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Mrs. Lirripers Vermächtnis

In zwei Kapiteln

»Mrs. Lirriper's Legacy«


Erstes Kapitel
Mrs. Lirriper berichtet, wie es weiterging und wie sie über den Kanal fuhr

Ah! Es ist eine Wohltat, wenn ich mich in meinen Lehnstuhl niederfallen lassen kann, meine Liebe, obwohl ich von dem Hinundherlaufen treppauf, treppab ein wenig Herzklopfen habe. Warum Küchentreppen ganz und gar aus Wendelstufen bestehen sollen, das müssen die Architekten verantworten, obwohl ich glaube, sie verstehen ihr Handwerk nicht gründlich, und haben es nie verstanden. Denn woher kommt sonst die langweilige Gleichförmigkeit, und weshalb gibt es nicht mehr Bequemlichkeit und weniger Zugluft, und weshalb legen sie den Gips zu dick auf, wodurch nach meiner festen Überzeugung bloß die Nässe angezogen wird, und warum setzen sie die Kaminklappen aufs Geratewohl auf, wie Hüte bei einer Abendgesellschaft, ohne sich mehr darüber klar zu sein als ich selbst, wie sie auf den Rauch wirken werden, ausgenommen, daß sie Ihnen meistenteils den Rauch, entweder als geraden Streifen oder als gekräuselte Wolke, in die Kehle schicken werden. Und was die neuen Metallklappen betrifft, die man in ganz verschiedenen Gestalten auf den Häusern sieht (auf Miß Wozenhams Dach weiter unten auf der anderen Seite der Straße steht eine ganze Reihe davon), so bringen sie bloß den Rauch in künstliche Formen, bevor Sie ihn hinunterschlucken. Mir ist es ebenso recht, den meinigen einfach zu schlucken, da der Geschmack der gleiche ist, ganz abgesehen davon, daß es ein närrischer Einfall ist, auf Ihrem Hausdach Zeichen anzubringen, an denen man erkennen kann, in welcher Form Sie Ihren Rauch drinnen in sich einsaugen.

Hier sitze ich also vor Ihren Augen, meine Liebe, im Lehnstuhl meines stillen Zimmers in meiner Pension Norfolk Street Nummer einundachtzig, Strand, London, auf halbem Weg zwischen der City und dem St.-James-Park gelegen – wenn man behaupten kann, daß irgend etwas noch an seiner alten Stelle ist, wo doch diese Hotels, die sich selbst mit beschränkter Haftung nennen, von denen Major Jackman aber behauptet, daß sie über alle Schranken hinausgingen, überall aus dem Boden schießen und dort, wo sie schon gar nicht mehr höher hinauf können, wenigstens noch eine Fahnenstange anbringen. Aber meine Meinung über diese Ungeheuer ist, daß ich das gesunde Gesicht eines Wirts oder einer Wirtin vor mir sehen will, wenn ich von einer Reise komme, aber kein Messingschild, aus dem eine elektrische Nummer herausklappt, denn es liegt nicht in der Natur der Dinge, daß diese erfreut sein kann, mich zu sehen. Nein, es ist gar nicht nach meinem Geschmack, bis zu dieser Nummer wie ein Sack im Hafen in die Höhe gehoben zu werden, um dann oben mit den sinnreichsten Instrumenten, aber ganz vergeblich, um Hilfe telegraphieren zu müssen. Da ich also, wie schon gesagt, hier sitze, meine Liebe, brauche ich wohl nicht erst zu betonen, daß ich noch im Pensionsgeschäft bin; ich hoffe auch, darin zu sterben, und wenn die Geistlichkeit nichts dagegen hat, soll die Einsegnung zum Teil in der Saint-Clement's Danes-Kirche stattfinden und darauf auf dem Friedhof von Hatfield vollendet werden, wenn ich wieder an der Seite meines armen Lirriper liege, Asche zu Asche und Staub zu Staub.

