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Zweimal vierundzwanzig Stunden! . . . Vielen der Millionen, die mit aufs höchste gesteigerter Spannung warteten, eine unerträglich lange Zeit.
Zweimal vierundzwanzig Stunden sollte die Fahrt der »Arizona« dauern.
Unter Zugrundelegung einer absoluten Normalbeschleunigung von elf Metern in der Sekunde hatte man diese Fahrzeit errechnet. Dabei war Voraussetzung, daß über die halbe Weglänge unaufhörlich diese Beschleunigung wirken sollte, so daß die »Arizona« die Wegscheide mit einer Sekundengeschwindigkeit von etwa 600 Kilometern erreichen mußte. Von hier aus würde dann die Verzögerung in der gleichen Stärke einsetzen, wie bisher die Beschleunigung. Immer langsamer würde die Jagd durch den Weltraum werden, bis das Schiff stoßfrei auf seinem Ziel aufsetzte.
Die »Arizona« war mit stärksten Kurzwellensendern ausgerüstet, deren gerichtete Strahlung die Heavyside-Schicht der irdischen Atmosphäre, jene in etwa 100 Kilometer Höhe liegende leitende Luftschicht, die für alle langen Wellen ein unüberwindliches Hindernis bildet, sicher durchdringen konnte . . .
Nach glücklicher Landung würde man sofort Nachrichten zur Erde geben, die von den Helikopterenwarten in Newport und Bahia aufgefangen werden sollten.
Seit jenen letzten Zeichen der Uraniden war die Erde so weit abgedreht, daß die europäischen Helikopterenwarten Nachrichten von jener Stelle der Venus, die für die Landung in Betracht kam, nicht mehr empfangen konnten, da ja eine Verbindung nur mit gerichteten Wellen möglich war.
Jetzt kamen nur die Warten an der Ostküste der amerikanischen Kontinente in Betracht. An den Okularen ihrer Refraktoren, die ständig auf die Venus eingestellt, die Beamten der Warten von Newport und Bahia. Die Apparate der Kurzwellenempfänger auf die verabredeten 8- bzw. 10-Zentimeterwellen eingestellt.
6 Uhr abends! . . . Sechs Stunden verstrichen, seit die »Arizona« gestartet. –
Die Gedanken der Millionen begleiteten sie auf ihrem Flug. –
Wer gedachte noch derer in Buena Vista?! – – –
Auf van der Meulens Werft das unveränderte Bild regen Schaffens. – Es war kurz vor der sechsten Abendstunde. Unter Leitung van der Meulens trugen ein paar Arbeiter einige Kisten aus dem Hause in den »Jonas Lee«.
Gegen Mittag waren Gäste aus Buenos Aires gekommen. Zwei unbekannte Herren. Etwas später Frederego Stamford mit seinen drei jüngsten Söhnen Ricardo, Carlo und Juan.
Die letzten Kisten waren verstaut. Aus dem Hause trat van der Meulen mit seinen Gästen. Auf der Werft angelangt, nahm der eine der Herren, die aus Buenos Aires gekommen, aus einer Tasche ein Dokument, überreichte es Ronald Lee. Der andere entfernte von einem länglichen Gegenstand eine Hülle. Die Flagge der Vereinigten Staaten von Südamerika wurde sichtbar . . . rollte sich aus. Lee ergriff sie, gab sie an Ricardo Stamford weiter.
Die Arbeiter und Angestellten der Werft gerieten in Erstaunen . . . Was sollte das bedeuten? Ohne Zweifel wurde hier ein feierlicher Akt vollzogen. Aber zu welchem Zweck? Warum gerade zu dieser späten Stunde? . . .
Da trat der eine der Gäste ein paar Schritt zurück und begann zu sprechen. Man sah sich gegenseitig verwundert an. Was sprach der da? . . . »Jetzt, wo der ›Jonas Lee‹ startbereit . . .« Wie kam der dazu? . . . Tage, viele Tage würden vergehen, ehe das Raumschiff fertig.
Je länger der sprach, desto größer die Verwunderung, desto größer das grenzenlose Staunen auf den Gesichtern. Man schaute auf Ronald Lee, auf van der Meulen. Die blickten ernst mit undurchdringlichen Mienen zu dem Redner hin. – – –
Da, was sprach der jetzt?
»Auf ein gutes Gelingen der Fahrt, auf einen glücklichen Sieg . . .!« Die Augen der Leute flogen zwischen dem Redner und Ronald Lee hin und her . . . Der Start . . . jetzt . . . sofort . . . und Lee schwieg dazu? . . . Mechanisch, wie im Traum, stimmten sie in das Hoch auf das südamerikanische Vaterland ein, mit dem der Sprecher seine Rede schloß.
Erst die lauten Kommandorufe van der Meulens brachten die Leute in die Wirklichkeit zurück.
»Hallo! . . . Fix, Jungens! Jeder an seinen Platz! In zehn Minuten startet der ›Jonas Lee‹!«
Im Nu der weite Hof ein wirres Durcheinander, ein Sausen und Brausen wie in einem aufgeregten Bienenstand . . . Rufe der Überraschung, der Freude. Kaum einer, der es fassen konnte. Die Blicke gingen immer wieder zu van der Meulen, der, die Uhr in der Hand, dastand. War es wirklich Ernst . . .?
»Noch fünf Minuten«, schrie der jetzt. »An Bord! – –
Gut, daß das Abschiednehmen schon im Hause erfolgt ist«, brummte er vor sich hin. »Ah! Violet . . . Natürlich . . . sie hat noch nicht genug, hängt dem Bruder wieder am Halse.« Er trat zu ihr, löste ihre Arme. »Genug jetzt, Miß Violet.«
Selbstvergessen reichte er noch einmal Ronald die Hand. Als er in dessen Augen sah, übermannte ihn das Gefühl. Er legte beide Hände auf seine Schultern. »Glückauf! – Auf frohes Wiedersehen, Ronald!«
»Auf frohes Wiedersehen, Ronald!« Hortenses Stimme klang neben ihnen.
Wie um seine innere Ergriffenheit zu verbergen, schob van der Meulen Lee mit einer raschen, starken Bewegung von sich, daß der fast taumelte . . . seine ausgestreckten Hände . . . von Hortense ergriffen . . . sie zog deren Hände an sich, preßten sie an seine Brust.
»Auf frohes Wiedersehen, Hortense!« Dann riß er sich los . . . schritt rasch zum Schiff, trat als erster hinein. Ihm nach die anderen – die beiden Ingenieure Hierra und Cruzado, der eine der beiden Gäste aus Buenos Aires, Señor Enrique Royas, Professor der Geologie an der Universität Valparaiso, dann Ricardo, Juan und Carlo Stamford, jeder der Brüder mit einem Arsenal von Waffen umhängt – als letzter Felipe Teja, der Sohn des alten José. Er war zur Bedienung der anderen bestimmt.
Kaum waren sie eingetreten, schlossen sich die Türen.
Unter dem Schiff ein leichtes Glimmen des Stapels . . . ein sekundenlanges Schwanken des Riesenbaues . . . dann hob sich der ›Jonas Lee‹ wie von Flügeln getragen in die Luft. Langsam . . . dann immer schneller werdend . . . zuletzt nur wie eine riesige Sternschnuppe, die glänzende Aluminiumhaut in den Strahlen der untergehenden Sonne wie im Feuer glühend.
Zur selben Zeit meldeten die Radiosendestationen aus Buenos Aires: »Der ›Monitore del Vermejo‹ berichtet, daß das Raumschiff ›Jonas Lee‹ soeben, das heißt sechs Stunden nach der Abfahrt der ›Arizona‹, glücklich gestartet ist.«
Im ersten Augenblick horchte die Welt auf. Nach den bisherigen Nachrichten war der Start erheblich später zu erwarten gewesen. Dann wandte sich das Interesse wieder ganz dem Flug der »Arizona« zu. Würde sie doch bedeutend früher ihr Ziel erreichen . . . die Venus . . . und den kostbaren Schatz, den sie barg, das Erbe der Uraniden.
*
Ronald Lee trat vom Fenster des Schiffes zurück. Buena Vista war aus dem Sehkreis verschwunden.
Ein Schaben und Prasseln an den Außenwänden des »Jonas Lee« verriet, daß das Schiff die letzte, aus gefrorenem Stickstoff und Wasserstoff bestehende Schicht der irdischen Atmosphäre durchstieß. Vor ihnen der leere Weltraum.
»Lassen Sie die Steuerborddüsen stärker arbeiten, Hierra.«
Der gehorchte erstaunt dem Befehl. »Wir verlängern uns den Weg«, schwebte es ihm auf den Lippen. Und als hätte Lee in seinen Zügen gelesen, nickte er ihm lachend zu.
»Gewiß, Sie haben recht, Hierra. Und doch! . . . Mögen Sie mich eitel nennen, ich bin nun einmal auch nur ein sterblicher Mensch. Den Triumph kann und will ich mir nicht entgehen lassen, den Gegner im Höchstgefühl seines Sieges demütigen, indem ich ihn in ehrlichem Kampf schlage, ihm die Siegespalme aus der Hand reiße.«
In den Augen Hierras blitzte es auf. »Ah! . . . Sie wollen?! . . .«
Ricardo Stamford, der aufmerksam zugehört, trat neben sie. »Ein Wettrennen . . . ein Wettfliegen? . . . Verstehe ich recht? . . . Auge in Auge mit ihm? . . . Glänzender Gedanke! Ah! Ihre Gesichter! . . . Wir werden ganz ranfahren, werden sie sehen . . . Bravo, großartig! . . .«
Im Nu wußte die ganze Besatzung, um was es ging.
Die Flugbahnen der beiden Raumschiffe ließen sich genau errechnen. Sechs Stunden nach der »Arizona« war der »Jonas Lee« von der Erde gestartet. Um 650 000 Kilometer war der Erdball in diesen Stunden auf seiner Wanderung um die Sonne weitergekommen. Die Führer der beiden Schiffe hatten ihre Bahnen unter Berücksichtigung der Bewegungen beider Gestirne so berechnet und angesetzt, daß sie auf kürzestem Wege zu ihrem Ziele kommen mußten.
Um zu erreichen, was er wollte . . . den Gegner im unendlichen Äther finden . . . mußte Ronald Lee seine Bahn nach Backbord hin verlassen. Eine Abweichung von zwei Bogenminuten nach Nordwest war bei der bekanntgewordenen Geschwindigkeit der »Arizona« für den »Jonas Lee« notwendig, um den Kollisionspunkt beider Schiffe anzusteuern.
