Hans Dominik
Befehl aus dem Dunkel
Hans Dominik

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»›Sämtliche politischen Gefangenen sind sofort in Freiheit zu setzen. General Iwanow.‹

Wäre der Blitz in das Gouvernementsgebäude von Irkutsk geschlagen, Verwirrung und Aufregung hätten nicht größer sein können. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde von diesem unbegreiflichen Erlaß des Oberbefehlshabers durch den Riesenbau.

Alle politischen Gefangenen freigelassen? Ja sogar die bereits zum Tode Verurteilten?! Was war geschehen? War der General wahnsinnig geworden? War eine neue Revolution ausgebrochen?

Wenige Minuten später war das Zimmer des Generals angefüllt von einem Schwarm höherer Beamter und Offiziere, die ihn mit Fragen bestürmten, auf ihn einsprachen. Doch immer nur die eine Antwort aus Iwanows Munde: ›Die Gefangenen sind unschuldig. Außerdem liegt ihre Entlassung im Staatsinteresse.‹

Waren es wirklich die Worte des Generals oder war es etwas anderes – eine Stimme nach der anderen verstummte. Die erregten Gesichter glätteten sich mehr und mehr . . . dann alle in nachdenklichem Schweigen, und dann . . . nickten die einen zustimmend, die anderen sprachen laut heraus, es könne gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Staatsinteresse die Freilassung der Gefangenen erfordere . . . sie seien völlig unschuldig.

War dieser plötzliche Stimmungswechsel der Versammelten schon recht sonderbar, so war auch ihr weiteres Verhalten überaus merkwürdig. Anstatt nun nach Erledigung der Angelegenheit das Zimmer zu verlassen, verblieben sie noch eine volle Stunde bei Iwanow, ohne außer ein paar gleichgültigen Redensarten über die Gefangenen weitere Worte zu wechseln.

Als aber gegen Mittag der General und die anderen das Zimmer verlassen hatten, dauerte es nur wenige Minuten, da gellten nach einer kurzen Besprechung Iwanows mit den anderen Herren bei allen Behörden die Telephonklingeln: ›Befehl des Generals, die vor einer Stunde entlassenen politischen Gefangenen sofort wieder zu verhaften und in das Gefängnis einzuliefern.‹ Bis auf eine der Gefangenen, ein junges Mädchen namens Lydia Allgermissen, wurden die übrigen alsbald wieder festgenommen.

Am Nachmittag desselben Tages berief Iwanow sämtliche Herren, die am Mittag bei ihm gewesen waren, zu einer Besprechung zu sich. Noch ehe man dazu kam, sich über das Unbegreifliche, Unfaßbare, das sich vor ein paar Stunden in diesem Raum zugetragen hatte, auszusprechen, sprangen alle wie auf ein gegebenes Kommando auf und bewegten sich in lebhaften Tanzschritten durch den Raum. Gleichzeitig erschien vor dem Fenster, das nach dem Garten zu ging, ein alter, einfach gekleideter Mann, der sich über das Bild im Zimmer aufs höchste belustigte. Während seine Hände unaufhörlich den Takt zu dem Tanz im Gouverneurszimmer schlugen, sprudelte sein Mund von heftigen Verwünschungen und boshaftem Gekicher über.

Plötzlich öffnete sich die Tür zu dem Zimmer und ein junger Offizier in Meldeuniform, den Stahlhelm auf dem Kopf, trat herein. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte wie betäubt auf die sonderbare Szene. Dann suchten seine Augen die des Generals, und was er darin las, erfüllte ihn mit schreckhaftem Entsetzen. Angst, Wut, tiefste Beschämung sprachen nur zu deutlich daraus.

Unfähig, den Mund zu einer Frage zu öffnen, einen Entschluß zu fassen, stand der Offizier. Da fiel sein Blick auf das Fenster, hinter dem der Alte mit kreischenden Freudenrufen die Szene begleitete. Blitzartig kam dem Offizier der Gedanke, daß der dort draußen vielleicht durch Hypnose oder suggestiven Zwang den General und die anderen zu diesen jeder Vernunft und Sitte hohnsprechenden Tanzbewegungen veranlasse. Mit einem Sprung war er am Fenster und schoß durch die Scheibe hindurch den Alten in den Kopf, daß der sofort tot umsank.

Doch seine schnelle Vermutung bestätigte sich nicht. Die Versammelten tanzten unentwegt weiter, obwohl einige der älteren Herren sich nur noch mit Mühe auf den Füßen hielten. Kaum noch Herr seiner Sinne, wollte der Offizier aus dem Zimmer eilen und Hilfe holen, da war der Tanz plötzlich zu Ende. Verwirrt, atemlos, erschöpft taumelten die sonderbaren Tänzer zu den nächstbesten Sitzgelegenheiten. Iwanow gab . . .«

*

Dies stand gedruckt in der neuen Ausgabe der »Daily Mail«, die ein schlafender Passagier im D-Zug Aachen-Paris lose in der Hand hielt. Sein Gegenüber hatte weit vorgebeugt den Text bis hierhin mit größtem Interesse lesen können. Wie ging die merkwürdige Geschichte weiter? Wer hatte das geschrieben?

Fiebernd vor Neugierde und Ungeduld hätte Georg Astenryk dem Schlafenden am liebsten die Zeitung fortgenommen. Ärgerlich warf er sich auf seinen Sitz zurück, da traf sein Blick das etwas belustigte Gesicht seines Reisegefährten zur Rechten. Der mochte über sein Buch hinweg wohl etwas von dieser Lektüre mit Hindernissen beobachtet haben und reichte ihm jetzt lächelnd eine Zeitung.

»Bitte, Herr Astenryk. Das ist dieselbe Nummer der ›Daily Mail‹, die Sie anscheinend so interessiert. Sie können sie gern erhalten. Ich habe sie gelesen.«

Etwas verlegen nahm Georg Astenryk das Blatt an sich. »Sehr liebenswürdig, Herr Major. Meinen verbindlichsten Dank.« –

Der Zug hielt in Compiègne. Major Dale erhob sich und reichte Georg Astenryk die Hand zum Abschied. »Es war mir eine angenehme Bekanntschaft. Vielleicht fügt es das Schicksal, daß wir uns später noch einmal wiedersehen.«

»Das würde mich sehr freuen, Herr Major. Sollte der Zufall Sie in Australien gelegentlich wieder mit meinem Bruder Jan zusammenbringen, grüßen Sie ihn bitte.«

Der Zug rückte an. Georg Astenryk sah dem Reisegefährten nach, bis der an einem Autostand seinen Blicken entschwand. Ein hervorragender Mensch, dieser Major Dale aus Sydney, dachte er dabei. Natürlich, sonst wäre er ja nicht nach London in den Generalstab berufen. Man wird von ihm vielleicht noch hören, wenn es wirklich im Fernen Osten zu der großen Auseinandersetzung kommt. Was er über die gespannte Lage dahinten erzählte, war interessant. Danach ist ja eher früher als später ein Krieg zu erwarten. Daß er da drüben auch Jan kennengelernt hat . . . die Welt ist doch wirklich ein Dorf. –