Auch werde ich Ihnen wohl nichts Neues damit sagen, meine Liebe, daß der Major immer noch ebenso zum Haus gehört wie das Dach, das darauf sitzt, daß Jemmy der beste und klügste aller Jungen ist und daß ihm für immer die grausame Geschichte seiner armen hübschen jungen Mutter, Mrs. Edson, verschwiegen wurde, die im zweiten Stock verlassen zurückblieb und in meinen Armen starb. Er glaubt vielmehr steif und fest daran, daß ich seine leibliche Großmutter bin und er ein Waisenkind ist. Dabei ist es wunderbar, was er alles anstellt, seit er sich auf das Ingenieurwesen geworfen hat, und was für Lokomotiven er und der Major aus Sonnenschirmen, zerbrochenen eisernen Töpfen und Garnröllchen bauen, Lokomotiven, die immer aus der Bahn geraten und über den Tischrand hinunterfallen und den Passagieren, beinahe ebenso wie die richtigen, Schaden zufügen. Und als ich zu dem Major sage: »Major, können Sie nicht auf irgendeine Weise eine Verbindung mit dem Schaffner herstellen?« da antwortet der Major ganz von oben herab: »Nein, Madam, das geht nicht«, und als ich frage: »Weshalb nicht?« da sagt er: »Das ist ein Geschäftsgeheimnis zwischen uns, die wir an der Eisenbahn beteiligt sind, Madam, und unserem Freund, dem ehrenwerten Vizepräsidenten des Aufsichtsrats.« Und wenn Sie es glauben wollen, meine Liebe, der Major schrieb sogar an Jemmy in die Schule und befragte ihn wegen der Antwort, die er mir geben sollte, bevor ich diese doch ganz unbefriedigende Auskunft von dem Mann bekam. Freilich hatte die Sache ihren besonderen Grund. Als wir nämlich zuerst mit dem kleinen Modell und den wunderbaren Signalen begannen (in der Regel zeigten sie so falsch an wie die richtigen) und ich lachend fragte: »Welche Stellung soll ich in diesem Unternehmen haben, Gentlemen?« da schlang Jemmy die Arme um meinen Hals und sagte zu mir, hin und her tanzend: »Du sollst das Publikum sein, Großmutti.« Und dementsprechend machen sie mit mir alles, was ihnen in den Sinn kommt, und ich sitze brummend in meinem Lehnstuhl.

Meine Liebe, ob es sich so verhält, daß ein erwachsener Mann, der so gescheit ist wie der Major, sein Herz und seinen Sinn einer Sache – sogar einer Spielsache – nicht bloß halb geben kann, sondern sich ihr im vollen Ernst ganz und gar widmen muß – ob sich das so verhält oder nicht, das kann ich nicht entscheiden. Tatsache ist aber, daß Jemmy weit übertroffen wird durch die ernsthafte und gläubige Art, in der der Major die »Vereinigte Lirriper und Jackman Große Norfolk Salonwagen-Eisenbahnlinie« verwaltet. »Denn«, meinte mein Jemmy mit den blitzenden Augen, als sie getauft wurde, »wir müssen einen ganzen Mundvoll Namen haben, Großmutti, sonst wird unser liebes altes Publikum«, und dabei küßte mich der junge Schelm, »nicht herbeigelaufen kommen.«

So nahm das Publikum also die Aktien – zehn Stück zu neun Pence, und gleich darauf, als sie ausgegeben waren, zwölf Vorzugsaktien zu anderthalb Schilling. Sie wurden alle von Jemmy gezeichnet und vom Major gegengezeichnet, und unter uns gesagt, sie waren ihr Geld viel eher wert als einige Aktien, die ich zu meiner Zeit gekauft habe. Noch in denselben Ferien wurde die Bahn hergestellt und der Betrieb eröffnet. Ausflüge wurden veranstaltet, es fanden Zusammenstöße statt, es gab Kesselexplosionen und alle möglichen Unfälle und Schwierigkeiten, die alle ganz naturgetreu waren. Es machte dem Major Ehre, welches Verantwortungsgefühl er als eine Art militärischer Stationsvorstand entwickelte, wenn er, den Provinzzug zu spät abfertigend, eine von den kleinen Glocken läutete, die man zusammen mit den kleinen Kohlenkästen bei den Straßenhändlern kaufen kann. Schrieb der Major aber abends an Jemmy in der Schule seinen Monatsbericht über den Zustand des rollenden Materials, des Schienenwegs und alles Sonstigen (das Ganze stand auf dem Büfett des Majors, und er staubte es jeden Morgen mit eigner Hand ab, bevor er seine Stiefel wichste), so machte er das ernsthafteste Gesicht von der Welt und zog in geradezu furchterregender Weise die Augenbrauen zusammen. Aber der Major tut eben nichts halb. Das beweist auch seine große Freude, wenn er mit Jemmy ausgeht, um »das Terrain aufzunehmen«. Dann nimmt er eine Kette und ein Meßband mit, bringt irgendwelche Verbesserungen mitten durch die Westminster Abtei an und glaubt tatsächlich, daß er kraft einer Parlamentsakte alles auf der Straße auf den Kopf stellt. Und der Himmel möge geben, daß es in Wirklichkeit so sein wird, wenn Jemmy diesen Beruf ergreift!