Die Messungen der Gestirnshöhen mußten sehr genau erfolgen, um die schwierige Aufgabe zu lösen . . . das Stäubchen zu finden, das die »Arizona« im Weltraum bildete. Ein zeitraubendes Suchen war ausgeschlossen. Die längst vorbereiteten Rechnungen und Messungen in der Hand, begab sich Lee mit Hierra zum Steuer.
Die Elektronenstrahler des »Jonas Lee« arbeiteten mit voller Kraft und gaben dem Schiff eine Sekundenbeschleunigung von zwanzig Metern. Rechnungsmäßig mußte es danach den Weg von der Erde zur Venus in 36 Stunden zurücklegen.
»Unser Plan wird uns gleichzeitig eine gute Gelegenheit bieten, die Manövrierfähigkeit des Schiffes auszuprobieren«, wandte sich Lee an Hierra. »Wir müssen die Beschleunigung aufheben, allmählich sogar zur Verzögerung übergehen und dabei das Schiff wenden.«
Hierra nickte. »Es wird ein interessanter Versuch.«
»Ah, was sprachen Sie da eben?« Ricardo war's, der mit seinen Brüdern in die Schiffszentrale trat.
Lee ließ seine Augen über die Riesengestalt Ricardos gehen, lachte. »Die zwei Zentner, die Sie augenblicklich über Ihr Erdengewicht hinaus noch mit sich schleppen müssen, mein lieber Don Ricardo, werden Sie bei dieser Gelegenheit vorübergehend loswerden.«
»Das wäre!« sagte der und ließ sich schwerfällig auf ein niedriges Tischchen nieder, sprang aber schnell wieder auf, als das Knistern der Tischbeine ihm den nahenden Bruch verriet.
»Ja, ja, mein Lieber,« lachte Lee, »für vier Zentner Gewicht ist das Tischchen nicht konstruiert.«
»Vier Zentner?« fragte der erstaunt. »Um Gottes willen, ich trage an meinen zwei schon genug. Wie kommen Sie dazu, mich auf vier Zentner zu schätzen?«
»Es müßte Ihnen doch aufgefallen sein,« antwortete Lee, »daß Ihre Knochen und Muskeln hier schon längst nicht mehr so wollen wie auf der Erde.«
Ricardo sah zu seinen Brüdern. Diese nickten. »Weiß der Teufel,« sagte er endlich, »wir alle haben schon seit Stunden eine bleierne Schwere in unseren Gliedern verspürt, schwiegen aber, weil wir glaubten, uns lächerlich zu machen, glaubten, man würde es uns als Schwäche auslegen, betrachteten es als eine Bordkrankheit.«
»Keineswegs, Señor Stamford, wie Ihnen, so geht es allen hier im Schiff. Die sekundliche Beschleunigung des ›Jonas Lee‹ ist ziemlich genau doppelt so groß, wie die Beschleunigung an der Erdoberfläche durch die irdische Schwere. Natürlich wiegen infolgedessen auch alle Körper im ›Jonas Lee‹ jetzt doppelt soviel, als sie im Ruhezustand an der Erdoberfläche wiegen würden.«
Ricardo schlug die Hände klatschend zusammen. »Ah, Gott sei Dank, jetzt verstehe ich, warum mir alles so schwer vorkam, was ich in die Hand nahm. – Und jetzt, was wollen Sie machen? . . . Diesen Zustand können Sie ändern, mir die zwei Zentner abnehmen?« Er schüttelte den Kopf.
»Ja,« versetzte Lee, »Sie werden es im Verlaufe der nächsten Stunden deutlich verspüren. Ich will, um unseren Triumph, unseren Sieg möglichst auszukosten, unsere Fahrt derartig gestalten, daß wir ganz dicht an der ›Arizona‹ vorbeigehen, und im Augenblick des Überholens ungefähr die gleiche Geschwindigkeit haben, wie Mr. Canning.«
»Und die Venus?« warf Ricardo ein.
Lee zuckte die Achseln. »Erreichen wir allerdings durch diesen freiwilligen Aufenthalt ein paar Stunden später . . . aber selbstverständlich noch vor Canning.«
»Dann ist's recht«, riefen die Stamfords. »Die paar Stunden wollen wir gern verschmerzen, wenn wir die ›Arizona‹ so recht behaglich Aug' in Aug' mit dem Kerl abwürgen.«
Hierra, der an den Meßinstrumenten gearbeitet hatte, wandte sich jetzt zu Lee.
»Dürfte Zeit sein, Mr. Lee.«
»Gut, stellen wir zunächst einmal die Beschleunigung ab.«
»Und dann,« Ricardo schaute fragend Lee an, »bleiben wir dann nicht allmählich stehen?«
Lee lachte laut. »Stehen im Äther, Don Ricardo? Vergessen Sie denn, daß es im Weltraum keine Hemmungen gibt, daß ein Körper, der einmal mit einer gewissen Geschwindigkeit fliegt, diese auch ohne weiteren Antrieb stets beibehält – sofern ihn nicht Schwerefelder der Gestirne beeinflussen?«
Ricardo schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Sie haben recht, lachen Sie über mich, das war eine dumme Frage.«
Hierra winkte Lee unbemerkt zu, deutete auf den Krafthebel, zog ihn langsam auf Nullstellung. Er umklammerte im selben Augenblick ebenso wie Lee eins der am Boden festgeschraubten Möbelstücke.
Die Brüder Stamford achteten nicht darauf. »Ah!« Juan hob die Hände. »Wie wird mir, ich fühle mich so leicht.« Mit einem frohen Ausruf sprang er auf. Doch da! Die anderen starrten ihn entgeistert an. Sein Sprung, war er so heftig gewesen? Juan war so hochgeschnellt, daß sein Kopf die Decke streifte, mit verzweifelten Armbewegungen suchte er nach einem Halt. Ricardo und Carlo wollten hinzuspringen, um ihm zu helfen. Da . . . Lee und Hierra lachten, daß es in der Kabine schallte . . . Die drei Enakskinder ruderten hilflos wie Goldfische in einem Bassin in der Luft des Raumes umher.
»Bleiben Sie nur,« rief Lee, immer noch lachend, »gleich werden Sie wieder auf festem Boden stehen.« Er winkte Hierra zu, der das Schiff inzwischen so gedreht hatte, daß es den Bug wieder der Erde zuwandte. Der stellte die Elektronenkraft wieder an.
»Langsam«, schrie ihm Lee zu. Doch der, um den Scherz ganz auszunutzen, gab den Hebeln einen kurzen, scharfen Ruck. Im selben Augenblick fielen die drei Riesenvögel mit lautem Gepolter auf den Fußboden zurück. Das Bild war so komisch, daß die beiden am Steuer von neuem in lautes Lachen ausbrachen. Die verdutzten Gesichter, das vorsichtige Tasten auf dem Boden, jeder suchte einen Gegenstand zu erfassen, sich daran zu klammern. Ricardo war der erste, dem es gelang, sich wieder aufzurichten.
»Die Freude war nur kurz, mein lieber Ricardo, die vier Zentner haben Sie leider wieder.«
Der schüttelte den Kopf. »Vier Zentner, Mr. Lee, wiegt allein mein Schädel.« Er hielt die Hand an die Stirn, rieb sich die Augen. »Teufelskram, den Sie mit ehrlichen Christenmenschen da machen, Mr. Lee. Weshalb sind Sie nicht auch«, er deutete vorsichtig mit der Hand zur Decke.
»Nun, sehr einfach, Don Ricardo, wir hielten uns eben fest.«
»Ah, dann ist's gut, dann bin ich befriedigt. Ich glaubte schon, es läge an uns, daß wir da so hilflos wie halbflügge Vögel in der Luft 'rumgondelten. Aber einerlei, der Spaß war nicht übel. Schade nur, daß unser Alter nicht dabei ist.« Er brach in ein helles Gelächter aus, in das seine Brüder laut einstimmten.
»Und die ›Arizona‹, wann werden wir sie haben?«
Lee zuckte die Achseln. »Ein paar Stunden mag es noch dauern!« Er reichte ihm ein scharfes Objektiv. »Übernehmen Sie den Ausguck, Don Ricardo, Sie sind Jäger, haben scharfe Augen.«
*
»Wir nähern uns der Wegscheide zwischen Erde und Venus. – In einer Stunde müssen wir von der Beschleunigung zur Verzögerung übergehen, Oberst Robartson. Wir werden dann wieder eine Radiomeldung nach Newport senden.«
»Gut, Mr. Canning. Da unten wird mancher vor Neugierde vergehen. Die Ängstlichen, die darauf bestanden, die ›Arizona‹ dürfe ohne Probefahrt nicht starten, werden sich allmählich beruhigen. Zweifellos war es ein großes Risiko, mit einer solchen ganz neuen und noch nicht erprobten Konstruktion sofort eine so weite Fahrt zu unternehmen. Ich denke, in Buena Vista wird man jetzt nicht mehr darauf verzichten. Denn was verschlägt's denen, ob der ›Jonas Lee‹ ein paar Tage früher oder später ankommt . . .«
Buena Vista – – – Cannings Gedanken flogen da hin. Seit der Abfahrt hatte ihn der Flug der ›Arizona‹ voll in Anspruch genommen. Unaufhörlich hatte er den Gang der Maschinen, die Steuerung, die Meßinstrumente sorgfältig beobachtet. Es war für jeden einigermaßen technisch gebildeten Menschen ein überaus gewagtes Unterfangen, ohne vorhergehende Probefahrten den Flug zu unternehmen. Nur die Furcht, der ›Jonas Lee‹ könnte früher starten, hatte ihn veranlaßt, dies Risiko auf sich zu nehmen.
Ein Versagen der Maschinen die einzige Gefahr in seinen Augen. Was sonst Gelehrte und Laien gefabelt . . . der Äther in weiter Ferne von Boliden verseucht . . . die Gefahr, daß das Raumschiff mit einem dieser Weltenwanderer zusammenstieß . . . Canning hatte darüber gelächelt . . . die Rechnung aufgemacht . . . gelacht. Die Chance eines Zusammenstoßes war so undenkbar klein . . . und verglich man die durchschnittlichen Geschwindigkeiten der Boliden mit der der »Arizona«, schwand die Gefahr gänzlich, wenn nicht gerade der Bolide in direkter Richtung auf das Schiff zuflog. Denn sonst war jederzeit die Möglichkeit gegeben, durch seitliches Ausweichen die Gefahr zu meiden. Bedingung dafür war freilich, daß schärfster Ausguck gerade in der Fahrtrichtung gehalten . . .
Buena Vista – – – Hortense – – – Immer wieder jene Gedankengänge, wie er sie zwingen wollte durch große Taten. Was galt ihm alles, wenn er sie nicht erränge, Hortense – – –
Noch sann er, da trat der Oberst zu ihm. Seine Mienen verrieten Überraschung, Besorgnis.
