die Angaben der venezuelischen Regierung nachzuprüfen.

Eine kleine Beruhigung trat ein, als von Bahia gemeldet wurde, daß man Teile eines abgeschossenen Torpedos aus der See aufgefischt habe, die unzweifelhaft als englisches Fabrikat erkannt wurden. Eine gereizte Stimmung gegen Albion war die Folge, noch durch die dortigen offenen Sympathiekundgebungen für Wildrake geschürt.

Die umfassendsten Maßregeln wurden getroffen, um Wildrake auf die Spur zu kommen. Er mußte doch irgendwo Schlupfwinkel haben. Um die zu finden, war ein Heer von Agenten und Spionen auf die Beine gebracht. Ihr Augenmerk war in erster Linie auf die englischen Besitzungen im südlichen Atlantik gerichtet.

Aufs höchste stieg die Erregung, als am Abend des nächsten Tages neue Hiobsposten kamen, die die Verwirrung noch weiter steigerten. Im Hafen von Trinidad waren zwei brasilianische Kreuzer versenkt worden!

Man glaubte zunächst an ein Minenattentat. War's doch längst bekannt, daß es dort in Asien seit einiger Zeit schon gärte. Doch die nähere Untersuchung ergab, daß es sich um Torpedos handelte. Ein viertes U-Boot dort?

Neue Nachrichten aus Venezuela verhießen ebenfalls nichts Gutes. Dort war es überall anläßlich der Ereignisse zu heftigen Kundgebungen für Wildrake und gegen Brasilien gekommen, die von der Regierung nur mit Waffengewalt unterdrückt werden konnten.

*

Ein kleines Hochplateau bei Berinao in den östlichen Kordilleren. Pichincha nannten es die Indios. Ein schmaler Weg, der an der Seite eines schäumenden Wildbaches dorthin führte, war der einzige für Menschen beschreitbare Zugang. Hierhin hatte sich Guerrero mit seinen Leuten zurückgezogen.

Die Regierung wollte oder vielmehr konnte es nicht wagen, tatkräftig gegen ihn vorzugehen. Der Friede war trotz aller Schwierigkeiten in absehbarer Frist zu erwarten. Dann war noch immer Zeit, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Vorläufig begnügte man sich damit, ihn unter Beobachtung zu halten, damit er nicht etwa durch Zuzug anderer unzufriedener Elemente eine bedrohliche Machtstellung erlange. Daß die Berichte, die die Regierung erhielt, nicht der Wahrheit entsprachen, entging ihr.

In Wahrheit wuchs Guerreros Macht von Tag zu Tag. Zwar fehlte es nicht an Warnungen. Doch die Regierung, ganz in Anspruch genommen von den Schwierigkeiten ihrer Friedensunterhändler, schenkte jenen Mahnungen wenig Beachtung. Als die ersten Nachrichten von Wildrakes Taten ins Land drangen, schien sie erst zu fühlen, wie der Boden unter ihr schwankte. Doch die Regierung in Caracas wähnte sich wieder Herr der Lage, als es gelang, die kleinen lokalen Aufstände im Land mit strenger Hand zu unterdrücken. Die Gefahr, die sie in erster Linie von Seiten Guerreros befürchtet hatte, blieb aus. – –

Ein Flugzeug, von Westen kommend, setzte auf dem Plateau von Pichincha auf. Im Nu war es von einer Schar Bewaffneter umringt, die neugierig unter lauten Rufen dem Aussteigenden entgegendrängten.

»Viva Venezuela libre! Viva el Capitan Wildrake!« rief er.

Durch das Jubeln der Masse drang ein lauter Ruf: »Ah! Antonio Barradas! Bist du's oder dein Geist?«

Der Flieger nickte grüßend einem Offizier zu, der sich nach vorn drängte. »Gutes Zeichen, dich als ersten hier zu begrüßen!«

Voller Wiedersehensfreude lagen die beiden sich in den Armen. »Ist der Oberst hier?« fragte Barradas, der sich neben Roca mit Mühe einen Weg durch die Menge bahnte.

»Gewiß! Wo soll er anders sein? Ich führe dich sofort zu ihm.«

Ein Weg von einer Viertelstunde brachte sie zu einem Blockhaus. »Hier unser Hauptquartier, Barradas! Ah! Da ist er schon, der Oberst!«

Bei ihrem Nahen trat Guerrero aus dem Gebäude. Die straffe Gestalt in Militäruniform. Aus dem gebräunten Gesicht, dessen linke Hälfte durch eine blutrote Narbe entstellt war, leuchteten klare, durchdringende Augen.

Roca stellte Barradas vor. Mit einer höflichen Verneigung lud Guerrero ihn in das Innere seines Hauses. Roca, in dem Gefühl, hier nicht länger gebraucht zu werden, blieb auf der Bank draußen. Doch seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Stunden verrannen, und noch immer verweilte Barradas da drinnen.

Endlich öffnete sich die Tür. Barradas trat heraus, das knochige Gesicht gerötet, die Augen voll freudigen Glanzes.

Roca sprang auf. »Hallo, Barradas! Das hat ja lange gedauert! Ich will nicht fragen. Ich denke mir wohl, nach deiner Miene zu schließen, daß du zufrieden bist?«

»Gut, Roca, daß du gewartet hast! Der Oberst verwies mich an deine Hilfe.«

»Ah! Gern bereit! Was willst du?«

Barradas dämpfte seine Stimme. »Ich brauche ungefähr acht Leute. In erster Linie solche, die bei der Marine waren und, wenn möglich, auch mit einem Flugzeug umzugehen wissen. Lauter zuverlässige Männer jedenfalls, die schon bewiesen haben, daß sie bereit sind, ihr Leben fürs Vaterland herzugeben.«

»Das dürfte nicht schwerfallen, Barradas. Ich werde dir binnen einer halben Stunde acht Burschen vorführen, die gewillt sind, den Teufel aus der Hölle zu holen. Doch wie willst du sie von hier wegbringen?«

»In meinem Flugzeug.«

»Oho! Wird das kleine Ding neun Menschen tragen, dazu Treibstoff in genügender Menge? Ich nehme an, dein Weg ist weit!«

»Keine Angst, Roca! Schade, daß du nicht selbst mitkannst. Du würdest bald einige Überraschungen erleben. Doch der Oberst mag dich nicht entbehren. Im übrigen versäume nicht, uns mit Radionachrichten auf dem laufenden zu halten! Den Codeschlüssel für die Wellenlänge bewahre sorgfältig auf!«

Und tatsächlich! Zum Erstaunen Rocas und der anderen Neugierigen erhob sich Barradas' Schiff mit der großen Last ohne Schwierigkeit vom Boden, verschwand in schneller Fahrt gen Westen.

*

Die »Susanna« folgte ihrem Kurs von Tobago nach Santa Maria. Ihr Befehlshaber Calleja beobachtete mit dem Fernstecher den Rumpf eines anderen Schiffes, das allmählich hinter der Kimme im Osten untertauchte.

»Der Truxtondampfer ist verschwunden«, wandte er sich an die Besatzung.

Vier neue Gesichter an Bord der »Susanna«: die Hälfte der Schar, die Barradas von Pichincha nach Santa Maria gebracht hatte. Verwegene, energische Gesichter, denen leicht abzulesen war, daß sie sich im Notfall wirklich nicht scheuen würden, mit dem Teufel selber anzubinden.

»Der Captain könnte jetzt mit der ›Venezuela libre‹ kommen!« meinte Calleja.