Die Erwähnung meines armen Lirriper bringt mir seinen jüngsten Bruder, den Doktor, in Erinnerung. Freilich wäre es schwer zu sagen, was für ein Doktor er ist, höchstens etwa ein Doktor der Trinkkunst, denn Joshua Lirriper versteht weder von Physik noch von Musik noch von Gerichtssachen das mindeste, ausgenommen, daß er ständig vor das Grafschaftsgericht geladen wird und Haftbefehle gegen ihn ausgestellt werden, vor denen er davonläuft. Einmal wurde er im Flur dieses meines Hauses mit aufgespanntem Schirm und dem Hut des Majors auf dem Kopf erwischt, wie er, die Türmatte um seinen Leib geschlungen, sich als Sir Johnson Jones, Ritter des Bath-Ordens mit einer Brille, wohnhaft in der Gardekavallerie-Kaserne, ausgab. Dabei war er kaum eine Minute zuvor ins Haus gekommen, und das Mädchen hatte ihn auf der Türmatte warten lassen. Er hatte sie mit einem Stück Papier zu mir hergeschickt, das wie ein Fidibus zusammengedreht war und auf dem er mir die Wahl ließ zwischen dreißig Schillingen, sofort in bar ausgezahlt, und seinem Gehirn auf dem Fußboden; darunter stand: dringend und auf Antwort wird gewartet. Meine Liebe, es gab mir einen furchtbaren Ruck, wenn ich mir vorstellte, wie das Gehirn meines armen Lirriper Fleisch und Blut auf dem neuen Linoleum umherfliegen würde. Deshalb verließ ich, wie unwürdig er auch solcher Unterstützung sein mochte, mein Zimmer, um ihn zu fragen, was er ein für allemal haben wollte, um es im ganzen Leben nicht zu versuchen, und wie ich heraustrat, fand ich ihn in der Obhut von zwei Gentlemen. Wären nicht ihre Polizeiuniformen gewesen, so hätte ich geglaubt, sie wären Angehörige des Federbetthandels, so flaumig sahen sie aus.

»Bringen Sie Ihre Ketten, Sir«, sagt Joshua zu dem kleineren von ihnen, der den größeren Hut aufhatte, »schmieden Sie mir Fesseln an!«

Malen Sie sich meine Gefühle aus, als ich mir vorstellte, er würde die Norfolk Street mit eisernen Fesseln entlangklirren und Miß Wozenham sähe dabei zum Fenster heraus!

»Gentlemen«, sage ich, am ganzen Leibe zitternd und einer Ohnmacht nahe, »bringen Sie ihn bitte auf Major Jackmans Zimmer.«

So brachten sie ihn in den ersten Stock, und als der Major seinen Hut mit der runden Krempe, den Joshua Lirriper im Korridor vom Pflock heruntergerissen hatte, um eine militärische Verkleidung zu haben, auf seinem Kopf sah, geriet er in eine solch rasende Wut, daß er ihm den Hut mit der Hand vom Kopf schlug und ihn mit dem Fuß an die Decke schleuderte, wo noch lange nachher eine Schramme zu sehen war.

»Major«, sage ich, »beruhigen Sie sich und raten Sie mir, was ich mit Joshua, dem jüngsten Bruder meines verstorbenen und dahingegangenen Lirriper, anfangen soll.«

»Madam«, erwidert der Major, »ich rate Ihnen, ihn in einer Pulvermühle in Kost und Pension und ihrem Besitzer eine hübsche Belohnung zu geben, wenn sie explodiert ist.«

»Major«, sage ich, »als Christ kann das doch nicht Ihr Ernst sein.«

»Doch, Madam«, antwortet der Major, »bei Gott, es ist mein Ernst!«

Und tatsächlich hatte der Major, ein bei all seinen guten Eigenschaften für seine Statur sehr jähzorniger Mann, eine sehr schlechte Meinung von Joshua. Denn dieser hatte schon früher allerhand Unruhe gestiftet, selbst als er sich noch keine Freiheiten mit des Majors Garderobe herausnahm. Als Joshua Lirriper diese Unterhaltung zwischen uns vernahm, wandte er sich an den Kleinen mit dem großen Hut und sagte:

»Kommen Sie, Sir! Bringen Sie mich in meinen elenden Kerker. Wo ist mein verfaultes Stroh?«

Meine Liebe, als ich ihn mir aber im Geist vorstellte, am ganzen Körper mit eisernen Schlössern behängt, gleich dem Baron Trenck in Jemmys Buch, da überwältigte es mich so, daß ich in Tränen ausbrach und zu dem Major sagte:

»Major, nehmen Sie meine Schlüssel und bringen Sie die Sache mit diesen Gentlemen in Ordnung, ich werde sonst keine ruhige Minute mehr haben.«

So etwas ist zwar noch häufiger sowohl vorher wie nachher vorgekommen, aber ich kann nicht umhin, daran zu denken, daß Joshua Lirriper ein gutes Herz hat. Das zeigt sich darin, daß es ihm immer peinlich ist, wenn er keine Trauer um seinen Bruder tragen kann. Schon seit langen Jahren habe ich meine Witwentrauer abgelegt, da ich nicht auffallen möchte, aber was mich gegen Joshua unwillkürlich ein wenig milder stimmt, ist sein Zartgefühl, wenn er schreibt:

»Ein einziger Sovereign würde mich in den Stand setzen, einen anständigen Traueranzug um meinen inniggeliebten Bruder zu tragen. Ich gelobte zur Zeit seines schmerzlich beklagten Todes, daß ich stets zum Andenken an ihn in Schwarz gehen würde, aber ach! wie kurzsichtig ist der Mensch, wie kann man ein solches Gelübde halten, wenn man keinen Penny besitzt!«

Es spricht sehr für die Stärke seiner Gefühle, daß er noch keine sieben Jahre alt war, als mein armer Lirriper starb, und man muß es ihm hoch anrechnen, daß er seitdem stets seinem Wort treu geblieben ist. Aber wir wissen, daß es in jedem von uns etwas Gutes gibt – wenn wir bloß herausfinden könnten, wo es in einigen von uns steckt. Zwar war es durchaus nicht feinfühlig von ihm, auf das Gemüt unseres lieben Jungen einzuwirken und nach Lincolnshire zu schreiben, er solle ihm sein Taschengeld schicken, was auch geschah – aber er ist doch der jüngste Bruder meines armen Lirriper. Auch war es vielleicht nicht seine Absicht, seine Rechnung im »Salisbury-Wappen« nicht zu bezahlen, als seine Bruderliebe ihn veranlaßte, auf vierzehn Tage nach dem Friedhof von Hatfield zu gehen, und er hat vielleicht den Vorsatz gehabt, nüchtern zu bleiben, wenn er nicht in schlechte Gesellschaft geraten wäre. Wenn deshalb der Major die Gartenspritze gegen ihn in Tätigkeit gesetzt hätte, die er ohne mein Wissen zu sich ins Zimmer genommen hatte, so hätte es mir sicherlich derartig leid getan, daß es zwischen mir und dem Major zu einem Streit gekommen wäre. Als er sie aber aus Versehen gegen Mr. Buffle spielen ließ, weil es ihm gerade sehr heiß im Kopf war, habe ich das nicht so sehr bedauert, wie man es vielleicht von mir erwartet hätte. Ob aber Joshua Lirriper im Leben noch einmal guttun wird, das kann ich nicht sagen, ich habe jedoch davon gehört, daß er in einem Privattheater als Bandit aufgetreten sei, ohne daß ihm hinterher die richtigen Direktoren irgendwelche Anerbietungen gemacht hätten.

Da ich gerade von Mr. Buffle spreche: er kann als Beispiel dafür angeführt werden, daß es Gutes in Menschen gibt, wo man es nicht erwartet. Es ist nicht zu leugnen, daß Mr. Buffles berufliche Manieren nicht angenehm waren. Steuern einzutreiben ist ein Beruf, aber sich im Zimmer umzusehen, als hege man den Verdacht, die Möbel würden in stiller Nacht nach und nach durch eine Hintertür davongeschafft, das ist etwas ganz anderes; über die Besteuerung hat man keine Macht, aber verdächtigen ist willkürlich. Auch muß man in Betracht ziehen, daß es einem Gentlemen von dem Temperament des Majors nicht zusagen kann, wenn man mit einem Federhalter im Mund zu ihm spricht. Ferner weiß ich zwar nicht, ob es für meine Gefühle aufreizender wäre, wenn jemand einen niedrigen Hut mit breiter Krempe im Zimmer aufbehält als einen anderen Hut, aber des Majors Gefühle kann ich mir gut vorstellen. Und dazu kommt noch, daß der Major, ohne boshaften oder rachsüchtigen Charakters zu sein, ein Mann ist, der sich eine aufgelaufene Rechnung merkt, wie er es stets mit Joshua Lirriper zu halten pflegte. So kam es schließlich dahin, meine Liebe, daß der Major Mr. Buffle auflauerte, und das machte mir nicht geringe Sorge. Eines Tages klopfte Mr. Buffle mit seinen gewohnten zwei scharfen Schlägen an die Tür, worauf der Major sogleich herbeistürzt.