Auch der Australier hatte von seinem deutschen Reisegefährten einen nachhaltigen Eindruck empfangen. Im Anfang der Fahrt, ehe sie miteinander ins Gespräch gekommen, hatte er sich immer wieder gefragt: Was ist das für ein Mensch da drüben? Was kann der sein? Dieser Zwiespalt in den starken, aber doch klaren Gesichtszügen. Die hohe Stirn, die klugen Augen des Gelehrten über dem kräftigen Kinn des Tatmenschen. Er mußte mit ihm bekannt werden, um über dessen Persönlichkeit Aufklärung zu bekommen. Es überraschte ihn, als er erfuhr, wie jung sein Gegenüber noch war. Er hätte ihn ohne weiteres zehn Jahre älter geschätzt. Der schien aus anderem Holz geschnitzt als sein Halbbruder Jan Valverde in Australien. Der war wohl ein ganz guter Farmer, aber auch nicht mehr als das. Dieser Astenryk überragte ihn jedenfalls turmhoch an geistigen Kräften. –

Georg Astenryk entfaltete jetzt die Zeitung Dales und nahm sich den Aufsatz vor, der ihn so interessiert hatte. Der Artikel trug die Überschrift »Erinnerungen eines russischen Arztes von Dr. Nikolai Rostow«. Er las ihn von der Stelle weiter, bis zu der er vorher gekommen war.

». . . General Iwanow gab dem Offizier den Befehl, niemand in das Zimmer hineinzulassen. Nach einer längeren Besprechung verpflichtete er alle Anwesenden bis zur Klärung der Angelegenheit zu strengstem Schweigen.

Die Vorgänge in Irkutsk waren auch in Moskau bekanntgeworden und die Regierung schickte sofort einen Stab hervorragender Kriminalisten und Gelehrter, darunter auch meinen Freund, den Generalarzt Orlow, von dem ich diese Mitteilungen habe, dorthin.

Die peinlichst genau durchgeführte Untersuchung ergab jedoch nichts, das geeignet gewesen wäre, den Schleier des Geheimnisses zu lüften.

Der von dem Offizier erschossene alte Mann war als ein Professor Allgermissen festgestellt worden. Dieser, ein Deutschbalte, als politisch Verdächtiger nach Irkutsk verbannt, arbeitete in dem staatlichen Laboratorium als Assistent unter dem Direktor des Instituts. Er hatte schon früher als Sonderling gegolten, als Wissenschaftler genoß er einen vorzüglichen Ruf.

Schon mehrmals hatte man Verdacht, daß Allgermissen Arbeiten, deren Resultate schon greifbar schienen, absichtlich falsch auslaufen ließ oder zum wenigsten stark verzögere. In der letzten Zeit hatte der Professor seinen Haß gegen die Regierung in mehr oder weniger versteckten Redensarten zum Ausdruck gebracht. Als er sich sogar in offenkundigen Drohreden erging, steckte man ihn und gleichzeitig seine Frau und seine Tochter Lydia ins Gefängnis. Während der Untersuchung starb Frau Allgermissen. Professor Allgermissen, der schon gleich nach seiner Verhaftung von den Ärzten als etwas geistesgestört bezeichnet wurde, verfiel jetzt in völligen Wahnsinn. Er wurde nach der Krankenabteilung des Gefängnisses gebracht, aus der er dann an jenem Tage unter allerdings sehr auffälligen Umständen entfloh.

Unter den auf jenen rätselhaften Befehl des Generals Iwanow aus dem Gefängnis Entlassenen befand sich auch Lydia Allgermissen. Sie hatte sich vom Gefängnis nach ihrer früheren Wohnung begeben. Von diesem Zeitpunkt ab war sie verschwunden.

Nachdem die Moskauer Kommission sich lange Zeit vergeblich bemüht hatte, eine triftige Aufklärung der geheimnisvollen Vorfälle zu geben, begnügte man sich schließlich mit der plausiblen Annahme, daß Professor Allgermissen über ungewöhnlich starke hypnotische Kräfte verfügt haben müsse. –

Dr. Orlow hat sich mit mir und auch mit anderen Fachleuten vergeblich bemüht, eine bessere, einigermaßen wissenschaftliche Erklärung zu finden. Vielleicht, daß ein Leser früher oder später die richtige Lösung findet.«

Damit schloß der Artikel in der »Daily Mail«. Georg Astenryk ließ das Blatt sinken und nickte nachdenklich vor sich hin, als wolle er sagen: Ich habe die Erklärung zum Teil schon gefunden, mein lieber Herr Doktor Rostow. Er barg die Zeitung sorgfältig in seiner Brusttasche, dachte dabei: Jetzt, wo ich den Bericht meines Freundes Lönholdt von solch authentischer Seite bestätigt finde, werde ich mich etwas ernsthafter mit dem beschäftigen, was ich von Allgermissen weiß.

»An Zeit mangelt es mir ja nicht«, sagte er mit einem bitteren Zug um die Lippen leise vor sich hin, »seitdem ich die Leitung der Firma Astenryk und Kompanie dem Konkursverwalter überlassen mußte . . .«

Dachte dann weiter . . . dieser Allgermissen . . . Genie oder Wahnsinn? . . . Genie und Wahnsinn? . . . Daß der schwer geisteskrank gewesen, stand wohl außer Zweifel . . . Wie oft hatte er deswegen die Beschäftigung mit dem Problem Allgermissens beiseitegeschoben, hatte sich gesagt: Es sind doch nur die Ideen eines Verrückten . . .

Und doch! Jetzt, wo er Lönholdts Bericht durch den russischen Arzt in jeder Beziehung bestätigt fand, jetzt mußten solche Zweifel schwinden. Jetzt durfte ihm selbst das Benehmen Allgermissens in der Nacht vor seiner Verhaftung nicht mehr als das eines völlig Wahnsinnigen erscheinen.

Was stand darüber in Lönholdts Tagebuch? Professor Allgermissen hatte in jener Nacht in wildem Triumphgeheul geschrien: »Tod und Vernichtung allen Bolschewiken! . . . Ich bin der Herr der Welt! . . . Die ganze Menschheit ist mir untertänig!« Jetzt mußte tatsächlich das Ungeheuerlichste möglich werden können. Jetzt mußte man den Worten Allgermissens einen realer Sinn zugestehen, auch wenn man, weiter denkend, auf unheimlich phantastische Folgen und Ziele stieß . . .

Georgs Gedanken wanderten. Seine innerliche Erregung steigerte sich mehr und mehr. »Mein Gott!« rief er schließlich laut aus, »man könnte ja auch wahnsinnig werden, wenn man das alles bis zum letzten Ende durchdenkt. Ja, wahnsinnig könnte man werden . . . wie es auch Allgermissen wurde . . . wurde, nicht war.«

Er schrak zusammen. Ein Schaffner trat in die Tür und regulierte die Platzmarken. Ein Blick aus dem Fenster zeigte Georg Astenryk schon die hohen Hinterwände der städtischen Häuser. Ein Blick auf die Uhr: in wenigen Minuten würde er seine Verlobte Anne Escheloh in die Arme schließen.