»Ah, Mr. Canning, Sie behandelten stets die Frage als nebensächlich . . . die Frage, auf unserer Fahrt eine unangenehme Begegnung mit Boliden, größeren oder kleineren Bruchstücken gewesener Gestirne, von denen das Weltall durchrast wird, zu haben. Fast möchte ich annehmen . . .«
»Wie!? Was sagen Sie, Colonel!? Ein Bolide etwa?«
»Nehmen Sie ein Glas, Mr. Canning, und schauen Sie zu dem Steuerbordfenster hinaus. Dort unten rechts . . . sehen Sie nicht auch da ein glitzerndes funkelndes Etwas, das sich mit anscheinend großer Schnelligkeit schräg auf uns zu bewegt?«
Canning sah lange, setzte mehrere Male das Glas ab.
»Es ist, wie Sie sagen, Oberst Robartson – – – und Sie vermuten einen Boliden oder dergleichen?«
»Gewiß! Natürlich, was kann es sein!?«
Canning nickte . . . überlegte . . . »Sie können . . . müssen recht haben, Oberst. Etwas anderes kann es nicht sein . . . Doch sehe ich keine Gefahr. Sobald wir merken, daß die Begegnung uns gefährlich werden könnte, werden wir die Flugrichtung ändern, ausweichen. Bleiben Sie hier zur Beobachtung, ich werde Bruce am Steuer aufmerksam machen.«
»Könnten wir nicht im Notfall die Beschleunigung steigern, Mr. Canning?«
Canning wiegte den Kopf. »Die Elektronenstrahlung arbeitet im Optimum. Eine stärkere Inanspruchnahme ihrer Leistungen dürfte nicht ungefährlich sein wegen des späteren Nachlassens ihrer Wirkung. Nur im äußersten Notfall, wenn ein Zusammenstoß mit dem Boliden unvermeidlich, würde ich mich dazu verstehen. Doch wir haben Zeit. In einer Viertelstunde bin ich wieder zurück.«
Oberst Robartson, jetzt allein, nahm einige Meßinstrumente, peilte die eigene Flugbahn und die des verdächtigen Körpers sorgfältig an.
›Merkwürdig, wie das Auge täuschen kann. Je länger ich messe, desto deutlicher sehe ich, daß der Bolide unsere Fahrt kaum kreuzen wird . . . er fliegt ja fast parallel mit uns.‹
Er wollte zu Canning eilen, da kam der gerade zurück.
»Nun, was macht unser Freund?« rief er Robartson zu.
»Eine Frage zunächst, Mr. Canning. Hatten Sie nicht vorher auch den Eindruck, daß der Bolide schräg auf uns zukäme . . . unsere Bahn schneiden müßte?«
»Gewiß . . . unzweifelhaft! Sonst hätten wir ja keinen Grund zur Besorgnis gehabt.«
Der Oberst schüttelte den Kopf. »Und doch irrten wir uns beide. Vergleichen Sie bitte meine Messungen, und sehen Sie jetzt zu dem Boliden, der uns inzwischen ein ganzes Stück nähergerückt ist.«
Canning warf einen kurzen Blick auf die Messungen, richtete dann ein großes Fernrohr, das er mitgebracht, ein. Robertsons Augen hafteten an Cannings Gesicht. Der hatte jetzt scharf eingestellt, schaute unverwandt durch das Okular.
»Nun, was sehen Sie jetzt, Mr. Canning? . . . Fliegt der Bolide nicht fast parallel mit uns?«
Canning schwieg. Der andere wartete ungeduldig auf Antwort, wiederholte die Frage. Canning rührte sich nicht. Erstaunt sah der Oberst schärfer auf dessen Gesicht. Da . . . der . . . was war mit ihm? . . . Das Antlitz blaß, die Lippen bebten . . .
»Mr. Canning! . . . Was ist Ihnen?! . . .«
Der gab keine Antwort. Das Auge wie angeschmiedet an dem Okular . . . Jetzt, ein Zittern ging durch seinen Körper, er taumelte, wäre gestürzt, wenn Robartson ihm nicht beigesprungen.
»Mr. Canning! . . . Um Gottes willen, was ist Ihnen? . . . eine Gefahr? . . .«
Der schüttelte den Kopf, setzte mehreremal zum Sprechen an. Sein Gesicht grau, die Augen erloschen, die Brust in wilden Atemzügen bebend. Mit Gewalt suchte er die Lippen zum Sprechen zu zwingen . . .
»Der ›Jonas Lee‹! . . . Er ist es . . .« Er schlug die Hände vor's Gesicht, schritt wankend zu einer Bank, saß kurz nieder, sprang dann wieder auf, stürzte zum Fenster, schaute mit irren Augen hinaus, schrie: »Er wird uns überholen . . . er fährt schneller . . . unser Ziel . . . der Sieg . . . er raubt uns alles.«
Oberst Robartson trat neben ihn, hielt den Schwankenden, der wie ein zu Tod Getroffener zusammenzusinken drohte . . .
Dann, als hätte er die Schwäche überwunden, richtete der sich auf, wandte sich um. Die Faust geballt, die Augen glühend in wahnsinniger Wut . . . über die blutig gebissenen Lippen floß roter Geifer . . . Einen Augenblick verharrte er so. Sprang dann mit einem wütenden Satz zu dem Fenster. Die Arme stießen drohend nach dem nahenden Feind . . . Wilde Verwünschungen, Flüche gellten aus seinem Munde.
Der Oberst stand starr. Der fessellose Ausbruch Cannings ließ ihn verstummen . . . Da kamen von allen Seiten die anderen herbeigeeilt. Sie hatten Cannings Schreie gehört.
»Was ist? . . . Was gibt's . . .?« scholl es wirr aus dem Haufen. Jeder glaubte, die beiden Männer wären in einen schlimmen Streit geraten.
Robartson wollte sprechen. Da drehte sich Canning um.
»Was ist?!« schrie er. »Ha, ha!« Ein tolles Lachen folgte den Worten. »Da schaut!« . . . Er stieß mit der Faust gegen das Fenster: »Da . . . kommt her! . . . Seht doch auch . . . der ›Jonas Lee‹ . . . er ist hinter uns! . . . Eine halbe Stunde, dann hat er uns erreicht, überholt . . . unser Ziel . . . die Venus . . . Hortense?! . . .« Er brüllte auf, wie ein zu Tod getroffenes Tier.
Dann, als wär ihm ein Einfall gekommen, schlug er die geballte Hand vor die Stirn, seine Züge verwandelten sich plötzlich.
»Alle Mann an ihre Plätze!« rief er laut, stürmte in die Zentrale. Ebenso schnell folgte ihm der Chefingenieur Bruce. Eine dunkle Ahnung sagte ihm, was Canning vorhabe.
Der stand vor der Schalttafel. Die Rechte am Heizhebel, die Linke am Spannungsregulator. Ein Blick auf die Meßinstrumente zeigte Bruce, daß seine Befürchtung wahr. Die Zeiger der beiden Instrumente weit über dem roten Strich. Die Strahlungseinrichtungen der »Arizona« bis zum äußersten angestrengt.
»Unmöglich, Sir!« Bruce legte seine Hand auf Cannings Arm, als wolle er ihn wegreißen. Der starrte ihn mit wild rollenden Augen an, stieß ihn brüsk zur Seite.
»Ich allein habe hier zu befehlen . . . Vergessen Sie das nicht, Mr. Bruce!«
»Wären wir beide allein, Mr. Canning, würde ich keine Einwendungen machen. Man kann nur einmal sterben. – – Aber das Leben unserer Genossen frevelhaft aufs Spiel setzen um der ehrgeizigen Gefühle des Führers?! Nein, und tausendmal nein.«
»Hände weg vom Hebel,« brüllte Canning, »oder . . .! Ich allein trage die Verantwortung.«
*
»Hallo! Was ist das, Mr. Lee? Die ›Arizona‹ wird schneller und schneller. Den Peilungen nach hat sie jetzt ungefähr die gleiche Geschwindigkeit wie wir.«
Ronald Lee schaute auf. »Keine Angst, Don Ricardo . . . das hatte ich fast erwartet. Mr. Canning tut das, was früher wahnwitzige Kapitäne mit ihren Schiffsmaschinen machten . . . die Sicherheitsventile beschweren, mit unvernünftigem Druck das Rennen zu machen . . . Damals riskierte man eine kleine Kesselexplosion. Jetzt . . .« Lee zuckte die Achseln, »ruiniert er die Maschine . . . Mag die ›Arizona‹ zum Teufel gehen . . . Leid täte es mir nur um die anderen, die darin sind. – Doch vielleicht läßt er seinen Wahnwitz, wenn er sieht, was jetzt der ›Jonas Lee‹ tut . . . er tut's ohne Gefahr.«
Er rückte an Hebeln. Ein Stoß traf das Schiff, daß beide taumelten.
»Ah! Bravo, Mr. Lee! . . . So hat der wackere ›Jonas‹ noch einige Kraftreserven zu vergeben.« Ricardo stürzte zum Beobachtungsrohr. »Der Teufel soll mich holen, wenn wir die ›Arizona‹ nicht in fünf Minuten haben.«
Der Ruck im Schiff hatte auch die übrigen aufmerksam gemacht. Von überall her erklangen laute Jubelrufe. Sah doch jeder, daß die Entscheidung nahe.
»Näher ran!« schrie Ricardo vom Fenster her. »Ich will ihn sehen, den Burschen! Ein Jahr meines Lebens, wenn ich seine Fratze zu sehen kriege!«
Lee ließ die Düsen an Steuerbord sekundenlang stärker arbeiten, eilte dann selbst zum Fenster. Kaum hundert Meter voneinander entfernt rasten die Schiffe wie zwei edle Renner Flanke an Flanke durch den weiten Weltraum dahin.
Der »Jonas Lee« nur noch ein kurzes Stück zurück. Ein brausendes Hurra der Gefährten Lees begrüßte den nahen Sieg.
Da . . . Lee stürzte hin zur Maschine, riß den Krafthebel vorwärts, ließ die Backborddüsen mit äußerster Kraft arbeiten.
Die anderen . . . ein Schrei des Entsetzens aus ihrem Munde. Die »Arizona« da drüben, plötzlich herumgerissen, schoß mit ungeheurer Schnelligkeit schräg auf den »Jonas Lee« zu . . . Sekunden, dann wurde der »Jonas Lee« gerammt . . . dann . . .
