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Frau de la Carliere

»Wollen, wir umkehren?«

»Es ist noch sehr früh.«

»Sehen Sie die Wolken?«

»Seien Sie unbesorgt; sie werden von selbst verschwinden und ohne die Hilfe eines leisen Windhauches.«

»Meinen Sie?«

»Ich habe das oft im Sommer bei großer Hitze beobachtet. Die untere Schicht der Atmosphäre, die der Regen von ihrer Feuchtigkeit befreit hat, wird einen Teil des dicken Dunstes wieder aufnehmen, der als dunkler Schleier Ihnen den Anblick des Himmels entzieht. Die Masse dieses Dunstes wird sich allmählich gleichmäßig in der Luft verteilen, und durch diese gleichmäßige Verteilung oder Vermengung, wie Sie es nun nennen wollen, wird die Atmosphäre durchsichtig und hell. Dasselbe Experiment, das wir im Kleinen in unseren Laboratorien versucht haben, vollzieht sich im Großen über unseren Köpfen. In einigen Stunden werden azurne Punkte die dünner gewordenen Wolken durchbrechen, die Wolken werden immer mehr verschwinden, die azurnen Punkte aber sich vermehren und ausdehnen, und bald werden Sie nicht mehr wissen, was aus dem schwarzen Schleier geworden ist, der Sie erschreckte. Sie werden überrascht und erfrischt sein von der Klarheit der Luft, der Reinheit des Himmels und der Schönheit des Tages.«

»Sie haben recht; während Sie sprachen, habe ich hinaufgeschaut, und das Wunder schien sich auf Ihren Befehl zu vollziehen.«

»Dieses Wunder ist nur eine Auflösung des Wassers durch die Luft.«

»Ebenso wie der Dunst, der die äußere Fläche eines Glases betaut, wenn man es mit kaltem Wasser füllt, nur eine Art Niederschlag ist.«

»Ebenso wie die enormen Ballen, die in der Atmosphäre schwimmen oder hängen, nur ein Überschuß von Wasser sind, die die Luft nicht aufzulösen vermag.«

»Wie Stücke Zucker auf dem Boden einer Tasse Kaffee, wenn der Kaffee sie nicht mehr aufsaugen kann.«

»Sehr richtig.«

»Und Sie verheißen mir also bei unserer Rückkehr …«

»Einen Sternenhimmel, wie Sie noch keinen gesehen haben.«

»Könnten Sie, während wir unseren Spaziergang fortsetzen, da Sie doch alle Leute kennen, mir nicht sagen, wer der dürre, lange, melancholische Mensch ist, der sich soeben hinsetzt, der noch kein Wort gesagt hat und allein im Salon blieb, als der übrige Teil der Gesellschaft sich zerstreute?«

»Das ist ein Mann, vor dessen Schmerz ich wahrhafte Achtung hege.«

»Wie heißt er?«

»Chevalier Desroches.«

»Jener Desroches, der nach dem Tode seines geizigen Vaters in den Besitz eines ungeheuren Vermögens gelangte und sich durch seine Verschwendungssucht, seine Liebschaften und seine verschiedenen Betätigungen einen Namen gemacht hat?«

»Der ist es.«

»Dieser Narr, der alle möglichen Metamorphosen durchgemacht und den man hintereinander in den Bäffchen eines Geistlichen, in der Robe des Justizbeamten und in Uniform gesehen hat?«

»Dieser Narr ist es.«

»Wie hat sich der Mann verändert!«

»Sein Leben ist ein Gewebe von seltsamen Ereignissen, er ist eines der unglücklichsten Opfer des Schicksals und der Vorurteile der Menschen. Als er sein geistliches Amt mit dem Richteramt vertauschte, erhob seine Familie ein großes Geschrei, und das dumme Publikum, das nie verfehlt, mit den Vätern Partei gegen die Kinder zu nehmen, stimmte heulend ein.«

»Und als er aus der Justizbehörde ausschied und Offizier wurde, gab es ebenfalls einen Heidenlärm.«

»Und was tat er im Grunde Schlimmes? Er zeigte eine Kraft, auf die wir beide stolz sein würden und die ihn doch in den Ruf brachte, ein Dummkopf zu sein. Und dann wundern Sie sich noch, wenn das Geschwätz solcher Leute mir lästig fällt, mich langweilt und mich beleidigt.«

»Ich muß zugeben, daß ich Desroches auch verurteilt habe, gerade wie die andern alle.«

»Und so kommt es, daß von Mund zu Mund, wobei der eine Mund sich stets zum lächerlichen Echo des andern macht, ein feiner Mann zu einem banalen Tölpel, ein geistreicher Mann zu einem Dummkopf, ein Ehrenmann zu einem Schuft, ein mutiger Mann zu einem Narren wird und umgekehrt. Nein, diese frechen Schwätzer! es lohnt nicht, auf ihre Billigung oder Mißbilligung der Lebensweise eines andern das geringste zu geben. Jetzt hören Sie einmal zu und schämen Sie sich in tiefster Seele.

»Desroches trat sehr jung als Rat ins Parlament ein. Infolge günstiger Umstände kam er schnell in die große Kammer, wurde Strafrichter und Berichterstatter in einem Kriminalprozeß. Auf Grund seiner Beweisführung wurde der Übeltäter zum Tode verurteilt. Am Tage der Hinrichtung pflegen diejenigen, die das Urteil gesprochen haben, sich nach dem Rathause zu begeben, um die letzten Wünsche des Unglücklichen entgegenzunehmen, falls er Wünsche hat, wie es diesmal der Fall war. Es war im Winter. Desroches und sein Kollege saßen am Kamin, als ihnen die Ankunft des Delinquenten gemeldet wurde. Der Mann, den die Folter lendenlahm gemacht hatte, wurde auf einer Matratze hereingeschafft. Während er ins Zimmer gebracht wird, richtet er sich ein wenig auf, wendet die Blicke zum Himmel und schreit: ›Großer Gott, dein Urteil ist gerecht!‹ Und während er auf der Matratze vor Desroches kniet, ruft er mit lauter Stimme: ›Sie, Herr, haben mich verurteilt, und ich bin des Verbrechens schuldig, dessen ich angeklagt bin, das gestehe ich; aber Sie wissen nichts davon!‹ – Und nun erörterte er das ganze Prozeßverfahren und bewies sonnenklar, daß weder die Beweisführung begründet, noch das Urteil berechtigt war. Desroches bebt am ganzen Leibe, er springt auf, zerreißt sein Richtergewand und entsagt für immer dem gefährlichen Amt, über Tod und Leben der Menschen zu entscheiden. Das nennen die Leute einen Narren. Ein Mann, der sich kennt und der das geistliche Gewand durch schlechte Sitten zu entehren oder sich mit dem Blut eines Unschuldigen zu besudeln fürchtet.«

»Man kennt eben diese Gründe nicht.«

»Wenn man sie nicht kennt, sollte man schweigen.«

»Um zu schweigen, muß man sich mißtrauen.«

»Was tut es, wenn man sich mißtraut?«

»Es hat zur Folge, daß man zwanzig Menschen, die man kennt, den Glauben verweigert zugunsten eines Mannes, den man nicht kennt.«

»Aber, lieber Freund, so viele Bürgen verlange ich nicht von Ihnen, wenn es sich darum handelt, Gutes zu tun.«

»Aber Böses? …«

»Lassen wir das. Sie lenken mich von meiner Erzählung ab und verderben mir die Stimmung. Aber irgend etwas mußte er doch tun; er ging zum Militär.«

»Er gab also den Beruf, zu verurteilen, auf, um nunmehr ganz ohne Prozeßverfahren zu töten.«