»Vielleicht«, warf einer der Umstehenden ein, »war die kleine Reparatur doch nicht so schnell erledigt?«

Calleja stimmte ihm bei. »Dann heißt's also scharf Ausguck halten, damit wir ihn nicht verfehlen. Sein Verbrauch an Knallbonbons war ja für den Anfang recht vielversprechend. Nun, was wir da jetzt von dem Truxtondampfer übernommen haben an Torpedos, Bomben, Minen, dürfte für einige Zeit genügen. Denn, offen gesagt, diese Transportfahrten zur Küste hier, um Material und Munition zu holen, erscheinen mir nicht ganz unbedenklich. Man könnte uns dabei doch mal erwischen!«

Calleja und zwei der Leute gingen nach unten in die Messe. Kaum hatten sie ihr Mahl beendet, klang die Stimme des Mannes vom Ausguck.

»U-Boote voraus!«

Im Nu waren die anderen wieder nach oben gestürmt. »Was? U-Boote? Wo siehst du sie?«

Der Ausguckposten deutete nach vorn, wo ein halbes Dutzend U-Boote in Überwasserfahrt in Dwarslinie herankam.

»Ruder Backbord!« schrie Calleja dem Steuermann zu, eilte selbst zur Brücke, um die Fahrt der »Susanna« aufs äußerste zu beschleunigen. Brummte dabei vor sich hin: »Kaum hat man vom Wolf gesprochen, ist er schon da! Ganz sicher Brasilianer. Aber wir werden ihnen eine Nase drehen. Unser braver Kasten läuft mindestens fünf Knoten schneller als die.«

Da! Infolge des Steuermanövers der »Susanna« waren die U-Boote so nahe herangekommen, daß man sie mit dem Glas genau beobachten konnte. Von dem Flügelboot – jetzt auch von dem zweiten – und nun von allen – – sechs Flugzeuge stiegen auf, glitten fächerförmig auseinander. Die Außenenden ihrer Kurve weit vorgebogen, näherten sie sich der »Susanna« – offensichtlich, um sie einzukreisen.

Ohne Kommando hasteten alle außer Calleja, der am Ruder blieb, zu den Abwehrgeschützen am Bug. Doch die beiden Kanonen waren überlagert von Kisten und Geräten. Noch ehe man die Hindernisse weggeräumt, stand ein Flieger über ihnen, ließ eine Briefboje auf das Deck der »Susanna« fallen. Gleichzeitig prasselte zur Warnung ein Kugelregen aus Maschinengewehren dicht vor ihnen ins Wasser.

Calleja ließ stoppen, öffnete die Boje, las: »Sofort halten! Untersuchung durch U-Boote abwarten! – Niemals!« schrie er den Gefährten zu. »Lieber sprengen wir unser Schiff!«

Die U-Boote hatten sich währenddessen in einem Halbkreis um die »Susanna« auf die Lauer gelegt. Calleja sah, wie man eine Pinasse klarzumachen begann. Als sei dies ein Zeichen für die Flugzeuge, ließen sie von der »Susanna« ab und jagten in Geschwaderformation in der Richtung des entschwundenen Truxtondampfers davon. Die »Susanna« lag ja sicher unter den Kanonen der U-Boote. In wenigen Minuten waren die Flieger außer Sicht.

Die Pinasse war inzwischen zu Wasser gebracht. Die Mannschaft stieg ein.

»Kein Brasilianer soll lebend das Deck der ›Susanna‹ betreten!« knirschte Calleja. »Sobald sie heran sind, fliegt das Schiff in die Luft.«

Er eilte nach unten.

*

»Ah! Bravo! Endlich scheinen wir den Burschen über den Hals zu kommen!« rief Marineminister Aposta seinem Adjutanten zu, der ihm die Radionachricht brachte, ein Motorschiff »Susanna« sei auf 33 Grad südlicher Breite, 38 Grad westlicher Länge mit Hilfe von Flugzeugen umstellt und gefaßt. Die Flugzeuge unterwegs, um einen verdächtigen englischen Dampfer festzuhalten.

»Suchen Sie telephonische Verbindung mit Major Tejo! Ihm ist es zu danken, daß wir dieser Fährte nachspürten.« –

Einem gerissenen Pressemann gelang es, von dieser Nachricht Wind zu bekommen. Kurz darauf eilte sie wie ein Lauffeuer durch die Stadt und nahm bei der Weitererzählung von Mund zu Mund immer gewaltigere Ausmaße an.

»Wildrake gefangen!« war der Schwanz der Riesenente. – –

Noch ratterten die gigantischen Maschinen der Zeitungsdruckereien mit Feuereifer in voller Arbeit, um die Jubelbotschaft in Millionen von Exemplaren zu vervielfältigen, da traf ein Radiotelegramm ein, das den Giganten in den Arm fiel. Die weiten Hallen der Druckereibetriebe, sonst vom Kreischen und Donnern der Rotationspressen erfüllt, lagen minutenlang in tiefster Stille.

Ein neuer Satz wurde eingefügt. Wieder begannen die Maschinen zu arbeiten. Doch fast schien es, als ob sie nur zögernd, widerwillig die veränderte Nachricht druckten.

»Riesenflugzeug Wildrakes!« lautete jetzt die Überschrift. Die Kunde kam von U. IV. 80, dem einzigen geretteten Rest der brasilianischen U-Boot- und Flugschiff-Flottille.

Der vom Marineministerium ausgegebene Bericht besagte folgendes:

»Unter 33 Grad südlicher Breite, 38 Grad westlicher Länge war ein Motorschiff ›Susanna‹ unbekannter Nationalität von einem unserer U-Boot-Geschwader, bestehend aus sechs Booten, mit Hilfe von ebensoviel Flugzeugen angehalten worden. Zum Stoppen aufgefordert, gehorchte die ›Susanna‹. Da ein Entkommen des Schiffes nicht zu befürchten war, entsandte der Kommandant die sechs Flugzeuge zur Verfolgung eines Dampfers, von dem man vermutete, daß er der ›Susanna‹ Konterbande ausgeliefert habe.

Die Flieger waren bereits außer Sicht, als der Kommandant eine Pinasse mit Bewaffneten abgehen ließ, um das Motorschiff zu untersuchen. In diesem Augenblick stieß plötzlich ein Luftfahrzeug, das in außerordentlich großen Höhen herangekommen war und deshalb erst so spät entdeckt wurde, in steilem Gleitflug herab. Ein Flugschiff von erstaunlichen Formen. Über einem Unterbau von außergewöhnlichen Abmessungen ein Paar Riesenflügel. Noch ehe man sich über die Absichten der ebenso unbekannten wie überraschenden Erscheinung klar werden konnte, begann das rätselhafte Schiff die U-Boote mit Wasserbomben und Lufttorpedos schwersten Kalibers zu überschütten. Die Wirkung war über alle Vorstellung verheerend. Soweit die Boote nicht sofort durch die Lufttorpedos erledigt wurden, brachten die Wasserbomben sie zum Sinken.

Lediglich dem Führerschiff gelang es zu tauchen und, trotz Beschießung mit Wasserbomben, zu entkommen. Auch war kurz zuvor ein Funkbefehl an das Flugzeuggeschwader ergangen, auf der Stelle umzukehren und sich gegen den unerwarteten Feind zu wenden.

