Bernhard Diebold
Italienische Suite
Bernhard Diebold

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Im Frack nach Pisa

Jenny – ›die Frau der eleganten Welt‹ – sie spielte immer noch mit Puppen. Sie war schon weit gereist und sechsunddreißig. Selbst auf der Reise wollte sie die ›Kinder‹, wie sie sagte, nicht entbehren und führte immer sechs bis acht im Koffer mit. Denn Puppen waren ihr schönstes Spiel und ihr friedlichster Umgang. Aus einem ähnlichen Triebe glaubte sie auch Hans zu lieben. Und dieser junge Mann – ›aus gutem Hause‹ – er war zwar nur ein Taugenichts und Fußballspieler; doch eine Puppe war er nicht. Hier irrte Jenny. Denn Puppen sind tot und haben kein Herz – obschon es Jenny keineswegs vermißte. Aber Hans war immerhin lebendig und ein Mensch.

 
Kolportage

Es ist halb elf Uhr nachts. Viele Sterne sind oben, aber kein Mond. Von der Meeresstraße her klingt das Tanzorchester. Es ist genau so wie der Unerfahrene sich Monte Carlo vorstellt. Am Hauptportal des Kasinos steht Hans; schlank, jung, blauäugig und schmalköpfig wie ein Lord, den matten Stoffzylinder mit einer ganz kleinen koketten Neigung auf den Kopf gesetzt, den gelblichen Sommermantel nur leicht um die Schultern geworfen. Es ist zwar erst der zwölfte April, aber das Klima von Monte Carlo ist sehr mild; und ein achtundzwanzigjähriger Fußballer und Außenstürmer des Münchner Grün-Weiß-Klubs verträgt auch einige rauhe Winde ohne Gefahr einer Lungenentzündung. Und die illustrierten Journale der feinen Welt fordern nun einmal den lässig umgeworfenen Mantel. Niemand weiß es besser als Hans. Also da steht er als die bewußte Vollendung eines Londoner Schneidermeisters, mit jener Nonchalance, die die gebügelte Schaufensterstarre der falschen Elegants als ›billige Konfektion‹ verdächtigt; also da lehnt er sich nun an die Balustrade, schaut sehr gelangweilt über seine Nase weg, starrt in die Palmen, auf die spazierenden Paare, guckt hin und wieder durchs Portal ins Innere des Spielpalastes und scheint zu warten auf jemand, der offenbar nicht kommen will. »Ei verflucht«, es ist sein Lieblingsfluch, »sie flirtet mit dem Rumänen.«

58 Es wimmelt von putzigen Menschen, die über die Eingangstreppe des Kasinos hinein- und herausflanieren; äußerlich ruhig und lächelnd, innerlich voller Angst und Hast. Da drinnen ist die Spielbank. Der große Mammon macht seine kleinen Spielchen mit den Leuten. Frißt hin und wieder einen Herrn oder eine Dame mit Haut und Haaren auf. Speit auch gelegentlich einen armen Teufel aus seinem Rachen wieder aus als Neugeburt, so reich wie glücklich. Wenn einer fünfzigtausend setzt, so regt man sich auf. Der Mammon grinst dazu gemächlich. Menschen frißt er nicht. Er frißt nur Herren und Damen.

Hans hat verloren. Wieder verloren. Es sind die fünftausend Francs, die ihm Jenny heute zum Spielen geliehen hat. Gestern waren es nur tausend. Ach Jenny liebt ihn wohl zu sehr, daher hat er kein Glück im Spiel. Oder liebt sie ihn zu wenig, so daß er sich aufs Geld nicht konzentrieren kann? Denn die Wunschkraft ist gehemmt, wenn man fortwährend daran denken muß, mit wem sie gerade flirtet. Der Mammon fordert ein sehr williges und hingebendes Herz. Aber Hansens Herz – es ist bei aller Unbedenklichkeit in Liebesdingen ein weiches, dummes Kinderherz – es weilt zu drei Vierteln bei Jenny . . . Da wartet er auf sie mit vollem Herzen und leerem Portemonnaie. Ein Rest von zweiundzwanzig Francs kommt gar nicht mehr in Rechnung. Er fingert in der Westentasche und zählt nach. Ja, zweiundzwanzig französische Francs.

»Ei verflucht!« meditiert der junge Mann. Sie steckt ganz sicher bei dem Rumänen. Schon seit zwei Stunden. Oder bei Spalatini? Nein, der ist ihr zu massiv. Oder bei dem langen Goltz? Nein, der ist ihr zu blond. Aber der schwarze Graf mit der Affenvisage, mit der hohen gekräuselten Frisur und den drei Ringen – so etwas imponiert. Dieser Gauner, der sich bei jeder Gelegenheit als ›Revolutionär‹ bezeichnet. Sehr merkwürdig, daß alle Rumänen in Monte Carlo Grafen sind. Schlechthin alle! Dieser Manuel Cadulescu aber hat nun seine besondere Note als Revolutions-Graf. Da berühren sich zwei Extreme. In seiner Existenz ist etwas Unmögliches. Das zieht bei Jenny. So einer ist undefinierbar, zweideutig und romantisch. Eine zusammengelogene Persönlichkeit. Er aber, Hans Bell, ist durchaus sehr nüchtern definierbar als ein unnützer Gent, der keine Firma hat; ein eindeutiger Fußballer ohne Nebengeschäfte außer den Einladungen bei hübschen Damen; und die einzige Romantik an ihm ist seine völlig aussichtslose Zukunft. Eine geradezu radikale Ziel- und Aussichtslosigkeit. Man könnte melancholisch werden – selbst in Monte Carlo. Er kann doch nicht ewig von reichen Damen eingeladen werden – zum Tee, zu Diners, zu kleinen Reisen und mit der einzigen Kopfarbeit, seinem Zylinder die leise, schicke, schiefe Neigung zu geben. Auch für die Fußballkarriere reicht keine ewige Jugend aus . . . Ei verflucht, wenn ihm Jenny 59 davongeht; und er sitzt da mit seinen achtundzwanzig Jahren und zweiundzwanzig französischen Francs.

Vor drei Wochen war er nach Genua gekommen zum großen Match: Grün-Weiß-München gegen Sport-Genova. Die Deutschen hatten gesiegt und er, Hans, hatte sich als Stürmer ausgezeichnet. Aber am Schluß war allgemeine Verstimmung. Das rohe Spiel des Mittelstürmers Schröter hatte eine Verwarnung eingebracht mit demütigenden Entschuldigungen. Jedoch ein Tritt ins Schienbein wird nicht vergessen. Die Genueser blieben verkühlt am Festmahl. Hans verließ das Bankett vorzeitig. Vorzeitig, aber nicht allein, sondern mit einer Dame. Das war eben Jenny. Auch sie, wie Hans auf seine Art, ein einziger dernier cri! Er der Stolz der Connaisseurs von London, und sie die Erfüllung der haute couture von Paris. Und mit solchen hochfeinen Menschen der besseren, ja der allerbesten Klasse haben wir es, einfacher und bescheidener Leser, hier zunächst zu tun.

Also Hans ist vom Bankett hinweg verduftet, bevor noch der süße Nachtisch serviert wurde. Denn die sportliche Stimmung war ihm von vornherein versauert. Wäre wenigstens sein Freund Molina aus Florenz da gewesen, sein Schulkamerad vom Gymnasium in München, wo dessen Vater als italienischer Konsul amtiert hatte. Mit Molina wäre manches nicht passiert; denn er hatte bei aller sportlichen Draufgängerei so etwas – sagen wir – Vernünftiges. Aber Molina, den Hans zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, konnte gerade am Tag des Matches von Florenz nicht abkommen. »Geschäftehalber«, drahtete er nach Genua. »Auf Wiedersehen«, hieß es im Telegramm . . . Er kann also noch Deutsch. Ja, dachte Hans, ich will ihn besuchen, will ihn wiedersehen, den strammen Kerl von ehemals, jetzt mitten in den Geschäften seiner väterlichen Pomadefabrik. Pfui Teufel, sich derart zu verbürgerlichen! Aber das war es ja eben: Molina war viel strenger gehalten und erzogen worden als die meisten deutschen Jünglinge aus sogenannt ›gutem Hause‹. Was der für Angst vor seinem Papa hatte, wenn er einmal zehn Minuten zu spät zum Essen kam! Einfach lächerlich. Von daher hatte er das gewisse Solide. Aber das schadete der Kameradschaft nicht. Und es ist wohl das Richtige, so irgend eine Pomadefabrik – sagte sich Hans. Und bei mir ist es wohl auf die Dauer durchaus nicht das Richtige: so ein Leben ohne Fahrtrichtung . . . diese ewige ›höhere Arbeitslosigkeit‹.

Hans ist heute ausnahmsweise melancholisch. Unter dem Leichtsinn pocht doch jeweils der Trübsinn, wenn er so gegen zwei Uhr nachmittags nach durchspielter Nacht erwacht und einen Brief von seiner guten Mama auf dem Kaffeetisch vorfindet. Denn er liebt seine gute Mama. Gerade heute hat er einen 60 langen Brief von ihr bekommen, worin ihr Herr Professor Forest von der ›Aurora‹, ein Freund seines verstorbenen Vaters, die Stelle eines Versicherungsbeamten für ihren faulen Sohn angeboten hat. Ein Bureauberuf ohne Verantwortung, ein Assistent mit acht Stunden Sitzfleisch und sonstiger Freiheit. Immerhin keine Pomadefabrik mit Sorgen. Aber es wäre kein elegantes Dasein; und früh um neun am Schreibtisch zu sitzen ist auch nicht mondän. Und wenn die Mama nicht ob seiner Existenz in Sorgen wäre, so würde Hans den Brief sofort zerrissen und das ganze Projekt sogleich vergessen haben. Denn er hat ja jetzt an Jenny zu denken und damit an eine viel glänzendere Basis seiner Existenz. Aber im Sinne von Mama und Papa selig ist diese Karriere der ›höheren Arbeitslosigkeit‹ doch nicht die wahre. Hans hat doch einmal ganz solide angefangen und Nationalökonomie studiert. Die Dissertation hieß: »Das Notgeld der Kommunen im Jahre 1923.« Sicher sehr wichtig für die Welt. Aber sehr langweilig für Hans. Man fiel auch durchs Examen. Keine Berufsaussicht. Nur viele Einladungen. Nun wird man nach und nach auch neunundzwanzig. Die Stirne wird hoch an den Schläfen. In unserer Familie neigen die Männer zur Glatze . . .

Hans zieht ein Spiegelchen hervor, streicht das dunkelblonde, glatte Haar über den Ohren zurück, drückt den Zylinder etwas schräger nach der linken Schläfe und zupft an der Frackkrawatte. Man sieht schon sehr gut aus, stellt er fest – nach sogenannter ›Kinderstube‹. Man ist aus ›gutem Hause‹, sagt die eigene Mama. ›Herrenklasse‹, rühmt wiederum Jenny von ihm und seinesgleichen. Nietzsche habe so etwas darüber philosophiert, wie ihr der lange Goltz erklärt hat, der's doch wissen muß. Herrenklasse hat Geld; Herrenklasse hat nichts zu tun und sieht gut aus. Ich habe Papas lange, feine Diplomatennase, und von Mama den schmalen Mund und die hellblauen Augen mit den schwarzen Brauen. Das ist das Aushängeschild meiner ›Firma‹ – die bei den Damen höchst erfolgreiche Mischung von jungem Lord und Pierrot . . . Nur auf die Dauer ist das keine Firma. Aber Papa ärgert sich nicht mehr über mich. Papa ist ja tot. Und die gute Mama hofft immer noch. Auf welches Talent? Auf welchen Tatentrieb und welchen Ehrgeiz? . . . Hans steckt das Spiegelchen wieder ein. Dann sieht er wieder forschend ins Kasino und sucht im Menschenstrom der weißbrüstigen Frackherren und halbnackten oder schwer bepelzten Damen nach Jenny.