Ein furchtbarer Ruck, der das Schiff in seinen Grundfesten erzittern ließ . . . alle Insassen plötzlich mit ungeheurer Gewalt zur Seite schleuderte. Der »Jonas Lee«, der starken Steuerkraft gehorchend, suchte dem verderblichen Stoß nach Steuerbord auszuweichen. Jedem stockte das Herzblut. Bruchteile von Sekunden . . . die Entscheidung . . . Rettung . . . Vernichtung . . .
Schon glaubte jeder, das Ineinanderprasseln der Schiffskörper zu hören. »Da«, Lee schrie auf, deutete mit dem Arm nach den Steuerbordfenstern, sank dann im selben Augenblick halb bewußtlos zum Boden zurück.
»Gerettet«, flüsterten seine Lippen.
»Gerettet!« Einer nach dem anderen sprach's. Sie starrten durch die Heckfenster, wo die »Arizona« schräg ab von ihnen in den Äther weiterschoß.
Lee erhob sich schwerfällig, reichte Cruzado die Hand, half ihm empor. Sie taumelten zu der Schalttafel. Langsam, wie mechanisch griffen ihre Hände zu den Hebeln, um das Schiff wieder auf alten Kurs und normale Beschleunigung zu bringen.
Dann erst, als das geschehen, sahen sie sich gegenseitig an. Blasse Gesichter, verstörte Augen. Lee atmete tief auf.
»Wenn dich die Niederlage nicht wahnsinnig gemacht hat, Canning . . . dein Gedanke – fast muß ich ihn bewundern – lieber mit dem Gegner sterben, als ihm den Sieg überlassen.«
Einer nach dem anderen im Schiff hatte sich erhoben . . . Sie standen stumm, befühlten ihre Glieder.
»Hoffentlich alles heil, wie beim ›Jonas Lee‹«, rief Ronald. Ein hartes Lachen begleitete seine Worte. Dann überließ er Hierra die Führung des Schiffes, begab sich mit Cruzado, ohne der »Arizona«, die schon weit hinter ihnen lag, noch einen Blick zu schenken, an eine genaue Untersuchung des Schiffes in allen seinen Teilen. Die ungeheure Inanspruchnahme durch das schnelle Wenden . . . es wäre kein Wunder gewesen, wenn irgend etwas dabei zu Bruche gegangen wäre.
*
Eine halbe Stunde später gab die Helikopterenwarte in Bahia eine chiffrierte Depesche nach Buena Vista weiter:
»Auf halbem Weg die ›Arizona‹ überholt, R. L.«
Drei glückliche Menschen lagen sich wortlos in den Armen. Hortense die erste, die sich von dem freudigen Banne freimachte. Sie legte den Finger auf den Mund. »Kein Mensch erfährt etwas . . . bevor der ›Jonas Lee‹ glücklich auf der Venus gelandet!«
So waren sie wahr geworden, die Worte jener glücklichen Stunde. Krank, mutlos, verzweifelt, hatte sie in ihrem Zimmer gelegen. Die Nachricht aus Bloomfield: Die »Arizona« startet in drei Tagen, hatte mit einem Schlage alle die Hoffnungen und Wünsche langer Monate zertrümmert. Nicht allein die Zerstörung des gemeinsamen Werkes . . . sie fühlte selbst fast körperlich den Schlag, der ihn, Ronald, damit getroffen.
Jene Worte . . . sein tiefstes Geheimnis, das er selbst ihr und dem Vater gegenüber verschwiegen . . . ich fahre ja schneller als Canning . . . beschleunige mit zwanzig Metern in der Sekunde, während er nur mit elf Metern beschleunigen kann . . . Sein Vorsprung, ich hole ihn . . . komme früher zum Ziele . . . mein wird der Sieg sein! . . .
Hemmungslos ihr überströmendes Empfinden. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen, hatte an seiner Brust gelegen, geweint . . .
Die Depesche! Auf halbem Wege hatte er ihn schon geschlagen. Immer wieder murmelten ihre Lippen die frohe Botschaft.
Wie lange? . . . Sie würde ihn wiedersehen.
Als Ronald zum letztenmal Abschied nahm, hatte sie gemeint, umsinken zu müssen vor Schwäche. Der Gedanke, ihn für längere Zeit nicht zu sehen, den Ton seiner Stimme zu entbehren, hatte sie fühlen lassen, wie tief die Liebe zu ihm in ihr wurzelte. Seit seiner Abfahrt ihre Gedanken nur bei ihm. Mit Ungeduld hatte sie in schlafloser Nacht den Morgen, den Beginn der Arbeit, erwartet. Suchte in rastloser Tätigkeit vor ihren Gedanken zu fliehen . . . und dachte doch nur bei jedem Hammerschlag an Ronald Lee.
Nach langem Kampf hatte sie dem Vater die Erlaubnis abgerungen, an dem Flug der »Buena Vista« teilzunehmen – falls Ronald Lee gute Nachrichten senden würde.
Kaum, daß van der Meulen gehört, daß William Harrod sich mit dem Gedanken trüge, ein weiteres Schiff zu bauen, hatte er schon den Kiel des Schwesterschiffes gestreckt, den zweiten Bau mit allen Mitteln beschleunigt, sogar schon Teile für einen dritten Bau bereitstellen lassen . . .
Jetzt hatte der »Jonas Lee« die Wegscheide passiert. Der nächste Morgen mußte die zweite glückliche Nachricht bringen.
*
»Ungefähr sechs Stunden, Dr. Gamba, dann dürfte die erste Meldung der ›Arizona‹ zu erwarten sein, wenn alles glücklich verläuft.«
»Und weitere sechs Stunden, dann dürfte auch der ›Jonas Lee‹ sein Ziel erreicht haben, Herr Professor . . . Ein übles Spiel des Schicksals, daß es William Harrod gelang, die ›Arizona‹ sechs Stunden früher starten zu lassen.«
Professor Lopez, der Leiter der Helikopterenwarte in Bahia, ging zu den Empfangsapparaten. Der eine war auf die Welle der »Arizona«, der andere auf die des »Jonas Lee« eingestellt.
»Möchte wissen, was Mr. Lee in Chiffre an van der Meulen depeschierte? Geheimnisse kann es doch bei dem Fluge nicht geben. Die paar Worte für uns: ›An Bord alles wohl, die Fahrt verläuft gut‹, besagen doch wohl alles Nötige«, brummte Professor Lopez vor sich hin und wandte sich zu einem Meßtisch.
»Ah!« Er machte schnell Kehrt, eilte zu dem Empfangsapparat für Lee. Auch Dr. Gamba lief sofort herbei. »Das Ankündigungszeichen Lees«, flüsterte er gespannt. – – – »Wird's wieder eine Chiffredepesche sein für . . . Nein! . . . ›Der Jonas Lee‹ fing es an . . . die nächsten Worte . . . Was war das?! . . .«
Die beiden Männer sahen sich sprachlos, fast verstört an. Die Hand des Assistenten, der die weiteren Worte aufgezeichnet, blieb reglos . . . Eine Mystifikation? . . . Oder hatten sie falsch verstanden? . . . Eine lange Pause . . . dann . . .
»Wie waren die Worte, Herr Doktor?« kam es mühsam von Lopez' Lippen. Dr. Gamba las die aufgezeichneten Worte: »Der ›Jonas Lee‹ um 10 Uhr 37 Minuten auf der Venus gelandet!« – – – – –
»Ich denke . . . wir geben die Nachricht lieber dreimal, sonst glauben sie es da unten nicht«, hatte Ricardo Stamford gesagt, und hatte recht dabei. – – – – –
»Es kann nicht sein, unmöglich!« murmelte Professor Lopez vor sich hin . . . »Irgendein Teilnehmer, der sich einen schlechten Scherz gemacht hat.«
»Wir dürfen sie nicht weitergeben«, setzte Gamba hinzu. »Wir wären für ewig blamiert, wenn . . .«
»Der ›Jonas Lee‹ um 10 Uhr 37 auf der Venus gelandet.« Und noch einmal, zum drittenmal, die Worte im Empfangsapparat.
Professor Lopez hielt sich die Ohren zu, lief wie ein Irrer im Raum auf und ab. »Was ist das . . .? Was soll das . . . ich werde verrückt . . . Was sollen wir tun? . . .«
»Ah!« Dr. Gamba stürzte zu dem Sender, der mit Buena Vista korrespondierte. »Ich setze mich mit van der Meulen in Verbindung.«
»Gut, mein lieber Dr. Gamba!« Professor Lopez stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Da scholl es schon aus dem Apparat.
»Jawohl . . . hier van der Meulen selbst . . . Wie? . . . Die Worte noch einmal! . . . Ahl Bravo! Hurra! Hurra! Wie? . . . Aber selbstverständlich! . . . sofort raus mit der Siegesbotschaft, alle Welt . . . Wie? Was? . . . Sie halten die Nachricht für verfrüht, für falsch? . . . Was sagen Sie, es wäre unmöglich?! . . . Aber keineswegs. Es ist sogar selbstverständlich. Ich erwarte sie schon seit einer Viertelstunde.«
Lopez und Gamba sahen sich unsicher an. Lopez schüttelte immer noch den Kopf. »Ich kann . . . kann es nicht fassen . . . Dann wäre ja der ›Jonas Lee‹ viel schneller gefahren.« Er eilte zum Apparat, schrie es hinein.
»Ist er auch, warum denn auch nicht, bei seinen zwanzig Metern Beschleunigung pro Sekunde. Also nochmals, 'raus mit der Siegesbotschaft! . . . Natürlich zuerst an die Regierung in Buenos Aires.« – – – – –
Und so machte die Meldung wenige Minuten später ihren Weg über die Erde. Unter den Millionen, die sie vernahmen, die Masse der Zweifler, der Ungläubigen viel größer, als die der Glaubenden.
In den Staaten überschlugen sich die chauvinistischen Schreie . . . Bluff, Lüge . . . Schwindel!
Doch nicht lange, dann kam die Bestätigung von einer Stelle, deren Glaubwürdigkeit außer allem Zweifel. Der »Bloomfield Advertiser« brachte folgende Nachricht: »Der ›Jonas Lee‹ hat die ›Arizona‹ auf halbem Weg überholt.«
*
William Harrod saß in seinem Arbeitszimmer, die Tür verschlossen. Die Nachricht vom Sieg des »Jonas Lee« . . . auch er hatte sie im ersten Augenblick für Bluff . . . Schwindel gehalten. Doch dann hatte er sich erinnert, wie er damals auf Cannings Rat seine Spione beauftragt, herauszubekommen, ob in den Beschleunigungsziffern für die Fahrt des »Jonas Lee« eine Änderung vorgekommen. Die hatten nur gemeldet, daß eine Beschleunigung von elf Metern pro Sekunde geplant. Und doch, als der Bau der »Arizona« sich der Vollendung näherte, immer wieder hatte Canning gedrängt, durch fortgesetzte Spionage die Arbeiten an den Apparaten für die Elektronenstrahlung zu überwachen.