Als nach einer Weile unser U-Boot sich so weit an die Oberfläche wagte, um mit dem Periskop Umschau zu halten, wurde es Zeuge des Kampfes zwischen dem Flugzeuggeschwader und dem fürchterlichen Gegner. Dieser entwickelte trotz seiner Größe eine weit überlegene Schnelligkeit. In geschickten Kurven wich er den Angreifern aus. Beschoß sie aus einer Entfernung, in der ihn das Maschinengewehrfeuer nicht erreichen konnte, mit Geschützen.

Vergeblich die todesmutigen Angriffe unserer Flieger. Ohne dem Feind Schaden zufügen zu können, stürzte einer nach dem andern ab. Das entkommene U-Boot war selbst so schwer havariert, daß es nicht daran denken konnte, in das Gefecht einzugreifen. Es beobachtete jedoch noch, wie das fremde Flugfahrzeug neben der ›Susanna‹ auf das Wasser ging und von dem Motorschiff Ladung übernahm. Dann flog das Flugschiff in östlicher Richtung weiter, während die ›Susanna‹ ihre Fahrt westwärts fortsetzte.«

Bei der Eile, in der die Blätter gedruckt wurden, war es unmöglich, dem amtlichen Bericht Kommentare beizufügen. Die Marinebehörde weigerte sich, nähere Erklärungen abzugeben. In ihren Abendausgaben brachten die Zeitungen keine weiteren offiziellen Mitteilungen. Wohl aber veröffentlichten sie Mutmaßungen von Sachverständigen aller Art, die versuchten, das Rätsel des geheimnisvollen Flugschiffs zu lösen.

Die Bedeutung des seltsamen Unterbaues verursachte besonderes Kopfzerbrechen. Die meisten Stimmen äußerten sich dahin, es müsse sich wohl um ein Wasserflugzeug für hohen Seegang handeln. Doch bei Untersuchung der Frage, wie ein solches Flugzeug mittels der üblichen Treibstoffe überhaupt längere Zeit sich in der Luft zu halten vermöge, waren sich alle darüber einig, daß ein Stützpunkt in nächster Nähe gelegen sein müsse, da der Aktionsradius nur als sehr gering zu veranschlagen sei. Die nächste Küste war sehr weit entfernt. Spuren, die man schon früher entdeckt, führten in der Tat dorthin. Doch wie es selbst unter diesen Umständen möglich war, Geschütze an Bord mitzuführen und daraus zu feuern, das spottete jeder Erklärung. Wer war der Erfinder dieser furchtbaren Kriegsmaschine? Wo war sie gebaut? Rätsel über Rätsel!

Wie in Brasilien, wurden auch in der übrigen Welt diese überwältigenden Leistungen Wildrakes besprochen und bestaunt. Das Geheimnis seines Fahrzeugs war allerorten Gegenstand lebhafter Meinungsverschiedenheiten. Der Bericht einer finnischen Zeitung, daß die sonderbare Konstruktion eine Vereinigung von U-Boot und Flugschiff darstelle, wurde wegen der offenbaren Unsinnigkeit gar nicht beachtet.

*

»Senhor Moleiro!« meldete der Diener.

William Hogan wandte sich hastig um, drehte die Lampe des Schreibtisches so, daß er sich im Schatten des grünen Schirmes befand. Moleiro trat ein, nahm den gebotenen Platz.

»Ihr telegraphischer Bericht, Senhor Moleiro, bedarf noch einiger Ergänzungen. Ich ließ Sie deshalb zu mir kommen. Wiederholen Sie nochmals kurz, was Sie in der bewußten Angelegenheit auf Ihrer schottischen Reise ermittelt haben!«

»Ich war genötigt, um neugierigen Fragen aus dem Wege zu gehen, eine Reihe von Grundstücken zu kaufen, darunter auch das bewußte am Fluß mit der Hütte des Fischers. In Edinburg gelang es mir, einen vertrauenswürdigen Arzt zu gewinnen, der bereit war, bei der Exhumierung der Leiche tätig zu sein.

Ich allein besorgte das Öffnen des Grabes. In geringer Tiefe stieß ich auf die vermoderten Reste eines Sarges. Nachdem ich alle Holzteile sorgfältig entfernt, kam ein menschliches Skelett zum Vorschein. Ihrem Wunsche gemäß ließen wir die Überbleibsel möglichst unberührt. Der Arzt stieg zu mir in die Grube und begann seine Untersuchung.

Das Ergebnis ist Ihnen ja bekannt, Mr. Hogan. Der Arzt agnoszierte die Leichenreste als die eines jungen Mädchens – etwa zwanzig Jahre alt, blondhaarig, nach Bildung des Kopfes und der Gliedmaßen wohl einer höheren Gesellschaftsklasse zugehörig. Der Arzt versprach, wenn er den Schädel mitnehmen dürfe, eine ungefähre Nachbildung der äußeren Umrisse der Verstorbenen anfertigen zu lassen. Doch Ihrem Befehl zufolge lehnte ich dies ab.«

»Und Sie fanden keinerlei Gegenstände, die der Verwesung getrotzt haben? Schmucksachen vielleicht?«

Moleiro senkte verlegen den Kopf, zögerte mit der Antwort.

»War da nicht etwa ein Ring?« kam Hogans Frage in einem Ton, der den anderen zwang, klar zu antworten.

»Allerdings, Senhor Hogan! Ein Ring. Er lag zwischen den Knochen der linken Hand.«

»Wie sah er aus? Wo ist er?«

»Ich steckte ihn zu mir. Nachdem wir das Grab wieder zugeschüttet hatten, gingen wir in die Hütte, wo der Arzt in meiner Gegenwart ein Protokoll über seinen Befund niederschrieb. Dabei lag der Ring auf dem Tisch. Es war ein schmaler Damenring mit drei kleinen Brillanten ohne besonderen Wert.« Nach einer kleinen Pause fuhr Moleiro unsicher fort: »Der Ring lag links neben mir auf dem Tisch. Rechts von mir saß der Arzt. Als er fertig war und ich aufstand, wollte ich den Ring wieder an mich nehmen. Aber er war verschwunden!«

Hogan machte eine heftige Bewegung. »Ich suchte ihn selbstverständlich unter Beihilfe des Arztes überall. Wußte ja, daß er ein wertvolles Erkennungsmerkmal sein mußte. Doch alles vergeblich. Der Ring blieb unauffindbar.«

Hogan stand auf. Als er an Moleiro vorüberschritt, erschrak der. Sekundenlang waren seine Augen dem Blick Hogans begegnet, der ihn in unverhülltem Zorn anblitzte. Moleiro senkte schuldbewußt den Kopf, verwünschte innerlich seine Unachtsamkeit, den Ring nicht sofort sorgfältig verwahrt zu haben.

Es dauerte geraume Zeit, ehe Hogan, der hinter Moleiros Rücken unaufhörlich das Zimmer durchmaß, seine Beherrschung wiedergewann. Er schritt zu seinem Stuhl, wollte sich darauf niederlassen. Da hielt er plötzlich an. Die Füße wie festgewurzelt am Boden, den Oberkörper weit zurückgebeugt. Er wollte sich aufrichten, taumelte.

Moleiro sprang hinzu, suchte ihn zu stützen. »Senhor Hogan, was ist Ihnen?«

Der stieß ihn zurück, trat einen Schritt vor, beugte sich zu Boden. Moleiros Augen folgten Hogans stummem Blick. Da lag ein Ring! Hogan hob ihn auf, trug ihn zum Schreibtisch.