Sie kommt immer noch nicht. Dafür sieht er Lily wieder, die blonde Deutsche, mit der er eine halbe Stunde lang im gelben Salon ein bißchen geliebäugelt hat. Sie spaziert jetzt am Arm ihres wohlerhaltenen Fünfzigers vorbei, und wirft wissend und voller Verrat in den blauen Augen einen Blick auf 61 Hans. Er lächelt zurück. Aber er lächelt sauer. Denn eben wegen dieser Lily im hellblau strahlenden Kleid ist ihm vor zwei Stunden Jenny wütend vor Eifersucht davongelaufen.

Je mehr Jenny sich selber mit ihren Anbetern amüsiert, desto exotischer wird ihre Eifersucht. Dabei war's doch nur eine minime Spielerei; ein bißchen schräge Augen, ein bißchen die Hand aufs Gelenk. Nicht mehr, als sich auch Jenny täglich leistet mit ihrem Dutzend Kavalieren. Aber hier gilt nicht gleiches Recht. Und der Schwächere muß sich fügen. Der Schwächere ist der Liebende. Der Stärkere hat das Geld. Er hat keins. Dennoch war sie am Anfang, vor drei Wochen, auf jeden Fall die Schwächere. Da hat sie ihn viel mehr geliebt als er sie. Wie ist es heute? Sie hat ihn damals in Genua auf dem Bankett der Fußballer getroffen, ihn in ihren schönen Mercedes-Wagen, mit acht Zylindern, eingeladen; und sofort schlug die Liebe – oder was das schon ist – ganz hohe Flammen. Und nach zwei Stunden, draußen am Leuchtturm, vor der Lanterna von Genua, wollte sie ihn schon heiraten. Es gibt also noch echte Liebe, die keine Bindung scheut. Jedenfalls bei Jenny und Hans in Monte Carlo.

Ja, heiraten! Hans erschrak schon vor dem Wort. In diesem kleinen, schwarzen Teufel von Jenny war alles Impuls und Tempo. Rapid saust das Blut durch ihr gelenkiges Körperchen, das immer noch auf einige Entfernung wie siebzehnjährig aussieht, während sich seine Inhaberin vor der Welt bereits für zweiunddreißig ausgeben muß – in ihrem Paß tatsächlich aber schon mit sechsunddreißig festgelegt ist. Jedoch die Malerei über den Augenfalten und am Mund stellt eine kosmetische Höchstleistung dar und kostet Jenny täglich eine volle Stunde Zeit, so daß sie im Abstand von zwei Metern noch zur Not für neunundzwanzig gelten kann, worauf sie gelegentlich mit falscher Offenherzigkeit drei Jahre zugibt: »Nun ja, man ist schon alt, nicht wahr, bei zweiunddreißig?«

Hans fand sie gar nicht alt in ihrer südlichen Beweglichkeit. Da ist nämlich ein Tropfen Blut aus Panama, von der Mama her. Also nur drei, vier Jahre älter als ich, rechnete er nach. Und nach dem Aussehen – dunkle Augen, brünett nach Haut und Haar, rassiger Nasenbogen, herrliches Gebiß – im großen ganzen so alt wie ich. Das ginge schon – und Heiraten ist beinahe so etwas wie eine Existenz – ein Unternehmen, ein Geschäft. Warum muß es eine Pomadefabrik sein? Jenny hat klotzig viel Geld in Südamerika, woher ja ihre Mutter kam. Der Vater ist Däne und lebt in Kopenhagen. Aber er ist schon lange geschieden und sieht Frau und Tochter nie. Eine verrückte Familie. Den nord-südlichen Zusammenprall in ihrem Innern beweist auch schon der Name: Alden-de Montujo.

62 Jenny ist auch nicht normal. Sie spielt ja mit Puppen und bildet sich ein, das sei nun ihre Familie und sie sei die Mama. Eine Puppenmama. Alle Menschen sind Puppen für sie. Und sie selber ist die Puppenfee. Sehr süß und sehr tyrannisch. Soll ich dem kleinen Raubtier meine Freiheit verkaufen? Das heißt: wo habe ich denn jetzt die ›Freiheit‹ mit zweiundzwanzig Franken in der Westentasche? Das ist kein Kapital. Und Kapital ist doch die wahre Freiheit zugegebenermaßen. In dieser Liebesheirat würde die Unfreiheit zur Freiheit. Die Liebe – ja, Jennys Liebe ist ein Kapital. Wie weit verwechselt man das Kapital ganz innerlich mit Liebe? Überdies liebe ich sie ja richtig. Aber ob sie mich heute noch will? – jetzt, wo sie auf mich wütend ist – wegen diesem deutschen Girl? Vielleicht verlobt sie sich in dieser Stunde an irgendeinem Leuchtturm schon mit dem Rumänen? Ei verflucht . . . Bei Jenny kann man nie wissen.

 

Eben will er sich eine Zigarette anstecken, die er aus einem goldenen Etui nimmt – da hört er Lärm von innen – und ein kleiner, dicker Herr mit rotem Kopf schießt unter lautem Schnaufen an ihm vorbei, streift ihn heftig am Arm, so daß vom Ruck sein Streichholz ausgeht; läuft sinnlos hastig unter die Palmengruppe links an der Hauptallee; hinter ihm zwei Herren im Frack und eine Dame in Weiß, die laut schreit: »René, mon René!« Und der eine Herr – Hans kennt ihn, es ist Spalatini mit dem lächerlichen schwarzen Bart – ruft zu den andern: »Il m'a montré son Browning.« Ein Trupp rennender Fräcke, dazu zwei Polizisten und ein Portier; sie alle fliegen auf die Palmen zu ins Dunkel.

Hans will sofort nach ins Handgemenge . . . Da ertönt ein Schuß. Ein Mann fällt um. Damen kreischen auf. Ein Selbstmord? Ha, das ist die Hölle von Monte Carlo – der Mammon säuft Blut.

Hans ist schon auf zehn Meter bei der Gruppe, die sich um den am Boden Liegenden bemüht. Doch was ist das? Der Tote steht plötzlich auf und rennt weiter, dem Café de Paris zu. Hans ihm nach . . .

Da hört er hinter sich eine verzweifelte Stimme: »Hans!« Jenny eilt wie wahnsinnig hinter ihm her, und schon greift ihn ihre Katzenkralle am Ärmel und reißt ihn zurück.

»Jenny!« ruft er und hält im Laufen ein.

»Hans, wir müssen fliehen. Sofort, komm!«

»Fliehen, sofort? Dort hat sich einer erschossen!« Hans ist sehr aufgeregt. »Das heißt: ich weiß nicht recht . . . er war noch nicht ganz tot . . . es war so theatralisch . . .«

63 »Eben drum! Der Knall hat noch gefehlt. Höchste Gefahr für uns alle. Sofort zum Wagen!« Ihre Augen sind wild. Ganz mütterliches Panama. Widerspruch ist zwecklos.

Hans eilt schon mit ihr in der Richtung zum Quai. »Ja, aber ich im Frack und du im Abendkleid – und das Hotel . . .?«

»Frag jetzt nicht. Er wird sonst gefaßt. Du hast ja den Mantel und ich den Pelz.« Sie trägt einen anschmiegenden Persianer über der dünnen Abendtoilette in Altrosa. Der Pelz reicht bis zu den Knien. Ein breiter Streifen Seide glänzt unter dem Mantel heraus. Unten funkeln die goldenen Schuhe.

»Wo ist denn der Wagen?« keucht Hans. »Nicht in der Hotelgarage?«

Sie blitzt ihn wütend an. »Er kann doch nicht mehr ins Hotel. Das solltest du dir doch von selber denken!«

»Wer er?« fragt Hans. Sie sehen schon die Balustrade am Quai und dahinter die Lichter der Schiffe auf dem Meer.

»Wer – er?« gibt Jenny empört zurück. »Manuel natürlich. Er ist doch Revolutionär.«

»Und wegen diesem Kerl . . .« braust Hans auf.

»Aber sonst sind wir alle verloren. Der Schuß war ein Alarm . . . Die Leute sehen uns schon nach . . . komm . . . Dahinten an der Ecke der Avenue des Spélugues wartet er mit dem Wagen. Du hast doch um Gotteswillen deinen Autoschlüssel? Meinen habe ich verloren.« Sie ist ganz außer Atem vor Reden und Rennen.

Hans greift mechanisch in die Westentasche und findet den Schlüssel. »Ja, aber was ist denn los?«

»Ein Versehen, ich erzähl's dir nachher. Er kann nichts dafür . . .« Sie verliert einen ihrer Goldschuhe. »Mon dieu«, klagt sie. Er läuft zurück, holt ihn und streift ihn ihr hastig an.

»Aber, was kann denn uns dabei passieren?«

»Ich war doch dabei . . . ich stand neben ihm . . . und jetzt auch noch der Schuß . . . Ecco, da ist der Wagen.«

Sie schnaufen schwer die letzten vierzig Meter in ihrem Dauerlauf. Aber in Sicht des Autos stöhnt Hans noch rasch: »Liebst du mich noch?«

»Nachher!« ruft Jenny erregt. »Der Graf wartet – da im Auto.«

Es war ein geschlossener Viersitzer. Auf den Rücksitzen lagen ein Kabinenkoffer und ein großes Handcase. Daneben eingeklemmt der rumänische Graf, im Mantel, darunter schwarzer Sakko, die Mütze halb über dem Gesicht. Man kann es nicht erkennen. Jenny befiehlt: »Du fährst, Hans, ich sitze neben dir.«

64 Sie öffnet den Schlag. Der Graf sagt mit hoher, heiserer Stimme: »Presto, presto!« und: »Merci, mille fois.«

Hans herrscht ihn an: »Haben Sie denn geschossen?«

»Non, ce n'était pas moi – es war Monsieur Sedlacek – aber schnell fort, bitte«, ruft der Rumäne. Er trägt eine knallgelbe Krawatte.

Hans macht die gelbe Krawatte wild. Auch die drei Ringe an der linken Hand. Er wirft einen Blick in den Wagen und schreit: »Aber es sind ja nur zwei Koffer!«

»Mein großer ist unter Zollverschluß voraus, nach Florenz«, antwortet Jenny hastig. »Der Graf mußte den seinen natürlich zurücklassen, du Idiot. Ein Graf ist mehr wert als ein Koffer . . . Los!«

»Ja, los!« Hans könnte den Rumänen niederschlagen. Aber das Abenteuer hat ihn doch angepackt. Irgend etwas ist wieder los in der Welt, gottlob. Momentan wird ihm der Kerl da gleichgültig. Und immerhin ist Jenny wieder da. Sie hat ihn doch gesucht. Nun, meinen Autoschlüssel brauchte sie auf jeden Fall. Nur nicht nachdenken. Das Leben ist dann viel leichter. »Also los!« Er kurbelt an.

Ein Polizist steht an der Straßenkreuzung mit dem Rücken zu ihnen. »Wenn der sich nur nicht umdreht!« fürchtet Jenny.

»Richtung?« fragt Hans.

»Genua-Milano-Chiasso«, ruft der Graf, und man sieht das Weiße in seinen Mohrenaugen leuchten.

»Nein, Genua-Pisa-Florenz, mon cher Manuel.« Sie spricht mit ihm ein sehr geläufiges Französisch. »Nicht Chiasso, denn die Grenzen werden bewacht sein. Es ist sicherer.«

»Was hast du gesagt?« fragte Hans, der so rapid gesprochenes Französisch nicht versteht und mißtrauisch Jennys Augen folgt.