»Ich verstehe nicht, wie man in solchen Fällen scherzen kann.«

»Was wollen Sie? Sie sind traurig, ich bin heiter gestimmt.«

»Man muß seine ganze Geschichte kennen, um das Geschwätz des Publikums nach seinem wahren Werte einzuschätzen.«

»Ich möchte diese Geschichte wohl kennen lernen.«

»Sie ist aber sehr lang.«

»Um so besser.«

»Desroches machte den Feldzug von 1745 mit und bewies außerordentliche Tapferkeit. Nachdem er den Gefahren des Krieges, nachdem er zweimalhunderttausend Flintenschüssen glücklich entgangen war, zog er sich – weil sein Pferd scheute – einen Beinbruch zu, zwölf bis fünfzehn Meilen von einem Landhause entfernt, in welchem er sein Winterquartier aufschlagen sollte. Weiß Gott, wie man über diesen Unfall gesprochen haben mag.«

»Ja, es gibt allerdings Menschen, über die man meistens lacht, die man aber nie bedauert.«

»Ein Mensch, der sich das Bein bricht, das ist doch wirklich sehr ulkig. Ja, ihr frechen Spötter, lacht nur ruhig weiter, aber laßt euch sagen, daß es für Desroches vielleicht besser gewesen wäre, wenn eine Kanonenkugel ihn dahingerafft hätte, oder wenn er auf dem Schlachtfelde an einem Bajonettstich in den Leib krepiert wäre. Sein Unfall trug sich in einem elenden Dorfe zu, wo es kein erträgliches Asyl gab, außer dem Pfarrhause und dem Schlosse. Man brachte ihn nach dem Schloß, das einer jungen Witwe namens La Carliere, der Herrin des Ortes, gehörte.«

»Wer hat nicht von Frau de la Carliere gehört? Wer kennt nicht ihre grenzenlose Liebenswürdigkeit gegen einen alten, eifersüchtigen Gatten, dem die Habgier ihrer Eltern sie mit vierzehn Jahren geopfert hatte?«

»Ich kann nur sagen, daß Frau de la Carliere zu ihrem ersten Manne von größter Zurückhaltung und höchst anständig war.«

»Wenn Sie es mir sagen, glaube ich es.«

»Sie nahm den Chevalier Desroches mit aller nur erdenklichen Freundlichkeit auf. Ihre Geschäfte riefen sie häufig in die Stadt, aber trotz diesen Geschäften und obwohl sie infolge der Regengüsse eines schlechten Herbstes, die die in der Nähe vorbei fließende Marne anschwellen ließen, gezwungen war, stets im Kahn das Haus zu verlassen, blieb sie doch bis zu Desroches gänzlicher Heilung auf ihrem Landgut. Endlich war er geheilt. Mit Frau de la Carliere fuhr er nach Paris, und der Chevalier, der ihr bereits zu großem Dank verpflichtet war und den ein noch süßeres Gefühl an seine junge, reiche und schöne Wirtin fesselte …«

»Sie haben recht, sie war ein berückendes Geschöpf; wenn sie im Theater erschien, gab es immer ein allgemeines Aufsehen.«

»Und dort haben Sie sie getroffen?«

»Ganz recht.«

»Während einer mehrjährigen Freundschaft hatte der verliebte Chevalier, dem Frau de la Carliere durchaus nicht gleichgültig war, ihr mehrmals vorgeschlagen, sie zu heiraten. Aber die noch frische Erinnerung an das, was sie unter der Tyrannei ihres ersten Gatten erduldet hatte, und auch der schlechte Ruf, in dem der Chevalier infolge seines Leichtsinns und seiner galanten Abenteuer stand, schreckten Frau de la Carliere ab, die an die Bekehrung solcher Männer nicht glaubte. Sie prozessierte damals mit den Erben ihres Mannes.«

»Wurde nicht auch anläßlich dieses Prozesses viel geklatscht?«

»Sehr viel, und wie! Sie können sich wohl denken, daß Desroches, der bei Gericht noch viele Freunde hatte, sich lebhaft für Frau de la Carliere verwandte.«

»Und sie war ihm natürlich dankbar dafür.«

»Er ging beständig bei den Richtern aus und ein.«

»Das Ulkige war, daß er, als sein Bruch längst völlig geheilt war, die Richter immer noch an Krücken besuchte. Er behauptete nämlich, seine Bemühungen wirkten rührender, wenn sie von einer Krücke unterstützt würden. Allerdings nahm er die Krücke zuweilen unter den Arm, und das blieb nicht unbemerkt.«

»Das stimmt. Um ihn von einem Verwandten gleichen Namens zu unterscheiden, nannte man ihn den Krücken-Desroches. Kurz und gut, kraft ihres guten Rechts und der pathetischen Krücke des Chevaliers gewann Frau de la Carliere ihren Prozeß.«

»Und wurde so die rechtmäßige Frau Desroches.«

»Wie eilig Sie es haben! Sie scheinen Einzelheiten nicht zu lieben, deshalb will ich sie Ihnen erlassen. Sie waren also einig und standen kurz vor ihrer Verbindung, als Frau de la Carliere in einer großen Gesellschaft, die sich aus den beiden Familien und zahlreichen Freunden zusammensetzte, auf einmal eine würdige, fast feierliche Haltung annahm und dem Chevalier folgendes sagte:

›Herr Desroches, hören Sie mich an. Heute sind wir beide noch frei, morgen werden wir es nicht mehr sein; morgen bin ich Herrin über Ihr Glück und Unglück, wie Sie Herr über das meine sind. Ich habe viel darüber nachgedacht. Tun nun auch Sie das. Wenn Sie in sich noch die gleiche Neigung zur Unbeständigkeit fühlen, die Sie bisher beherrscht hat, wenn ich nicht ausschließlich Ihren Wünschen genügen sollte, so gehen Sie keine Verpflichtung ein. Ich beschwöre Sie um Ihret- und meinetwillen. Bedenken Sie, daß mich eine Kränkung um so tiefer trifft, je weniger ich mich dazu geschaffen glaube, vernachlässigt zu werden. Ich bin eitel, und zwar in hohem Maße. Ich kann nicht hassen, aber verachten kann niemand besser als ich, und Verachtung kann ich nie überwinden. Morgen, vor dem Altar, sollen Sie schwören, mir anzugehören, und zwar nur mir. Prüfen Sie sich, befragen Sie Ihr Herz, solange es noch Zeit ist, bedenken Sie, daß es sich um mein Leben handelt. Mein Freund, ich bin leicht verletzt, und die Wunde meines Herzens wird nie vernarben, sie wird stets bluten. Ich werde nicht klagen, weil Klagen immer lästig sind und das Übel nur verschlimmern, und weil Mitleid ein Gefühl ist, das den Menschen herabsetzt, der es einflößt. Ich werde meinen Schmerz in mich verschließen und daran zugrunde gehen. Mein Freund, ich übergebe Ihnen mein Hab und Gut und mein eigenes Ich, ich füge mich Ihrem Willen, Ihren Launen. Sie werden mir alles auf der Welt sein, aber ich muß auch Ihnen alles sein; mit weniger werde ich mich nicht begnügen. In diesem Augenblick bin ich, glaube ich, für Sie das einzige, wie Sie es auch für mich sind. Aber es ist sehr wohl möglich, daß Sie eines Tages einer Frau begegnen, die liebenswürdiger wäre als ich, und ich einem Manne, der mir liebenswürdiger erschiene. Wenn aber die wirklichen oder angeblichen Vorzüge Unbeständigkeit rechtfertigten, so gäbe es keine Sitte mehr. Ich bin sittenstreng, will es sein und verlange auch, daß Sie nach den Sitten leben. Ich will Sie ganz und gar durch alle nur erdenklichen Opfer mir zu eigen machen: das ist mein Recht und mein Anspruch, und davon gehe ich keinen Fingerbreit ab. Ich werde alles für Sie tun, damit Sie, falls Sie mir untreu werden, nicht nur untreu erscheinen, sondern nach dem Urteil aller verständigen Menschen und vor Ihrem eigenen Gewissen der undankbarste Mensch sind, den es auf der Welt gibt. Derselbe Vorwurf soll mich treffen, wenn ich Ihrer Achtung, Ihrer Liebe, Ihrer Fürsorge nicht über alle Erwartung entspreche. Was ich vermag, das habe ich an der Seite eines Gatten kennen gelernt, der mir die Pflichten der Frau weder leicht, noch angenehm gemacht hat. Sie wissen also jetzt, was Sie von mir zu erwarten haben, nun überlegen Sie auch, was von meiner Seite zu fürchten ist. Sprechen Sie, mein Freund, sprechen Sie ganz offen. Ich werde entweder Ihre Gattin oder aber Ihre Freundin, das ist keine grausame Alternative. Mein Freund, mein lieber Freund, ich beschwöre Sie, setzen Sie mich nicht der Gefahr aus, Sie verachten, vor dem Vater meiner Kinder fliehen zu müssen und vielleicht in einem Anfall von Verzweiflung Ihre harmlosen Liebkosungen abzuwehren. Könnte ich doch mein ganzes Leben lang mit immer erneuter Liebesglut sie in Ihnen wiederfinden und mich freuen, ihre Mutter zu sein. Geben Sie mir das größte Zeichen von Vertrauen, das eine anständige Frau jemals von einem galanten Manne erbeten hat: verschmähen Sie mich, wenn Sie glauben, daß ich eine zu hohe Meinung von mir selbst habe. Ich werde keineswegs beleidigt sein, sondern ich werde meine Arme um Ihren Hals schlingen, und die Liebe all der Frauen, die Sie bisher gefesselt, und die Tändeleien, die Sie getrieben haben, werden Ihnen keinen so innigen, keinen so süßen Kuß eingetragen haben als den, den Sie Ihrer Ehrlichkeit und meiner Dankbarkeit verdanken sollen.‹«