Der Zug lief in den Nordbahnhof ein. »Paris!« An der Sperre erblickte er von weitem Anne. Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Seine Augen hingen an dem schönen, reinen Profil seiner Verlobten. Er winkte ihr zu. Sie erkannte ihn, winkte wider. Und dann stand er vor ihr . . . erschrak.

»Anne! Liebe Anne!« Ei drückte sie fest an sich. »Anne!« . . . Freude und Erschrecken lagen in seiner Stimme. Wie hatte sich ihr Gesicht verändert, daß selbst die Freude des Wiedersehens nicht die tiefen Schatten verwischen konnte, die auf ihren Zügen lagen!

Er kannte Anne zu gut. Sie hatte eines jener Gesichter, die zwar gelernt haben sich zu beherrschen, die aber zu durchsichtig sind, um die Regungen der Seele zu verbergen. Dieser fremde Zug um den Mund, diese verschleierten Augen sprachen von innerem Leid.

»Georg! Mein lieber, guter Georg! Wie freue ich mich, dich wieder zu haben.«

»Und ich auch, mein Liebling. Wenn wir uns auch unter traurigen Umständen . . .«

»Nicht jetzt! Ach, sprich jetzt nicht weiter davon, Georg. Laß uns die Freude des Wiedersehens genießen . . . später davon. Wir wollen gleich zu uns fahren. Du wohnst auch, wie mein Schwager Forbin und Helene, in der Pension Pellonard in der Rue Frémont. Ein Zimmer ist für dich reserviert.«

»Ach, das ist ja wundervoll, daß wir zusammenwohnen, Anne. Um so mehr werden wir voneinander haben.«

Sie gingen zu dem Taxistand und fuhren zur Rue Frémont. Alfred und Helene Forbin waren nicht zu Hause. Georg war darüber nicht böse. Allein mit Anne, schloß er sie in zärtlichem Mitleid in die Arme.

»Anne! Du bist so verändert. Drückt dich etwas? Nach deinem Briefe schienst du mir . . . ich will nicht sagen, glücklich . . . aber doch ganz zufrieden mit deinem Aufenthalt hier. Fühlst du dich nicht wohl bei deinem Schwager, oder ist es was anderes?«

Anne Escheloh wandte sich zur Seite.

»Ach . . . sprechen wir doch nicht davon, Georg! Warum soll ich nicht zufrieden sein, da es mir ja an nichts fehlt? Ich muß nur immer an dich denken. Was hast du nicht alles in der letzten Zeit durchmachen müssen! Der Tod deines Vaters, die Hypothekengeschichte und nun gar der Konkurs eures alten Werkes . . . Was wirst du anfangen, wenn sie dir alles genommen haben?«

»Anne! Ist es wirklich nur das? Hast du nicht auch anderen Kummer? Ich möchte dir ja so gern glauben, aber ich kann es nicht. Um mich brauchst du dich keinesfalls zu sorgen. Ich werde schon durchkommen. Aber daß du dich hier auch nur einigermaßen wohl fühlst . . . ich kann's nicht glauben, Anne!

Als damals dein Vater starb und du dich diesem zweifelhaften Forbin – verzeih, daß ich von dem Mann deiner Schwester so spreche – anschlossest, da dachte ich mir: Lange soll das nicht dauern, dann hole ich dich mir wieder. Die Halunken, die mich zum Konkurs brachten, haben auch durch diesen Plan einen Strich gemacht . . . vorläufig . . . denn Anne, meine liebe Anne, wenn du zu mir hältst . . . ich werde nie von dir lassen. Und einmal wird ja doch der Tag kommen, wo . . .«

»Georg, schweige doch! Was sprichst du da! Ich sollte nicht immer zu dir halten? Was auch kommen mag, ich lasse dich nicht.

Aber erzähle doch jetzt, wie es möglich war, daß du für dein gutgehendes Werk nicht das Geld auftreiben konntest, um den Konkurs abzuwenden?«

Es war eine traurige Geschichte, die Georg zu erzählen hatte. Die große Hypothek von den Erben des früheren Teilhabers verkauft, von dem neuen Besitzer überraschend gekündigt. Keine Möglichkeit, so schnell das Kapital für die Rückzahlung zu beschaffen. Dazu böswillige Gerüchte über den Stand der Firma . . . der schwere Gang zum Konkursrichter unvermeidlich.

Und das alles nur dunkle Machenschaften einer französischen Interessengruppe, um ihn zu zwingen, die heranreifenden Früchte einer jahrelangen Erfindertätigkeit denen auszuliefern.

»Hast du schon irgendwelche Pläne für die Zukunft, Georg?«

»Gewiß habe ich allerhand Pläne. Aber ich kann zur Zeit leider noch nicht sagen, was sich davon verwirklichen läßt. Jedenfalls muß ich, solange der Konkurs dauert, in Neustadt bleiben. Das wird sich wohl noch einige Wochen hinziehen.«

»Ja, aber wie wird's denn mit deinen Arbeiten? Ich meine deine Erfindung . . . die elektrische Kohlenbatterie?«

»Das ist ja gerade die Frage, die so schwer zu lösen ist. Wäre ich frei von dem Banne, in dem sie mich hält, wäre es anders. Ich werde ganz wahrscheinlich das freundliche Anerbieten der Tante Mila in München annehmen. Sie will mir zur Fortführung meiner Arbeiten ihr Almhaus am Wilden Rain oben in den bayerischen Bergen zur Verfügung stellen und mich, soweit es ihre bescheidenen Mittel erlauben, unterstützen.«

»Ach, das ist ja sehr lieb von der guten Tante«, unterbrach ihn Anne.

Über Georgs Gesicht ging ein Schatten.

»Gewiß, Anne! Ich bin natürlich Tante Mila sehr dankbar dafür, aber es fällt mir nicht leicht, ihr Anerbieten anzunehmen. Sie lebt von ihrer Witwenpension und muß sich jetzt wahrscheinlich etwas einschränken. Das ist mir im höchsten Grade unangenehm. Ich, ein junger, kräftiger Mensch, der etwas gelernt hat, soll einer alten, kränklichen Verwandten auf der Tasche liegen!

Aber ich tu's – fast möchte ich sagen, muß es tun –, um mich mit voller Konzentration und ausschließlich meinen Erfinderarbeiten widmen zu können. Der Gedanke, dadurch vielleicht Jahre sparen zu können, läßt mich das alles vor mir selbst verantworten. Diese fremdländische Erpressergesellschaft soll sich jedenfalls in mir getäuscht haben. Was auch kommen mag, ich werde nicht zu Kreuze kriechen. Also . . .«

Schritte, die sich auf dem Flur draußen näherten, ließen ihn verstummen. Gleich darauf öffnete sich die Tür und Annes Schwester Helene trat in das Zimmer.