»Ah!« Moleiro preßte einen Schrei der Überraschung hervor. »Der Ring! Da ist er ja!« Er ergriff ihn mit zitternden Fingern, betrachtete im Schein der Lampe die funkelnden Steine, den Reifen, die Fassung.

»Er ist's!« Moleiro suchte sich zu fassen, sah auf Hogan, fuhr stotternd fort: »Doch wie kommt er hierher?«

»Das frage ich Sie, Senhor Moleiro! Ich gestehe, die Überraschung war groß für mich. Doch jetzt, bei näherer Überlegung – – nur Sie können ihn hierhergebracht haben!«

Moleiro trat unruhig hin und her, stammelte wirre Entschuldigungen: »Gewiß – wenn Sie, Senhor Hogan, es sagen – es muß wohl so sein! Aber ich verstehe es nicht. Die Kleidung, die ich in Schottland trug, ließ ich dort. Wenn er in einer Tasche gesteckt hätte, so wäre es unmöglich, daß er dann in diesen Anzug gekommen wäre, ohne daß ich ihn hineingetan. Und ich – –«

»Gehen Sie jetzt, Senhor Moleiro!« Hogans Stimme hatte wieder den alten, ruhigen Klang. »Der Auftrag, ich gebe es zu, mag Ihre Nerven angegriffen haben. Sie sind auf acht Tage beurlaubt. Halten Sie sich weiter zu meiner Verfügung!«

Moleiro, sichtlich beruhigt über die freundlichen Worte, ging zur Tür, öffnete sie. Während er sich umwandte, schlüpfte ein kleines Windspiel herein, das freudig an Hogan emporsprang. Der streichelte ihm zärtlich den schmalen, feinen Kopf, warf ihm ein Stückchen Zucker zu, das durch das Zimmer rollte.

Da, kaum einen Schritt von dem Zucker entfernt, blieb das Windspiel stehen, fing an, wütend zu kläffen. Hogan sah lächelnd dem Hund zu, der mit dem Zucker zu spielen schien. Doch als das Tier nicht mit dem Bellen aufhörte, stand er selbst auf, nahm den Zucker, hielt ihn dem Windspiel vor. Aber es wandte den Kopf, hastete, bald vorwärts-, bald zurückspringend, nach der Tür.

»Bilhao!« Hogan wurde zornig. »Hierher zu mir!«

Der Hund folgte widerwillig, legte sich zu Hogans Füßen auf den Boden, den Kopf knurrend zur Tür gerichtet.

Eine Erinnerung tauchte in Hogan auf. Er schloß sekundenlang die Augen – –

Damals, vor dreißig Jahren, an jenem Schicksalstage, als er mit seinem Vater in Roßmore-Castle zusammensaß –: Hektor, sein alter Jagdhund – hatte der nicht auch solch auffälliges Gebaren gezeigt, so, als wäre eine dritte Person im Zimmer, die – –?

Ganz deutlich stand jetzt alles vor seinen Augen.

Und »Bilhao« – ebenso heftig erregt wie damals Hektor! Ein Fremder hier? Er fuhr sich über die Augen, machte eine jähe Bewegung. Der Hund deutete sie falsch, sprang auf, eilte zur Tür, fuhr aufheulend zurück.

Blitzschnell griff Hogan in die Tasche. Eine Waffe funkelte in seiner Hand, zwei Schüsse fuhren krachend in der Richtung, wo Bilhao eben gestanden, in die Tür.

Das Splittern im Holz verscheuchte die gespenstigen Gedanken. Hogan atmete tief. Narr, der ich bin! Damals wie heute meine Nerven . . .

Da wurde die Tür aufgerissen. Ein paar Diener eilten angstvoll herein, blieben erstaunt stehen, als Hogan sie mit ruhig lächelnder Miene empfing.

»Keine Furcht, José!« redete er den einen an. »Eine kleine Schießübung. Die Löcher da in der Tür – ihr seht sie ja! Geht nur wieder!«

Als Hogan allein war, schwand seine künstliche Gelassenheit. Unruhvoll ging er im Zimmer auf und ab. Bilhao schlich ängstlich neben ihrem Herrn hin und her. Doch jetzt, an der Tür, blieb sie stehen, neigte schnuppernd die Nase. Hogan sah's und ging auf den Hund zu, schob ihn zur Seite. Was sah er da? Er beugte sich so tief hernieder, daß er kniete.

Zwei Blutstropfen auf dem Boden! Blut – Blut – Hogan wischte mechanisch mit dem Finger darüber, hielt ihn ans Licht. Blut – Menschenblut?!

Er schlug die Hände vors Gesicht. Ein inneres Grausen schüttelte ihn. Er wandte sich um, stürmte wie ein Wahnsinniger durch den Raum.

Bin ich toll geworden? Ich, William Hogan, der Mann mit den eisernen Nerven, wie sie mich nennen? Sollen Erinnerungen an Zeiten, die ein Menschenalter zurückliegen, mich jetzt noch wahnsinnig machen können? War ich's damals geworden . . . Doch heute?

Mit einem Ruck blieb er stehen, starrte in den Spiegel neben ihm. War das sein Bild? Diese verzerrten Züge, diese übernatürlichen großen Augen, diese zerfurchte Stirn? Doch was darauf? . . . Ein roter Streifen? Er nahm das Taschentuch, wischte über die Stirn. Rot – wie Blut!

Wo kam das her? Bei der Tür die Blutstropfen! Ah – er entsann sich: Mit den Fingern hatte er die Tropfen berührt, dann in der Erregung die blutigen Finger an die Stirn gebracht. Natürlich! So war's! Es konnte ja nicht anders sein!

Er tauchte das Tuch in ein Wasserglas, säuberte die Finger, die Stirn. Das kühle Naß tat ihm wohl. Er riß die Tür zum Schlafzimmer auf, erfrischte dort Gesicht und Hände. Atmete wohlig auf.

Meine Nerven sind zerrüttet. Nichts anderes! Torheit, daß ich Moleiro nach Schottland sandte! Wozu das alles? . . . Vivian ist tot –!

Er ging in das Arbeitszimmer zurück. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, auf den glitzernden Ring unter der Lampe. Er riß ein Fach des Schreibtisches auf, warf den Ring hinein, schloß es ab. Schloß ab mit allem, was – –

Die Tür ging auf. Der Sekretär trat ein. »Die Konferenz, Senhor Hogan! Der Wagen steht vor der Tür!«

»Ich komme sofort!« Er folgte dem Sekretär, der das Zimmer verließ. Doch da, einen Schritt vor der Tür – er fuhr zurück – –

Die Blutstropfen! Da waren sie ja noch! Keine Täuschung seiner erregten Sinne! – Er schlug hart auf die Klinke, daß die Tür aufsprang. In scheuem Bogen drückte er sich an den roten Flecken vorbei.

*

Die Sitzung bei Torno. Man hatte den Vortrag des Marineministers angehört, der dafür eintrat, die äußersten Machtmittel anzuspannen, um dieses furchtbaren Gegners Herr zu werden. Zum Schluß streifte Torno noch einmal den Stand der Friedensunterhandlungen in Manaos. Wie immer, drängte der Marineminister auf Abbruch der Verhandlungen, während Torno ebenso heftig dagegensprach.

Da stand Hogan auf, begann zu reden. Wie unter körperlichen Schmerzen quollen die Worte von seinen Lippen:

». . . Friedensschluß mit Venezuela um jeden Preis!«

Die anderen blickten ihn verständnislos an. Der Marineminister rief ihm entrüstet zu: »Senhor Hogan, wollen Sie Ihren Scherz mit uns treiben?«

Auch Torno verließ seine gewohnte Ruhe. Ein solches Ansinnen aus Hogans Mund?