»Ich sagte Florenz!«

»Natürlich Florenz«, brummt Hans, »denn ich will doch zu Molina.«

»Jedenfalls zuerst Genua«, bittet der Rumäne.

In diesem Augenblick dreht sich der Polizist um. »Avanti!« schreit Jenny.

Und Hans wendet nach der Quaistraße. »Nur 'raus aus dem Fürstentum . . . 'raus aus der Hölle . . . Richtung Mentone-Ventimiglia.«

Sie sausen schon. »Kommt er uns nach? Notiert er die Nummer, der Polizist?« fragt Jenny den Grafen. Der schaut durch das Rückfenster: »Non, ma chère, er hält uns nur für Vergnügungsreisende.«

»Wieso Vergnügen?« fragt Hans bitter und böse. »Es ist nämlich kein Vergnügen, so im Frack in der Nacht herumsteuern . . . verrückt und sinnlos.«

65 »Es ist durchaus nicht so verrückt und sinnlos«, beschwichtigt ihn Jenny, milde und zufrieden aufatmend über den gelungenen Start. »Du rettest einen Revolutionär.«

Hans lacht laut auf vor Hohn. Der Schweiß läuft ihm unter dem Zylinder hervor und die Schläfen herunter. Er nimmt die hohe Röhre ab und placiert sie wortlos auf Jennys Schoß. »So ein Kitsch!« seufzt er vor sich hin.

»Wieso Kitsch?« lächelt Jenny verwundert. »Das ist nicht Kitsch – das ist das Leben.«

 
Die Puppen

Sie erreichen die große Autostraße. Die Lichter nehmen ab, kein Gendarm ist vorläufig mehr zu fürchten. Häuser, Felsen, Bäume, Telegraphenstangen sausen in der mondlos dunkeln Nacht vorbei. Etwas Gewölk hat sich vor die Sterne gelegt. Es ist Feuchtigkeit in der Luft. Man friert. Bis Genua werden es 200 Kilometer sein. Das muß in drei Stunden gemacht sein. Bis zwei Uhr. Hoffentlich sind wir der Grenzwache, der französischen vor Ventimiglia, nicht avisiert, denkt Hans. Und sagt dann laut:

»Nun aber bitte, wozu diese blöde Flucht? – die mich den Teufel angeht – wegen dem rumänischen Lümmel.« Er nimmt an, und gottseidank mit Recht, daß der Graf kein Wort Deutsch versteht; also noch viel weniger als er mit seinem bißchen Französisch den Grafen zu verstehen weiß. Jenny hält ihm bei der Beschimpfung die rechte Hand vor den Mund, und mit der linken greift sie rückwärts nach den dreifachberingten Fingern des Grafen, um dessen eventuell verletztes Ehrgefühl ob Hansens rauhem Tonfall zu beschwichtigen.

Des Grafen Seele ist aber keineswegs beleidigt. Er ist so gar nicht adelsstolz. Er ist ja Revolutionär und Mann des Volkes. Er spielt mit Jennys zarten Fingern und sagt mit überhöflichem Grinsen sehr langsam auf französisch: »Ich danke Ihnen, Monsieur Bell, im Namen der revolutionären Liga Rumäniens . . . sozusagen.«

»Sozusagen?« War das eine Bosheit? Hans versteht den Satz, weil der Comte für ihn ja so langsam gesprochen hatte. Er gibt wütend zurück: »Ihre Revolution ist mir vollkommen wurscht. Übersetz ihm das, Jenny. Sag ihm ruhig: Wurscht . . . saucisse! Er soll seine Bomben in Rumänien schmeißen. Ich mache da nicht mit. Das geht mich nichts an, gar nichts.« Und zum Grafen direkt in stolpernden französischen Vokabeln: »Votre bombe ne me touche pas, Monsieur . . . absolument pas!«

66 Jenny zischt böse: »Blamier dich doch nicht mit deinem jämmerlichen Französisch.«

»Aber ich will jetzt auf Deutsch wissen, was der Kerl angestellt hat . . . Steck mir eine Zigarette an . . . Ich kann nicht am Steuer . . . Warum hat er den dicken Herrn in den Tod getrieben? . . . oder was da schon war. Was war das mit dem Schuß?«

»Ach der Schuß, das war doch nur der dicke Sedlacek. Das geht doch Manuel nichts an – wenigstens nicht als Revolutionär.«

»Sedlacek? . . . Warum aber die Flucht?« herrscht Hans sie an.

Jetzt holte Jenny weit aus: »Er mußte weg, wegen der Fünftausend-Francs-Note. Er verkaufte sie gegen Plaques an die Spielkasse. Aber die alte amerikanische Schraube, die Miß Hotcald, mit der er von der Mittelmeerreise zurückkam, stand rechts am Schaltertisch. Sie liebt ihn wie verrückt und sieht mich darum giftig an. Sie platzt vor Haß. Cadulescu hatte die Plaques schon erhalten, zehn zu 100, zwei zu 500 und drei zu 1000 Francs. Die Note lag noch auf dem Tisch. Dann waren wir schon zehn Schritte weit im Saal. Da kommt Sabatini mit seinem schwarzen Bart rasch auf uns zu und fragt leise und hastig: ›Hast du die Plaques?‹ Der Graf schlägt bestätigend auf die Hosentasche, greift hinein und steckt Herrn Sabatini ungezählt eine Handvoll in die Seitentasche seines Sakkos, daß es nur so klimpert. Da schreit hinter uns Miß Hotcald: ›Es ist mein Fünftausend-Francs-Schein! . . . Ich kenne die Nummer. Das gemeine Weib will ihn verraten. Sie weiß von allen seinen revolutionären Absichten. Er will die Dynastie stürzen!‹ keift sie mit überschlagender Stimme und fällt vor Erregung um. Andere schrein: ›Welche Dynastie?‹ Von der Kasse brüllt einer: ›Die Note ist Falschgeld.‹ Alles eilt zur Kasse. Gottlob sind wir schon weit. Cadulescu und ich gehen rasch, aber in unauffälligem Tempo durch den blauen Saal ab. Kein Mensch hält uns für die Verbrecher . . . Aber an der Luft im Freien wird Cadulescu nervös und . . .«

Hans unterbricht: »Ja, war es denn ein falscher?«

»Nein. Nur die Rache der Miß Hotcald, versicherte mir Cadulescu. Denn sie wolle ihn verderben und habe schon nach Bukarest telegraphiert, die Dynastie sei in Gefahr! Jetzt sei der Zufall mit der Banknote dazugekommen, die vielleicht ja wirklich falsch sei; man wisse das ja nie. Und dann kam noch im falschen Moment die Knallerei mit Sedlacek und seinem Selbstmordtrick.«

»Selbstmordtrick?« Hans bleibt der Mund offen vor Erstaunen. Er kennt sich zwar aus in dieser Welt, in der man sich anzieht – aber gewisse Finessen des großen Lebens sind ihm doch wohl entgangen. Man lernt nie aus. Nur 67 kluge Menschen unterschätzen die Übermacht des Kitsches in unserem Leben . . . Hans denkt darüber nach, ob er selber wirklich so klug sei!

Jenny steckt ihm süß lächelnd die Zigarette in den Mund: »Aber Hans, das war ja nur die Gaunerbande. Die waren glatt trocken gespielt und hatten keinen Sous mehr. Der Dicke spielte Selbstmord, um nachher zu sammeln. So einer kriegt manchmal von den Mitleidigen glatt zwei- bis dreitausend Francs zusammen . . . das heißt, wenn sie gewonnen haben. Die Polizei kam aber viel zu früh. Da mußte er gleich wieder hoch. Und dann mußten wir eben alle fliehen.«

»Unerhörte Frechheit. Aber woher weißt du denn das alles mit dem Schwindel?«

»Von Cadulescu natürlich. Er weiß doch alles in diesen revolutionären Kreisen. Er bleibt aber sehr vorsichtig. Er kennt die Spielerbande. Auch ist er doch mit Spalatini befreundet. Er hat sie belauscht.«

»Ha, belauscht!« spottet Hans, »wie in einer Indianergeschichte. Die reinste Kolportage. Der Lump bei uns dahinten ist sicher auch im Bilde und kriegt Prozente. Auch der Spalatini, dein Freund von vorgestern. Jenny, du hast eine Vorliebe für Hochstapler. Ein Spürtalent für Lumpen. Du sammelst sie wie ein Lumpensammler.«

Jenny empört sich: »Wenn du von ihm noch einmal Lump sagst, kannst du aussteigen.«

»Damit du allein mit ihm flirten kannst? Vorher aber erbitte ich mir endlich die fällige Auskunft über den wahren Grund unserer Flucht.«

»Grund?« ruft Jenny. »Du fragst noch nach dem wahren Grund?«

»Ja, Grund!«

Jennys Gesicht wird plötzlich von einem furchtbaren Ernst überschattet, und es tönt fast feierlich: »Du hast doch mit der blöden Gans ein Verhältnis angefangen – auf dem Sofa im Rauchzimmer.«

Hans brüllt: »Was hat denn das mit der Revolution zu tun?«

»Ja, oder nein? Hast du mich betrogen?« schreit Jenny. Und zum Grafen mit erregter Stimme: »N'est-ce-pas, Comte, vous l'avez remarqué?«

Der schwarzhaarige Graf versteht durchaus nicht, wozu er als Zeuge aufgefordert wird, spürt aber den Angriff gegen Hans und sagt aus glatter Bosheit gegen ihn: »Oui, ich habe alles beobachtet.«

»Siehst du, Cadulescu gibt mir auch recht. Ein Mann wie er ist gewiß nicht prüde; aber so eine Aufführung in aller Öffentlichkeit, das grenzt an . . . Exhibitionismus.«

»Das ist eine Beleidigung«, fährt Hans auf. »Ich habe ihr nicht einmal einen Kuß gegeben. Wenn das Exhibitionismus sein soll . . .?«

68 »Du hast mich blamiert«, keift Jenny laut, »mit den Augen, mit den Händen. Du hast ihr am Schuh herum gemacht, und angelächelt hast du sie auch, diese strohblöde Ziege . . .«

Hans gibt den intellektuellen Gegenangriff auf. Er ist den verwirrenden Finessen weiblicher Dialektik nicht gewachsen. Er wiederholt nur schwach: »Was hat das mit der Revolution in Bukarest zu tun?«

»Gar nichts«, heult Jenny. »Aber du bist ein Verräter unserer Liebe. Denn du weißt: ich wollte dich doch heiraten. Aber nach diesem Eclat gab es für mich nur noch die Flucht mit dem Grafen . . . Das mußt du doch einsehen!« Sie weint bei Gott richtige Tränen. »Denn Manuel liebt mich . . . Er hat's mir gesagt . . . N'est-ce-pas, Comte, vous m'aimez?«

Der Graf zwischen den Koffern sagt verlegen und diplomatisch, aber auf deutsch, damit Hans sich ärgert: »Jeder Monsieur, der Sie sieht, Madame, muß Ihre Schönheit lieben . . .«

»Da hörst du es, Jonny«, schluchzt Jenny.

Und der Graf fährt fort: »Wir Revolutionäre lieben das Temperament und die Freiheit des Blutes – oh, c'est la liberté d'une grande âme . . .« Er grinst wieder aus dem Dunkel seiner Ecke mit dem Tiergebiß. Die gelbe Krawatte leuchtet.