Frau Helene Forbin war eine selten schöne Erscheinung, und wer sie näher kannte, wußte nicht, was er mehr bewundern sollte: ihre äußere Schönheit oder ihren glänzenden Geist? Eine Frau von Welt vom Scheitel bis zur Sohle. Wie war es möglich, daß eine solche Frau einem Mann wie Alfred Forbin, einem Hasardeur, einem Glücksritter, die Hand gereicht hatte? Diese Gedanken, wie schon so oft, bei Georg Astenryk, während er auf sie zuging.

»Ah! Georg! Ich freue mich sehr, Sie hier zu sehen. Das waren ja traurige Nachrichten aus Neustadt. Wir alle haben Sie von ganzem Herzen bedauert. Wie lange gedenken Sie bei uns in Paris zu bleiben? Entschuldigen Sie die Frage! Es würde uns natürlich eine besondere Freude sein, wenn Sie recht lange hierbleiben könnten . . . oh! Was sagen Sie . . . nur drei Tage? Das ist ja sehr kurz. Anne, bist du damit so ohne weiteres einverstanden?« Sie legte die Hand um die Schulter der Schwester.

Georg merkte wohl, wie Anne kaum merklich zur Seite wich, um die Hand Helenes abzustreifen. Er kam seiner Verlobten zu Hilfe. »Sie vergessen ganz, Helene, daß ich zu Hause leider nicht längere Zeit entbehrlich bin. Der Konkursverwalter braucht mich notwendig bei der Abwicklung der Geschäfte. Diese Reise nach Paris erfolgt ja auch nur in seinem Auftrag, um mit einigen Schuldnern des Werkes Rücksprache zu nehmen.«

»Nun, dann ist es unsere Sache, Ihnen diese kurze Zeit recht vergnügt und angenehm zu machen. Den heutigen Abend werden wir aber unter uns bleiben. Alfred läßt sich entschuldigen, daß er erst später kommen kann. Er hat geschäftliche Abhaltungen. Zur Sicherheit will ich versuchen, ihn telephonisch zu erreichen.«

In demselben Augenblick rasselte das Telephon im Nebenzimmer.

»Vielleicht ist es Alfred.« Helene ging hinaus, nahm den Hörer.

»Bist du da, Helene?« klang Forbins Stimme an ihr Ohr. »Gut! Ja! So höre . . . ist Astenryk gekommen? Wie? Er wird nur drei Tage hierbleiben? Dann müssen wir uns beeilen. Wie sagst du? Wann ich komme? Das ist noch unbestimmt. Ich bin hier in der Fédération Industrielle und warte auf Raconier. Ich werde später noch mal anrufen.«

Forbin legte den Hörer auf. Als er aus der Zelle trat, traf er Raconiers Sekretärin.

»Eine Frage bitte, mein Fräulein. Ist Herr Chefingenieur Raconier schon da?«

»Nein, er ist noch im Wirtschaftsministerium, wird aber sicher bald kommen.«

*

»Bitte, Herr Raconier, nichts weiter davon!« Minister Duroy hielt mit gutgespieltem Entsetzen die Hände an die Ohren. »Mit welchen Mitteln Sie Ihr Ziel erreichen, ist ganz Ihre Sache. So weit erstreckt sich das Ihnen zugesicherte Wohlwollen nicht. Mich kann und darf nur interessieren, was Sie mir da über das Problem der hundertprozentigen Kohlenausnutzung erzählten und von diesem Deutschen Astenryk, der der Lösung so nahe gekommen ist. Das ist ja eine wunderbare Sache, als Nichttechniker habe ich Ihre Ausführungen ungefähr so verstanden: Man hat da ein Gefäß, etwa so wie ein Akkumulator am Auto . . . meinetwegen zehn- oder zwanzigmal so groß. In diesem Gefäß ist die eine Elektrode als ein Kohlenbehälter ausgebildet. Jetzt gießt man anstatt der Schwefelsäure irgendeine andere chemische Flüssigkeit hinein. Dann schaltet man das Ding an die Lichtleitung und schon brennen die Lampen. Nach einiger Zeit wird die Kohle im Akkumulator verschwunden sein. Eine neue Portion Kohle hinein und schon ist wieder alles in Ordnung.«

»Ganz recht, Herr Minister! So ist es! Der Herr Minister hat auch ganz richtig das Wort betont, ›verschwunden‹. Denn das ist gerade das Wort, worauf es ankommt. Verschwunden, das heißt in diesem Falle restlos ausgenutzt. Anders ausgedrückt, das Problem der hundertprozentigen Umwandlung der Kohlenenergie in Elektrizität ist damit gelöst.«

»Da kann ich mir denken, Herr Chefingenieur, daß allerdings, wie Sie sagten, in allen Teilen der Welt eifrig an diesem Problem gearbeitet wird.« Minister Duroy griff nach Bleistift und Papier. »Sie nannten mir da vorher eine Reihe von Zahlen. Wollen Sie die bitte wiederholen.«

Raconier verneigte sich.

»Die beste Ausnutzung der Kohle in der heute üblichen Weise erreicht günstigstenfalls zwanzig Prozent, die Ausnutzung nach der neuen Erfindung hundert Prozent, also das Fünffache. Das würde für die Wirtschaft Frankreichs eine jährliche Ersparnis von vielen Milliarden Frank bedeuten, abgesehen von den kaum geringeren Summen, die für die Lizenzen in unser Land fließen müßten. Es wäre also in jeder Hinsicht erwünscht, wenn diese Erfindung von Frankreich ausginge. Eine vorsichtige statistische Aufstellung über das gesamte Zahlenmaterial darf ich Ihnen, Herr Minister, hiermit übergeben.«

»Dieser interessante Deutsche . . . wo wohnt er? Wie haben Sie von dem erfahren?« . . . fragte Duroy.

»Er wohnt in Neustadt am Niederrhein«, erwiderte Raconier, setzte dann mit komisch-ernster Miene hinzu, »wir erfuhren von ihm durch Zufall.«

Der Minister erhob sich lächelnd. »Ich wünsche Ihnen besten Erfolg, Herr Raconier. Möge der Zufall Ihnen weiter günstig sein.« –

Der Chefingenieur verließ das Ministerium.