»Der Steuereinnehmer kommt, um die Einkommensteuer für zwei Quartale zu erheben«, sagt Mr. Buffle.

»Sie liegt für ihn bereit«, sagt der Major und führt ihn ins Zimmer.

Aber auf dem Weg blickt Mr. Buffle in seiner gewohnten mißtrauischen Weise umher, worauf der Major wütend wird und ihn fragt:

»Sehen Sie einen Geist, Sir?«

»Nein, Sir«, sagt Mr. Buffles.

»Weil ich schon früher bemerkt habe«, sagt der Major, »wie Sie unter dem Dach meiner geehrten Freundin offenbar nach einem Gespenst sehr scharf Ausschau hielten. Wenn Sie dieses übernatürliche Wesen finden, so seien Sie so gut, es mir zu zeigen, Sir.«

Mr. Buffle sieht den Major starr an und begrüßt darauf mich mit einem Kopfnicken.

»Mrs. Lirriper«, sagt der Major in höchster Wut, mich mit einer Handbewegung vorstellend.

»Habe das Vergnügen, sie zu kennen«, sagt Mr. Buffle lächelnd.

»Ah – hem! – Jemmy Jackman, Sir!« sagt der Major, sich selbst vorstellend.

»Habe die Ehre, Sie vom Sehen zu kennen«, sagt Mr. Buffle.

»Jemmy Jackman«, sagt der Major, in einer Art hartnäckiger Wut und weist mit seinem Kopf auf mich, »stellt Ihnen seine geschätzte Freundin, diese Dame Mrs. Emma Lirriper von Norfolk Street einundachtzig, Strand, London, in der Grafschaft Middlesex in dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland vor. Bei welcher Gelegenheit, Sir«, sagt der Major, »Jemmy Jackman Ihnen den Hut abnimmt.«

Mr. Buffle sieht nach seinem Hut, den der Major auf den Boden fallen läßt, hebt ihn auf und setzt sich ihn wieder auf den Kopf.

»Sir«, sagt der Major und wird sehr rot, während er ihm voll ins Gesicht blickt, »es sind zwei Quartale von der Steuer des guten Benehmens fällig, und der Steuereinnehmer hat vorgesprochen.«

Worauf der Major, was Sie mir glauben können, meine Liebe, Mr. Buffles Hut wiederum herabwirft.

»Das ist doch …«, beginnt Mr. Buffle sehr aufgebracht mit seinem Federhalter im Mund, während der Major, in immer größerer Wut, ihn anschreit:

»Nehmen Sie Ihr Gebiß heraus, Sir! Oder bei dem gesamten infernalischen Steuersystem dieses Landes und jeder einzelnen Zahl der Nationalschuld: ich springe Ihnen auf den Rücken und reite Sie wie ein Pferd!«

Und ich bin überzeugt, er hätte es getan; ja, er rührte schon seine zierlichen Beine, bereit, loszuspringen.

»Dies«, sagte Mr. Buffle ohne seinen Federhalter, »ist ein tätlicher Angriff, und ich werde Sie anzeigen.«

»Sir«, erwidert der Major, »wenn Sie ein Mann von Ehre sind, dann braucht Ihr Einnehmer bei allem, was dem ehrenwerten Steueramt zukommt, sich nur an den Major Jackmann in Mrs. Lirripers Pension zu wenden, um alles, was er wünscht, zu jedem beliebigen Zeitpunkt voll ausgezahlt zu kriegen.«

Während der Major Mr. Buffle bei diesen bedeutungsvollen Worten starr anblickte, meine Liebe, lechzte ich buchstäblich nach einem Teelöffel voll Hirschhornsalz in einem Weinglas voll Wasser und sagte:

»Bitte, Gentlemen, lassen Sie es dabei bewenden, ich bitte Sie und flehe Sie darum an!«

Jedoch noch lange, nachdem Mr. Buffle fort war, tat der Major nichts als schnauben. Welche Wirkung es aber auf meine gesamte Blutmenge hatte, als der Major sich bei dem nächsten Rundgang des Mr. Buffle fein herausputzte und, ein Lied vor sich hinsummend, auf der Straße auf und ab ging, das eine Auge fast ganz von seinem Hut verdeckt, dafür gibt es in Johnsons Wörterbuch keinen Ausdruck. Vorsorglich ließ ich daher die Tür nach der Straße zu ein wenig offen und stellte mich mit umgelegtem Schal hinter die Blende am Fenster des Majors, fest entschlossen, sobald ich Gefahr sah, herauszustürzen, zu schreien, bis meine Stimme versagte, den Major am Kragen zu packen, bis meine Kräfte schwanden, und es dahin zu bringen, daß beide gebunden würden. Ich hatte noch keine Viertelstunde hinter der Blende gestanden, als ich Mr. Buffle mit seinem Einnahmenbuch in der Hand herankommen sah. Auch der Major sah ihn kommen; er summte lauter und näherte sich seinerseits dem Haus. Sie trafen am Geländer des Luftschachts zusammen. Der Major nimmt auf Armlänge den Hut ab und sagt:

»Mr. Buffle, wie ich glaube?«

Mr. Buffle nimmt seinerseits den Hut auf Armlänge ab und sagt:

»Das ist mein Name, Sir.«

Darauf der Major:

»Haben Sie irgendwelche Befehle für mich, Mr. Buffle?«

Darauf Mr. Buffle:

»Keine, Sir.«

Darauf, meine Liebe, machten Sie beide eine sehr tiefe und hochmütige Verbeugung und gingen auseinander. Und sooft in Zukunft Mr. Buffle seine Runde machte, trafen er und der Major sich stets vor dem Geländer des Luftschachts und machten sich gegenseitig eine Verbeugung. Es erinnerte mich stark an Hamlet und den andern Gentleman in Trauer, bevor sie einander umbrachten, obwohl ich gewünscht hätte, der andere Gentleman hätte sich anständiger dabei aufgeführt, meinetwegen weniger höflich, aber doch ohne Anwendung von Gift.

Mr. Buffles Familie war in unserer Nachbarschaft nicht beliebt, denn wenn Sie Hausbesitzerin sind, meine Liebe, so werden Sie die Erfahrung machen, daß es nicht gerade in der Natur der Dinge liegt, den Steuereinnehmer gern zu sehen. Außerdem herrschte die Ansicht, daß ein Einspänner Mrs. Buffle nicht so hochmütig hätte machen dürfen, besonders wenn er von den Steuern gestohlen worden sei, was ich freilich für eine unchristliche Verleumdung hielt. Aber Tatsache ist, daß die Buffles nicht beliebt waren. Außerdem gab es einen Familienzwist in ihrem Haus, weil beide gegen Miß Buffle wie untereinander wegen Miß Buffles Neigung zu Mr. Buffles jungem Bürogehilfen sehr hart waren. Es wurde sogar geflüstert, daß Miß Buffle entweder schwindsüchtig oder eine Nonne werden würde, da sie so mager und appetitlos war und zwei glattrasierte Gentlemen mit weißen Krausen um den Hals und in Westen, die wie Schürzen aussahen, um die Ecke zu blicken pflegten, sooft sie ausging.

So standen die Dinge mit Mr. Buffle, als ich eines Nachts durch einen schrecklichen Lärm und einen Brandgeruch geweckt wurde. Ich stürzte an das Fenster meines Schlafzimmers und sah die ganze Straße in hellem Licht. Glücklicherweise hatten wir gerade zwei Zimmerreihen leer stehen, und bevor ich in aller Eile einige Kleidungsstücke überwerfen konnte, hörte ich, wie der Major an die Türen im Dachgeschoß hämmerte und aus Leibeskräften schrie:

»Anziehen! – Feuer! Keine Angst haben! – Feuer! Besonnen bleiben! – Feuer!«

Als ich meine Schlafzimmertür öffnete, kam der Major hereingestürzt und umfaßte mich mit den Armen.

»Major«, sage ich atemlos, »wo ist es?«

»Ich weiß es nicht, teuerste Madam«, sagt der Major – »Feuer! Jemmy Jackman wird Sie bis zu seinem letzten Blutstropfen verteidigen – Feuer! Wenn der liebe Junge jetzt zu Hause wäre, was wäre das für ein Spaß für ihn – Feuer!«

Und dabei war er ganz gefaßt und ruhig, bloß daß er keinen einzigen Satz vorbringen konnte, ohne mich bis zum innersten Herzen mit seinem Geschrei »Feuer« zu erschüttern. Wir liefen in den Salon hinunter und steckten die Köpfe zum Fenster hinaus, und der Major rief einen gefühllosen jungen Affen, der voller Freude vorüberlief, an:

»Wo ist es? – Feuer!«

Der Affe antwortet, ohne stehenzubleiben:

»Oh, das ist ein Riesenspaß! Der alte Buffle hat sein Haus angezündet, damit man nicht herausfinden kann, wie er die Steuer bestohlen hat. Hurra! Feuer!«

Und dann flogen die Funken in die Höhe, der Rauch wälzte sich die Straße entlang, die Flammen knisterten, das Wasser rauschte, die Feuerspritzen dröhnten, Äxte erklangen, Glas ging in Scherben, es wurde an die Türen geklopft, geschrien und gerufen, die Leute liefen hin und her, die Hitze wurde unerträglich, und dieser ganze Aufruhr versetzte mich in schreckliche Angst.