Der sprach unbeirrt weiter: »Nach den zuverlässigen Berichten meiner Agenten dürfte der Sturz der jetzigen venezuelischen Regierung nur noch eine Frage von Tagen sein. Die neue Regierung, mit Guerrero als Haupt, wird bis zum letzten Atemzug kämpfen.«

Hogan hob abwehrend die Hand gegen den Kriegsminister. »Sie wollen sagen, Senhor Revelador, daß wir doch Sieger bleiben werden – und so weiter . . . Caracas besetzen – das Ziel Ihrer Wünsche ist uns ja bekannt!« Er hielt inne. »Sie mögen denken, wie Sie wollen! Ich will mich nicht darauf einlassen, Ihnen die Gründe für meine Meinungsänderung zu erklären. Meine Ansicht über das, was zu tun ist, ist ja, da ich nur als Gast hier weile, für Ihre Beschlußfassung nicht maßgebend. Ich wiederhole nur noch einmal: Die Friedensverhandlungen sind um jeden annehmbaren Preis so rasch wie möglich zum Abschluß zu bringen, da eine Fortsetzung des Krieges unter den jetzigen Umständen die Opfer nicht lohnt.«

Torno nickte Hogan leise zu. Die anderen beiden verharrten in eisigem Schweigen. Hogan erhob sich, wollte gehen. Da trat ein Adjutant ein, überbrachte eine Depesche an Aposta.

Der riß sie auf. Seine Brauen verengten sich. Dann las er vor: »Die Arsenale von Manaos durch Bombenabwürfe zur Explosion gebracht. Die Stadt in Flammen. Die Friedensunterhändler haben den Ort fluchtartig verlassen.«

Der Marineminister zerknitterte wütend das Blatt in seiner Hand. »Verflucht, dieser Wildrake! Steht er mit dem Teufel im Bunde? Es ist ja, als kämpften wir mit Schatten.«

Schatten! Hogan war zusammengezuckt, wich ein paar Schritte zurück! »Schatten!« keuchte er heiser. »Ja, mit Schatten kämpfen wir! Aber sie haben Blut in den Adern, die Schatten – ich sah es!«

Torno war auf den Taumelnden zugesprungen, führte ihn zu einem Sessel. »Sind Sie leidend, Senhor Hogan? Soll ich einen Arzt kommen lassen?«

»Verzeihen Sie, meine Herren.« Hogans Stimme klang gezwungen ruhig. »Die letzten Tage . . . brachten mir ein paar rätselhafte Vorgänge . . . der Vergangenheit . . . der Gegenwart vor Augen: Erinnerungen – Gesichte. Dinge, die jedem klaren, logischen Denken widerstreiten, geschahen vor meinen Augen. Vergebens raffe ich alle Kraft zusammen, dagegen anzukämpfen. Die Schatten waren stärker!

Ihre Worte, Senhor Aposta: ›Es ist als kämpften wir mit Schatten‹ ließen das Gedenken daran in mir so lebendig werden. Mir war's, als spürte ich dunkle Zusammenhänge zwischen dem, was jetzt geschieht, und dem, was gestern geschah und viele Jahre zuvor. Meine Nerven versagten – Sie waren Zeugen, meine Herren. Doch ich schäme mich nicht, schwach geworden zu sein. Denn es war mehr, als ein Mann auszuhalten vermag. Erzählte ich Ihnen Einzelheiten – Sie würden mir nicht glauben, würden mich für unzurechnungsfähig halten. Deshalb schweige ich. Doch« – wieder kam der unruhige Glanz in seine Augen – »ich wiederhole noch einmal meine Mahnung: Es muß Friede geschlossen werden, wollen wir nicht unterliegen – im Kampf mit den Schatten!«

Torno hatte Hogan sorgenvoll betrachtet. Wie um ihn zu beruhigen, trat er auf ihn zu, schlug ihm leicht auf die Schulter. »Kampf mit Schatten, Senhor Hogan?« sagte er scherzenden Tones. »Denken Sie etwa, Wildrake hätte König Laurins Mantel um die Schultern?«

Hogan starrte ihn fragend an. »König Laurins Mantel? Ah, gewiß! Sie meinen die alte Sage vom Zwergenkönig Laurin, der, wenn er seinen Zaubermantel um sich warf, unsichtbar wurde und doch verwundbar blieb? – Ja, ja, so war's eben auch –!« Er hob langsam den Kopf, sah nach der Tür, murmelte vor sich hin: »Ob er auch hier ist?«

Die anderen sahen beklommen einander an. Was war mit Hogan? Eine so plötzliche Veränderung – solch sprunghafter Wechsel seiner Gedanken? – Er ist krank, dachte der Marineminister im stillen. Es wird mir nicht schwerfallen, meine Pläne gegen ihn durchzusetzen. Er trat zu Torno, raunte ihm ein paar Worte zu.

Hogan, aus seinen Gedanken gerissen, schien zu ahnen, was jener flüsterte, und sagte mit fester Stimme: »Keine Angst, Senhor Aposta! Sie wähnen, einen Kranken vor sich zu haben? Und Sie, meine Herren?« Er deutete auf Torno und Revelador. »Sie denken wahrscheinlich das gleiche? Doch Sie täuschen sich! Ich bin gesunder als je. Verlassen Sie sich darauf! Wär' ich's nicht, so hätt' ich die Stunden des letzten Tages nicht ertragen können, ohne – –«

Er brach ab, reichte Torno und den beiden anderen die Hand. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, meine Herren! Meine Meinung kennen Sie. Sollte ich mich in meinen Befürchtungen geirrt haben – um so besser!«

Er ging zur Tür, drehte sich dort noch einmal um. »Gebe Gott, daß alles ein Märchen wäre – der Kampf mit Schatten, die König Laurins Mantel tragen!«

*

Barradas und Calleja traten in Marias Zimmer.

»Alles fertig, Santa Maria!« rief Barradas der Blinden entgegen. »Im Laufe des Tages werden wir alle Einrichtungsgegenstände hinüber in Ihr neues Heim schaffen. Es wird eine Überraschung für Sie sein, wenn Sie die großen, schönen Räume sehen.«

Barradas benutzte unbedenklich das Wort »sehen«. War es doch, als ob Maria trotz ihrer Blindheit alles, was auf der Insel geschah und man ihr erzählte, sähe. Ihr feines Tastgefühl, ihr Orientierungssinn ließen sie all dies so gut erfassen, daß man den gleichen Eindruck gewann, als ob sie es körperlich erblicke.

»Oh, da bin ich gespannt, Don Antonio. Gehen wir schnell!«

Ein ziemliches Stück von dem alten Wellblechhaus entfernt, unter einem riesigen Brotfruchtbaum, war ein schmuckes Holzhaus im Bungalowstil errichtet. Leise strichen Marias Finger über die glatten, wohlgefügten Planken, tasteten sich bis zur Tür entlang.

»Das Zimmer rechts, Doña Maria!« rief Alvarez. Er sprang vor, um Maria hinzuführen, doch sie wehrte ab.