»Ich glaube seinerzeit eine sehr lustige Parodie auf diese Ansprache gehört zu haben.«

»Stammte diese Parodie nicht von einer Freundin der Frau de la Carliere?«

»Wirklich, das stimmt, Sie haben es erraten.«

»Sollte ein Mann nicht in die tiefsten Wälder flüchten vor dieser wohlgesitteten Kanaille, der nichts heilig ist? Ich werde es sicher noch tun, es kommt dahin, verlassen Sie sich darauf. Die Gesellschaft, die anfangs gelächelt hatte, brach schließlich in Tränen aus, Desroches warf sich Frau de la Carliere zu Füßen und stieß zärtliche und treuherzige Beteuerungen aus. Er verschwieg nichts, was sein bisheriges Verhalten belasten oder entschuldigen konnte. Er verglich Frau de la Carliere mit den Frauen, die er gekannt und verlassen hatte, und fand in diesem schmeichelhaften und gerechten Vergleich Beruhigung genug hinsichtlich der Gefahr einer neuen Liebschaft, einer neuen Jugendtorheit. Er sagte nur, was er dachte und zu tun vorhatte. Frau de la Carliere sah ihn an, hörte ihm zu, suchte seine Worte und Bewegungen bis auf den Grund zu durchdringen und deutete sie zu ihren Gunsten.«

»Warum auch nicht, da er die Wahrheit sagte?«

»Sie hatte ihm eine ihrer Hände überlassen, die er küßte, an sein Herz drückte, abermals küßte und mit Tränen benetzte. Alle Anwesenden teilten seine Rührung; alle Frauen fühlten mit Frau de la Carliere, alle Männer mit dem Chevalier.«

»Das ist wohl die Wirkung der Ehrbarkeit, daß sie aus einer großen Versammlung ein Herz und eine Seele zu machen weiß. Wie liebt und achtet man sich gegenseitig in solchen Augenblicken. Wie schön zum Beispiel sind die Menschen auf der Bühne. Warum muß man sich so schnell wieder davon losreißen? Die Menschen sind so gut und glücklich, wenn Ehrbarkeit ihre Meinungen vereint und verschmilzt.«

»Dieses Glück, das uns alle verschmolz, genossen wir, als Frau de la Carliere, von ihrer Begeisterung hingerissen, zu Desroches sagte: ›Lieber Freund, ich glaube Ihnen noch nicht, aber ich werde Ihnen bald glauben.‹«

»Die kleine Komtesse machte sich über diese Begeisterung ihrer schönen Kusine sehr lustig.«

»Sie ist auch mehr dazu geschaffen, sich über sie lustig zu machen, als ihre Gefühle zu teilen. Den Eiden, die am Altar geleistet wurden … Sie lachen?«

»Ja, ich bitte um Entschuldigung, aber ich sehe die kleine Komtesse noch vor mir, wie sie auf den Fußspitzen stand, und ich höre noch ihren emphatischen Ton.«

»Ach, gehen Sie, Sie sind ein Verbrecher oder zum mindesten verdorben, wie alle diese Leute. Ich will lieber schweigen.«

»Ich verspreche Ihnen, nicht mehr zu lachen.«

»Tun Sie das lieber nicht.«

»Also, den Schwüren, die vorm Altar geleistet wurden …«

»Folgten ebensoviele Meineide, so daß ich nichts auf das feierliche Versprechen von morgen gebe. Gottes Gegenwart ist für uns weniger furchtbar als das Urteil von unseresgleichen. ›Herr Desroches, kommen Sie her, hier ist meine Hand, geben Sie mir die Ihre und schwören Sie mir ewige Liebe und Treue. Die Menschen, die uns hier umgeben, sollen unsere Zeugen sein. Sie müssen mir erlauben, daß ich Sie, wenn Sie mir Grund zur Klage geben, vor diesem Tribunal zur Verantwortung ziehe und Sie seinem Unwillen preisgebe. Geben Sie Ihre Zustimmung, daß dies Tribunal sich auf meinen Ruf versammelt und Sie einen Verräter, einen undankbaren, perfiden, falschen, bösen Menschen nennt. Es sind meine und Ihre Freunde. In dem Augenblick, da ich Sie verliere, soll keiner Ihrer Freunde mehr zu Ihnen halten. Sie, meine Freunde, schwören Sie mir, daß Sie ihn dann im Stich lassen.‹

Sogleich tönten von allen Seiten Rufe: ›Das verspreche ich! – Damit bin ich einverstanden! – Sehr richtig! – Das schwören wir!‹ Und mitten in diesem fröhlichen Lärm küßte der Chevalier, der die Arme um Frau de la Carliere geschlungen hatte, sie zärtlich auf Stirn, Augen und Wangen. ›Aber Chevalier!‹

›Meine Gnädigste, die Zeremonie ist beendet, ich bin dein Gatte und du bist meine Frau.‹

›Das mag bei den Hinterwäldlern so sein; bei uns fehlt noch die gewohnte Formalität. Nimm hier mein Bild und tu damit, was du magst. Hast du nicht auch von dir ein Bild bestellt? Wenn du eins hast, gib es mir …‹

Desroches gab Frau de la Carliere sein Bild, sie befestigte es an ihrem Armband und ließ sich für den Rest des Tages Frau Desroches nennen.«

»Ich bin sehr begierig zu erfahren, wie das endet.«

»Einen Augenblick Geduld, ich habe Ihnen versprochen, ausführlich zu sein und muß mein Wort halten. Sie waren ja damals nicht im Lande, es war zur Zeit Ihrer großen Reise …