»Geht mir zum Teufel mit eurer Liberté«, knurrt Hans. »Ich will jetzt wissen, warum du diese lumpige Theaterspielerei mitmachtest? Wegen der Revolution? Oder wegen der Tausendernote? Oder weil du diesen Affen da liebst? Heraus mit der Wahrheit – sonst stopp ich den Wagen ab und nehme den Schlüssel mit.«

»Ach Jonny, du liebst mich nicht mehr«, schluchzt Jenny und beißt ihn in den Hals.

»Beiß den Rumänen!« wehrt sie Hans empört ab. »Du liebst den Hund.«

»Ach Hans, du bist kein Menschenkenner.« Jenny streichelt ihn. »Wir müßten ihn doch retten, schon aus Menschlichkeit und Klassenbewußtsein von Gentleman zu Gentleman. Denn er sagte, sonst seien ihm zwanzig Jahre Kerker sicher.«

»Ja, aber wofür denn eigentlich zwanzig Jahre Kerker?«

»Nun, doch für die Revolution. Die zittern ja alle in Bukarest vor ihm . . . und haben hier ihre Häscher . . .«

»Häscher? Oh, Jenny, du redest wieder wie ein Kriminalroman von vorgestern.«

»Nein, das ist Wirklichkeit. Richtige Häscher! Der Comte beschwor mich, ihm sofort zur Flucht zu verhelfen, da er sich nicht mehr ins Hotel getraue. Da 69 holte ich den Wagen aus der Garage, ging ins Hotel, zahlte und ließ die Koffer ins Auto schaffen.«

»Hast du auch für den Comte bezahlt?«

»Natürlich, ich krieg's ja wieder in Mailand oder Florenz.«

»Ob du es kriegst? Das ist doch alles Schwindel mit dem Kerl. Du hattest doch Zeit, mindestens zwei Stunden. Warum hast du mich nicht sofort informiert?«

»Oh, nein«, sagte Jenny giftig, »ich wollte dich nicht stören mit der Blauen . . . Dann aber . . .«

»Was?«

»Dann verlor ich ja den Autoschlüssel . . . und da mußte ich doch . . .« Sie sah ihn flehend an.

»Was mußtest du da noch?«

»Zu dir! Ich liebe dich ja leider, du schlechter Kerl.« Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Und ich wollte dich wieder ganz allein für mich haben.«

»Ganz allein?« Hans sah auf den überflüssigen Rumänen. Dennoch wurde er weich. Ach, er spürte, daß er gegen seinen Willen den kleinen Teufel liebte. Aber er sagte mit wilder Empörung: »Und jetzt haben wir den Kerl in unserem Wagen – und du poussierst mit ihm . . .«

»Ach was – ich wollte dich doch nur reizen!«

»Oh, Jenny – und dafür so ein Theater! Dafür haben wir nun den Gauner auf dem Halse, hier im Auto, im eigenen Heim sozusagen, diesen Banknotenfälscher, diesen amerikanischen Lustknaben, diesen faulen Revolutionär.«

Cadulescu hatte das letzte Wort als einziges verstanden und es mit Recht sofort auf sich bezogen, und er wiederholte zur Unzeit: »Die revolutionäre Partei Rumäniens wird Ihnen sehr viel Dank sagen für unsere Flucht.« Seine ölige Stimme vibrierte.

»Spricht er nicht herrlich?« ruft Jenny entzückt. »Ich liebe das Heisere an seiner Stimme. Es tönt so vornehm, so ganz nach Herrenklasse.«

»Er soll seinen Tenor abstellen . . . Der Kerl muß 'raus. Aber da kommt die Grenze . . .« Und als Jenny zusammenzuckt: »Nur keine Angst. Einem solchen Revolutionär wird nichts passieren. Leider rein gar nichts.«


Quer über der Straße lag der Schlagbaum – die Grenze. Der französische Posten hob die Hand. Man hielt. Es ging alles glatt mit den Pässen. Den rumänischen prüften sie sogar noch weniger lange als den deutschen von Hans. Der 70 grinste mit dem Hohn des Rechthabens zu Jenny hin. Cadulescu bewahrte seine Ruhe, blieb aber im Wagen sitzen und half die Koffer hinausschieben für die Zollbeamten. Nur Jenny zitterte in Gedanken an des Grafen Ausspruch: »Die Cadulescu sind immer die Feinde des Throns gewesen.«

Sie liebte zwar diesen Grafen nicht im geringsten. Er war nur ein Flirtobjekt zur weiblichen Machtbestätigung und ein Reizmittel gegen Hansens scheinbar wankende Treue. Jetzt, wo sie ihren Jonny wieder in Sicherheit vor allen Weibern Monte Carlos im eigenen Wagen hatte, wurde ihr auch der Graf zuviel. Aber ihre Kolportageseele glaubte dem ›Revolutionär und Feind der Dynastie‹ doch hohe Achtung schuldig zu sein; und auch vor dem ›Mann‹ im Grafen mußte man wohl den Anschein erotischen Interesses noch für die Dauer der Flucht aufrechterhalten. Das erforderte der internationale Takt, nach Jennys mondänem Wissen um die Herrenklasse. Auch durfte Jonny sich ruhig noch ein bißchen ärgern. Der Junge mußte erzogen werden. Er kann sich nie beherrschen, wenn er eine Frau sieht; namentlich wenn sie jünger ist als Jenny; selbst bei der Rechnung mit dem Alter von neunundzwanzig. Sie will Hans festhalten.

»Er ist für nichts Ernstes zu gebrauchen, außer für den Ernst des Footballs. Ein ordinärer Sport!« dachte die feine Jenny. Kein Sport der Herrenklasse. Er hätte Tennis spielen sollen, ihr eleganter Hans. Aber er hatte nun einmal einen »sentimentalen Hang fürs Volk« und ein dickes Herz für kleine Leute. Er sprach mit seinem Portier genau so kordial wie mit einem Grafen. Auch hielt er seinem Fußballklub seit dem Gymnasium ewige Treue. So war und blieb er denn auch im ›Ernst des Lebens‹ ein Fußballer, und nichts anderes als ein Fußballer. Das ist Jennys kleiner Schmerz. Aber für alle Kleinigkeiten der Lebenspraxis ist er ganz klug und sehr anstellig – für zwei Dutzend Besorgungen und Telephonate an einem Vormittag, Einladungen schreiben, beim Friseur anmelden, Gepäck aufgeben, Billette besorgen – da ist er unübertrefflich wie Cook & Sons. Er hat den Vorteil einer nachgiebigen armen Freundin, die der reicheren Untertan wird. Und darüber hinaus ist er doch ein Mann, ein junger Mann, ein Gent, ein Schmuck des Hauses und der Straße, und ein Chauffeur von Gottes Gnaden . . . Nur manchmal etwas sentimental – das scheint fast sein einziger Fehler zu sein.

Eine Uhr schlägt Mitternacht. »Jetzt fängt der dreizehnte April an«, denkt Jenny bänglich. Aber die Paßkontrolle ist erledigt. Die Franzosen machen schnell. Die Italiener sind umständlicher. Jedoch auch hier geht alles glatt mit den Pässen. Nur ein Zollsoldat sucht noch im Wagen herum und klopft auf die Koffer . . . Jenny hat die Beamten mit den Vokabeln dreier Sprachen belustigt. 71 Sie plappert aus jeder Hauptsprache mit großer Geläufigkeit und richtigem Akzent die elementaren Sätze des Reiseverkehrs. Auch Spanisch kann sie von der Mutter her.

Schon als Kind reiste sie mit der sehr beweglichen und lebensfreudigen Mama durch die Welt, von Hotel zu Hotel, von Bar zu Bar. Sie ist überall zu Hause – und daher nirgends. Sie hat zwei Drittel ihres Lebens im Hotel gelebt. Menschen sind ihr nur Reisende und ›Begegnungen‹ – Bekanntschaften – Spielfiguren. Sie glaubt jedem Fremden und mißtraut dem Nächsten. Ihr bißchen Klugheit geht auch nur in Sprüngen kürzester Überlegung. Sie lebt nur von Impression zu Impression, von Occasion zu Occasion. Kein Gedanke hat Länge. Keine Zeit hat bei ihr eine Dauer. Kein Ort hat eine Weile. Auch das Geld tröpfelt ihr wie Regentropfen durch die Finger. Sie weiß nie, wieviel sie bei sich hat. Sie gibt einem Bettler hundert Francs und keift im nächsten Augenblick um fünfzig Centimes. Jede Regung wird im Nu zur Tat. Ihre Zunge ist schneller als ihr Sprachgedanke. Sie parliert französisch, englisch, deutsch und spanisch, und denkt von einem Herrn zum andern.

Ein feiner Sprühregen kommt vom Himmel. Jenny wickelt den Pelz fester um ihr Figürchen. Sie steht in ihren Goldschuhen auf dem Trittbrett des Wagens und dirigiert Hans und die Beamten herum. Aber ein großer uniformierter Kerl mit fürchterlichen Augenbrauen und einem sich nach beiden Seiten seines pausbackigen Gesichts je zwanzig Zentimeter erstreckenden Umberto-Schnurrbart fühlt sich gereizt durch ihre Nonchalance und will durchaus einen Koffer geöffnet haben. »Nein, nicht den meinen!« ruft Jenny in ihrer Unüberlegtheit. »Hans, mach den deinen auf!« Aber gerade jetzt will der Umberto-Mann natürlich den ihrigen öffnen lassen. Avanti! Ja, aber hier hat sie das neue Kleid, das sie in Nizza gekauft hat. Noch nie getragen. Sie weiß, daß es obenauf liegt wie zur Parade. Der Koffer geht auf.

Aber was ist denn das? Sämtliche Beamte kommen zum Koffer herangelaufen. Die Italiener rufen die französischen Kollegen. Das muß man gesehen haben! Ja, sie verwundern sich. Ein Spielwarenladen? . . . Da liegen sechs Riesenpuppen von halber Kindergröße am Kofferrand, rings um das neue Kleid herum. Vier Mädchen in Seide, Gelb, Lila, Blau und Rosa. Und zwei Knaben, der eine als feiner Eaton-Boy in Schwarz mit steifem Kragen, der andere blau mit Silberborten. Zwei Mädchen liegen je an den Seiten des Koffers. Ein Knabe je oben und unten an der Querwand.

Ein unbändiges Gelächter hebt an. Auch der Graf grinst aus dem Fenster. Jenny brüllt: »Lachen Sie nicht! . . . Ach, meine armen Kinder . . . Den Deckel zu, sie werden ja naß im Regen!« Sie will den Koffer zuschlagen.

72 Der Umberto hindert sie. »Aspetti!« Drei von den Puppen sehen aus wie neu. Sie heben sie heraus: »Bel bambino!« scherzt ein netter junger Kerl; und mit Verbeugung zu Jenny: »Bella madre!« Aber Jenny versteht hier gar keinen Spaß. »Ihr könnt die Kleinen nicht einmal richtig anfassen. Ihr zerquetscht ihnen die Kleidchen mit euren Dreckfingern, und Ihr tut ihnen weh, meinen dolcissimi bambini.« Sie heult vor Wut. Sie liebt ja ihre Kinder, als wären sie lebendig; sie reißt dem Mann die Puppe aus dem Arm und reicht sie dem Grafen in den Wagen.

Inzwischen hat der Beamte, den die Puppen als Zollobjekt durchaus nicht interessieren, das Kleid herausgenommen. »Neu?« fragt er.

»Uralt – molto vecchio, antico, antichissimo!« sprudelt Jenny.

Aber schon hält der Umberto das Preistäfelchen in den Fingern, das mit einem roten Faden am Halsausschnitt befestigt ist. Er liest 450 Francs. »Signora, das kostet Zoll.«

»Was Zoll?«

»Seien Sie froh, daß wir Sie nicht auch noch in Buße nehmen.«

»Animal!« flucht ihn Jenny auf spanisch an.