Doch stets nur das alte Ergebnis. Elf Meter pro Sekunde Beschleunigung, wie sie auch die »Arizona« erhielt.
Jetzt, da lag es vor ihm. Umsonst alles Forschen, Spionieren – schätzungsweise zwanzig Meter pro Sekunde Beschleunigung, so stand es in der Chiffredepesche Bruces' – Harrod stöhnte auf, knirschte in stummer Wut mit den Zähnen. Wieder geschlagen, van der Meulen. »Ah!« Er stöhnte laut auf. Der Schlag, so unerwartet, so furchtbar, kein Gedanke, keine Hoffnung, ihn wettzumachen.
Canning, in seinem Herzen schwoll es auf, was der da gedacht, getan, er verstand ihn wohl. Und wär's ihm gelungen, den Feind zu rammen, ihm im letzten Augenblick den Sieg zu entreißen, mit dem Sieger zusammen sterben . . . Unauslöschliche Dankbarkeit bis an sein Lebensende würde er ihm bewahrt haben. – Die anderen, Männer mit Durchschnittsköpfen, Durchschnittsherzen, sie hatten ihn hindern wollen. Er griff die Chiffredepesche. Zwischen den Zeilen war es zu lesen, was sich da oben abgespielt. Vielleicht, daß Cannings Plan gelungen, wenn die ihm nicht im letzten Augenblick in den Arm gefallen. Der war dann niedergebrochen, in wilden Tobsuchtsanfällen hatte er gerast, die Führung hatte Bruce übernommen. Ein Tag, eine halbe Nacht waren vergangen seit dieser Nachricht . . . er hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen, nicht Schlaf gefunden, keine Speise und Trank angerührt, vielleicht, daß irgendein glücklicher Zufall der »Arizona« zu Hilfe käme –
Nein, geschlagen, vollständig geschlagen. Zu Ende der Kampf. Der »Jonas Lee« viele Stunden früher gelandet, ihm die Ehre, der Ruhm . . . der Preis, das Erbe der Uraniden.
*
»Nein . . . halt! . . .« Ricardo Stamford rief es laut. Er stand auf der Treppe, die, vom »Jonas Lee« ausgeworfen«, den Boden der Venus berührte.
»Kein anderer als unser Führer, unser Meister, der, dem es gebührt, zuerst den Fuß auf den jungfräulichen Boden der Venus zu setzen. Voran, Mr. Lee!«
Der stieg langsam die Stufen hinab, trat auf den Boden. Einen Augenblick war es ihm, als schwankte der unter seinen Füßen, seine Arme gingen tastend nach vorn. Der Sieg . . . der Siegespreis, hier lag er greifbar vor ihm. Wie im Taumel beugte er sich, kniete nieder. Seine Hände griffen in die dichten Grasbüschel, zerrten an der Beute.
»Hier die Flagge!« Ricardo sprang neben Lee, reichte ihm das Banner. Der griff es, stieß den Stock kraftvoll in die Erde. Ein leichter Windstoß entfaltete die Farben.
»Ein Hurra der Flagge! Ein Hurra unserem Führer! Ein Hurra dem neuen, südamerikanischen Land!« Ricardo Stamfords Stimme scholl weit über das neue Land. Die anderen fielen jubelnd ein.
Sie waren am sanft abfallenden Rande eines Hochplateaus gelandet. Unter ihnen eine weite, baumlose, mit Gras bewachsene Ebene, durch die sich ein schmaler Wasserlauf schlängelte.
Nach Osten stieg die Landschaft zu einem steilen Höhenrücken auf, einem Ausläufer der großen Alpenkette, die sich von Norden nach Süden zog.
In weiter Ferne stieß unvermittelt ein steiler, spitzer Felskegel empor, aus dessen Gipfel dünner, schwarzer Rauch quoll. Südlich davon am Rande des Plateaus eine Stelle, als ständen dort die Ruinen von alten Schlössern, hier und da noch von einem von der Zeit verschonten Turm, einer übriggebliebenen Zinne überragt. Dazwischen einzelne gerade Säulen, wie von Menschenhand aufgerichtet. Und doch alles nur ein Spiel der Natur – ein gewaltiges Erdbeben hatte wohl die riesigen Steinmassen umhergeschleudert, und der Zufall hatte ihnen die verschiedenen Stellungen und Lagen gegeben. Über alledem ein bewölkter Himmel. Nur wenige blaue Flecken zwischen den Wolkenhängen. Gedämpftes Sonnenlicht über dem Ganzen.
Minutenlang starrten alle mit neugierigen Augen auf das Bild. Die neue Welt! – – – Und doch, solange man auch schaute, nach Neuem, Ungekanntem spähte . . . die Landschaft, im ganzen genommen, nicht anders als ein Geländeausschnitt der alten Erde. Dazu die Bäume, Sträucher . . . die Vogelwelt, soweit sie der erste Blick fassen konnte, kaum verschieden von denen der Erde.
Plötzlich riß Ricardo Stamford sein Fernglas vor die Augen, spähte in die weite Grasebene. Schrie dann laut: »Ich will nicht meines Vaters Sohn sein, wenn da unten nicht eine große Büffelherde heranzieht.« Er reichte das Glas Hierra.
»Richtig«, erwiderte der . . . »Nun, dann wären ja wohl Perspektiven auf eine Hazienda à la Marguerita gegeben.«
»Zunächst mal auf einen guten Braten, Señor Hierra«, erwiderte Ricardo, sprang ins Schiff, kam mit einer Büchse bewaffnet zurück und eilte den Hang hinunter.
Lee, der etwas abseits gestanden, rief ihn zurück. »Keine Zeit jetzt, Don Ricardo. Morgen mögen Sie Ihr Jagdglück versuchen.« Er wandte sich zu den anderen, reichte jedem die Hand.
»Das erste Ziel ist erreicht . . . nun nicht länger säumen, jetzt gilt's das zweite. Den Platz finden, wo die Uraniden gelandet. Vergessen wir nicht, in spätestens vier Stunden wird auch die ›Arizona‹ landen. Nach dem Stande der Sonne zu urteilen, dürfte nach Venusortszeit die dritte Mittagsstunde überschritten sein. Die ›Arizona‹ wird kurz vor Sonnenuntergang kommen. Daß sie ebenfalls die nördliche Halbkugel der Venus ansteuern wird, ist selbstverständlich. Ebenso, daß sie, wie wir, westlich jener Alpenzüge zu landen suchen wird.
Nach den Beobachtungen der Berliner und Londoner Warten muß sich das Lager der Uraniden westlich dieser Höhenketten befinden. Hat die ›Arizona‹ Glück, landet sie dieser Stelle vielleicht näher als wir. Sie sehen, Eile ist geboten. Alles an Bord!«
Ein paar Minuten später hob sich der »Jonas Lee« in die Luft.
In langsamer Fahrt trieb das Schiff in geringer Höhe über das Land. Die Alpenkette zur Rechten, suchte man aufmerksam nach jener Stelle, die die Filmbilder als Lagerplatz der Uraniden gezeigt. Alle, außer Hierra, der die Führung des Schiffes übernommen, spähten mit scharfen Gläsern das unter ihnen liegende Gelände ab, jeder ein Photo der Uranidenbilder vor sich.
Doch die Zeit verrann. Immer weiter trieb das Schiff nach Norden. Nichts zu sehen.
»Vielleicht, daß eine andere Alpenkette, die ähnlich läuft, die richtige ist, Mr. Lee«, flüsterte Ricardo dem zu.
Ronald Lee schüttelte den Kopf. »Es kann nicht sein. Diese charakteristische Gipfelhäufung im Süden stimmt unbedingt mit den Filmbildern überein. Ich glaube nur, daß wir aus übertriebener Vorsicht zu weit westlich jener Alpen suchen. Wir werden umwenden, wieder nach Süden fahren und dabei näher östlich an das Gebirge herangehen. Jener Vulkan . . . er ist leider nicht auf dem Filmbild zu sehen . . . doch ich vermute fast, daß in seiner Nähe die gesuchte Stelle liegt.«
Er rief Hierra durch das Sprachrohr den Befehl zu, das Schiff zu wenden. Begab sich mit Ricardo nach der Backbordseite und übernahm dort die Beobachtung.
Das Schiff trieb langsam nach Süden, näherte sich dabei den Höhenzügen, in welche die Alpen ausliefen.
»Langsam fahren!« schrie Ricardo Stamford plötzlich in das Sprachrohr, stieß Lee an.
»Da unten! Süd zu Südost! Die hohe Baumgruppe hart an der Bergnase . . . dahinter ein kleines Plateau . . . mitten darauf . . . sehen Sie nicht auch? . . .
Ah! Jetzt! . . .« Er klatschte in die Hände. Ein Sonnenstrahl, der sekundenlang durch die starke Wolkenschicht gebrochen, hatte ein dunkles, graues Etwas, das sich dort wie eine riesige Steinsäule erhob, hell aufleuchten lassen.
»Das Uranidenschiff! Bei Gott, Don Ricardo, Sie haben recht! Es ist's!«
Lee stürzte zum Sprachrohr.
»Kurs Süd zu Südost! Schneller die Fahrt!«
Jetzt kamen auch die anderen von allen Seiten herbeigestürzt. Sie hatten ebenfalls das ersehnte Ziel erspäht. Immer größer die Erregung, immer ungezügelter die Spannung. Laute Rufe schwirrten durch den Raum. Kaum konnte man's erwarten, daß die letzte kurze Strecke zurückgelegt würde. Noch lief das Schiff stark gebremst auf die Baumgruppe zu, da stießen schon einige die Türen auf, hielten die Treppen bereit, sie auf den Boden zu werfen.
Und dann stand das Schiff still. Ein Drängen, ein Schieben. Man vergaß Lee. Alles stürmte die Stufen hinab, eilte zu der Baumgruppe, dem Uranidenschiff.
Keiner wußte, wohin zuerst. Da stand das Zelt. Da waren noch die Lagerstätten, wo die Kranken geruht. Da der Baum, in dessen Schatten der Sendeapparat jener Weltenfahrer stand.
Lee, der als letzter das Schiff verlassen, blieb am Fuße der Treppe stehen. Sein Blick umfaßte die historische Stätte.