Zwei Jahre, zwei ganze Jahre waren Desroches und seine Frau ein überaus glückliches Ehepaar. Man nahm an, Desroches habe sich gänzlich gebessert, und das war auch wirklich der Fall. Seine liederlichen Freunde, die von der soeben geschilderten Szene gehört hatten und darüber scherzten, sagten, die Pfaffen brächten in der Tat Unglück, und Frau de la Carliere hätte nach zweitausend Jahren das Geheimnis entdeckt, dem Fluche des Eides zu entgehen. Desroches hatte ein Kind von Frau de la Carliere, die ich einstweilen Frau Desroches nennen will, bis ich sie wieder anders nennen muß. Sie wollte das Kind durchaus selbst nähren. Das war eine lange und gefährliche Zwischenpause für einen jungen, heißblütigen Menschen, der an solche Enthaltsamkeit nicht gewöhnt war. Während Frau Desroches ihre Mutterpflichten erfüllte, suchte ihr Mann wieder die Gesellschaft auf. Er hatte das Unglück, einer jener verführerischen, hinterlistigen Frauen zu begegnen, die insgeheim geärgert sind, wenn sie anderwärts eine Eintracht sehen, die in ihrem eigenen Heim nicht zu finden ist, und die es darauf anzulegen scheinen, daß andere in dasselbe Elend geraten, in dem sie sich selber befinden.«

»Das gehört aber nicht zu der Geschichte.«

»Desroches, der sich kannte, der seine Frau kannte, der sie achtete und fürchtete …«

»Das ist fast dasselbe …«

»Brachte seine Tage bei ihr zu. Sein Kind, in das er närrisch verliebt war, lag ebensooft in seinen Armen wie in denen seiner Mutter, deren ehrenhafte aber mühevolle Pflichten er in Gemeinschaft mit ein paar Freunden durch allerlei häusliche Vergnügungen zu erleichtern sich bemühte.«

»Das ist hübsch von ihm.«

»Gewiß. Einer seiner Freunde war in Regierungsgeschäfte verwickelt. Das Ministerium schuldete ihm eine beträchtliche Summe, die fast sein ganzes Vermögen ausmachte und um deren Rückzahlung er vergebens bat. Er setzte Desroches seine Lage auseinander. Dieser erinnerte sich, sich einst sehr gut mit einer durch ihre Verbindungen allmächtigen Frau gestanden zu haben, mit deren Hilfe man diese Angelegenheit regeln konnte. Er sagte zunächst nichts davon, aber schon am nächsten Tage suchte er diese Frau auf und sprach mit ihr. Sie war entzückt, einen ritterlichen Mann, den sie zärtlich geliebt und ehrgeizigen Plänen geopfert hatte, wiederzufinden und ihm gefällig sein zu können. Der ersten Aussprache folgten bald weitere. Sie hatte unrecht an ihm gehandelt, und die Art, wie sie das eingestand, hatte durchaus nichts Zynisches. Desroches schwankte eine Zeitlang, was er zu tun habe.«

»Warum denn nur, das begreife ich nicht.«

»Halb war es Zuneigung zu ihr, halb Untätigkeit oder Schwäche, halb die Befürchtung, daß langes Bedenken …«

»Hinsichtlich eines seiner Frau ziemlich gleichgültigen Amüsements …«

»Er tat der Lebhaftigkeit der Beschützerin seines Freundes keinen Einhalt und verhinderte auch den Erfolg ihrer Bemühungen nicht; er vergaß einen Augenblick Frau Desroches und beteiligte sich an einer Intrige, die geheimzuhalten seine Mitschuldige das größte Interesse hatte, und zwar in einem notwendig gewordenen und fortgesetzten Briefwechsel. Man sah sich wenig, schrieb sich aber oft. Hundertmal schon habe ich Liebenden gesagt: Schreibt nicht, Briefe können verloren gehen, früher oder später kann einer durch Zufall an die falsche Adresse gelangen. Der Zufall bringt alles mögliche zuwege und richtet oft das größte Unheil an.«

»Keiner hat Ihnen das geglaubt?«

»Und alle haben sich auf diese Weise ins Verderben gestürzt, auch Desroches, wie Hunderttausende vor ihm und Hunderttausende nach ihm. Er bewahrte seine Briefe in einer kleinen, oben und unten mit Stahlbändern versehenen Truhe auf. In der Stadt und auf dem Lande war die Truhe stets in einem Schreibtisch eingeschlossen, auf Reisen aber hatte sie ihren Platz auf einem der großen Koffer Desroches', vorn auf dem Kutschbock, und so war es auch dieses Mal. Sie reisten ab und kamen an das Ziel ihrer Reise. Beim Aussteigen gab Desroches die Truhe einem Diener, der sie in sein Zimmer tragen sollte, zu dem man durch das seiner Frau gelangte. In dem Zimmer seiner Frau zerriß der Tragriemen, die Truhe fiel zu Boden, der Deckel löste sich und die Briefe flatterten vor Frau Desroches zu Boden. Sie hob einige auf und überzeugte sich von der Untreue ihres Gatten. Dieses Augenblicks erinnerte sie sich nie ohne Schaudern. Sie erzählte mir, sie sei plötzlich wie in kalten Schweiß gebadet gewesen und habe das Gefühl gehabt, als presse eine eiserne Kralle ihr das Herz zusammen und reiße ihr die Eingeweide aus dem Leibe. Was sollte aus ihr werden? Was hatte sie zu tun? Sie nahm sich zusammen, sie bot alles auf, was ihr an Vernunft und Kraft blieb. Sie wählte von den Briefen die belastendsten aus, brachte die Truhe wieder in Ordnung und befahl dem Diener, sie in das Zimmer seines Herrn zu stellen; sie verbot ihm bei Strafe sofortiger Entlassung, ein Wort von diesem Vorfall zu erwähnen. Sie hatte Desroches versprochen, daß er nie eine Klage aus ihrem Munde hören solle, und sie hielt ihr Wort. Aber es bemächtigte sich ihrer eine große Traurigkeit, und sie weinte viel. Sie hatte ein Verlangen nach Alleinsein, sowohl auf Spaziergängen, wie im Hause, sie aß allein in ihrem Zimmer und beobachtete ein ständiges Schweigen; nur zuweilen entrangen sich ihr unwillkürlich tiefe Seufzer. Desroches war hierüber wohl betrübt, aber nicht weiter beunruhigt und hielt ihren Zustand für eine Nervenschwäche, obwohl nährende Frauen einer solchen nicht unterworfen zu sein pflegen. Die Gesundheit seiner Frau wurde aber immer bedenklicher, so daß sie schließlich ihren Aufenthalt auf dem Lande abkürzen und in die Stadt zurückkehren mußte. Ihr Mann erlaubte ihr, in einem besonderen Wagen zu reisen. Als sie wieder in ihrem Hause war, traf sie mit soviel Zurückhaltung und Geschicklichkeit ihre Maßnahmen, daß Desroches, der das Verschwinden der Briefe nicht bemerkt hatte, die Mißgestimmtheit seiner Frau, ihre Gleichgültigkeit, ihre Seufzer und ihre verhaltenen Tränen nur für die gewohnten Symptome ihrer Krankheit hielt und ihr schließlich den Rat gab, das Kind nicht weiter zu nähren. Aber solange sie das Kind nährte, hatte sie die Möglichkeit, die Aussprache zwischen sich und ihrem Manne, solange sie wollte, hinauszuschieben. Desroches lebte also weiter neben seiner Frau, nicht im mindesten beunruhigt über ihr seltsames Benehmen, als sie eines Morgens groß, vornehm, würdevoll in dem gleichen Kleide und dem gleichen Schmuck vor ihm erschien, das sie bei der häuslichen Feier am Tage vor ihrer Hochzeit getragen hatte. Was sie an Frische und Fülle eingebüßt, was der geheime Kummer, der an ihr zehrte, ihren Reizen genommen hatte, das wurde reichlich aufgewogen durch ihre vornehme Haltung. Desroches schrieb gerade an seine Freundin, als seine Frau eintrat. Beide waren sehr unruhig; da sie aber beide gleich geschickt waren und das gleiche Interesse daran hatten, zu heucheln, so schwand diese Unruhe schnell. ›Ah, sieh da, liebe Frau,‹ rief Desroches, indem er, als er sie sah, wie in Zerstreutheit den beschriebenen Briefbogen zerriß, ›wie schön du heute bist! Was hast du denn heute vor?‹ – ›Ich möchte unsere Familien wieder zusammenrufen. Unsere Freunde und Verwandten sind eingeladen, ich kann auch wohl auf dich rechnen.‹ – ›Gewiß. Um wieviel Uhr?‹ – ›Um wieviel Uhr? Nun, zur gewohnten Stunde.‹ – ›Du hast ja Fächer und Handschuhe, gehst du aus?‹ – ›Wenn du nichts dagegen hast.‹ – ›Und darf man erfahren, wohin du gehst?‹ – ›Zu meiner Mutter.‹ – ›Bitte grüße sie von mir!‹ – ›Von dir?‹ – ›Gewiß.‹ Frau Desroches kehrte erst zum Essen nach Hause zurück. Die Gäste waren schon versammelt und man erwartete sie. Als sie erschien, wurde allgemein derselbe Ausruf laut, der vorher aus dem Munde ihres Mannes erklungen war. Die Herren und Damen umringten sie und riefen: ›Aber seht doch nur, wie schön sie ist!‹ Die Damen brachten etwas an ihrer Frisur in Ordnung, was sich verschoben hatte. Die Männer, die bewundernd in einiger Entfernung standen, raunten sich leise zu: ›Wirklich, weder Gott noch die Natur haben etwas Imposanteres, Größeres, Schöneres, Edleres, Vollkommeneres geschaffen oder schaffen können.‹ ›Aber liebe Frau,‹ sagte Desroches, ›du scheinst gar nicht zu bemerken, was für einen Eindruck du machst. Aber bitte, lache nicht, denn ein Lächeln, das mit soviel Reiz verbunden ist, würde uns ganz um den Verstand bringen.‹ Frau Desroches antwortete mit einer leichten Bewegung des Unwillens, wandte den Kopf zur Seite und führte ihr Taschentuch an die Augen, die feucht zu werden begannen. Die Damen, die alles sahen, fragten sich ganz leise: ›Was hat sie denn? Man sollte fast glauben, sie weint.‹ Desroches, der ahnte, was sie flüsterten, legte die Hand an die Stirn, um anzudeuten, daß seine Frau etwas leidend sei.«