»Rue Mevelle!« rief er seinem Chauffeur vor dem Ministerium zu. Mit einem Blick auf die Uhr dann: »Aber so schnell wie möglich!«

Nach zehn Minuten hielt der Wagen vor dem Verwaltungsgebäude der Fédération Industrielle. Raconier nickte dem Chauffeur zu: »Gut gefahren, wenn's auch einige Strafmandate kosten wird.«

Mit ein paar Sprüngen nahm er die Stufen zum ersten Stock und trat in ein Zimmer, in dem zwei Herren ihn schon ungeduldig erwarteten »Verzeihung, Herr Generaldirektor, Verzeihung, Herr Baguette. Ich habe Sie warten lassen, aber die Schuld liegt nicht an mir. Herr Minister Duroy zeigte solches Interesse für unsere Sache, daß ich nicht früher hier sein konnte.«

»Nichts zu sagen, Herr Raconier. Was ist das Ergebnis Ihres Besuches?«

»Der Minister wünscht uns besten Erfolg, wird alles tun, um unsere Angelegenheit zu begünstigen. Allerdings . . .«

». . . ohne auch nur eine Spur von Verantwortung zu übernehmen«, vollendete Bankdirektor Baguette den Satz. »Das wußte ich im voraus.«

»Immerhin, Herr Baguette, haben wir die Gewißheit, daß uns die Regierung sehr sympathisch gegenübersteht«, warf Raconier ein. »Nach dem persönlichen Eindruck, den ich von dem Minister Duroy hatte, glaube ich sogar die Anwendung noch schärferer Mittel als bisher empfehlen zu dürfen.«

»Nein«, meinte Baguette mit offenbarem Widerstreben, »warten wir doch erst mal ab, wie die gerade jetzt von uns angewandten Mittel sich auswirken. Ich denke immer noch, daß Herr Astenryk nachgiebiger wird, wenn er aus dem Konkursverfahren als Bettler herausgeht.«

»Ich bin nicht geneigt, Ihre Ansicht zu teilen, Herr Bankdirektor«, entgegnete Raconier. »Ein vom Erfindergeist Besessener – und das ist Georg Astenryk nach unseren Informationen – wird sich niemals um klingendes Geld verkaufen.«

»Warten wir ab!« meinte Baguette achselzuckend. »Der Schlag, den wir ihm versetzten, als wir ihn durch die Kündigung der aufgekauften Hypotheken bankerott machten, wird ihn allmählich zahm machen. Hunger tut weh.«

»Mögen Sie recht haben!« erwiderte Raconier. »Ich werde jedenfalls unsere Agenten in der von mir gedachten Weise instruieren lassen. Seitdem es uns gelungen ist, uns dieses Herrn Forbin zu versichern, denke ich zuversichtlicher.«

»Genug, meine Herren!« fiel jetzt der Generaldirektor Perrain ein. »Es wird sich zeigen, welcher der von Ihnen vorgeschlagenen Wege am besten zum Ziele führt. Vergessen Sie nicht, daß ich es in meiner Stellung ebenso wie Herr Minister Duroy ablehnen muß, irgendwelche Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die gesetzlich unzulässig sind.« –

Als Raconier zu seinem Zimmer zurückkehrte, wurde ihm Forbin gemeldet.

»Sehr gut! Lassen Sie ihn gleich kommen.« –

»Nun, was bringen Sie Neues, Herr Forbin?«

»Georg Astenryk ist vor ungefähr zwei Stunden in Paris angekommen. Er wohnt in derselben Pension wie ich.«

Raconier zuckte die Achsel. »Gut, daß Herr Baguette das nicht weiß. Er würde wahrscheinlich in seinem unerschütterlichen Glauben an die Macht des Geldes wieder irgendwelche törichten Vorschläge machen. Selbstverständlich bitte ich Sie, Herr Forbin, alle Schleusen Ihrer Beredsamkeit zu öffnen. Versuchen Sie, ein vernünftiges Abkommen mit dem Manne zu treffen. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht. Vielleicht rufen Sie mich im Laufe des Abends noch einmal an. Sie erreichen mich in meiner Wohnung.« –

Um zehn Uhr klingelte der Fernsprecher bei Raconier.

»Jawohl . . . guten Abend, Herr Forbin . . . wie meinen Sie? Er will absolut nicht . . . nun ja, wie ich's mir gedacht habe. Besuchen Sie bitte morgen Herrn Collette. Er wird mit Ihnen einiges in dieser Angelegenheit zu besprechen haben.« – – –

Wieder standen Georg und Anne auf dem Bahnsteig des Nordbahnhofs.

»Das wäre ja wirklich sehr schön, Anne, wenn dein Schwager seine Absicht ausführte und demnächst nach Deutschland käme. Ganz besonders würde ich mich natürlich freuen, wenn er, wie deine Schwester einmal andeutete, vorübergehend nach Neustadt käme. Obgleich ich nicht recht weiß, was er jetzt, nachdem dein Vater tot ist, in Neustadt will. Früher war es was anderes. Da war Neustadt der Nothafen, wohin man sich, wenn rauhe Stürme wehten, gern auf einige Zeit zurückzog, bis die Luft wieder klar war.«

»Ach, ich würde mich ja so freuen, Georg, wenn wir wirklich für einige Zeit nach Neustadt kämen. Aber rechne bitte nicht sicher damit. Ich habe dir ja einen kleinen Einblick in die Lebensweise Alfreds gegeben. Da kann morgen oder jetzt schon ein anderes Geschäft aufgetaucht sein, und wir fahren vielleicht übermorgen nach Madrid oder Konstantinopel.«

Georg wollte etwas sagen. Anne strich ihm beschwichtigend über das Gesicht. »Nein, nein! Sprich nichts, Lieber! Hätte ich nur nichts gesagt! Dir noch in letzter Stunde das Herz schwer machen . . . so schlimm ist es ja gar nicht. Sieh mal, ich lerne doch auf diese Weise die Welt kennen und sehe vieles Schöne.«

»Schweig, Anne! Wenn du wüßtest, wie ich über all das denke! Ich verzweifle bei dem Gedanken, dich noch wer weiß wie lange Zeit bei diesen Forbins lassen zu müssen.«

»Georg, bitte! Erschwer' uns nicht noch mehr den Abschied. Ich will ja auch gern glauben, daß wir bald nach Deutschland fahren. Und wenn wir dann gar nach Neustadt kämen . . . ach, wie würde das herrlich sein! Ein paar Wochen in der alten Heimat mit dir zusammen . . . lange Zeit würde ich davon zehren.«

Georg mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht bei dem herzzerreißenden Lächeln, mit dem sie es sagte, loszubrechen. –

Die Schaffner riefen zum Einsteigen. Die Türen schlugen zu. Lange noch blickte Georg Astenryk nach einem weißen Tuch, das ihm vom Bahnsteig winkte. –

*

Der Zug hatte die Grenze passiert. Georg kaufte sich einen Stoß neuer Zeitungen. Fast in jeder als Schlagzeile: »Japan ist von der Antwort Englands auf seine Demarche nicht befriedigt. Protestversammlungen in Tokio. Lärmende Kundgebungen vor dem englischen Botschaftsgebäude.«