»Nein, nein! Nicht die Überraschung verderben! Selbst will ich alles finden!«

Während Barradas und Alvarez beim Eingang stehenblieben, glitt Maria in dem Zimmer von einem Möbelstück zum andern. Die beiden Freunde standen in freudigem Staunen. Wirklich! Maria schien jeden Gegenstand zu erkennen. Kaum, daß ihre Hand ihn berührte, wußte sie, was es war. Bei einem zierlichen Nähtischchen machte sie halt, öffnete die Fächer, betastete die vielen Gegenstände darin.

»Ja, das ist von Edna!« rief sie. »Wie fürsorglich sie an mich denkt! Und der niedliche Schreibtisch! Ach, so viele Dinge für mich, an deren Stelle so manches für euch Notwendigere im Truxtonschiff Platz gehabt hätte!«

Ihre Hand hatte eine Photographie berührt. Mit einem freudigen Ruf wandte sie sich zu Barradas um. »Auch daran haben Sie gedacht, Sie lieber, guter Freund! Das Bild Roberts steht schon auf dem Schreibtisch! Oh, Sie glauben, weil ich nicht sehen kann, wäre das umsonst? Nein!« fuhr sie mit wichtiger Miene fort, während ihre feinen Finger mit unendlicher Zartheit über die Umrisse des Bildes fuhren. »Kann ich's befühlen, so sehe ich Robert vor mir, sehe ich ihn wie – früher. Und morgen sollt ihr alle meine Gäste sein! In diesem schönen Raum werd' ich mit noch viel größerem Vergnügen die Wirtin spielen!«

»Wäre doch schade gewesen, wenn das damals die verdammten Brasilianer geschnappt hätten!« sagte Alvarez.

»Ich hatte schon mit allem abgeschlossen«, warf Barradas ein. »Wärst du mir nicht noch im letzten Augenblick in den Arm gefallen, lägen wir mit der ›Susanna‹ und all diesen schönen Sachen auf dem Grund des Meeres.«

»Nachdem wir erst zusammen eine nette Luftreise gemacht hätten!« fiel Alvarez ihm scherzend ins Wort.

»Nun, das Vergnügen, jetzt tagtäglich die verrückten Meldungen der Brasilianer zu hören, ist mir ein reichlicher Ersatz für die paar in Angst und Schrecken verlebten Minuten. Das Rätsel des Vogels Greif – ein größeres Rätsel noch das des Adlers Robert Wildrake! Tausend Meinungen – alle einander widersprechend, sich bekämpfend. Der Aktionsradius! Herr Gott, hätte ich so viele Dollars, wie oft dieses Wort jetzt fällt! Ja, ja, Aktionsradius – daran scheitert auch bei den klügsten Köpfen jede Erklärung.« Barradas lachte laut auf. »Haha, wenn sie die Lösung wüßten, dann – –«

»Nicht das allein!« unterbrach ihn Maria. »Hinter das Geheimnis des Tauchflugbootes scheinen sie trotz jener Stimme aus Finnland nicht zu kommen.«

»Gewiß!« bestätigte Barradas. »Keiner will an diese phantastische Kombination glauben. Das Schiff Drostes, dazu das Winterloosche Treibmittel haben es fertiggebracht, daß die Brasilianer mit einer Menge starker, unbekannter Gegner rechnen, und dieser Wahn ist nicht zu unterschätzen. Nichts Schlimmeres im Kriege als Unsicherheit über die feindlichen Kräfte! Glaubte man bisher durch die aufs höchste vervollkommneten Nachrichtenmittel über alle Bewegungen des Gegners orientiert zu sein, so versagen hier alle Meldungen. Nur auf unsichere Vermutungen bleibt man angewiesen. Denn diese Schläge im Karibischen Meer, im Atlantik und auf dem Festland, ausgeschlossen, daß man es für möglich hält, ein einziger habe das alles in so kurzer Zeit geleistet!«

Alvarez nickte, sprach mit ernstem Gesicht: »Auch in der Heimat müßte man doch dasselbe annehmen, müßte neuen Mut fassen. Müßte im Vertrauen auf diese unbekannten starken Helfer – –«

Barradas wehrte ab. »Keine Übereilung, mein lieber Alvarez! Du sprachst ja schon gestern von ›Guerrero Cunctator‹. Glaube mir, er wird den richtigen Augenblick schon zu nutzen wissen!«

Maria öffnete ihre Uhr, betastete die Zeiger. »In einer Stunde wird Robert vielleicht schon hier sein!« – –

Während alle erwartungsvoll nach der »Venezuela libre« Ausschau hielten, war Barradas zu den Empfangsapparaten gegangen. Wohl ein halbes Dutzend kleiner, hochempfindlicher Geräte war neben dem alten Haus aufgestellt, die die für Wildrake wichtigen Meldungen in Morseschrift notierten. Barradas las die Streifen flüchtig ab. Nichts von Bedeutung. Auch der eine für sie bedeutungsvollste Empfangsapparat hatte nur belanglose Meldungen aufnotiert. Die Nachrichten von Rio de Janeiro, in der Chiffre der brasilianischen Marine, waren für sie kein Geheimnis.

Barradas überdachte im stillen das glückliche Zufallsspiel, das ihnen den Schlüssel geschenkt hatte: Jenes Päckchen, das der alte Jean Renard beim Abschied Wildrake in die Hand drückte, enthielt unter anderem das Geheimnis des Chiffreschlüssels. In der brasilianischen Marine war man fest überzeugt, jenes U-Boot sei durch einen plötzlichen Unfall mit Mann und Maus gesunken. Die Möglichkeit, daß irgendwelche Gegenstände, insbesondere der Chiffreschlüssel, in fremde Hände gelangt wären, lag so fern, daß man an eine Änderung des Geheimcodes nicht gedacht hatte. Das Geschenk Jean Renards mußte für Wildrake von größter Bedeutung sein. Insbesondere dann, wenn der Kampf Brasiliens mit Venezuela wieder von neuem entbrannte.

Barradas riß den Streifen ab, warf sich unter einen Baum. Seine Augen glitten noch einmal mechanisch über das schon Gelesene. Es war ja nichts von Bedeutung dabei. Doch – hier! Barradas prägte sich, die Worte halblaut vor sich hinmurmelnd, die eine Meldung wieder und wieder ein.

». . . Transportdampfer ›Stella‹ auf der Fahrt von Marajo nach Manaos . . . die Fahrt durch den Amazonas durch Torpedoboote eskortiert . . . militärische Wachen an Bord . . . größte Vorsicht . . . 10 000 Tonnen Sprengstoff und Munition . . .«

Lautes Jubeln riß ihn aus seinen Gedanken. Er steckte den Telegrammstreifen in die Tasche, eilte zu der kleinen Anhöhe, wo die anderen nach Westen hin ausschauten. Das Schiff war schon nahe zu der Insel herangekommen. Nur die große Höhe, in der es flog, hatte es nicht früher sichtbar werden lassen. Eine kleine Viertelstunde später war die »Venezuela libre« in der Mangrovenbucht sicher vertäut.

Die Tropennacht dunkelte schon längst über der Insel, doch zu viel gab's zu erzählen. Wildrake saß neben Maria. Den Arm um sie geschlungen, überprüfte er während der Unterhaltung der anderen die eingelaufenen Funkdepeschen.

Sie besprachen neue Pläne, die sie auf ihren nächsten Fahrten und Flügen ausführen wollten.

Wildrake fiel Droste ins Wort. »Ein Schlag! Ein Schlag, der wie ein Donnerkrach all den Zauderern in die Knochen fährt! Ein wuchtiger Keulenhieb, der ihnen in die Ohren dröhnt, sie mitreißt!«

»Ein zweites Bahia, Captain!« warf Alvarez ein.