»Ja, man hat mir ins Ausland geschrieben, es sei überall davon die Rede, daß die schöne Frau Desroches, die frühere schöne Frau de la Carliere, verrückt geworden sei.«

»Das Essen wurde aufgetragen. Man sah nur heitere Gesichter, nur Frau de la Carliere war ernst. Desroches neckte sie ein wenig, aber in durchaus angemessenem Ton: ›Liebe Frau, kannst du denn gar nicht mehr lächeln?‹ Frau de la Carliere tat, als höre sie nicht, und behielt ihre ernste Miene bei. Die Damen sagten, ihr stünden alle Mienen so gut, daß man sie getrost gewähren lassen könne. Das Mahl war beendet, man kehrte in den Salon zurück, es bildete sich ein Cercle. Frau de la Carliere …«

»Sie meinen Frau Desroches?«

»Nein, ich mag sie nicht mehr so nennen. Frau de la Carliere klingelt und gibt ein Zeichen, man bringt ihr das Kind, sie nimmt es zitternd in Empfang, entblößt ihre Brust, gibt ihm zu trinken und reicht dann das Kind der Wärterin zurück, nachdem sie es lange traurig betrachtet, geküßt und sein Gesichtchen mit einer Träne benetzt hat. Sie sagt, indem sie diese Träne trocknet: ›Es wird nicht die letzte sein.‹ Aber diese Worte murmelte sie so leise, daß man sie kaum hörte. Dieser Anblick rührte alle Anwesenden, und tiefes Schweigen herrschte. Da stand Frau de la Carliere auf und richtete an die Gesellschaft die folgenden Worte:

›Liebe Verwandte und Freunde, Sie waren alle zugegen an dem Tage, da ich Herrn Desroches mein Wort gab und er mir das seine. Sie erinnern sich wahrscheinlich der Bedingungen, unter denen ich ihm die Hand gereicht habe. Herr Desroches, sprechen Sie. Habe ich mein Wort gehalten?‹ – ›In jeder Weise.‹ – ›Und haben Sie mich betrogen und verraten …‹ – ›Ich dich?‹ – ›Ja, Sie!‹ – ›Welcher Schuft, welcher Elende …‹ – ›Elend bin hier nur ich, ein Schuft sind nur Sie.‹ – ›Aber liebe Frau …‹ – ›Ich bin Ihre Frau nicht mehr …‹ – ›Liebe Frau!‹ – ›Mein Herr, fügen Sie Ihrer Treulosigkeit nicht Lüge und Anmaßung hinzu. Je mehr Sie sich verteidigen, um so mehr verstricken Sie sich. Schonen Sie sich selbst …‹

Mit diesen Worten zog sie die Briefe aus der Tasche, gab Desroches einige davon und verteilte die andern unter die Anwesenden. Alle nahmen sie, lasen sie aber nicht. ›Meine Damen und Herren,‹ sagte Frau de la Carliere, ›lesen und urteilen Sie. Sie werden nicht von hier fortgehen, bevor Sie Ihre Meinung gesagt haben.‹ Dann wandte sie sich an Desroches. ›Sie werden die Schrift kennen, mein Herr.‹ Man zögerte noch eine Weile, las aber schließlich auf Frau de la Carlieres dringende Bitte die Briefe. Desroches hatte unterdes zitternd und ohne seine Stellung zu verändern den Kopf gegen den Spiegel gelehnt und der Gesellschaft, die er nicht anzusehen wagte, den Rücken gekehrt. Einer seiner Freunde hatte Mitleid mit ihm, nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus dem Salon.«

»Als mir diese Szene geschildert wurde, hat man mir gesagt, er sei höchst banal und seine Frau, in allen Ehren natürlich, lächerlich gewesen.«

»Alle waren befriedigt, daß Desroches nicht mehr anwesend war, und gaben zu, daß er sich vergangen habe; sie billigten Frau de la Carlieres Groll, waren aber der Meinung, sie dürfe ihn nicht auf die Spitze treiben. Alle scharten sich um sie, umdrängten sie, baten, beschworen sie. Der Freund, der Desroches hinausgeführt hatte, ging ab und zu zu ihm, um ihn über alle Geschehnisse im Zimmer zu unterrichten. Frau de la Carliere war unerschütterlich in ihrem Entschluß, den sie noch nicht ausgesprochen hatte. Sie hatte auf alle Vorstellungen nur immer die gleiche Antwort. Sie sagte zu den Damen: ›Meine Damen, Ihre Nachsicht tadle ich durchaus nicht.‹ zu den Herren aber: ›Meine Herren, es ist nicht möglich; mein Vertrauen ist einmal geschwunden, und ich sehe keine andere Möglichkeit.‹ Ihr Mann wurde wieder hereingeführt, mehr tot als lebendig. Er stürzte fast seiner Frau zu Füßen und blieb in dieser Stellung, ohne zu sprechen. Frau de la Carliere sagte zu ihm: ›Stehen Sie auf, mein Herr.‹ Er erhob sich und sie fuhr fort: ›Sie sind ein schlechter Ehemann. Aber ich wüßte gern, ob Sie ein galanter Mann sind oder nicht. Ich kann Sie nicht mehr lieben und nicht mehr achten, das heißt also, daß wir nicht mehr zusammenleben können. Ich überlasse Ihnen mein Vermögen und beanspruche nur so viel, wie für meine und meines Kindes bescheidene Existenz genügt. Meine Mutter habe ich benachrichtigt, bei ihr werde ich ein Unterkommen finden, und Sie erlauben wohl, daß ich mich sofort zu ihr begebe. Das einzige, was ich von Ihnen erbitte und was ich auch wohl mit Recht verlangen kann, ist, daß Sie mir einen Skandal ersparen, der meine Absichten nicht ändern und der nur die Wirkung haben würde, das grausame Schicksal zu beschleunigen, das Sie über mich verhängt haben. Lassen Sie es geschehen, daß ich mein Kind mitnehme und an der Seite meiner Mutter die Stunde erwarte, da sie mir oder ich ihr die Augen zudrücke. Sollten Sie in Not kommen, so seien Sie versichert, daß mein Schmerz und das hohe Alter meiner Mutter dem bald ein Ende machen werden.‹