»Haben Sie keine Angst, teuerste Madam«, sagt der Major – »Feuer! Es besteht kein Grund zur Besorgnis – Feuer! Ich will mal hingehen und sehen, ob ich etwas helfen kann – Feuer! Sie sind ganz ruhig und unbesorgt – nicht wahr? – Feuer, Feuer, Feuer!«

Es war vergebens, den Mann zurückhalten zu wollen und ihm vor Augen zu stellen, daß er von der Feuerspritze tödlich überfahren werden würde – daß er sich an der Pumpe tödlich überanstrengen müßte – daß er sich in den Pfützen und dem Schlamm tödlich erkälten könnte – daß er tödlich getroffen werden würde, wenn die Dächer einstürzten. Seine Tatenlust war erwacht, und er lief atemlos hinter dem jungen Affen her. Inzwischen standen ich und die Mädchen eng aneinandergedrängt am Fenster und blickten nach den schrecklichen Flammen, die über den Häusern gegenüber emporschlugen, da Mr. Buffles Haus um die Ecke gelegen war. Es dauert nicht lange, da sehen wir ein paar Leute die Straße herablaufen und gerade auf unsere Tür zukommen. Dann erscheint der Major, geschäftig die Operationen leitend, dann kommen noch ein paar Leute, und dann – in einem Stuhl getragen wie ein Guy Fawkes Zur Erinnerung an die Pulververschwörung des Guy Fawkes wurde am Jahrestag, dem 5. November, eine Spottfigur in einem Stuhl durch die Straßen von London getragen. und nur in ein Laken gehüllt – Mr. Buffle.

Meine Liebe, der Major läßt Mr. Buffle unsere Haustreppe hinauftragen und rasch in den Salon bringen, wo er auf dem Sofa niedergelegt wird. Dann stürzen er und die übrigen, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben, in höchster Eile wieder davon, so daß man den Eindruck hatte, das Ganze sei eine Vision gewesen, nur daß Mr. Buffle in seinem Laken und grauenerregend mit den Augen rollend dalag. Im Nu stürzen sie alle wieder mit Mrs. Buffle herein, die ebenfalls in ein Laken gehüllt ist. Sowie sie hereingetragen und auf dem Sofa niedergelegt worden ist, stürzen sie alle wieder davon und kommen mit Miß Buffle wieder – ebenfalls in einem Laken. Als diese hereingetragen und niedergelegt worden ist, rennen sie alle wieder davon und stürzen mit dem gleichfalls in ein Laken gewickelten Bürogehilfen Mr. Buffles ins Zimmer. Er hält sich am Hals von zwei Männern fest, die ihn tragen, genauso wie auf dem Gemälde des unglücklichen Mannes, der den Kampf verloren hat, und sein Haar sieht so aus, als hätte kürzlich jemand damit gespielt. Als alle vier in einer Reihe daliegen, reibt sich der Major die Hände und flüstert mir zu, indem er mühsam ein wenig Heiserkeit in seine Stimme zu bringen sucht:

»Wenn unser lieber bemerkenswerter Junge bloß zu Hause wäre, was würde das für ein köstlicher Spaß für ihn sein!«