»Kommen Sie ins Bureau«, sagt streng der Zöllner.

»So ein Pech – das ist der Dreizehnte!« schimpft sie weiter. »Ach Jonny, geh du; ich will das Kind versorgen.« Und sie nimmt dem Grafen aus dem Autofenster die Puppe weg und bettet sie sachte in die frühere Vertiefung im Koffer. Hans geht kopfschüttelnd zur Zollbaracke. Es regnet stärker. Eine trostlose Windlaterne gibt die einzige Helle.

Kaum ist Hans verschwunden, öffnet der Graf die Autotüre und ruft halblaut: »Jenny, bitte kommen Sie in den Wagen.« Es ist wie im italienischen Kasperlitheater. Kaum geht der Amoroso, so öffnet sich die Tür des Nebenbuhlers. Jenny tritt zur offenen Coupétür. Der Graf preßt ihre Hand und sagt mit traurigen Augen: »Jenny, er ist nicht gut zu Ihnen. Sie verdienen einen andern Kavalier . . .« Er zieht sie näher heran: »Lassen Sie ihn in Genua. Venez avec moi à Milan – Sie wissen, wir sprachen von der Liebe. Wenn Sie mich lieben . . .«

Jenny zuckt mit den Brauen. Das übersteigt den nötigen Flirt. Aber sie kommt nicht zur Antwort und reißt den Arm aus seinen Händen; denn eben erscheint Hans unter der Barackentür und ruft: »Jenny, es kostet noch sieben Francs.«

»So zahl sie doch, du hast ja Geld.«

»Es macht für den Zoll neunundzwanzig. Ich habe aber nur noch zweiundzwanzig.«

73 »Zweiundzwanzig?« fragt Jenny erstaunt. »Du hast doch von mir noch fünftausend!«

Ei verflucht! denkt Hans. Er kommt wie ein geprügelter Hund herbei.

»Die sind doch hoffentlich nicht alle weg?«

Hans stammelt: »Alle weg.«

»Was?« ruft Jenny, »beim Roulette? Oder hast du's der Blauen gegeben?«

»Nein verloren bei Trente et Quarante – auf einen Schlag. Ich wagte eben alles für dich.« Hans spricht wie ein kleines Kind zu seiner scheltenden Mama.

»Dafür hast du auch Glück in der Liebe, du schlechter Kerl.« Jenny denkt viel weniger an das Geld, als an die Möglichkeit, daß es für Damen ausgegeben wurde. »Oh, il est un mauvais sujet, der junge Mensch da«, beklagt sie sich beim Grafen. Der scheint wieder zu hoffen und flüstert: »Lassen Sie ihn doch fahren. Venez à Milan.«

Aber Jenny hört es gar nicht, denn sie sucht in ihrem Portemonnaie nach den fehlenden neun Francs – und stellt nach rascher Zählung unter Entsetzen fest: sie selber besitzt keine hundertfünfzig Francs mehr. Sie hat eben noch heute abend für sich und Hans 1230 Francs und für den Grafen 460 Francs an Hotelrechnungen bezahlt. Jetzt ist zwar noch das Scheckbuch da, aber beinahe nichts in bar. Sie reicht Hans wütend einen Zehnfrancs-Schein.

»Comte, helfen Sie mir mit 500 Francs oder Lire.« Doch ohne des Grafen Antwort abzuwarten, eilt sie dem abgehenden Hans nach und übergibt ihm das ganze Portemonnaie: »Alles in Lire wechseln lassen – dort in der Wirtschaft.« Hans geht gehorsam wieder zu den Baracken.

Der Graf aber hat nicht mit der Wimper gezuckt auf Jennys Frage. Als sie zum Wagen zurückkehrt, fällt sie ihr wieder ein. »Fünfhundert Francs, Graf, zur Abrechnung auf vierhundertsechzig.« Und sie lächelt: »Vierzig darf ich Ihnen wohl schuldig bleiben in der Not?«

Der Graf sagt: »Versteht sich . . . Aber ich habe zwar für etwa dreitausend Francs Chips – er klappert zum Beweis mit den Spielmarken in der Hosentasche –, aber in bar nur einen Tausendfrancs-Schein. In der Eile konnte ich kein Geld abheben . . . Aber ich werde dann in Genova wechseln lassen und alles bezahlen, was wir auf der Reise brauchen.«

»Gut, beim Tanken in Genova zahlen Sie«, sagt Jenny. Sie hebt nochmals den Deckel ihres Koffers und gibt der Favoritenpuppe Klara einen Kuß. »Sleep well, my darling.« Dann schließt sie den Koffer ab und hebt ihn mit dem jungen Zollbeamten in den Wagen . . .

74 Da kommt Hans zurück, die eine Hand voll Lire-Scheine. »Wir haben jetzt mit meinen zweiundzwanzig Francs zusammengerechnet noch 128 Lire, 60 Centesimi.«

»Dazu die tausend Francs vom Grafen!« ruft Jenny, »dann reicht's reichlich bis morgen früh. Also los nach Italien!« Dann überlegt sie etwas. Sie sieht rasch nach dem Grafen. »Aber Jonny, diesmal fahre ich. Bis Savona oder Genua setz ich mich ans Steuer; und du, Hans, mußt diesmal nach hinten zum Gepäck. Der Graf kommt mit nach vorne.« Und als Hans ein muffiges Gesicht macht, flüstert sie ihm zu: »Ich will ihm doch jetzt die Richtung Milano einreden, damit er allein loszieht. Verstehst du? Denn er wollte ja ursprünglich über Triest nach Jugoslawien und weiter. Es ist eine Geheimsitzung des revolutionären Komitees in Zagreb – hat er gesagt.«

Hans lacht verächtlich auf. »Wenn du den nur loskriegst, der ist klebrig.«

Sie selber möchte den zähen Verehrer jetzt so schnell wie möglich verabschieden. Der hat den Flirt womöglich ernst genommen. So denkt sie ein wenig zu spät. Ach, gegen Jonny ist er nichts, mit all seiner politischen Bedeutung. Was geht sie schließlich auch die ›Dynastie‹ an! Jetzt will sie unbedingt mit Hans allein nach Florenz fahren zu jenem Molina, von dem er ihr erzählte: »Alter Schulkamerad, ein toller Boy.« Den möchte auch Jenny kennen lernen, und einiges über Hansens Jugend erfahren. Sehr interessant für sie. Den Grafen aber will sie überreden, in Genua den Zug nach Mailand zu nehmen. Und mit Jonny übernachtet sie in Genua – etwa um zwei Uhr sind wir in Genua –, wo man sich übrigens ja verlobt hat, gerade vor drei Wochen. Ja, das wird fein! freut sich Jenny. Das heißt, wenn der Graf nur wechseln kann, so mitten in der Nacht, morgens um zwei. Denn seine Chips für dreitausend Francs, die nimmt ihm kein Hotel ab. Caramba! Aber es wird sich schon machen . . . Where there's a will – there's a way . . . Und jetzt: Allons!

Alle sind auf den Plätzen. Die Zollbarriere hebt sich. Hans hat sich in die Ecke gekuschelt. Er friert in seinem Frack trotz seinem Sommermäntelchen und raucht in raschen Zügen. Der Graf sitzt lautlos neben Jenny. Die ruft den Zöllnern »A rividerci« zu, wischt rasch noch die vom Regen vertröpfelte Scheibe ab und fährt dann fröhlich los in die Nacht. »Hans, Jonny, denk dir nur, wir fahren mit den Kindern nach Italien.«

»Mit den Kindern? . . .« Hans macht ein dummes Gesicht.

»Und in Florenz laß ich mir einen Extrakoffer machen, einen zweischläfigen mit roter Seidensteppung für nur einen Boy und nur ein Girl. Und weißt du, wie die beiden heißen werden?« Sie blickt verliebt Hans von der Seite an. »Jonny und Jenny – sollen sie heißen.« 75

 
Der Monteur

Die Nacht ist völlig schwarz. Kein einziger Wagen kommt ihnen entgegen. Sie schweigen. Der Graf streichelt hin und wieder Jennys Bein. Sie nimmt ihm die Hand weg. Aber sie wagt noch nichts zu sagen von der erhofften Trennung. An einer Bahnkreuzung müssen sie vor der Barriere halten. Von einem Campanile hämmert es vier Viertelschläge und die Stunde: ein Uhr. Jenny beschließt, den Grafen vorzunehmen, sowie sie weiterfahren. Unter Motorgeräusch sagen sich die unangenehmen Dinge so viel leichter. Der Zug braust heran, ein Expreß mit doppelter Maschine. Unter Höllenlärm rast er in fünf Sekunden vorbei aus der Nacht in die Nacht. »Wohl nach Milano«, sagt Jenny. Sofort flüstert der Graf: »Wir auch nach Milano, Jenny.«

»Nein, nicht wir – denn ich muß nach Florenz.«

»Sie lieben mich nicht mehr.« Er macht wieder traurige Schimpansenaugen.

»Ein Flirt ist keine Liebe, das müssen Sie als Weltmann wissen, Graf.«

»Aber er kann es werden . . .« Wieder fährt seine Hand über ihr Knie.

»Bei mir nicht«, sagt Jenny scharf. Die Liebelei wird ihr zu dumm. Der Graf raunt etwas Ungehaltenes auf rumänisch.

Hans räkelt sich und murmelt hörbar: »Was machst du mit dem Kerl ab?«

»Ich rechne mit ihm ab wegen der Hotelrechnung«, lügt Jenny. Hans findet das richtig.

Sie schweigen lange . . .

Vor Savona aber kommt der Wagen in ein kurioses Hopsen. Sind's die Bremsen? Ist's im Vergaser? Sie müssen langsam fahren. Vielleicht Dreck im Benzin? Jedenfalls frisch tanken.

In der Stadt finden sie eine Tankstelle mit Licht. Jenny und Hans steigen aus. Sie klopfen und rufen. Der Graf bleibt wie immer im Wagen. Ein verschlafener Kerl kommt, hängt den Schlauch ein und pumpt. Man hat noch fünfundzwanzig Liter. Der Tank faßt fünfzig. Also gibt man fünfundzwanzig Liter neuen Stoff à 2.10 Lire. Macht 52 Lire 50 Centesimi im ganzen.

»Jetzt, Graf, jetzt zahlen Sie«, meint Jenny nebenbei.

»Er kann ja doch nicht tausend Francs wechseln«, wirft der Graf müde und lässig hin.

»Doch, drüben in der Bar«, sagt der Tankmann.

»Also Geld her, geben Sie ihm den Schein«, sagt Jenny.

Der Graf zieht langsam die Brieftasche, sucht und sucht. Es rascheln Papiere. »Zut alors«, flucht er. Er spielt bei echter Verlegenheit eine unechte 76 Verzweiflung und zupft an seiner gelben Krawatte. »Zu dumm, ich habe ihn ja dem Sabatini gegeben. Ich habe nur Chips. Que faire?«

»Que faire?« staunt Jenny. Dann geht ihr ein Licht auf und sie bricht los: »Sie sind ein Schwindler!«

Der Graf kreischt empört: »Nein, Madame, ich bin ein Revolutionär auf der Flucht.«

»Das ist vollkommen das gleiche – im Effekt.« Und auf deutsch: »Hans, denke dir, er ist ein Schwindler.«

Hans ist nur mäßig überrascht. »Ach Jenny, du merkst auch gleich alles.« Dann packt ihn wieder die Wut über dieses ganze Abenteuer und er brüllt den Grafen an: »Rücken Sie mit der Note heraus: das heißt, wenn sie nicht falsch ist.«

»Er hat ja keine, der Schwindler«, empört sich Jenny von neuem.