Tränen flossen aus aller Augen; die Damen drückten ihr die Hand, die Männer knieten vor ihr nieder. Als aber Frau de la Carliere, ihr Kind in den Armen, zur Tür schritt, hörte man überall Schluchzen und Weinen. Ihr Mann rief: ›Frau, liebe Frau! Höre mich doch an! Du weißt ja nicht …‹ Die Männer und Damen riefen: ›Frau Desroches!‹ Der Gatte rief: ›Freunde, laßt ihr sie wirklich gehen? Haltet sie doch, haltet sie fest, sie muß mich anhören, ich muß mit ihr sprechen!‹ Und als man ihn zu bewegen versuchte, ihr den Weg zu vertreten, sagte er: ›Nein, das kann ich nicht, ich wage es nicht! Ich sollte sie berühren? Nein, dessen bin ich nicht würdig.‹

Frau de la Carliere entfernte sich. Ich befand mich gerade bei ihrer Mutter, als sie dort ankam, völlig gebrochen von der Aufregung. Drei von ihren Bedienten hatten sie aus dem Wagen gehoben und trugen sie ins Haus. Die Wärterin, bleich wie der Tod, mit dem Kinde, das an ihrer Brust eingeschlafen war, folgte. Man legte die unglückliche Frau auf ein Ruhebett, wo sie lange Zeit unter den Augen ihrer alten ehrwürdigen Mutter liegen blieb, die den Mund öffnete und doch keinen Schrei ausstieß, die um sie bemüht war und ihr helfen wollte und es doch nicht konnte. Endlich kehrte das Bewußtsein zurück, und ihre ersten Worte, als sie die Augen aufschlug, waren: ›Ich bin also nicht tot! O wie süß ist es, tot zu sein! Lege dich neben mich, liebe Mutter, und laß uns zusammen sterben. Aber wer sorgt dann für das arme Kind?‹

Darauf nahm sie die mageren, zitternden Hände ihrer Mutter in ihre Rechte und streichelte mit der Linken das Kind. Ein Tränenstrom entstürzte ihren Augen, sie schluchzte, sie wollte laut klagen, aber Schluchzen und Klagen wurden von einem heftigen Krampf unterbrochen. Sobald sie wieder ein paar Worte sprechen konnte, sagte sie: ›Wäre es denkbar, daß er ebenso um mich leidet?‹

Unterdes war man damit beschäftigt, Desroches zu trösten und ihm vorzustellen, daß der Zorn über ein so geringfügiges Vergehen, wie das seine es war, nicht andauern könne, daß er aber seiner Frau etwas Zeit lassen müsse; sie habe, da sie die Sache nun einmal so ernst genommen, auch entsprechende Schritte tun müssen. ›Wir sind alle mitschuldig.‹ sagten die Herren. ›Ja, wirklich.‹ riefen die Damen, ›hätten wir ihren feierlichen Mummenschanz mit denselben Augen angesehen wie die Komtesse und das Publikum, so wäre dies alles nicht geschehen … Das kommt daher, daß Dinge, die mit einem gewissen Apparat in Szene gesetzt werden, uns imponieren und daß wir uns dadurch zu dummer Bewunderung hinreißen lassen, wo man eigentlich die Achseln zucken und lächeln sollte … Sie werden sehen, was dieser Auftritt für ein Aufsehen erregen wird und wie wir alle ins Gerede kommen.‹«

»Unter uns gesagt, es war wirklich lächerlich.«

»Von diesem Tage an nahm Frau de la Carliere ihren Witwennamen wieder an und duldete nicht, daß man sie Frau Desroches nannte. Ihre Tür, die lange für jedermann geschlossen blieb, tat sich für ihren Mann nie wieder auf. Er schrieb ihr. Seine Briefe wurden ungeöffnet verbrannt. Frau de la Carliere erklärte ihren Verwandten und Freunden, sie werde niemanden empfangen, der zugunsten ihres Mannes vermitteln wolle. Vergebens mischten sich die Priester in die Angelegenheit. Selbst die Vermittelung hochangesehener Persönlichkeiten wies sie mit soviel Stolz und Festigkeit zurück, daß man sie bald in Ruhe ließ.«

»Man sagte aber sicherlich, sie sei eine eingebildete, eigensinnige Zierpuppe.«

»Und das sagten bald alle. Mittlerweile verfiel Frau de la Carliere in Melancholie, und ihre Gesundheit wurde rasch untergraben. So viele Leute wußten von der unerwarteten Trennung und um ihren Grund, daß sie bald den allgemeinen Gesprächsstoff bildete. Und nun bitte ich Sie, wenn möglich, Ihre Blicke von Frau de la Carliere abzuwenden und das Publikum zu betrachten, diese dumme Menge, die über uns urteilt, über unsere Ehre entscheidet, uns zu den Sternen emporhebt und uns in den Kot zieht, und die man um so höher achtet, je mehr Tatkraft und Tugend man besitzt. Es herrschte nur eine Meinung über Frau de la Carlieres Verhalten: Sie ist reif fürs Irrenhaus … Sie gibt wirklich ein famoses Beispiel, da müßte man ja dreiviertel aller Männer von ihren Frauen scheiden … Dreiviertel sagen Sie? Gibt es denn streng genommen unter hundert Männern überhaupt zwei, die ihren Frauen treu sind … Frau de la Carliere ist gewiß sehr liebenswürdig, sie hatte ihre Bedingungen gestellt, gewiß; sie ist die Tugend und Sittsamkeit selbst und der Chevalier verdankt ihr alles, aber daß sie verlangt, in einem ganzen Lande die einzige zu sein, an die ihr Gatte sich halte, das ist doch lächerlich. Und weiter sagte man: ›Wenn Desroches so niedergeschlagen ist, warum wendet er sich nicht an die Gesetze und bringt sie zur Vernunft?‹ Bedenken Sie, was die Leute gesagt haben würden, wenn Desroches oder sein Freund eine Erklärung hätten abgeben können, aber sie waren ja gezwungen, zu schweigen. Auch das letzte Gerede wurde dem Chevalier immer wieder zugetragen. Doch wenn er auch alle Hebel in Bewegung gesetzt hätte, um seine Frau wiederzuerlangen, Gewalt würde er nie angewandt haben. Frau de la Carliere aber war eine allgemein verehrte Frau gewesen, und unter den vielen Stimmen, die sie tadelten, wurden auch einige laut, die ein Wort der Verteidigung wagten, allerdings sehr schüchtern, sehr leise, sehr zurückhaltend, und oft weniger aus innerer Überzeugung, als aus einem Gefühl der Verpflichtung, so zu sprechen.«