Wildrake machte eine abweisende Bewegung. »Vergeblich haben wir uns auf der Fahrt den Kopf zerbrochen. Sahen nur den einen Weg: Höchstens eine ununterbrochene Kette kleinerer Erfolge der ›Venezuela libre‹ könnte jenen großen Schlag ersetzen.«

Er legte die Hände in den Schoß, schüttelte mutlos den Kopf. Sah auf, als ihm Barradas den Morsestreifen in die Finger drückte. Der Chiffreschlüssel hatte sich ihm so fest eingeprägt, daß er den Text wie Klarschrift las.

»Nun, was soll's damit?«

Barradas strich sich mit der Hand behaglich über das lachende Gesicht. »Der Schlag, Captain! Ich dächte, hier wäre eine Gelegenheit, wie sie besser sich kaum je wiederholt!«

Wildrake schaute ihn verständnislos an. Auch die anderen blickten in stummer Erwartung auf Barradas. Der las die Worte der Radiomeldung laut vor. Sah mit verschmitztem Lächeln in die Runde, begann dann:

»Die ›Stella‹ auf dem Wege durch den Amazonas nach Manaos, mit 10 000 Tonnen Sprengstoff an Bord, fliegt bei Obidos in die Luft! 10 000 Tonnen wirksamsten Sprengstoffs zur Explosion gebracht –? Für den weiteren Transport von Kriegsmaterial auf diesem Fluß ist das Flußbett unpassierbar gemacht.

Die ungeheuren Erdmassen – etwa eine Million Kubikmeter – werden einen riesigen Damm aufrichten, und die Wassermassen suchen sich ein neues Lager. Die Katastrophe für die Schiffahrt – die weiteren Folgen – ihr mögt sie euch selber ausmalen!«

Einen Augenblick war alles still. Dann hier, dann da eine Stimme: »Allerdings! Das wäre – –«

Wildrake aber schüttelte zweifelnd den Kopf. »Schon richtig, lieber Barradas. Das wäre ein Schlag, wie ich ihn mir gedacht. Aber es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Schon in den Fluß überhaupt hineinzukommen, wäre für die ›Venezuela libre‹ unmöglich. Denn dieser Lebensnerv Brasiliens wird ja so scharf bewacht, daß es selbst bei verzweifeltem Wagemut kaum denkbar wäre, der ›Stella‹ dort beizukommen.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Die direkten Folgen – ja, die wären freilich von größter Tragweite: Der Amazonas auf lange Zeit gesperrt – die Hälfte der Transportflotte lahmgelegt, zum mindesten stark behindert; denn die Fahrt mit anderen Transportmitteln ins Landinnere ist und bleibt ja zu zeitraubend. – Die Folgen? Brasilien wird im Landkrieg gegen uns nicht schnell genug Nachschub bekommen.«

»Die ›Venezuela libre‹, Captain?« fiel Barradas ein. »Nein – an sie hab' ich natürlich auch nicht gedacht. Mein Plan ist viel einfacher.«

»Dein Plan, Barradas? Du hast schon einen Plan?«

»Gewiß! Fix und fertig im Kopf!«

»Nun, dann schieß los, alter Freund! Aber wenn du uns zum besten halten willst, nimm dich in acht!«

Wildrake drohte lächelnd mit dem Finger. Barradas zündete sich lächelnd eine Zigarette an, begann dann zu sprechen. Je länger er sprach, desto größer die Erregung bei den anderen. Sie drängten sich neben ihn, warfen hier und da eine Frage dazwischen. Doch Barradas redete unbeirrt weiter. Und schloß: »Ich dächte, die Sache wäre weiter nicht schwierig!«

Mit einem Ruck flogen aller Augen zu Wildrake, der mit Droste ein paar Blicke getauscht hatte.

»Unmöglich, Barradas! Du weißt vielleicht nicht, wie oft ich während des vergangenen Kampfes mit der Absicht geliebäugelt habe, einen Streich gegen den Amazonas zu führen. Es geht nicht! Ich wiederhole dir das. Die Bewachung in weitem Umkreis ist peinlich streng. Nur unter schärfster Kontrolle können selbst Militärpersonen sich dem Fluß nähern. Zu Wasser sich heranzupirschen, wäre gänzlich aussichtlos. Und durch die Luft? Gegen dieses Heer von Hubschraubern, Patrouillenschiffen, das Tag und Nacht den Fluß beschützt, kann niemand an. Dein Plan, so schön er ist, lieber Barradas, ist unausführbar!«

»Eine ganze Reihe von glücklichen Zufällen müßte Ihnen zu Hilfe kommen«, meinte Droste, der Barradas' Worten mit steigender Bewunderung gefolgt war.

Barradas hatte die Augen geschlossen, sog mit gleichgültigem Gesicht an seiner Zigarette, als ob alle diese Einreden wirkungslos von ihm abglitten. Da wurde die sekundenlange Stille durch Maria unterbrochen, die plötzlich aufsprang, die blinden Augen, als ob ein innerer Schein aus ihnen bräche, auf Barradas gerichtet.

»Und doch, Don Antonio! Ihr Plan, kühn gedacht, kühn vollbracht – keiner besonderen Glücksumstände bedarf es dann! Sie werden den Zufall meistern, das Schicksal zwingen!«

Hoch aufgerichtet stand die Blinde im Kreise der Männer. Zuversicht strahlte aus ihren Mienen.

Barradas beugte das Knie, seine Lippen preßten sich auf Marias Hand. »Santa Maria! Deine Worte sind Segen für mich und meine Tat! Nun bin ich gewiß, daß alles gelingen wird.« Er richtete sich empor. »Auf, Captain Wildrake! Das kleine Flugzeug bereitgemacht! In einer Stunde muß ich schon über der See sein.«

Allen voran eilte er hinaus, und die ihm folgten, standen gleich ihm im Banne der Worte, die von den Lippen der Blinden wie aus dem Munde einer Seherin gekommen.

Eine Stunde später schoß die kleine Flugjacht, von Calleja gesteuert, nach Westen.

*

Adeline Harrach saß in ihrem Zimmer, ein Zeitungsblatt vor sich. Doch ihre Augen faßten kaum den Sinn des Gedruckten. Immer wieder glitten ihre Blicke zur Schreibtischuhr, deren Zeiger sich langsam der zwölften Stunde näherten.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ihr Bruder Franz stürmte herein. Auch sein Blick ging sofort zu der Uhr.

»Noch zehn Minuten, Adeline!« stieß er hervor.

Die Schwester tat, als ob sie seine Worte nicht hörte, las weiter.