Während er kurz die Überschriften überflog, gingen ihm die Mitteilungen des Majors Dale durch den Kopf. Es scheint ganz so zu kommen, wie der es prophezeit hat, dachte er. Der Zerfall des angelsächsischen Blocks begann sich auszuwirken. Japan nützte die Gelegenheit, um im trüben zu fischen. Die alte Geschichte! Wenn zwei sich streiten, lacht der Dritte. Die schlechte wirtschaftliche Lage und die schwankende Politik der lateinamerikanischen Staaten hatten zunächst nur wirtschaftliche und finanzielle Differenzen zwischen England und den Vereinigten Staaten bewirkt. Je mehr sich diese Differenzen aber verschärften, störten sie auch die bisher freundschaftlichen politischen Beziehungen der beiden großen angelsächsischen Mächte in immer stärkerem Maße. Japan und Frankreich schickten sich an, aus dieser günstigen Situation Nutzen zu ziehen. –

Der Zug rollte über die Rheinbrücke. Georg Astenryk legte die Zeitungen kopfschüttelnd beiseite . . . wann würde dieser Erdball einmal zur Ruhe kommen? Sollte es wirklich wahr werden, das Wort vom Untergang des Abendlandes, was wäre anderes daran schuld als der ewige innere Zwist der weißen Rasse. –

Das alte, vertraute Landschaftsbild lenkte die Gedanken Georgs auf die nahe Heimat. Arbeit über Arbeit wartete da auf ihn. Seine Gedanken gingen zu seinem Laboratorium, zu den Experimenten mit der hundertprozentigen Kohlenausnutzung. Ob Marian wohl alles, was er ihm aufgetragen, planmäßig durchgeführt hatte? Ob er die Ergebnisse der Versuchsreihen auch richtig aufgezeichnet hatte?

Wie mochte es wohl mit seinen anderen Arbeiten aussehen? Der Konkurs, die Notwendigkeit, sich neue Lebensmöglichkeiten zu verschaffen, hatten ihn gezwungen, ein anderes, verwandtes Problem in Angriff zu nehmen. Schon früher, beim Beginn seiner Arbeiten an der großen Aufgabe der restlosen Umwandlung der Kohlenenergie in Elektrizität, war die Frage ihm aufgestoßen, ob er nicht gleichzeitig dem damit zusammenhängenden Problem der Diamantensynthese nachgehen solle.

So lockend die Aufgabe schien, er hatte sie doch immer beiseitegeschoben. Er wollte alle seine Kräfte an das eine, wirtschaftlich für die Menschheit bedeutungsvollste Ziel der hundertprozentigen Kohlenausnutzung setzen. Doch jetzt, nach seinem eigenen finanziellen Niederbruch, setzte er seine Zukunftshoffnungen in erster Linie auf das Gelingen der Diamantensynthese.

Zu niemand, selbst zu Marian nicht, hatte er von diesen Ideen, Hoffnungen, neuen Arbeiten gesprochen . . . und doch war Marian der einzige, der außer Anne seinem Herzen besonders nahestand.

Marian Heidens, sein getreuer Freund, Gehilfe, Diener, wie man's nennen wollte.

Georg dachte zurück. Marian – wie war er zu dem gekommen? Im Grunde eine ganz einfache Geschichte, und doch von seltsamen Umständen begleitet.

War da eines Tages vor der Stadt eine wandernde Zigeunerin von einem Kraftwagen angefahren und ins Krankenhaus gebracht worden. Trotz bester Pflege verschied sie einige Wochen später. Fast in ihrer Todesstunde gab sie einem Knaben das Leben.

Ein Zufall brachte es mit sich, daß am selben Tage zur selben Stunde Georg Astenryk in der gleichen Anstalt geboren wurde. Als einige Zeit später Vater Astenryk Frau und Kind strahlend über die Geburt des Erben aus dem Krankenhaus abholte, nahm er in dankbarer Freude auch den kleinen verwaisten Zigeunerjungen mit sich. Eine Laune des Standesbeamten hatte dem nach dem Kalendertag seiner Geburt den Vornamen Marian, nach der am Niederrhein für die Zigeuner gebräuchlichen Bezeichnung »Heidens« den Nachnamen gegeben. Astenryk gab ihn seinen alten, kinderlosen Gärtnerleuten in Pflege.

Von Kindheit an Spielgefährten, wuchsen Georg Astenryk und Marian Heidens auf. Als Marian die Schule verließ, blieb er als Gärtnergehilfe bei seinen Pflegeeltern. Gymnasial- und Universitätsstudien Georgs vermochten nicht das enge Band zwischen den gleichaltrigen Gefährten zu zerreißen. Es wurde sogar noch fester, als der Vater Georgs diesem ein Laboratorium im Dachgeschoß des Hauses einrichtete.

Aus den spielerischen Experimentierversuchen der beiden erwuchs allmählich ernste Arbeit, und hierbei wurde Marian Heidens durch seine Geschicklichkeit und Anstelligkeit ein guter, nützlicher Gehilfe. In jene Zeit fielen schon die ersten Versuche Georgs, dem Problem der elektrischen Kohlenbatterien näher zu kommen. –

Die Türme von Neustadt tauchten auf. – – Und dann war er wieder in der Heimat, nahm den Weg zum väterlichen Haus. Ein leises Frösteln überkam ihn, als sein Blick über die ausgedehnten Werkanlagen ging. Die langgestreckten Hallen, die früher Tag und Nacht widerhallten vom Gedröhn der Maschinen, von den klingenden Hammerschlägen . . . verödet, tot. Die Stille des Kirchhofes, wo noch vor kurzem Hunderte von Menschen in rastloser Tätigkeit hin und her eilten.

Beinahe hundert Jahre hatte die Firma Astenryk & Co. bestanden. Hätte sich wohl jener Lorenz Astenryk träumen lassen, daß sein stolzes Werk unter dem Urenkel zusammenbrechen würde? . . . Wieder dieser leise Zwiespalt in seinem Innern. War es recht von ihm gewesen, jenen traditionellen Grundsatz des deutschen Kaufmanns beiseitezuschieben, der gebot: Alles . . . jeden Blutstropfen, jeden Gedanken dem Werk! . . . Ja! . . . Und immer wieder ja! Er hatte es tun müssen. Er hatte es wagen müssen, auch wenn die leise Hoffnung, die er an die Diamantensynthese knüpfte, nicht in Erfüllung ging. Sein Sinnen und Streben ging höheren Zielen zu. Seine Arbeit, wenn der Wurf gelang, mußte ihm das Verlorene hundertfach wiederbringen. Mußte den Namen Astenryk in neuem, stärkerem Glanz erstrahlen lassen. Unmöglich für ihn der Gedanke, seine Erfindung und sich jener französischen Gruppe auszuliefern, um das väterliche Werk zu retten.

Er schüttelte sich, wie um letzte Zweifel zu verscheuchen, und ging zum Wohnhaus. Als er aufgeschlossen hatte und die Tür öffnete, schrak er leicht zusammen. Die elektrischen Alarmglocken rasselten grell durch das ganze Gebäude. Beunruhigt sah er sich um. Da wurde es plötzlich still. Vom Oberstock her kamen Schritte.