»In den zweideutigsten Situationen vergrößert sich die Partei der Wohlanständigkeit natürlich durch Überläufer.«

»Sehr richtig bemerkt.«

»Das Unglück, das von Dauer ist, versöhnt alle Menschen, und wenn eine schöne Frau ihre Reize verliert, söhnt sie alle andern Frauen mit sich aus.«

»Das ist noch besser bemerkt. Wirklich, als die schöne Frau de la Carliere nur noch ein Skelett war, mischten sich Ausrufe des Bedauerns in den allgemeinen Tadel: Nein, so in der Blüte der Jahre zu erlöschen, so dahinzuschwinden und noch dazu durch den Verrat eines Mannes, den sie gewarnt hatte, der sie kennen mußte, und dem sie doch soviel Gutes getan hatte. Unter uns: als Desroches sie heiratete, war er ein Junker aus der Bretagne, der nichts besaß als seinen Mantel und seinen Degen … Die arme Carliere … Es ist doch zu traurig … Aber warum kehrt sie denn nicht zu ihm zurück? … Ja warum nicht? Ein jeder hat eben seinen Charakter, und es wäre nur zu wünschen, daß ein Charakter wie der ihrige häufiger wäre; dann würden sich unsere Herren und Meister so etwas wohl zweimal überlegen.

Während man sich so mit Redensarten für und wider unterhielt und dabei häkelte und stickte, und während die Wage sich unmerklich zugunsten Frau de la Carlieres neigte, war Desroches – geistig und körperlich – in eine bedauernswerte Verfassung geraten. Aber niemand bekam ihn zu Gesicht. Er hatte sich aufs Land zurückgezogen und wartete in Schmerz und Kummer auf ein Zeichen des Mitleids, um das er durch alle möglichen Unterwürfigkeiten gebettelt hatte. Frau de la Carliere ihrerseits, die arm und schwach geworden war, mußte die Ernährung des Kindes einer Arbeiterin überlassen, die Milchstockung, die sie lange befürchtet hatte, war eingetreten; das Kind nahm nun von Tag zu Tag ab und starb schließlich. Da sagten die Leute: ›Wissen Sie schon, die arme Carliere hat ihr Kind verloren? … Sie muß ja untröstlich sein! … Was nennen Sie untröstlich? Sie ist von einem unfaßbaren Schmerz erfüllt. Ich habe sie gesehen, es ist zum Erbarmen. Man kann es nicht mitansehen … Und Desroches? … Ach, sprechen Sie nicht von den Männern, das sind Unholde! Hätte er sich nur ein wenig aus der Frau gemacht, säße er dann jetzt auf dem Lande? Würde er nicht sofort hergekommen sein? Würde er ihr nicht auf der Straße, in der Kirche, an der Haustür auflauern? Wenn man durchaus will, kommt man schon zu einer Tür hinein, und dann bleibt man im Hause, man schläft, man stirbt dort …‹ Wirklich hatte Desroches das alles versucht, nur war es nicht bekannt, und die Hauptsache ist ja nicht, daß etwas geschieht, sondern daß davon gesprochen wird. Die Leute aber sagten: ›Das Kind ist tot … wer weiß, ob nicht ein Ungeheuer wie sein Vater aus ihm geworden wäre … Die Mutter liegt im Sterben … Und was tut der Mann? … Nette Frage! Am Tage läuft er mit seinen Hunden im Walde spazieren, nachts treibt er sich mit allerhand Gelichter herum, das seiner würdig ist … Reizend!‹ Nun kam noch ein erschwerender Umstand hinzu: Desroches hatte die Ehren seines Standes mit seiner Heirat erworben. Frau de la Carliere hatte verlangt, er solle aus dem Militärdienst ausscheiden und sein Regiment dem jüngeren Bruder übergeben.«

»Hatte denn Desroches einen jüngeren Bruder?«

»Nein, wohl aber Frau de la Carliere.«

»Nun, und?«

»Ja, der junge Mann wurde in der ersten Schlacht getötet, und sofort hieß es allgemein: ›Mit Desroches ist Unglück über diese Familie gekommen!‹ Wenn man die Leute hörte, hätte man meinen können, der Schuß, der den jungen Offizier getötet, sei von Desroches abgefeuert worden. Der plötzlich gegen ihn entfesselte Haß war ebenso allgemein wie unbegreiflich. Je mehr sich die Leiden Frau de la Carlieres steigerten, desto schwärzer wurde der Charakter Desroches, seine Untreue wurde übertrieben, und ohne daß seine Schuld größer oder geringer geworden wäre, wurde er von Tag zu Tag mehr gehaßt. Aber das ist keineswegs alles. O nein. Die Mutter Frau de la Carlieres war schon über sechsundsiebzig Jahre alt. Ich begreife wohl, daß der Tod ihres Enkelkindes und der beständige Anblick der Leiden ihrer Tochter genügt hätten, ihre Lebenstage abzukürzen, doch sie war krank. Die Leute indessen vergaßen ihr Alter und ihre Krankheit und machten Desroches für ihren Tod verantwortlich. Sie sprachen es ganz offen aus. Er war ein Schuft, dem sich Frau de la Carliere nicht wieder nähern durfte, wenn sie nicht alles Schamgefühl mit Füßen treten wollte. Er war der Mörder ihrer Mutter, ihres Bruders, ihres Kindes.«

»Bei dieser guten Logik hätte man, wenn Frau de la Carliere nach langer, schwerer Krankheit gestorben wäre, die dem Haß und der Ungerechtigkeit der Öffentlichkeit allen möglichen Spielraum gelassen hätte, ihn als den fluchwürdigen Mörder einer ganzen Familie ansehen müssen.«

»Das ist auch geschehen.«

»Sehr gut.«

»Wenn Sie mir nicht glauben, wenden Sie sich an einen der hier Anwesenden, und Sie werden sehen, welche Antwort Sie bekommen werden. Wenn er allein im Salon blieb, so lag das daran, daß, als er eintrat, jeder ihm den Rücken wandte.«

»Warum denn? Man weiß, ein Mensch ist ein Schuft, aber das hindert doch nicht, daß man mit ihm verkehrt.«

»Diese Geschichte ist noch etwas zu neu, und alle diese Leute sind mit der Verstorbenen befreundet oder verwandt. Frau de la Carliere ist am zweiten Pfingsttage gestorben, und wissen Sie wo? In der Sankt Eustachiuskirche während der Messe inmitten einer großen Menschenmenge.«

»Wie töricht. Man stirbt in seinem Bett! Wer hat es sich je einfallen lassen, in der Kirche zu sterben? Diese Frau muß es sich in den Kopf gesetzt haben, bis zum letzten Augenblick absonderlich zu sein.«

»Ja, absonderlich, das ist das richtige Wort. Es ging ihr etwas besser, sie hatte am Tage vorher gebeichtet und glaubte sich genügend gekräftigt, um das Sakrament in der Kirche zu empfangen, statt es sich daheim erteilen zu lassen. Sie wurde in einer Sänfte in die Kirche gebracht. Sie hörte das Hochamt, ohne ein Wort der Klage zu äußern, und anscheinend auch ohne zu leiden. Der Augenblick der Kommunion naht. Ihre Dienerinnen reichen ihr den Arm und führen sie zum heiligen Tisch. Der Pfarrer reicht ihr das Abendmahl, sie beugt sich, wie um es zu empfangen, und verscheidet.«

»Verscheidet! …«

»Ja, sie verscheidet auf absonderliche Art, wie Sie sich ausdrückten.«

»Ja, lieber Gott, und nun dies Aufsehen!«

»Lassen wir das; das alles kann man sich ja denken, und wir wollen zum Ende kommen.«