»Ich werde Ihnen einen Scheck auf die Banca d'Italia in Milano geben, das ist sehr gutes Geld.« Der Graf spricht wieder ruhig; aber die Stimme tönt noch heiserer als sonst.

»Nein, mon cher, Sie kommen mit uns nach Florenz! Ich will dabei sein . . . Die Bank hat selbstverständlich eine Filiale in Florenz.«

»Ich muß aber fliehen, Madame, ich muß nach Trieste«, klagt der Graf. »Geben Sie mir nur zwanzig Lire mit. Ich habe kein Kleingeld. Ich bin Revolu . . .«

»Ihre Dynastie ist uns wurscht«, unterbricht ihn Jenny schreiend und hat sich, wie man sieht, auch in der Ausdrucksweise zu Hansens politischer Neutralität in den rumänischen Angelegenheiten bekehrt.

Hans aber packt den sauberen Comte am Arm: »Steigen Sie aus, Sie Lump Sie.« Notgedrungen steigt der Graf aus. »Sie bleiben hier in Savona!« Und zu Jenny: »Du kriegst doch das Geld im Leben nie. Laß es fahren. Ich hau ihm noch schnell eine 'runter, und wir fahren allein los.«

Aber Jenny, die sonst mit Tausendern ungezählt herumwirft, kapriziert sich in diesem speziellen Fall aus Wut auf die vierhundertsechzig Francs. »Der Kerl wird nicht freigelassen. Der kommt mit uns nach Florenz. Entweder auf die Bank oder auf die Polizei.« Dieser Graf – er hat ihr den Abend verdorben. Und ihr fällt endlich ein: Auch ihrem Jonny hat er ihn verdorben. Mit dem Hotel und der Liebesnacht in Genua ist es nun nichts. Jenny zahlt also wütend die 52 Lire 50 Centesimi für das Benzin mit dem einzig verbliebenen Hundertlireschein, und gibt bei Gott dem Tankburschen noch sieben Lire fünfzig Centesimi als Trinkgeld, damit es gerade schön abgerundet sechzig Lire macht. So ist Jenny. Sie haben nun noch, wie Hans ausrechnet, ganze achtundsechzig Lire und sechzig Centesimi. Ei verflucht! denkt er vor sich hin. So schmeißt es eben Jenny. Was ist Geld? Aber die lumpigen 77 vierhundertsechzig Francs vom Grafen, die will sie haben, à tout prix, ums Verrecken, ums Glück der Götter. Es ist nichts zu machen. Sie ist sehr böse, die gute Jenny.

Der Graf hat Angst, in diesem gottverlassenen Savona allein zurückgelassen zu werden: »Gut, ich fahre nach Florenz«, lenkt er ein. »Sie haben morgen sicher Ihr Geld. Mein Scheck ist gut. Meine Partei hat ein Depot in Milano. Wir sind alle Brüder . . . Ich lasse sofort telegraphieren . . .«

»Stoppen Sie mit Ihren Bomben und Brüdern«, herrscht Hans ihn an und schupft ihn durch die Coupétüre wieder ins Auto auf den hintersten Sitz, neben die Koffer. »Jetzt fahre ich!« Sein Frackhemd ist zerknüllt. Man sieht nicht mehr sehr fein aus. Hans hat das nicht gern. Nur ein eleganter Mensch ist schließlich ein ganzer Mensch. Jenny setzt sich dicht neben ihn und kichert in einem raschen Anflug lustiger Laune: »Wir haben einen Gefangenen gemacht!«

Es geht weiter. Jenny hält nach rückwärts im Prestissimo französische Reden an den Grafen im Hintergrund. Der Gefangene antwortet nur gelegentlich mit matten Phrasen: »Es ist ein Irrtum, Madame . . .« oder »nous autres revolutionaires . . .« oder »on payera tout . . .« oder »c'est plus fort que moi . . .« Aber seine Phantasie arbeitet nicht so friedlich wie seine verlegene Zunge. Er muß nach Milano, das steht fest. Mit den Monte-Carlo-Chips ist es nicht zu machen. Auch nicht mit den drei französischen Tausendernoten, die er da noch diskret in seiner Hosentasche hütet und die er geheim gehalten hat. Das ist gefährliches Geld und schwer zu wechseln in Italien – er kennt doch seine und Sabatinis Noten. Solch ein Pech, das mit der Note in Monte! Dazu kein echter Fünfzig-Francs-Schein mehr. Jenny, die einzige Rettung, hat versagt. Also: in Genua muß er die Flucht riskieren. Hafenstadt ist immer am besten. Nur nicht nach Süden, gar nach Florenz. In Genua spätestens muß er entspringen.

Aber davon ist keine Rede bei Jenny. Zwei Uhr fünfzehn sind sie in Genua. Der Graf sucht sie zum Stoppen zu bringen. Man gibt ihm auf seine Bitte überhaupt keine Antwort. Nur Jenny wirft sarkastisch hin: »Wir müssen die Dynastie vor Ihnen schützen.« Der Graf resigniert schweigend. Sie sausen durch die Straßen hinein nach Genua. Via Carlo Alberto – Via San Lorenzo – Via Venti Settembre und hinaus aus Genua. Hans ist mit Jenny wieder in voller Eintracht. Sie legt ihren linken Arm um seine Schulter und mit der rechten drückt sie sein Bein. Sie tuschelt ihm ins Ohr die schönsten Dinge. »Ach Jonny, morgen in Florenz. Im Klub mit Molina. Am Morgen hole ich gleich Geld beim Cook. Wir wohnen am Arno oder im Minerva bei Santa Maria Novella . . . Ach, du kennst es nicht . . .«

78 Die Riviera sieht überall gleich aus in der Regennacht. Hin und wieder ein Ort mit spärlichen Lichtern. Rapallo–Chiavari–Spezia, von Genua 112 Kilometer. Kurven halten auf am steilen Berg; aber man rast dahin, wenn's immer nur geht. Man fährt gegen Massa.

Hier hopst der Wagen wieder mitten in der Ebene. Es ist doch Dreck drinnen in den Düsen. Man muß vielleicht neues Benzin aufgießen. Aber wo tanken? »Du, wir haben den Kanister vergessen«, ruft Jenny, »das sind fünf Liter, die gießen wir drauf.« Hans macht die Sache. Ja, er zieht wieder an. Die Straße läuft gerade über das sumpfige Flachland. Zwischen Lagunen. Jetzt Viareggio – jetzt auf Pisa los.

»Um fünf Uhr sind wir spätestens in Pisa. Da fährst du wieder, Jenny.«

»Ich kann auch fahren«, sagte der Graf, um irgendwie die Peinlichkeit des Schweigens zu unterbrechen. »Ich war Fahrer im Heer.«

»Sie müssen nur zahlen können«, giftet Jenny, »und nachher können Sie alleine fahren.« Dem Grafen steigt das Blut in den Kopf. Es muß, es muß etwas geschehen.

Da hopst der Wagen wieder mit erschrecklichen Rucken wie ein bockendes Pferd. Er läuft nicht, er springt. Man muß stoppen. Die Nacht ist finster. Im April dämmert der Morgen nicht vor halb sechs, wenigstens im Regenwolkenwetter. Da vorne sind ein paar Häuser. Im Dunkel sieht man sogar einen Kirchturm. »Wir müssen noch bis zum Dorf«, ruft Jenny. »Keine fünfzig Meter bis zum ersten Haus.« Hans zieht alle Hebel, gibt Luft, tritt Gas wie ein Radfahrer. Das Auto tut keinen Ruck.

»Aussteigen und schieben!« ruft Hans. »Mitanfassen, Revolutionär!« Und da steigen die drei Mondänen – vier männliche Lackschuhe, ein Frack, ein Zylinder und eine Balltoilette mit Goldpantöffelchen – aus dem Wagen auf die kotige Straße und schieben den Karren mit Höh und Heh zum nächsten Haus.

Es ist eine Weinkneipe. ›Fiaschetteria‹ steht auf einer Tafel. Ein kleinstes Etablissement. Aber immerhin wird es auch hier einen Kaffee geben. Kaffee kocht überall in der Welt. Es ist kalt und man hat ihn bitter nötig. Aber ach Gott, wie sieht man aus! Das Frackhemd Hansens ist verwüstet, der Kragen zerknüllt, die Hosen aufgeweicht, sein Sommermantel starrt vor Straßenschmutz. Jennys Goldschuhe und Seidenstrümpfe sind über und über mit Kot bespritzt. Ein Strumpf hat sich am Kotflügel beim Schieben aufgerissen. Von oben bis unten sind alle naß. Nur der Graf besitzt das Glück und den Schutz eines dickeren Wollmantels – und einer noch viel dickeren Haut als das kuriose Liebespaar. Aber auch er dampft vor Anstrengung und Schweiß.

79 Das Haus ist still. Man klopft an alle Läden. Man ruft. Man hupt. Endlich wird ein hölzerner Laden aufgestoßen. Ein kleiner, dicker Mann ruft grob: »Che cosa?« Sie reden auf ihn ein, er möge aufmachen. Der Dicke sieht unter den offenen Mänteln den ungewohnten Glanz der Gewandung und die feine Dame im Pelz.

»Sind Sie ein Zirkus?« fragt er; denn er hält sie für Artisten.

»Nein, aber wir wollen heißen Kaffee.«

»Hier gibt's keinen Kaffee. Hier gibt's nur Wein.«

»Aber wir erfrieren, wenn Sie nicht aufmachen, gentilissimo Signore«, flötet Jenny.

Der Gentilissimo läßt sich rühren. »Ich mache auf – wir können ihn wärmen.« Er meinte den Wein.

»Ja, Glühwein – das ist fein«, jubelt Jenny. Die Männer jubeln noch nicht; und Hans meint: »Da wird uns schlecht. Besser er nimmt Wermut dazu, wenn er hat.«

Der Padrone öffnet. Er ist nur in Hemd und Hose. Aber was er hat, das will er bieten; auch den landesüblichen Wermut. Er ruft Giuseppina, seine Frau. Sie soll heißes Wasser machen. Ein mageres Weib kommt barfüßig im Nachthemd die Treppe hinunter und schaut scheel auf das vornehme Lumpenpack. Denn zu dieser Stunde kann es nur Lumpenpack sein, nach ihren schwachen Begriffen vom mondänen Leben. Oben schreien die Kinder in den Betten, geweckt vom Lärm der abenteuerlichen Ankunft.

Die Gäste sitzen in einer ärmlichen Kaschemme mit Petroleumlampe. Ein Räuberwirtshaus. Kein Stuhl ist ganz. Auf dem Tische stehen leere Flaschen. Die farbigen Bilder des alten Vittorio Emanuele und seiner Königin beschwichtigen nicht den Eindruck der Spelunke im letzten Akt des ›Rigoletto‹. Der Regen klatscht an die Läden. Es ist hier drinnen hundekalt, obschon auf dem Steinherd noch Glut ist und das Feuer zum Wasserkochen bald heller aufbrennt. Die drei sitzen auf einer Längsbank, mit dem Rücken gegen die zwei Straßenfenster. Das Paar hat die nassen Mäntel aufgehängt. Der Wirt bringt eine schmutzige Decke, die man gemeinsam über die Knie legt. Jenny lehnt in der Ecke und neben ihr Hans. Zunächst der Türe sitzt der Graf. Er hat als einziger den Mantel anbehalten und sein Kragen ist immer noch hochgeschlagen. Sie alle drei studieren die Autokarte auf dem Tisch.

»Wo sind wir hier?« fragt Hans den Wirt.