Hier andere Menschen, von anderen Sternen . . . aus anderen Sonnensystemen . . . gekommen, gelandet. Menschliche Wesen im Besitz weit vorgeschrittener Technik. Welche unendlichen Mittel mußten denen zur Verfügung gestanden haben, eine solche Fahrt zu unternehmen.
Die nächste Sonne, der Stern Alpha im Sternbild des Stieres, mehr als vier Lichtjahre von der Erde entfernt . . . vier Lichtjahre . . . Was bedeutete dagegen die Fahrt des »Jonas Lee« von der Erde zur Venus über eine Strecke von kaum fünf Lichtminuten. Wie lange waren die durch den Weltraum getrieben? Mit welchen Beschleunigungen . . . mit welchen Geschwindigkeiten hatten sie die unendliche Entfernung überwunden? . . . Welch unvergleichliche Leistung! Welch unerhörter Wagemut!
Und hier angekommen . . . ihr Ziel . . . eine andere Erde, von Menschen bewohnt, vor den Augen . . . fast mit den Händen zu greifen . . . hier mußten sie scheitern . . . sterben?
Langsam näherte Ronald Lee sich der Baumgruppe. Sein Auge glitt prüfend über die Gegenstände, die da lagen. Wie lange war es her, daß lebendige Wesen hier geweilt. Tage mußten schon vergangen sein, seit die letzten diese Stätte verlassen.
Doch warum hatten sie sie verlassen, wo doch hier all ihre Hilfsmittel lagerten . . . ihr Schiff. Gewiß, es mochte andere Gegenden geben, die für einen längeren Aufenthalt besser geeignet wären. Aber dann hätten sie doch wohl nicht alles hier stehen und liegen lassen . . .
Die letzten . . . waren sie gestorben? . . . Wo waren ihre Leichen? . . . Mochte der allerletzte die Toten noch begraben haben . . . wo war er? . . . Wo war sein Leichnam?
Allmählich hatte sich die Erregung seiner Gefährten gelegt. Einer nach dem anderen kam herbei, berichtete, was er gesehen, zeigte einzelne Gegenstände, die er gefunden. Lee schüttelte den Kopf, wies sie zurück.
»Nicht diese unwichtigen Dinge! Suchen wir nach Menschen, mögen sie lebendig . . . mögen sie tot sein.«
Er zog die vergrößerten Filmbilder aus der Tasche, sah lange auf eines, suchte mit dem Glase im Osten die Gegend ab.
Die Schlucht . . . der Hang mit den kleinen Hügeln. Da, etwa einen halben Kilometer entfernt mußte die Stelle liegen.
Er winkte Professor Royas und Ricardo Stamford zu sich. Schritt mit ihnen in der Richtung nach der Schlucht. Hörte nur mit halbem Ohr auf das unaufhaltsame Plaudern Ricardos. Seine Augen waren unverwandt auf den Hang gerichtet.
»Zwölf kleine Hügel, von Osten nach Westen geschüttet. Zwölf die Zahl.« Je näher er kam, je schneller sein Schritt. Fast lief er das letzte Stück, stand dann an dem letzten der Hügel. Mechanisch ging seine Hand nach oben. Er zog den Hut, entblößte sein Haupt, neigte es. Verharrte so einen Augenblick. Beugte dann das Knie. Seine Hände strichen über die Erde, umkrampften sie, zerrieben sie zwischen den Fingern.
Ein Regen war nicht gefallen. Die Gegenstände unter dem Baume bewiesen es. Und doch, der Boden hier feucht, frisch, wie erst vor kurzem aufgeworfen . . .
Der letzte hier begraben? . . . Nein! . . . Einer noch mußte leben . . . oder war er irgendwo zusammengesunken, an einem versteckten Ort . . . Dann mußte sein Leichnam noch da sein . . .
Suchen! . . . Stunden, Tage konnten vergehen, bis er Gewißheit hätte . . .
Das Bild jenes letzten . . . er riß es aus seiner Tasche. Hier war es, das wunderbare Antlitz. Immer wieder hatte er sich in die Züge dieses edlen Kopfes versenkt. Diese hohe Stirn mit dem hellen, zurückgekämmten Haar. Dieses breite, energische Kinn, von starkem Haarwuchs umwuchert. Diese großen, ausdrucksvollen Augen . . . Waren sie geschlossen? . . . Ruhten sie hier unter diesen Erdschollen? . . .
Nein! Es war nicht möglich. Es konnte ja nicht sein. Der hätte sich ja selbst begraben müssen, wenn er tatsächlich der letzte war.
Und doch! Es war etwas in Ronald Lee, das ihn nicht loskommen ließ von den Gedanken: hier das Grab des letzten der zwölf! Hier das Grab des Mannes, den das Bild in seiner Hand darstellte.
Er wandte sich zurück zu Ricardo.
»Lassen Sie die anderen nicht näher herankommen. Es genügt, wenn Sie beide mir als Zeugen dienen . . . wenn ich jetzt die Ruhe dieses Mannes störe.«
Mit Royas' Hilfe räumte er die Erde des Hügels zur Seite. Ricardo wollte ein paar Werkzeuge holen, doch Lee winkte ihm unwillig ab. – – –
Und dann schreckten ihre Hände plötzlich zurück. Durch die letzte leichte Erddecke schimmerte es hell. Ein weißer Kittel. Vorsichtig, behutsam schob Lee die Erdkrumen zur Seite. Da, wo das Grab erhöht, ein Tuch . . . er zog es sacht zurück . . . in andächtigen Schauern starrten sie in das Antlitz des Toten.
Lee murmelte wirre Worte.
»Er ist's! Er muß es sein!« Mit zitternden Händen griff er das Bild, legte es neben den Kopf des stillen Schläfers.
Alles stimmte überein . . . die Stirn, das Kinn . . . der Mund.
Nur Stunden konnten vergangen sein, seitdem der hier begraben. Noch nichts von Verwesung. Unverändert, so wie er gestorben war, lag er hier.
Lange standen sie vor dem Toten. Dann deckten sie das Grab schweigend wieder zu. Dann sprach Royas, deutete auf den Grabhügel.
»Die anderen müssen zum Teil schon vor langen Tagen gestorben sein. Unverkennbar sind Regen und Tau schon öfter als einmal auf die ersten Gräber gefallen. Der den hier begrub . . . es wäre möglich, daß nur Stunden seitdem vergangen sind . . ., der muß noch leben. Hatte er noch die Kraft, dieses Grab zu schaufeln, den Leichnam hierherzubringen, ihn in die Erde zu betten . . . er kann nicht so krank gewesen sein, daß er nicht noch am Leben sein müßte.
Wir müssen ihn suchen . . . finden. Vielleicht, daß wir ihm helfen können.«
Lee nickte stumm. Ricardo antwortete:
»Ja, wir müssen suchen . . . nach ihm . . . vielleicht auch, daß es noch mehrere sind. Wo sie sind, wird auch das alles sein, was wir auf dem Lagerplatz vergeblich gesucht haben. Und schnell müssen wir handeln, ehe Canning kommt.«
»Sie haben recht, Don Ricardo. Ich denke, das Suchen übernehmen Sie und Ihre Brüder als geübte Jäger. Hierra wird mit Cruzado und den übrigen den ›Jonas Lee‹ zu einem Fluge über den Kontinent klarmachen, überall gemäß den Bestimmungen des Völkerrechts Flaggen werfen. Unser Besitzrecht muß unanfechtbar kenntlich gemacht sein, bevor die Leute der nordamerikanischen Union kommen.«
Der Befehl wurde von allen Mitgliedern der Expedition mit lebhaftem Beifall aufgenommen. Gleich darauf erhob sich der »Jonas Lee« in die Luft.
Während die drei Brüder Stamford sich auf die Suche begaben, trat Lee in das Raumschiff der Uraniden. Das Schiff war von gewaltigen Ausmaßen, reichlich doppelt so groß wie der »Jonas Lee«. Langsam durchforschte er die einzelnen Räume. Verweilte am längsten in der Zentrale. Trotz der Größe des Schiffes waren die Maschinenanlagen bedeutend kleiner als die des »Jonas Lee«, der Mechanismus von einer unendlichen Einfachheit.
Staunend betrachtete Ronald Lee die einfache und doch so überaus sinnreiche Konstruktion. Aber natürlich, das war ja alles nur möglich, wenn man einen so idealen Baustoff hatte, wie ihn die Uraniden besaßen. Er löste ein paar Schrauben, prüfte die losen Teile. Fast gewichtslos diese Stücke gegenüber dem Stahl, aus dem noch viele Teile der Maschinerie seines eigenen Schiffes bestanden. Nach welchem Verfahren wurde dieser Baustoff gewonnen? Die chemische Analyse würde kaum viel helfen. Gewiß, es mußte eine Legierung zweier Gase sein. Darüber hatte der Film keinen Zweifel gelassen. Aber auf welchem Wege wurden sie zu dieser Verbindung als starres Metall gezwungen?
Alles, die Hülle des Schiffes, die innere Einrichtung, die Gebrauchsgegenstände . . . alles das gleiche grauschimmernde Leichtmetall. Die Formen zeigten hochentwickelte, künstlerische Linien.
In einem Raume, der anscheinend als Messe gedient, noch Geschirr mit Speiseresten. Es waren offensichtlich synthetische Lebensmittel. In einem Raum, der daran stieß, noch Vorräte solcher Speisen.
Wie lange waren die Uraniden geflogen? Mehr als vier Lichtjahre, länger als vierzig Billionen Kilometer ihr Weg . . . Die Streitfrage, um die es noch immer auf der Erde ging . . . war es möglich, durch fortwährende Beschleunigung die Fahrtgeschwindigkeit über die des Lichtes hinaus zu steigern . . . oder die andere Meinung, daß ein Raumschiff trotz aller Beschleunigungen nie die Lichtgeschwindigkeit erreichte, daß aber die Zeit für die Weltenfahrer stillstand . . . diese Streitfrage war für die Uraniden durch ihre Fahrt gelöst. War sie in dem letzten Sinne entschieden, so waren sie ja nur wenige Tage unterwegs gewesen, während auf ihrem Heimatsstern gleichzeitig viele Jahre verflossen. Aber wo war ein Anhaltspunkt, wie die Frage gelöst? Aus den noch vorhandenen Lebensmitteln war zunächst kein sicherer Schluß zu ziehen. Erst durch eine chemische Untersuchung konnte man der Frage näherkommen.
Eine Überraschung bot eine kleine Kabine, anscheinend der Wohnraum des Kommandanten. Einige Bilder an den Wänden. Familienangehörige vermutlich. Zwei Frauenköpfe, ein paar Kinderfiguren. Gewisse Ähnlichkeiten in den Zügen der Kinder ließen auf Verwandtschaft mit dem Führer schließen. Die natürlichen Farben der Bilder zeigten eine Bevorzugung der bläulichen und violetten Töne, brachten etwas Fremdartiges in die Figuren, obwohl die Gesichtsbildung durchaus derjenigen irdischer Menschen entsprach.