»Ich begreife deine Gelassenheit nicht, Adeline! Verstehe nicht, wie du den ganzen Abend hier sitzen kannst, wo doch die Entscheidung mit jeder Minute näherrückt. Mich duldete es nicht im Hause. Die Unrast trieb mich auf der Chaussee bis halbwegs zur Kreisstadt. Vielleicht, daß der Teufel es doch gewollt und noch im letzten Augenblick ein Gerichtsbote uns eine schlimme Nachricht brächte. Jetzt . . . die paar Minuten noch . . . nein! Ich hoffe, wir sind nun endgültig über den Sorgenberg.«

Erschöpft ließ er sich in einen Stuhl sinken. Adeline schaute mit spöttischem Lächeln auf. »Du verstehst meine Ruhe nicht, Franz? Und ich deine Angst ebensowenig. Nachdem wir gehört, daß Doktor Arvelin beim Nachlaßgericht vergeblich um Verlängerung der Frist gebeten hat, war ich vollkommen sicher, daß er das Testament des Oheims nicht gefunden hat und auch niemals finden wird.«

Franz wollte antworten, da schlug die Uhr Mitternacht. Mit einem Jubelruf sprang er auf. »Gott sei Dank, die Frist ist um! Das Testament nicht gefunden! Wir sind die Herren von Winterloo!«

Er wollte seine Schwester umarmen, doch die wehrte ab. »Wozu die Aufregung, Franz?«

Der schüttelte den Kopf. »Adeline! Wie kannst du so gleichgültig tun? Ich . . . ich muß meiner Freude Ausdruck geben, muß . . . Ah! Eine Flasche Sekt her! Wenn ich jemals eine mit Genuß getrunken, so soll's diese sein!«

»Vergiß nicht, lieber Franz, daß die Siegel des Gerichtsvollziehers am Weinschrank kleben.«

»Pah! Gerichtsvollzieher! Von jetzt an können mir sämtliche Vollstreckungsbeamte der Welt den Buckel hinaufsteigen! Du wirst sehen, wie die Herren Gläubiger winselnd und kriechend zu dem Besitzer von Winterloo kommen, ihm jeden Kredit anbieten werden.«

Er eilte hinaus, kam mit einem Arm voll Flaschen zurück.

»Bist du toll geworden, Franz? Morgen in aller Frühe müssen wir nach Winterloo. Vieles ist für uns da zu tun. Soll der neue Herr betrunken dort ankommen?«

»Du hast recht, Adeline. Es gibt mancherlei Arbeit dort. Mit eisernem Besen werd' ich all das hinausfegen, was sich da eingenistet hat!«

Er schenkte sich ein Glas voll, stürzte es in heftigen Zügen hinunter, drückte dann auf einen Klingelknopf. Morawsky, der sich den Schlaf aus den Augen rieb, trat ein.

»Um fünf Uhr den Wagen bereit halten! Wir fahren nach Winterloo. Daß du pünktlich zur Stelle bist!«

*

Die Fenster des Schlosses strahlten in hellem Lichterschein. In dem weiten Speisesaal war ein großes Fest im Gange. An einer langen, geschmückten Tafel saßen die Gäste. Überall klangen polnische Laute, ein Zeichen, daß die Mehrzahl der Teilnehmer von jenseits der Grenze kam.

Der neue Schloßherr feierte nachträglich seinen Einzug in Winterloo. In den wenigen Wochen, die seit jenem Abend in Dobra vergangen waren, hatte sich vieles geändert.

Als Franz und Adeline damals am frühen Morgen in Winterloo ankamen, hatten sie sich vergeblich nach Doktor Arvelin umgeschaut. Franz, der unterwegs mit hämischem Wortschwall sich vermaß, er würde den alten Schleicher sofort an die Luft setzen, war anscheinend wütend, daß ihm Arvelin diesen Strich durch die Rechnung gemacht. Innerlich freilich war er froh, daß ihm keine Gelegenheit geboten ward, seine Drohung wahrzumachen. Denn sein geheimer Respekt vor Arvelin hatte sich infolge der Ereignisse der letzten Monate bis zu ängstlicher Furcht gesteigert. Einen großen Teil der Dienerschaft aber entließ er sofort. Morawsky wurde an die Stelle des alten Friedrich gesetzt.

Dieses Fest nun sollte den Anfang einer neuen Zeit bedeuten. Mit unverhohlenem Stolz hatten die Geschwister die schmeichlerischen Glückwünsche der Gäste entgegengenommen. Doch noch ein anderer Zweck war mit dem heutigen Abend verbunden: Adelines Verlobung mit dem Grafen Gajewsky sollte bekanntgegeben werden.

Was allen Künsten der koketten Intrigantin bisher nicht gelungen war, das hatte der goldene Hintergrund von Schloß Winterloo endlich vermocht: Eine ganze Reihe ernsthafter Freier bemühte sich plötzlich um ihre Hand. Und es war wohl nur der Grafentitel, der den Hauptmann Gajewsky die anderen Bewerber aus dem Felde schlagen ließ.

Die Feststimmung näherte sich ihrem Höhepunkt. Adeline gab dem Bruder einen mahnenden Wink. Der erhob sich, ein wenig schwankend, tat dann mit schwerer Zunge die frohe Nachricht kund.

Im Nu war der ganze Saal erfüllt von Jubeln, Schreien, Hochrufen. Alles umdrängte das Brautpaar. Gläser klirrten, stürzten. Franz stieß so heftig mit dem seinen gegen das seiner Schwester, daß dieses in Scherben brach.

Sie erschrak. Ein böses Omen?! Doch schnell hatte sie sich gefaßt. Hastig drehte sie sich um, griff über sich zu einem Bordbrett, wo silberne und irdene Trinkhumpen standen. Dazwischen ein goldglänzender Becher. Es war die Monstranz aus dem Mausoleum, die auf Adelines Anordnung hierhergebracht war.

Mit einem übermütigen Ruf ergriff sie das heilige Gerät, hielt es dem einschenkenden Diener entgegen. Der goß es voll roten Weins. Ein paar der Umstehenden, im Herzen gläubig, hoben warnend die Hände. »Sünde!« kam es leise von ihren Lippen.

Franz sprang vor, wollte ihr die Monstranz aus der Hand reißen. »Adeline! Um Gottes willen! Ich bitte dich, nicht dieses!«

Doch sie wandte sich lachend um, hob das Gefäß ihrem Verlobten zu, wollte es an die Lippen führen – da – –

Ein Schreckensruf. Ihr Antlitz totenbleich. Die Augen in wirrem Entsetzen weit aufgerissen, stierte sie mit bebenden Lippen um sich.

»Doktor Arvelin! Er ist hier!? Was will er?«

Lastende Stille. Betroffen starrten alle auf Adeline.

»Er ist hier! Ich habe sein Gesicht gesehen – hier im Spiegel des Weines! Seine Augen glotzten mich drohend an.«

Die Hand, mit der Adeline die Monstranz hielt, begann zu zittern. Sie schwankte, und das Gefäß glitt zu Boden. Wie Blut ergoß sich der rote Wein über ihr weißes Kleid.

Graf Gajewsky fing die Taumelnde auf, die sich in krampfhaftem Schluchzen an ihn klammerte. »Suche die Gäste zu beruhigen!« flüsterte er seinem Schwager zu. »Ein kleiner Nervenschock! Denk dir rasch irgendeine Entschuldigung aus!«

Adeline im Arm, die ihre Füße kaum trugen, verließ Gajewsky den Saal. Doch Franz, geisterhaft blaß, suchte vergeblich nach beschwichtigenden Worten. Sobald er zum Sprechen ansetzte, ward nur immer ein Gestammel »Arvelin!« daraus.

Raunen und Wispern im Saal. »Welch düstere Geheimnisse?« die einen, »Strafe des Himmels!« die anderen.

Auf schwankem Grund das Glück von Winterloo! Die Geister des Rausches verflogen. Vertrieben von anderen, unheimlichen. »Fort von hier!« raunte man beklommen einander zu.

An Morawskys Arm hastete Franz wie ein Flüchtling aus dem Saal. Ihm nach die bunte Schar seiner Gäste. Und schon lag das Gemach, das noch eben von jauchzender Festfreude widerhallte, verlassen und öde.

*


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