»In Torrevecchio – zwischen Torre del Lago und Pisa.«

»Also zwanzig Kilometer bis Pisa?«

»Zwölf Kilometer«, brummt der Wirt und stellt drei Weingläser auf den Tisch, während seine Frau, die sich inzwischen einen Rock übergestreift hat, 80 das heiße Wasser im Kochkessel vom Herd herbringt. Streuzucker ist auch da, mit Fäden und Haaren zwischen den Körnchen. Man gießt zuerst halb Wermut, dann halb Wasser in die Gläser – und trinkt. Scheußlich, aber es wärmt. Eine zweite Runde. Der Graf hilft dienstbeflissen und gießt den beiden dreiviertel Wermut ein; sich selber nur ein Viertel. Er hat's im Magen, sagt er. Er verträgt es nicht.

Jenny hat plötzlich einen Einfall: »Du Hans, ich ziehe mich um. Wir haben ja wenigstens meinen Handkoffer.«

»Nein, das hält nur auf. Wir müssen schauen, daß wir schnell nach Pisa kommen . . . Ist ein Monteur im Dorf?«

Jenny übersetzt die Frage für den Wirt. »Nein«, sagt der Dicke und zuckt mit den Schultern.

Da sagt der Graf, der bisher stumm und nervös an seinen Fingern herumgebissen hat: »Ich bin Monteur. Vom Militärdienst her. Ich war im Eisenbahnregiment. Lassen Sie mich die Düsen nachsehen. Ich habe viele Wagen repariert.«

»Ist das auch wahr?« ruft Jenny.

Der Graf nickt höchst seriös und hält die Hand mit den drei Ringen auf sein Herz unter der gelben Krawatte. Es wirkt wie ein Bekenntnis.

Jenny nickt gnädig bejahend. »Aber inzwischen ziehe ich mein wollenes Jackenkleid an. Das Strickkleid ist leider im großen Koffer auf der Bahn nach Florenz. Holt meinen Koffer herein.« Die Herren holen ihn; ein hochelegantes messingbeschlagenes Case aus hellem Schweinsleder mit den pickfeinsten Hoteletiketten von Shepheards Hotel in Kairo bis zum Suvretta-Haus in St. Moritz. Ein Symbol des Geldausgebens und der ›Herrenklasse‹ steht deplaciert in der Spelunke. Jenny macht sich sofort ans Auspacken. Die Gentlemen gehen wieder ab. Sie müssen arbeiten.

Sie öffnen die Motorhaube, und der Graf fingert mit affenhafter Gewandtheit an den Zylinderkerzen herum, schraubt auf, schraubt zu; steigt hin und wieder ans Steuer; gibt Gas und zieht an der Choke-Klappe.

Hans steht dabei. Er versteht nicht viel von Technik. Er ist ein Sportler. Die Maschine interessiert ihn nicht. Er hält wie ein Lehrling die Werkzeuge und die Ölkanne und prüft mit ängstlichen Ohren das Motorgeräusch. Der Wagen hopst noch immer wie ein Schaukelpferd. Das Geräusch hat noch keine Dauerhöhe. Es surrt auf und ab; singt ganze Arien. Der Motor kommt nicht auf Touren. Der Graf ist unermüdlich, bald am Motor, bald am Gashebel. Hans findet den von Jenny so jäh erledigten Rivalen nun nach und nach ganz nützlich und umgänglich. Er selber muß manchmal am Steuersitz den Hebel treten auf die Kommandos des schraubenden und drehenden Monteur-Grafen.

81 Der Wagen steht schräg im Straßengraben. Das Benzin verteilt sich zu schlecht im Tank. Sie rücken das Auto quer in die Straße, die sich vor dem Wirtshaus platzartig verbreitert. Ein kleines Gespräch entwickelt sich unter den feindlichen Kavalieren.

»Oh, ich habe studiert in Paris à l'Ecole polytechnique, Monsieur Bell . . . Es liegt an der Vergaserdüse. C'est ca.«

Hans wird auch nach und nach gemütlich: »Ich kenne einen in Deutschland, der hatte auch eine Vergaserverstopfung gehabt; mein Freund Toni, bon ami de moi, der konnte auch alles reparieren, was kaputt war.«

Der Graf hantiert und dirigiert: »Geben Sie Gas – stopp! Geben Sie Luft – stopp! . . .« Ha, Hans hört plötzlich ein besseres Motorgeräusch.

»Fahren Sie rückwärts!« Hans kriegt den Wagen wieder in die Straßenmitte. Er steht jetzt gegen die frühere Fahrt, in Richtung Viareggio . . . Ha, es klingt stabiler . . . bricht aber leider wieder ab und surrt in hohe Töne hinauf. »Ei verflucht!« brummt Hans.

»Wir müssen Öl an die Ventile geben«, sagt der Graf.

»Ja, Öl.« Hans kommt mit der Kanne. Aber sie ist vollkommen leer, und kein Tropfen kommt aus dem blechernen Spitzhals. »Ei verflucht!« wiederholt Hans.

»Dann holen Sie beim Wirt in Gottes Namen Olivenöl.«

Hans geht gehorsam mit der Kanne in die Wirtschaft, um Olivenöl zu holen.

Da sitzt Jenny, wild in drei Sprachen vor sich hinfluchend, mit nackten Beinen auf einem Stuhl. Das offene Kleid hat sie zwar noch an, aber eigentlich nur oben; und der linke Träger des Hemdes fällt ihr über die bloße Schulter. Unten hat sie die Robe bis zur Taille hochgeschlagen, so daß man die seidenen Schlüpfer sieht; denn sie zieht sich vor allem einmal trockene Strümpfe an. Der Wirt schaut sie versonnen an, als stände er im Zoo vor einem neuen, nie gesehenen Tier. Die blöde Wirtin aber kniet nicht minder überwältigt am Koffer, starrt die sechs Puppen an und streichelt sie wie kleine Hunde. »Sie sind doch ein Zirkus!« flüstert sie zu ihrem Manne hin.

Jenny aber ruft in heller Wut bei Hansens Eintritt: »Verdammtes Pech, che diavolo! Ich finde ja nur die Jacke vom dicken Kostüm; den Rock habe ich im Hotelschrank in Monte Carlo . . . mon dieu, was soll ich nur anziehen? . . . Diese verfluchte Flucht. . . bloody, bloody . . .«

Aber Hans hörte nicht hin im Eifer seines Auftrages. »Olivenöl muß ich haben. Sag's dem Wirt auf italienisch.«

»Olivenöl?« fragt Jenny lang gedehnt und läßt den Mund offen.

82 In diesem Augenblick rattert draußen der Wagen und springt herrlich an, mit einem gesunden, langhaltenden, kraftvollen Ratterton.

»Er läuft ja, Jenny!« brüllt Hans in heller Begeisterung. Das Rattern hält an. Die Coupétür wird knallend zugeschlagen.

»Um Gotteswillen – der Graf!« schreit Jenny, »und der Schlüssel steckt natürlich . . .«

»Ei verflucht – der Graf!« . . . fällt es auch Hans ein, und er stürmt mit einem Satz hinaus. Jenny hinter ihm her, wie sie ist, mit einem Strumpf am Bein.

Da zieht der Wagen eben an, bewegt sich – in Richtung Norden. Hans hat ihn ja selber drehen helfen. »Graf!« schreien beide und rennen nach vorn. Aber der Graf sitzt steinern, taub, unerbittlich, unerschütterlich am Steuer und fährt los – saust los, ohne einen Blick, ohne einen Hohn, ohne ein Grinsen, ohne ein Adieu . . . ein Stück Maschine . . . rast er los . . . Man sieht den Wagen noch hundert Meter weit . . . es dämmert ja schon . . . und das letzte Motorgeräusch erstirbt.

 
Der Posthalter

Es ist sonnenklar, daß niemand gern an einem Unglück solchen Grades die alleinige Schuld trägt. Die Hauptschuld trug ja selbstverständlich der verbrecherische Graf, oder was er schon war, so ein Rumänier. Darüber waren sie sich beide einig. Aber die Verzweiflung erfordert ein gewisses Austoben. Und Klagen, die nur in die Luft und zu den Göttern gehen, sind so viel unfruchtbarer und undankbarer für die Seele als eine herzhafte gegenseitige Beschuldigung.

Kaum hatte sich die halbnackte und laut aufheulende Jenny auf die Holzbank der Wirtsstube sinken lassen, als es auch schon laut aus ihr losbrach: »Du hättest den Kerl nicht einen Augenblick allein lassen sollen. Du hast keine Menschenkenntnis. So einen Kerl!«

Und Hans gab zurück: »Du hättest den Kerl nicht mitnehmen sollen, so einen – Revolutionär.«

»Hättest du nicht mit der blonden deutschen Gans herumgeschnattert – dann wäre alles nicht passiert – nichts, rein gar nichts.«

Hans aber tobt los: »Herrgott, mein schöner Koffer! Er hat ja meinen Koffer, der Hund – und ich stehe in Frack da mitten in Italien und sehe aus wie ein Oberkellner nach der Saalschlacht.«

83 Jenny schimpft heftig: »Du denkst halt immer nur an dich! Und ich habe keinen Rock und muß mit dem nassen rosa Fetzen weiter. Das kommt vom schnellen Packen bei der gottverfluchten Flucht. O quel malheur!« . . . Sie wirft einen verlorenen Blick auf den offenen Handkoffer: »Aber gottlob sind meine süßen Puppi doch bei mir, meine Bambini sind bei ihrer Mami«, und sie trippelt weinend zum Koffer, um ihre Kinder einzubetten.


Hans, der sonst seine Jenny ohne viel Anspruch akzeptierte, wie sie nun eben war, fand ihre Spielerei zu dieser Stunde ein wenig widerlich und allzu künstlich. Er, Hans, erhielt nur Vorwürfe und wurde mißbraucht zu aller Art von Abenteuern wie dieser blöden Flucht. Hier aber nun verschwendet seine Jenny ihr Herz an diese lächerlichen toten Puppen. Da setzt sie sich jetzt auf die Kofferecken, nimmt die Favoritin Klara mit den blauen Schleifen auf den Arm und kost sie mit gemachter Kinderstimme: »Ja, was macht denn meine süße Klara, ma chère petite Claire mit den großen blauen Gugu-Eyes – und mein allerliebster Billy-Boy . . . ja, frierst du denn nicht auch, mein sweetheart, mein bambino, mon amour? Die Mama, die liebe Mami wird dich zudecken; die Puppi-Mami wird doch ihren herzigen Coco nicht vergessen und ihr Nelly-Girl; und die Inez mit den roten Löckchen, und die . . .«

Da schallt ein fürchterliches Geschrei der vom Lärm geweckten Wirtskinder von oben und unterbricht Jennys Familienidyll. Wütend schreit Mami die dumme Wirtsfrau an: »Sie legen jetzt die ungezogenen Dinger augenblicklich still! In einem Hotel geht das doch nicht. Wir sind doch Gäste, gute Frau. Man wird ja verrückt von dem Gebrüll.« Sie spricht sehr scharf, die gute Jenny.

Hans aber – er hatte nun eben mal den Hang für kleine Leute – sagt beschwichtigend zum Wirt: »Ach Gott, es sind halt Kinder . . . richtige Kinder.« Der Wirt versteht zwar nicht, doch macht er eine Geste des Bedauerns.

Die blöde Wirtin aber tappt völlig verdutzt nach oben. Sie hatte gerade diese Dame mit ihren vielen Puppenkindern für ganz besonders kinderlieb gehalten. Und sie tut oben alles, um ihren schreienden Nachwuchs zu beruhigen.

84 Der Wirt, der die gesamte Situation ganz offenbar noch nicht begriffen hatte, fragte jetzt schwer und langsam: »War das Ihr Gatte – der Herr mit dem Auto?«

»Warum Gatte?« Jenny ist erstaunt.