»Hallo! Ich bin's! Georg! Was machst du denn für Scherze, Marian? Empfängst mich mit Glockengeläut.«

»Nur eine kleine Vorsichtsmaßnahme, lieber Georg. Aber zunächst mal guten Tag. Wie geht es dir? Komm nach oben. Du wirst Hunger und Durst haben.«

Sie stiegen zum Oberstock empor und traten in Georgs Arbeitszimmer.

»Nun schieß mal los, Marian. Erzähle! Ist irgendwas passiert, während ich fort war? Wie steht's oben im Labor?«

»Alles in Ordnung, Georg. Aber willst du nicht etwas essen?«

»Ist nicht so eilig, Marian.« Er warf einen Blick auf den gedeckten Tisch. »Ich sehe, du hast schon alles vorbereitet. Gehen wir erst mal ins Labor. Mich plagt die Neugier, wie sich die letzten Serien in meiner Abwesenheit entwickelt haben.«

Sie wandten sich zur Tür, da blieb Georg stehen und faßte Marian am Arm.

»Aber sage mal ernstlich, wozu der Scherz mit den Alarmglocken? Du hast mir auf meine Frage noch gar nicht geantwortet.«

Marian zuckte die Achsel. »Ja, mein Lieber, was soll ich dir da sagen? In der ersten Nacht, wo du fort warst, wurde ich plötzlich aus dem Schlaf geschreckt. Die Alarmglocke schrillte. Ich sprang auf, eilte in den Flur, warf den Hauptlichtschalter an. Nichts zu sehen und zu hören. Ich revidierte alle Türen. Es war nichts geöffnet, alles in Ordnung. Nur die Haustür stand offen, obgleich ich bestimmt weiß, daß ich sie verschlossen hatte. Ich schlug die Tür wieder zu und wollte sie verschließen, da ging es nicht. Das Schloß war verdorben.

Nun, ich ließ am nächsten Morgen das Schloß in Ordnung bringen. Aber da ich dachte, die Füchse könnten auch am Tage kommen, halte ich die Alarmanlage auch am Tage eingeschaltet.«

»Füchse? Was meinst du, was das für Füchse gewesen sein könnten?«

»Vielleicht waren es Leute, die nicht wußten, daß dein Tafelsilber vom Konkursverwalter in Verwahrung genommen ist.«

»Du meinst also gewöhnliche Diebe, Marian?«

»Gewöhnliche Diebe nicht. Zum mindesten internationale Diebe. Ich fand da am nächsten Morgen im Hausflur einen kleinen Fetzen von einer französischen Zeitung.«

Beide sahen sich einen Augenblick an und lachten dann.

»Aha!« meinte Georg. »Füchse aus der Gegend . . . das will einiges besagen. Nun, ich habe da allerlei Ideen. Mein erstes wird sein, für eine Sicherungsanlage zu sorgen, die besser schützt als alle Alarmglocken. Mach mir doch eine Tasse Tee. Ich gehe 'rauf zum Labor. Inzwischen kannst du auch mal diesen Artikel in der englischen Zeitung lesen. Dazu werden deine englischen Kenntnisse wohl langen.« –

Dann stand er in dem Raum, in dem er so viele Tage und Nächte in rastloser Arbeit verbracht hatte. Mit raschen Schritten eilte er zu ein paar Gläsern, die in einem Trockenschrank standen. Er öffnete ihn und nahm die Gläser heraus. Vorsichtig goß er die tiefschwarze Kohlenstofflösung in andere Gesäße über und untersuchte den Bodensatz mit einer starken Lupe.

Hier . . . sein Herz begann stärker zu klopfen . . . hier glitzerte etwas verheißungsvoll. Wollte der widerspenstige Stoff dort Diamantkristalle bilden? Schnell griff er nach einer noch stärkeren Linse, schaute lange hindurch. Stieß dann das Glas enttäuscht von sich. »Wieder einmal vergeblich!« murmelte er vor sich hin. »Graphitkristalle . . . nichts anderes ist es.« Mißmutig warf er die Schranktür wieder zu.

Sein Blick ging in die Runde. Da waren sie, die Bataillone von Versuchsbatterien, die alten Schränke mit Tausenden von Chemikalien. Sein Auge glitt prüfend über die Meßinstrumente, über die Belastungslampen. Morgen würde er die Protokollbücher abschließen und neue Batterien mit neuen, wieder verbesserten Elektrolyten aufbauen. War das getan, dann hatte er Muße, sich dem anderen Problem zu widmen.

Die Erfindung Allgermissens . . . immer wieder drängte sich ihm der Gedanke an sie auf. Die phantastischen Möglichkeiten reizten ihn aufs äußerste, wenn er sich auch vieler Bedenken . . . Besorgnisse nicht entschlagen konnte.

Er ging wieder nach unten. Da saß Marian, die zierliche, schmächtige Gestalt in einem Sessel zurückgelehnt, und las die Erinnerungen des Dr. Rostow. Unter dem dunklen, fast blauschwarzen Haar ein bleiches, beinahe gelbliches Gesicht. Ab und zu richtete er den Kopf in die Höhe und starrte regungslos ins Leere. Die ganze Seele des jungen Mannes lag in seinen Augen, und doch blieb ihr Blick rätselhaft unergründlich. Seine Erscheinung bot äußerlich ein Bild völliger Leidenschaftslosigkeit. Nur wer ihn kannte wie Georg Astenryk, konnte wissen, daß hier ein leidenschaftliches Herz schlug, stark im Hassen, stark im Lieben.

Georg nahm aus dem Schreibtisch ein Bändchen mit der Aufschrift »Franz Lönholdt«. Franz Lönholdt war auch ein Neustädter Kind gewesen, ein älterer Bekannter Georg Astenryks. Lange Jahre lebte er als Radioingenieur in Rußland. Als er in Irkutsk sehr plötzlich an Malaria verstarb, schickte der deutsche Konsul seine Hinterlassenschaft der Mutter in Deutschland. Frau Lönholdt hatte die technischen Aufzeichnungen und Tagebücher gelegentlich Georg Astenryk als Andenken geschenkt.

Der schlug jetzt das Tagebuch auf und blätterte darin. Da war die Stelle. Wie oft hatte er sie gelesen! Seine Augen glitten darüber hin und folgten dem Text.

Franz Lönholdts Tagebuch gab über jenes merkwürdige Ereignis in Irkutsk folgenden Bericht:

»Ich hatte meine Kontrollarbeit im Irkutsker Sender beendet und rüstete mich zur Weiterfahrt, da erhielt ich von General Iwanow die Aufforderung, ihn zu besuchen. Er erzählte mir folgende merkwürdige Begebenheit, die sich vor vielen Monaten in demselben Gebäude, in dem wir uns befanden, abgespielt hatte.«

Hier folgte eine Schilderung, die sich in der Hauptsache mit den »Erinnerungen eines russischen Arztes« in der englischen Zeitung deckte.