»Die Frau wurde dadurch natürlich noch hundertmal interessanter und der Mann hundertmal verabscheuungswürdiger.«

»Das versteht sich von selbst.«

»Und das ist noch nicht alles?«

»Nein, der Zufall wollte, daß Desroches dem Leichenzuge begegnete, als man die Tote von der Kirche nach ihrer Wohnung brachte.«

»Gegen den armen Kerl scheint sich alles verschworen zu haben.«

»Er tritt an den Zug heran, sieht seine Frau und schreit laut auf. Man fragt, wer der Mann ist. Aus der Menge ertönt eine Stimme (es war der Pfarrer): ›Das ist der Mörder dieser Frau.‹ Desroches ringt die Hände, rauft sich das Haar: ›Ja, ja, das bin ich.‹ Sofort umringt man ihn, überhäuft ihn mit Schmähungen, rafft Steine auf, und er wäre an Ort und Stelle getötet worden, hätten nicht einige besonnene Leute ihn vor der Wut der empörten Menge gerettet.«

»Und wie hatte er sich während der Krankheit seiner Frau verhalten?«

»So gut, wie man sich nur verhalten kann. Er hatte sich, wie alle andern, von Frau de la Carliere täuschen lassen, die den andern und vielleicht sich selbst ihr nahes Ende verbarg.«

»Und doch war er ein Barbar, eine Bestie!«

»Ein Unmensch, der langsam den Dolch einer göttlichen Frau, seiner Gattin und Wohltäterin in die Brust gestoßen hatte, sie zugrunde gehen ließ, ohne sich bei ihr sehen zu lassen, ohne das geringste Zeichen von Interesse und Mitgefühl zu geben.«

»Und das alles nur, weil er nicht gewußt hatte, was man ihm verbarg.«

»Und was selbst die nicht wußten, die beständig um sie waren.«

»Und die sie täglich sahen.«

»Ganz recht. Und so urteilt die Öffentlichkeit über unsere privaten Handlungen. So wird ein kleines Vergehen …«

»Ein ganz kleines …«

»So wird ein kleines Vergehen durch eine Kette von Ereignissen, die man unmöglich voraussehen und verhindern kann, zu einem schweren Verbrechen.«

»Dabei spielen Umstände mit, die an sich gar nichts mit dem Vergehen zu tun haben, wie zum Beispiel der Tod des Bruders der Frau de la Carliere.«

»Die Leute sind eben im Guten wie im Bösen bald lächerliche Lobredner, bald die strengsten Richter. Immer richtet sich Lob und Tadel nach dem Ereignis selbst. Lieber Freund, hören Sie ihnen ruhig zu, wenn es Sie nicht langweilt, aber glauben Sie ihnen nicht und sprechen Sie ihnen niemals nach, sonst laufen Sie Gefahr, ebenso verrucht wie die andern zu urteilen. Aber woran denken Sie? Sie träumen.«

»Ich ändere die Dinge, indem ich einen für Frau de la Carliere viel einfacheren Gang der Geschehnisse annehme. Sie findet die Briefe, sie schmollt. Nach einigen Tagen findet eine Aussprache statt und nach einigen Tagen im ehelichen Gemach eine Aussöhnung, wie das so üblich ist. Trotz seinen Entschuldigungen, den erneuten Beteuerungen und Schwüren begeht Desroches, der ein leichtsinniger Mensch ist, eine zweite Eheirrung. Wieder Schmollen, Auseinandersetzungen, Aussöhnung, wieder Schwüre, wieder Meineide, und so geht es weiter, dreißig Jahre lang, wie das so üblich ist. Aber Desroches ist ein galanter Mann, der eifrig darauf bedacht ist, durch vermehrte Rücksichtnahme, durch grenzenlose Liebenswürdigkeit ein kleines Unrecht wieder gut zu machen.«

»Wie das nicht immer üblich ist.«

»Sie trennen sich nicht, es gibt kein Aufsehen, sie leben zusammen, wie wir alle, und Schwiegermutter, Mutter, Bruder und Kind hätten sterben können, ohne daß man ein Wort darüber verloren hätte.«

»Oder wenn darüber gesprochen worden wäre, so würde man höchstens einen Unglücklichen beklagt haben, der vom Schicksal verfolgt und mit Unglück überhäuft würde.«

»Das ist ganz richtig.«

»Und daraus ziehe ich den Schluß, daß Sie nahe daran sind, diesem scheußlichen Ungeheuer mit den hunderttausend abschreckenden Köpfen und ebenso vielen bösen Zungen die verdiente Verachtung zuteil werden zu lassen. Früher oder später kommt dies Ungeheuer wieder zur Besinnung, und die Überlegung der Nachwelt macht das Geschwätz der Gegenwart wieder gut.«

»Sie glauben also, daß der Augenblick kommen wird, da Frau de la Carliere angeklagt und Desroches freigesprochen wird?«

»Ich meine sogar, dieser Augenblick ist gar nicht mehr fern, erstens, weil die Abwesenden immer unrecht haben und weil es keinen Abwesenden gibt, der abwesender wäre als ein Toter, zweitens, weil man sich unterhalten und sich streiten will und weil die abgedroschensten Abenteuer als Gesprächsstoff immer wieder zum Vorschein kommen und mit weniger Parteilichkeit behandelt werden. Man wird vielleicht noch zehn Jahre lang den armen Desroches mit den Augen ansehen, mit denen Sie ihn angesehen haben, wie er von Haus zu Haus sein unglückliches Dasein fortschleppt, aber man wird sich ihm nähern, man wird ihn fragen und ihn anhören. Er wird keinen Grund mehr haben zu schweigen, man wird den wahren Kern seiner Geschichte erfahren und die Dummheit, die er gemacht hat, sehr leicht nehmen.«

»Wie es sich gehört.«

»Und wir beide sind ja noch jung genug, um einst zu hören, daß man die schöne, tugendsame, stolze, würdevolle Frau de la Carliere eine eigensinnige, hochmütige Zierpuppe nennen wird. Denn die Leute müssen immer etwas auszusetzen haben, und wie es in ihrem Urteil keine Gesetze gibt, so haben sie auch kein Maß in ihren Ausdrücken.«

»Wenn Sie nun eine Tochter zu verheiraten hätten, würden Sie sie Desroches geben?«

»Ohne Bedenken, denn der Zufall hat ihn einmal straucheln lassen, wie das Ihnen wie mir, wie jedem andern auch passieren kann. Freundschaft, Anständigkeit, Wohltätigkeit, kurz alle möglichen Umstände hatten sein Vergehen vorbereitet und dienen zu seiner Entschuldigung. Sein Benehmen seit der Trennung von seiner Frau ist tadellos gewesen, und wenn ich auch den ungetreuen Ehemännern nicht gerade recht geben will, vermag ich doch auch den Frauen, die der seltenen Ausnahme soviel Bedeutung beimessen, nicht ganz unrecht zu geben. Ich habe überhaupt so meine vielleicht seltsamen, aber am Ende gar nicht so unrichtigen Gedanken über gewisse Handlungen, die ich weniger als Laster des Mannes, denn als Folge unserer absurden Gesetze ansehe; denn in unseren absurden Gesetzen ist der Grund der absurden Sitten und einer, ich möchte sagen, künstlichen Verderbnis zu suchen. Das ist vielleicht nicht übermäßig klar, aber es wird vielleicht ein andermal klar werden. Und nun wollen wir unser Bett aufsuchen. Ich höre bis hierher das Gekrächz von zwei oder drei von den alten Spielratten, die Sie rufen. Außerdem geht der Tag zur Rüste und die Nacht bricht an mit einem solchen Sternenheer, wie ich Ihnen verheißen hatte.«

»Ja, Sie haben wirklich recht.«

 


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