»Nun«, meinte der Wirt, »weil er doch so traurig war – und weil ihm ja auch der Wagen gehört.«

Jetzt informierte Jenny den Padrone mit abenteuerlichen Reden über den Räuber. »Er ist ein Revolutionär – gegen die Dynastie – wir müssen zur Polizei.«

»Niente polizia. In Torrevecchio gibt es keine Polizei; der nächste Gendarm ist in Torre del Lago.« Aber ein Telephon ist da, beim Posthalter. Man müßte von dort nach Viareggio oder nach Pisa telephonieren. Der Wirt macht ein wichtiges Gesicht.

Es war inzwischen halb sieben geworden. Jenny ist wieder in Abendkleid und Pelz. Ihre Schminke hat sich arg verwischt. Um Augen und Mund gibt es traurige Falten in der verlebten Haut. Die Augen sind verheult. Oh, nun sah ihr Kopf zum siebzehnjährigen Figürchen nicht mehr wie neunundzwanzig aus. Auch nicht wie zweiunddreißig, ja nicht einmal wie sechsunddreißig, nach dem richtigen Alter. O nein, sie sah nach einer etwas gar verblühten Mama – mit Puppen aus.

Sie traten ins Freie. Es war Tag geworden. Ein trüber Tag: der dreizehnte April. Die Gegend ist ohne jeden Reiz: vom Meer angeschwemmtes, flaches Land. Nur in der Ferne Berge, sonst Sumpf und kleine Teiche und Lagunen. Alles feucht. Es regnet zwar gerade nicht. Aber April ist April. Und wenn es in den Reisebüchern auch heißen mag, der italienische April sei schon der nördliche Mai, so kann man dennoch hübsch frieren und naß werden in diesem Land des Frühlings. April, das ist das Klima der Überraschungen. Ja, daran hat es Hans und Jenny seit gestern nacht um elf Uhr nicht gefehlt.

Der Wirt führt sie zum Posthalter durchs Dorf. Seine zwei verlumpten Kinder, die Jenny so empfindlich in ihrem Puppenglück gestört haben, laufen mit ihnen und schreien: »Pagliacci, Commedianti.« Sie halten die Herrschaften für Zirkuskünstler. Die Mutter hat es ihnen gesagt, und die Mutter weiß es natürlich genau.

»Was schreien sie denn?« fragt Hans.

»Sie halten dich für einen Clown«, wütet Jenny.

»Weiß Gott«, stöhnt Hans aus tiefer Brust, »du hast mich wirklich zum Narren gemacht und als Hanswurst engagiert.«

Im Dorf schauen die Leute neugierig aus den Türen nach den fremden Gästen. Die Häuser sind halb verfallen. Auch am hellen Tag sieht alles wie im ›Rigoletto‹ vor der Mordtat aus.

85 Der Postmeister ist von einem Kind schon avisiert. Er kommt dem Paar aus einer Scheune entgegen, an deren Schloß er gehämmert hat. Er ist ein schweigsamer Bauer, ein Riese mit einem breiten braunen Bart.

»Ja«, sagt er feierlich, »zum Telephon!«

Sie treten in ein einstöckiges Steinhaus ohne Verputz auf den rauhen Mauern. Es ist ein muffige Stube. Auf dem Tisch steht vom Frühstück her ein ausgegessener Suppenteller mit dem Löffel, und daneben liegt ein Rest von grobem Brot. Ein Stehpult am Fenster mit Abreißkalender und Briefwaage bezeichnet einzig und allein das Postbureau.

Jenny erzählt und freut sich ihrer großen Kunst, die Leute mit sich aufzuregen. Der mächtige Postmann regt sich aber gar nicht auf. Er hört ausgezeichnet zu; er läßt sich die Autopapiere zeigen; er fragt intelligent nach der Chiffre des Wagens. Es ist eine Pariser Nummer. Mit Runzelstirne fragt er: »Francesi?« Franzosen hat er nicht gern, vom Krieg her. »Nein, Danese«, sagt Jenny. Von Hansens Deutschtum sagt sie nichts. Sie zückt den dänischen Paß und nennt ihren Namen: Jenny Alden-de Montujo. Er ist Jennys Stolz, dieser Name aus zwei Erdteilen, mit dem angehängten Adelsstolz ihrer Mama aus Panama.

Der Postmeister hat den schweren Namen nicht verstanden; aber er liest sehr langsam und bedächtig die ersten vier Seiten des Passes vollständig durch. Dann sagt der Riese mit der Baßstimme: »Benissimo!«, rückt zwei Stühle her und läßt die beiden endlich sitzen. Er telephoniert mit großer Langsamkeit und Ruhe, aber mit vollster Beherrschung der soeben empfangenen Berichte in allen Einzelheiten, zuerst einmal auf das Stadthaus in Viareggio und dann auf die Polizei in Pisa.

Jenny braucht kein Wort der Ergänzung. Sie hat Zeit, sich mit Lippenrot und Brauenstift und einer dicken, braunen Puderquaste ein neues Antlitz aufzumalen, eine Jugendmaske, ein Frühlingsgesicht. Bei Gott, auch der April gibt soeben ein kleines bißchen Sonne her. Ein Strahl kommt durchs Fenster in die dämmerige Stube.

Da muß der Riese doch noch etwas fragen: »Wie heißt der Herr, der Ihnen da angeblich den Wagen gestohlen hat?«

»Angeblich? – Graf Cadulescu.« Jenny schreibt's ihm auf den Rand einer Zeitung.

»Graf?« fragt der Mann, schüttelt den Kopfüber die Herrenklasse und gibt langsam seinen Bericht weiter, bis er schließlich einhängt. »Va bene.« Aber er sagt, sie sollen in Pisa noch persönlich auf die Polizei.

»Wie kommen wir aber nach Pisa?«

Um acht Uhr fahre das Brotauto von Viareggio hier durch, antwortet der Posthalter. Der Wagenführer würde sie gegen ein Trinkgeld sicher mitnehmen, 86 auch den Koffer. Eine halbe Stunde sei es ja nur bis Pisa, mit den Aufenthalten des Brotmannes. In Pisa gebe es dann jede Art von Beförderung.

Was das Telephon koste? fragt Jenny.

»Niente, nichts, geht auf Amtskosten.«

Jenny will ihm zehn Lire geben.

»Niente.« Er winkt ab, ohne Höflichkeit und auch ohne Verletztheit. Er nickt nur mit dem Kopf.

Jenny will ihm ihr Händchen reichen.

Der Posthalter übersieht es starr. Die Hand gibt er ihr nicht.

Warum? Ja warum denn nur? Warum nicht die Hand? Jenny sieht fragend nach Hans hin. Der aber starrt verlegen zu Boden. Sie fühlen sich beschämt – gedemütigt durch die Distanz und Ruhe des braven Mannes. Da steht man im dreckigen Frack vor einem Bauer und Posthalter, der wie ein Fürst gerade steht und seine Sache macht, ohne Ansehen der Person. Und sie sind – ja, was sind sie denn dagegen?

Hans fällt ein Wort ein, das sonst immer nur in Büchern steht und nie gesprochen wird: ›Fahrendes Volk!‹ Ja, das ist es. Fehlt nur noch der grüne Wagen. Fahrende Puppenspieler, aber mit Anspruch auf Kapital im Hintergrund! Herrenklasse – aber verfahren, sehr verfahren . . . Das denkt aber nur Hans. Jenny denkt so etwas nicht. Noch nicht.

Sie zahlen den Wirt. Der will pro Person für seinen Glühwermut nicht weniger als zehn Lire. Eine Art Nachttaxe, gewiß. Also dreimal zehn Lire. Denn den entwichenen ›Gatten‹ rechnet er mit zu der Partie. Jenny regt sich mächtig auf. Nein, sie gebe nur zwanzig; das sei schon zehnmal überzahlt. Die herumstehenden Einwohner von Torrevecchio scheinen das übrigens auch zu finden. Der Wirt bedankt sich trotz der Feilscherei sehr höflich für die zwanzig. Er ist von ganzer Seele nichts als Wirt. Er ist kein Mann wie der Posthalter.

Da rollt das Brotauto an. Der Wirt informiert den Fahrer, einen jungen Menschen mit Ledergamaschen. Der lacht sich eins im Anblick der bunten Herrschaften. Aber es gibt ein Trinkgeld. Gut, wird gemacht. Schon ist der Koffer drinnen. Jenny und Hans dürfen sich auf den überdachten Bock setzen. Da versteckt man sich wie in einem Häuschen. Der ›grüne Wagen‹ ist also auch schon da. Hans hat den Mantel hoch geschlossen. Nur den Frack nicht zeigen! Es liegt ein gewisser Widerspruch zwischen dem Frack und dem Brotwagen. Fahrendes Volk! denkt Hans nochmals. Auch ist sein Frack dreckig, während die Montur des jungen Fahrers blitzsauber mit den Messingknöpfen in der Sonne blinkt. Nur aus dem Frack heraus! Und in Pisa sofort auf die Polizei. Dann nächster Zug: Florenz. Ha, hoffentlich reicht das Bargeld.

87 Hans zählt: »Wir haben jetzt noch achtundvierzig Lire, sechzig Centesimi.«

Jenny rechnet: »Fünf Lire als Trinkgeld für den Fahrer; dann später einen Kaffee, vielleicht, wenn's reicht . . . Na, es bleiben dann vorläufig mal noch dreiundvierzig Lire, sechzig Centesimi.« So genau hat sie in ihrem ganzen Leben nie ihre Kasse gekannt. »Hoffentlich reicht's noch für dritte Klasse. Ist ja nicht weit nach Florenz. Dann gehen wir subito zu Molina. Der nimmt uns ja in die offenen Arme. Jonny, mein Herz, bist du nicht glücklich? Sehr glücklich? Überglücklich?«

»Ja, wenn ich nur nicht im Frack wäre . . .« Hans drückt sich tiefer in die Ecke des Wagenbocks. Draußen lärmen und lachen die Dorfkinder.

»Ach, sei nicht blöd und sentimental« – und sie küßt ihn aufs Ohr. »Heut nachmittag lassen wir in Florenz gleich einen fabelhaften Sakko machen. Weißt du, einen karierten . . .«

»Ach, es ist nicht nur der Frack«, seufzt Hans melancholisch. Seine linke Braue zieht sich wehmütig hoch, und die Stirnseite bekommt eine nachdenkliche Falte. Sein feines Gesicht erhält etwas vom traurigen Pierrot: ein Clown mit Kummer. »Ach, es ist überhaupt . . . es sind nicht nur die Kleider . . .«, murmelt er vor sich hin.

Da rollt der schwere Brotwagen los. Die Kinder winken schreiend. Der dicke Wirt verbeugt sich.

Der Postmeister aber rüttelt schon längst wieder am Schloß seiner Scheune und repariert etwas. Er dreht sich nicht einmal um, obschon er die Abfahrt hören muß.

»Sie sind doch ein Zirkus«, wiederholt die Frau des Wirts zum Abschied.

Es hottert und poltert. Hans und Jenny sitzen Arm in Arm. Der Horizont wird klar. Man sieht nur Ebene, öde Ebene. Aber eine Stadt in der Ferne, wie ein Spielzeug. »Da sieh mal dort«, ruft Jenny höchst interessiert, »ganz weit, das schräge Ding. Kurios!« Sie stupft den Fahrer an und will Auskunft.

»La torre pendente di Pisa«, sagt der Mann.

Da springt Jenny hoch vor Freude: »Natürlich in Pisa – das habe ich ja ganz vergessen – denk dir Hans, das Glück: wir fahren auf den schiefen Turm von Pisa!«

Hans schaut nicht auf; er sagt nur vor sich hin: »Ich schäme mich.« 88

 


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