»Ich antwortete zunächst dem General vorsichtig, daß mir jede wissenschaftliche Erklärung des Vorfalls fehle. Ein gewisser Verdacht, der in mir bei Iwanows Erzählung aufgestiegen war, veranlaßte mich, wenigstens einen Versuch zu machen, der Sache nachzuforschen.

Nach mehrtägigem Herumstöbern in allen Teilen des großen Gebäudes geriet ich auf eine Spur, die mir verdächtig war. Auf dem Dachboden sah ich eines Mittags im Schein eines Sonnenstrahls das blanke Ende eines Drahtes schimmern. Ich ging dem sehr versteckt geführten Draht nach und fand in einem Schrank, der hinter alten Akten verborgen stand, ein Grammophon und einen Apparat, den ich für einen Verstärker ansah. Als ich den Apparat heranziehen wollte, erfolgte eine schwache Explosion, deren Knall außerhalb des Raumes kaum gehört werden konnte. Durch die Explosion wurde der Grammophonapparat zertrümmert, die auf dem Teller liegende Wachsplatte beiseitegeschleudert, wobei der Rand der Platte zwar stark zerstört wurde, der innere Teil dagegen erhalten blieb.

Durch die Explosion war auch eine Seite des von mir als Verstärker angesehenen Apparates aufgerissen worden. Das Innere war, wie ich jetzt sah, ganz anders als bei allen anderen Verstärkern, die ich kenne. So waren statt der Spulen und Kondensatoren vielfach versilberte Kristalle eingebaut. Je länger ich ihn untersuchte, desto klarer wurde es mir, daß es sich hier um aperiodische Verstärkung hinab bis zu den kleinsten Wellenlängen handeln müsse.

Ich habe mir die Schaltung skizziert und will in den nächsten Tagen ein genaues Schaltbild dieses Verstärkers anfertigen. General Iwanow will ich vorläufig von meiner Entdeckung nichts sagen, vielmehr erst dieser ebenso mysteriösen wie interessanten Sache auf den Grund kommen. Die mir etwas verdächtige Wachsplatte habe ich mitgenommen. Ebenso die Kristalle aus dem Verstärker . . .

Die verwünschte Malaria zwingt mich, meine Nachforschungen zu unterbrechen und mich ins Bett zu legen . . .«

Damit hörten die Tagebuchaufzeichnungen Lönholdts auf. Drei Tage später war er tot. –

Georg legte das Tagebuch beiseite. »Nun, Marian, hast du den Artikel von Doktor Rostow gelesen? Alles verstanden?«

»Ja! Gelesen habe ich's. Verstanden habe ich's auch. Es ist ja fast das gleiche, was Lönholdt über den Fall schreibt. Ich muß zugeben, daß ich jetzt Lönholdts Aufzeichnungen anders beurteile. Ich hatte bisher an der Richtigkeit seiner Erzählung so starke Zweifel, daß ich keine andere Erklärung finden konnte als . . . Phantasien eines Fieberkranken. Aber wirklich alles zugegeben . . . das eine kann ich nicht verstehen, wie es Allgermissen gelingen konnte, den Geist so vieler verschiedener Köpfe auf einmal in seinen Bann zu zwingen.«

»Allerdings, das ist eine schwer erklärliche Sache, Marian. Aber vielleicht kommen wir dahinter, wenn wir erst einmal die Apparatur Allgermissens richtig aufgebaut haben. Leider fehlen in der Verstärkerskizze Lönholdts die genauen Angaben der elektrischen Werte. Das wird meiner Meinung nach das Schwierigste an der Aufgabe. Ein Glück dabei, daß Lönholdt die gute Idee hatte, die versilberten Kristalle aus dem Verstärker Allgermissens herauszunehmen. Ein weiteres Glück, daß sie mit seinem Nachlaß in meine Hände gekommen sind. Ganz offenbar spielen sie als kleinste Kondensatoren in der Verstärkereinrichtung für kürzeste Wellen eine bedeutende Rolle.

Haben wir erst mal den Verstärker, wie Allgermissen ihn hatte, muß sich alles andere finden. Du siehst jedenfalls, daß das Problem hochinteressant ist. Wenn man da seine Phantasie schweifen läßt, kommt man ja zu Möglichkeiten, die mehr als phantastisch sind.«

Marians Gesicht wurde ernst und abweisend. »Das glaube ich auf keinen Fall. Die Gesetze der Natur werden solche Ausschreitungen nicht zulassen. Ich glaube es nicht und hoffe es nicht.«

Georg stand betroffen. Er suchte Marians Augen und stutzte – dieser Ausdruck eines anderen Willens, einer Seele, die nicht zu seinem Körper gehörte . . . Schon einige Male in ihrem Leben hatte er den gesehen . . . und immer dann, wenn Marian wie von einem fremden Geist besessen Worte sprach, welche nicht von ihm zu kommen schienen.

»Denkst du auch daran, Georg, daß Algermissen in Wahnsinn verfiel? Nemesis nannten's deine alten Griechen.«

Georg machte eine abweisende Handbewegung. »Abergläubische Gedankengänge eines noch in Urzeiten wurzelnden Volkstums, mein lieber Marian! Einfachste physikalische Logik legt solche Möglichkeiten nahe . . .

Aber ich hake immer wieder bei der anscheinend so nebensächlich hingeschriebenen Bemerkung von den großen pharmakologischen Kenntnissen Allgermissens fest. Was Lönholdt da so in kurzen Stichworten schreibt, ist meiner Meinung nach ein Erklärungsversuch für das viele Rätselhafte, was sich während der Tage und Nächte, in denen Allgermissen im Gefängnislazarett war, ereignete. Leider ist das alles kaum zu verstehen. Vielleicht bin ich aber auf dem rechten Wege, wenn ich es in folgender Weise deute:

Allgermissen war, wie Lönholdt schreibt, ein guter Kenner pflanzlicher Gifte. Wenn ich von dieser Bemerkung ausgehe, komme ich zu demselben Schluß, zu dem anscheinend auch Lönholdt gelangt war. Allgermissen hatte bei seinen Forschungen Pflanzengifte entdeckt, die geeignet sind, verschiedene Eigenschaften des menschlichen Hirns in krankhafter Weise zu steigern. Solche Stoffe kennt man ja seit langem. In diesem Falle müßten die Gifte die besondere Wirkung gehabt haben, die Empfänglichkeit oder die Strahlung des denkenden Hirns durch ein oder vielleicht auch durch mehrere Präparate zu verstärken. Wahrscheinlich hat er es durch Anwendung solcher Mittel fertiggebracht, zeitweise aus dem Lazarett zu entweichen. Ist meine Vermutung zutreffend, dann hat Allgermissen das Problem in verschiedener Weise, elektrisch und chemisch, gelöst.

Aber das sind ja wie gesagt alles nur Vermutungen. Lassen wir es sein, wie es wolle. Ich werde von jetzt ab sehr ernsthaft an dem Verstärker arbeiten. Doch nun Schluß für heute!« –

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