Lee erstaunte, überlegte. Aber freilich, es mußte so sein. Die Uraniden wohnten ja im Scheine einer viel heißeren Sonne. Viel weiter nach der blauen Seite des Farbenspektrums hin lag das Strahlungsmaximum jenes Feuerballes, der ihren Planeten beleuchtete. Ebenso wie das Menschenauge sich in unendlich langer Entwicklung der Sonnenstrahlung angepaßt hatte, deren Höchstwert im Grüngelb liegt, so das Auge dieser Uraniden an die stärkere blaue Strahlung ihrer Sonne.
Auch ihre Körpergröße unterschied sich von der irdischer Menschen. Wohl um Hauptes Länge mußten sie die durchschnittlich überragen. Untrüglich ging das aus den Abmessungen der Möbelstücke hervor. Die im allgemeinen verblüffende Übereinstimmung dieser Sternenmenschen mit den Erdbewohnern war nur so zu erklären, daß ihr Heimatstern ganz ähnliche physikalische Verhältnisse und Lebensbedingungen bieten mußte wie die Erde. Nur dann konnten ja dort nach dem Grundsatz von der Universalität der Naturgesetze menschengleiche Wesen entstehen.
Lange stand Lee vor den Bildern dieser Uraniden. Wie mochten die jetzt des kühnen Mannes gedenken, des Vaters . . . des Gatten. War es den Weltraumfahrern möglich gewesen, in radiotelegraphischer Verbindung mit dem Heimatstern zu bleiben? Wußten die, welch trauriges Schicksal ihre Lieben ereilt? . . . Unüberbrückbar für irdische Technik diese Riesenentfernung – – –
Wie wohlig das Gefühl für ihn und seine Genossen, mit den Angehörigen auf der Erde jederzeit Nachrichten austauschen zu können . . . Hortense! Seine Gedanken flogen zu ihr. Mit zärtlicher Ungeduld erwartete er schon längst Antwort auf seine Siegesdepesche. Seine Gedanken gingen weiter. Wie lange würde es dauern, und sie kam mit van der Meulen, Violet hierher. Sein Glück vollkommen dann.
Er durchsuchte noch einmal das ganze Schiff. All sein Interesse war darauf gerichtet, die Ursache zu entdecken, die jene zu der Notlandung hier auf der Venus genötigt. Eine Notlandung mußte es gewesen sein, denn sonst hätten sie die im Verhältnis zu ihrer Riesenfahrt winzig kleine Strecke bis zur Erde auch noch zurückgelegt. Sorgfältig prüfte er jeden Teil, jeden Hebel der Apparatur . . . und wurde an sich selber irre. Da mußten doch lebenswichtige Teile des Triebwerkes fehlen . . . Hatte man sie herausgenommen, um sie zu reparieren? . . . Oder wo waren sie geblieben? Vergeblich suchte er die Lösung des Rätsels. Trat jetzt in die Öffnung der Außentür. Sein Blick ging zu dem zweiten Empfangsapparat aus dem »Jonas Lee«, den Hierra hier aufgestellt hatte. Er sah schärfer hin. Das Morserad lief. Er eilte hinzu, nahm das Papierband in die Hand, las . . .
Der Glückwunsch aus Buena Vista . . . die Namen van der Meulen, Hortense, Violet . . . die »Buena Vista« startbereit. Das war das wichtigste. In 36 Stunden würde sie landen. Seine Gedanken verwoben sich mit dem Schiff. Es war in allen seinen Teilen gebaut wie der »Jonas Lee«. Sein Führer Juan Urdaneda, ein unbedingt zuverlässiger, tüchtiger Ingenieur. Er würde seine Lieben sicher hierherführen . . .
Doch vorher . . . Canning würde kommen . . . Dies Zusammentreffen von Menschen, die gemeinsames Schicksal zu verbinden . . . nicht loszulassen schien . . . ein Konflikt mit denen in der »Arizona« . . . er konnte ihm ruhiger entgegensehen. Die Verstärkung seiner Macht durch das zweite Schiff war in jeder Beziehung wertvoll, da weitere Schiffe aus der nordamerikanischen Union vorläufig nicht zu erwarten waren.
Sein Auge ging zur Sonne. Die neigte sich dem Saume der riesigen Ebene im Westen zu. Bevor das Tageslicht schwand, mußten sie wieder da sein, seine Gefährten.
Ob Ricardo und seine Brüder etwas gefunden? Die Frage so wichtig! Und doch in seinem Innern kaum ein stärkerer Grad der Spannung. Alles, was sein Hirn aus dem hier Gesehenen kombiniert, ließ ihn nur geringe Hoffnung haben.
›Vielleicht ist es besser so‹, murmelte er resigniert. ›Er ist der Größere. Er weiß, was der Menschheit gebührt. Die Erfahrung steht auf seiner Seite.‹
Ronald Lee schritt zu dem einzelnen Baum, unter dem die Kranken gelegen. Unter einer Glasglocke ein Apfel. Er nahm ihn in die Hand. Eine köstliche Frucht dem Äußeren nach . . . und doch die Bilder . . . dies warnende Weisen und Deuten auf die Frucht. Ein Erdbewohner hätte vielleicht ein Kreuz dabei gemacht.
Von diesen Früchten hatten die Uraniden gegessen. Ahnungslos, getäuscht durch das prächtige Aussehen, den würzigen Duft. Jeder seiner Gefährten hatte den Apfel gesehen, jeder den anderen gewarnt . . . Gedankenverloren steckte er ihn in die Tasche. Wenn der »Jonas Lee« zurückkam, wollte er die Frucht für eine spätere chemische Untersuchung konservieren . . .
Der »Jonas Lee«! Da kam er von Süden herangeflogen, stand wenige Sekunden später über seinem Kopf, landete. Ein paar tausend Flaggen in den Farben der südamerikanischen Union waren von ihm über Nova America abgeworfen, völkerrechtlich unbestreitbar das Land dadurch in Besitz genommen.
Hierra gab einen kurzen Bericht, doch nicht viel Neues konnte er erzählen. Die Fahrt des »Jonas Lee« war in geringer Höhe mit solcher Schnelligkeit vor sich gegangen, daß sie kaum mehr als bei ihrer ersten Landung festgestellt hatten. Das eine war sicher, daß es sich hier um einen auf allen Seiten von breiten Weltmeeren umgebenen Venusteil von etwa der Größe Afrikas handelte, dessen schmale Südspitze eben noch in die Äquatorialzone hineinreichte. Das Land von großen Wäldern und Grasebenen bedeckt, die von zahlreichen Flüssen durchzogen waren. Die Alpenkette verflachte sich nach Süden zu.
Während Hierra noch sprach, näherten sich vom südlichen Waldrande her Ricardo und seine Brüder. Näherkommend schwenkte Ricardo den Hut, wies auf die Brüder, die unter der Last einer geschossenen Antilope keuchten.
»Die einzige Beute! Sonst nichts. Keine Spur, kein Zeichen, daß, wo wir gesucht, Uraniden gewesen.«
Während Lee mit Hierra in das Schiff zurückging, um die formelle Besitzergreifung von Nova America der Regierung in Buenos Aires zu melden, zündeten die Brüder ein Feuer an. Wenige Minuten später drehte sich der Ziemer am Spieß über den Flammen.
Die Nacht brach herein . . . die erste Nacht auf der Venus.
»Die ›Arizona‹ kann nicht mehr weit sein, Mr. Lee«, sagte Professor Royas und trat mit ihm ins Freie. »Es wäre vielleicht besser, das Feuer zu löschen. Denn warum sollen wir jenen die Landung erleichtern. Sie werden bei dieser Beleuchtung große Schwierigkeiten haben, den Lagerplatz der Uraniden anzusteuern.«
Lee überlegte einen Augenblick, wollte dann den Befehl geben, das Feuer zu löschen. Da brach ein heller Blitz aus den Wolken. Alles sprang auf, schaute nach oben.
»Ein Scheinwerfer der ›Arizona‹!« rief Hierra, »nichts anderes kann es sein!« Brummte dann vor sich hin: »Der Braten kann uns vielleicht teuer zu stehen kommen. Verflucht das Feuer!«
Ein paar erwartungsvolle Sekunden . . . dann senkte es sich schwarz und massig aus den Wolken herab. Nur etwa zwei Kilometer nach Norden von dem »Jonas Lee« entfernt setzte die »Arizona« auf den Venusboden auf.
*
Auch die »Arizona« glücklich gelandet. Durch die offene Tür betraten die Insassen den Venusboden. Doch hier kein frohes Jubeln und Hurrarufen. Wohl steckte Canning den Flaggenstock in den Boden und brachte drei Cheers auf das Sternenbanner aus. Doch das Echo seiner Genossen war nur schwach. Alle hatten, als das Schiff die Wolkenwand durchstieß, den Feuerschein am Venusboden gesehen. Das helle Licht ihrer Scheinwerfer hatte ihnen gezeigt, daß es wahr geworden . . . der »Jonas Lee« am Lagerplatz der Uraniden gelandet.
Die Dunkelheit verbot ein Durchforschen, Besichtigen der Umgebung. Bedrückt, mit verdrossenen Gesichtern begab sich einer nach dem anderen von der Mannschaft der »Arizona« zur Ruhe.
Canning stand am Sendeapparat. Seine Gedanken weilten bei William Harrod, dem er soeben die Nachricht von der Landung übermittelt. Im Stillen hatte er gehofft, daß Lee vielleicht den Platz, an dem das Uranidenschiff gelandet, noch nicht gefunden. Daß er selbst vielleicht doch noch das Glück haben könne, wenigstens dies Ziel als erster zu erreichen . . . das Erbe der Uraniden.
Wieder die harte Hand des Schicksals, wie er sie in seinem Leben schon so oft gespürt. Diese technischen Meisterwerke . . . diese für Menschengeist noch unerreichbaren technischen Leistungen . . . Sicher noch viel mehr, als der Film gezeigt, bot die Hinterlassenschaft der Uraniden . . . Und der, der ihm schon so viel geraubt, Ronald Lee, in ihrem Besitz.
Seine Gedanken gingen zu seinem kostbaren Schatz, seinem treuen Diener, dem Strahler. Er hatte ihn bei sich. Doch wie ihn hier verwenden? Unmöglich! . . . Ha! Er sprang auf. Der andere Diener . . . Auch er bisher treu und gut. Sarata . . . Vielleicht, daß er . . .
Er ging in seine Kabine, wo der Inder in einer Ecke am Boden sein Lager aufgesucht hatte, sprach mit ihm.
Der nickte. Verließ das Schiff. Schritt in der Richtung des Uranidenlagers in die dunkle Nacht. – – –
»Hallo! Hallo, Juan! . . . Wahrhaftig, der Kerl schläft.«
Ricardo beugte sich zu Boden, rüttelte den Bruder. »Du bist mir ein schöner Wachtposten. Den ›Jonas Lee‹ mit seinen sämtlichen Insassen hätten die stehlen können. Will hoffen, daß du noch nicht lange eingeschlafen bist. Schweig nur um Gottes willen still, daß die anderen nichts erfahren. Marsch ins Schiff! Ich löse dich ab.
Juan! Hörst du denn nicht? Verstehst du mich denn nicht?«
Er trat erstaunt einen Schritt zurück. Der Bruder schien in einem bleiernen Schlaf gelegen zu haben. Schien mit Mühe das Bewußtsein wiederzuerlangen. Jetzt . . . er reckte sich, erhob sich halb, sank dann, wie der Ermüdung nachgebend, wieder zurück.
»Juan! Was soll das? Ich kenne dich nicht wieder . . . Oder bist du krank?«
Er griff dem unter die Arme, hob ihn empor. Der taumelte, stützte sich schwer gegen einen Baum.
»Juan, du bist krank?!«
Der Bruder schüttelte den Kopf, strich sich mit der Hand schwer über die Stirn.
»Krank? Nein, Ricardo . . . Ich bin nur sehr müde . . . mein Kopf . . . er ist so schwer . . .«
»Ein Fieber, das über dich gekommen . . .«, unterbrach ihn Ricardo. Er griff seine Hand, fühlte den Puls. Schüttelte den Kopf.
»Nein, der Puls ist durchaus in Ordnung. Doch komm! Setze dich hier an den Baumstamm . . . Die kühle Nachtluft wird dir besser sein als der Aufenthalt im Schiff.
Und nun berichte einmal! Wie hast du dein Übelbefinden zuerst verspürt? Wie kam das über dich?«
Juan Stamford besann sich eine Weile. Sprach dann:
»Ich mochte wohl seit einer Stunde hier den Wachtposten übernommen haben. In der Richtung nach Norden glaubte ich ein paarmal ein leises Geräusch zu hören, als nähere sich irgendein Tier. Doch dann war es wieder still. Ich hörte nichts mehr . . . und dann wieder . . .« Er sann lange, sprach dann mit abgerissenen Worten, »dann war's . . . war mir's, als lege sich etwas Dunkles, Schweres über mich. Meine Sinne begannen zu schwinden . . . ich wehrte mich vergeblich . . . und dann . . . war's ein Traum . . . war's Wirklichkeit? . . . Noch hatte ich Spuren von Bewußtsein . . . dann sprach eine fremde Stimme zu mir. Fragte mich . . . ich antwortete . . .«
»Du hast geträumt, Juan. Die Fülle der Ereignisse der letzten Stunden hat deinen Geist übermüdet.«
Juan schüttelte den Kopf. »Immer mehr sage ich, es war kein Traum . . . war Wirklichkeit . . . Aber nein, es kann ja nicht sein . . .«
»Gewiß! Du hast geträumt! Nichts anderes. Geh jetzt in das Schiff, schlafe! Der morgige Tag wird vielleicht einige Überraschungen bringen.«
Ricardo schaute dem Bruder, der langsam dem Raumschiff zuschritt, nachdenklich nach. Seine Augen gingen ein paarmal mißtrauisch nach Norden.
›Ich werde das doch morgen früh Mr. Lee mitteilen.‹ – – – –
»Sie haben nichts gefunden, Mr. Canning.«
»Nichts?!« stieß der mit heiserer Stimme heraus. »Unmöglich! Da steht ja noch das Uranidenschiff.«
Sarata zuckte die Achseln. »Ich kann nur sagen, was jener Tölpel mir im Tiefschlaf verriet. Gewiß. Man hat allerlei Gegenstände gefunden, aber nichts von Belang . . .«
»Belang! Was willst du damit sagen? Von Belang ist alles, was die da zurückgelassen haben.«
»Nein! Ich meinte das, worauf die Welt so gespannt, so neugierig . . . Die Filme! . . . Die Dokumente! . . . Dinge, die von besonderem technischen Wert . . .«
Canning schaute den Inder mißtrauisch an.
»Wie willst du das festgestellt haben?«
»Nun,« sagte Sarata, »man hat schon stundenlang danach gesucht . . . nichts gefunden.«
»Ah!« Canning trat erstaunt einen Schritt auf den Inder zu. »Dann leben also noch einer oder mehrere von der Besatzung des Uranidenschiffes, die diese Dinge mitgenommen haben?«
»Es muß so sein, Mr. Canning. Denn wo wären sie sonst hin verschwunden?«
»Gut! Gut!« murmelte Canning vor sich hin. »Noch bietet das Schicksal eine Chance. Auch wir werden suchen, sobald der Tag anbricht. Vielleicht, daß wir glücklicher sind . . . Halt, Sarata! . . .«
Ein plötzlicher Gedanke war in Canning aufgeblitzt. Er ergriff den Inder heftig an der Schulter, hielt ihn fest.
»Deine Kunst . . . warum sollen wir sie hier nicht versuchen? . . . Vielleicht, daß sie uns hilft . . . uns einen Fingerzeig gibt . . .«
Der Inder zögerte einen Augenblick. »Sarata ist müde . . . später . . .«
»Nein! Sofort! Jetzt sofort! Ich lasse dich nicht. Wo befindet sich der Schatz der Uraniden? Die Frage . . . du wirst, du mußt sie beantworten können.«
Unter den zwingenden Blicken Cannings gab der Inder nach. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Erde. Seine Rechte umklammerte die Elfenbeinkugel.
Minuten verstrichen. Seine Pupillen wurden starr. Der Atem ging kaum merkbar. Er lag im magnetischen Schlaf. Da plötzlich . . . der Körper bebte in konvulsivischen Zuckungen. Die weit geöffneten Augen verrieten Schrecken . . . Entsetzen. Der Mund stammelte wirre Rufe.
Canning sah besorgt den eigentümlichen Zustand des Inders, suchte vergeblich zu erraten, was der Grund dafür. Dann plötzlich, als wolle er flüchten vor einer Gefahr, sprang der Inder auf, klammerte sich an Cannings Schultern.
Der entsann sich früherer hypnotischer Experimente. Ein Versuch . . . vielleicht, daß es gelänge, den Inder zu wecken. Er griff dessen rechten Arm. Seine Linke strich über die Stirn Saratas, die, wie von Angstschweiß bedeckt, kalt . . . naß war.
»Wach auf! Wach auf!« gab er im Geist den Befehl. Endlich . . . es mußte gelungen sein . . . Sarata wurde ruhiger. Die Starre seines Körpers löste sich. Er sank zu Boden. Canning kniete neben ihm nieder.
»Sage mir, was du sahst. Der Schatz der Uraniden! Wo ist er? . . . Wer hat ihn?«
Da! Kaum, daß die Frage an sein Ohr gedrungen, fing Sarata wieder an zu zittern. Seine Augen füllten sich mit Entsetzen, Schrecken. Seine Hände gingen abwehrend zu Canning.
»Niemals fragen Sie wieder! . . . Niemals! Ich müßte sterben, wenn ich das Bild noch einmal sähe . . .«
»Sarata! Bist du ein Kind? Diese Frage, wie kann sie dich so erregen? Was sahst du? Sprich!«
»Niemals wirst du's erfahren!« Der Inder sprang auf.
Wie von Furien gehetzt, lief er davon, verschwand im Schiff.
*
Ronald Lee saß in seiner Kabine. Vergeblich hatte er Schlaf gesucht.
Der Schatz der Uraniden! Schon längst hatte er die Nachricht zur Erde gegeben . . . von dem Verschwinden der wichtigsten, kostbarsten Teile des Schatzes . . . von dem vergeblichen Suchen nach ihrem Verbleib. Ein bitterer Tropfen in dem Freudenbecher so vieler Tausende da unten . . . für seine Gefährten . . . für ihn? . . . Ja! . . . Nein! . . .
Er verwarf die Grübeleien, die sich ihm aufdrängten, ihn wieder martern wollten! Und doch! Trotz allen Zweifeln . . . der kleine Funke Hoffnung, daß man . . . daß er sie doch noch fände . . .
Morgen . . . und wenn nicht morgen, übermorgen . . . Lebte noch einer der Uraniden, konnte er nicht allzu weit gelangt sein. Der kleine Funke Hoffnung beharrlich in ihm glühend . . . Jetzt Canning da . . . er vielleicht der Glückliche . . .
Alles in ihm wallte auf, sträubte sich unwillig gegen den Gedanken . . . Dem das Suchen verbieten! War's nicht Lee's Recht? Stand es nicht in seiner Macht? . . . Zwar war er Engländer geblieben. Aber die südamerikanische Regierung hatte ihm weitgehende Vollmacht gegeben. Doch was tun, wenn der sich weigerte?
Er ging zur Kabine Hierras, weckte ihn, sprach lange mit ihm. Dann begaben sie sich zu dem Radiosender, schickten einen chiffrierten Ruf an die Regierung in Buenos Aires. Der Depeschenwechsel dauerte lange. Je länger er dauerte, desto deutlicher fühlte Lee, wie man einer strikten Beantwortung seiner Frage, eventuell mit Waffengewalt den lästigen Gegner fernzuhalten, auswich.
»Lassen wir's genug sein, Señor Hierra. Wir werden nicht klüger dabei. Man will die Verantwortung nicht tragen . . . das ist deutlich zu erkennen . . . will uns keinen direkten Auftrag geben, hier eventuell Gewalt anzuwenden.
Mir selbst, Sie werden mir's glauben, wäre es natürlich auch in höchstem Grade unerwünscht, mit den anderen, mögen sie auch unsere Nebenbuhler sein, in blutigen Streit zu geraten. Haben sie doch ebenso wie wir ein so kühnes, gefährliches Unternehmen vollendet . . .
Und doch! Es wäre nicht ausgeschlossen, daß es die Lage verlangte . . . Gewalt . . . Jedenfalls will ich insofern nach der Weisung der Regierung handeln und morgen früh Professor Royas zu Mr. Canning schicken. Es trifft sich gut, daß Royas ein Bekannter des Oberst Robartson ist. Robartson ist ein vernünftiger, anständiger Charakter. Vielleicht, daß sich durch seine Vermittlung alles zum Guten wendet . . .
* * *