Meine Liebe, wir machten für sie ein wenig heißen Tee, ein paar Röstschnitten und etwas heißen Branntwein mit Wasser und ein bißchen Muskatnuß darin. Anfangs waren sie erschreckt und niedergeschlagen, aber nach und nach (da sie voll versichert waren) wurden sie gesprächig. Und der erste Gebrauch, den Mr. Buffle von seiner Zunge machte, war, den Major seinen Retter und besten Freund zu nennen und zu ihm zu sagen: »Mein für immer teurer Sir, gestatten Sie mir, Sie mit Mrs. Buffle bekannt zu machen.« Sie redete ihn ebenfalls als ihren Retter und besten Freund an und drückte ihm so herzlich die Hand, wie es das Laken zuließ. Ebenso Miß Buffle. Der junge Bürogehilfe war etwas wirr im Kopf, saß da und jammerte: »Robina ist zu Asche worden, Robina ist zu Asche worden!« Das rührte um so mehr ans Herz, weil er in seinem Laken aussah, als steckte er in einem Kontrabaßfutteral, bis Mr. Buffle sagte: »Robina, sprich zu ihm!« Miß Buffle sagte: »Lieber Georg!« und wenn der Major nicht augenblicklich ein Glas Branntwein mit Wasser hinuntergegossen hätte, wobei ihm freilich ein wenig Muskatnuß im Hals steckenblieb, so daß er einen heftigen Hustenanfall bekam, dann wäre es um seine Selbstbeherrschung geschehen gewesen. Als der junge Gehilfe sich gefaßt hatte, neigte sich Mr. Buffle Mrs. Buffle zu, wobei sie wie zwei Bündel aussahen, und sprach ein paar vertrauliche Worte mit ihr, und dann sagte er mit Tränen in den Augen, so daß sich der Major, als er es bemerkte, die Augen trocknete: »Wir sind keine einige Familie gewesen; nach dieser Gefahr aber wollen wir eine werden; nehmen Sie sie hin, Georg.« Der junge Gentleman konnte seinen Arm nicht weit genug ausstrecken, um das zu tun, aber seine Dankesäußerungen waren äußerst rührend mit anzuhören, obwohl er ein wenig dabei stotterte. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein angenehmeres Mahl gehabt zu haben als das Frühstück, das wir zusammen einnahmen, nachdem wir alle ein wenig geschlummert hatten. Miß Buffle bereitete sehr anmutig den Tee ganz in der römischen Art, wie sie früher im Covent Garden Theater dargestellt wurde, und die Familienmitglieder waren äußerst liebenswürdig, wie sie es seit jener Nacht stets geblieben sind, als der Major am Fuß der Rettungsleiter stand und sie in Empfang nahm, wie sie herunterkamen – der junge Gentleman mit dem Kopf voran, was sein Verhalten erklärt. Und obwohl ich nicht gerade behaupten will, daß wir weniger geneigt sind, voneinander schlecht zu denken, wenn wir nichts als Laken umhaben, so meine ich doch, daß die meisten von uns einander besser verstehen würden, wenn wir weniger zurückhaltend gegeneinander wären.

Da ist zum Beispiel Miß Wozenham weiter unten auf der anderen Seite der Straße. Ich hegte jahrelang recht bittere Gefühle gegen sie wegen einer Tatsache, die ich auch jetzt noch systematisches Unterbieten nennen muß, und auch wegen des Bildes von ihrem Haus in Bradshaws Kursbuch, auf dem viel zu viele Fenster und eine mächtige und ganz unverschämte Eiche zu sehen sind, obwohl es doch niemals eine Eiche in der Norfolk Street gegeben, ebensowenig wie jemals eine vierspännige Kutsche vor Miß Wozenhams Tür gehalten hat. Bradshaw hätte viel besser daran getan, sich mit der Zeichnung einer. Droschke zu begnügen. In dieser bitteren Gemütsstimmung verharrte ich auch bis zu einem Nachmittag im vergangenen Januar. Da kam auf einmal eines meiner Mädchen, Sally Rairyganoo, die ich immer noch im Verdacht habe, von irischer Abkunft zu sein, obwohl sie behauptete, aus Cambridge zu stammen, aber weshalb wäre sie wohl sonst mit einem Maurer von Limerick davongelaufen und hätte sich in Überschuhen mit ihm verheiratet, ohne abzuwarten, bis sein blaues Auge einigermaßen wieder gut war, wobei vierzehn Hochzeitsgäste anwesend waren und eines der Pferde draußen auf das Dach der Hochzeitskutsche geriet – ich wiederhole, meine Liebe, da kam Sally Rairyganoo in mein Zimmer hereingestürmt (ich kann keinen milderen Ausdruck gebrauchen) und schrie: »Hurra, Missis! Miß Wozenhams Haus wird versteigert!« Meine Liebe, als mir so ins Gesicht und Gewissen geworfen wurde, daß das Mädchen Sally Grund zu der Annahme hatte, ich könnte mich über das Verderben eines Mitmenschen freuen, brach ich in Tränen aus und sank in meinen Stuhl zurück, mit den Worten: »Ich schäme mich vor mir selbst!«

Ich versuchte, mich zu beruhigen und meinen Tee zu trinken, aber es wollte mir nicht gelingen, denn der Gedanke an Miß Wozenham und ihre Verzweiflung ließ mich nicht los. Es war ein unfreundlicher Abend; ich ging an ein Fenster der Vorderfront und blickte zu Miß Wozenhams Haus hinüber, und soviel ich in dem Nebel, der die Straße erfüllte, wahrnehmen konnte, war es das traurigste unter den traurigen und kein Licht darin zu sehen. Schließlich sagte ich zu mir selbst: »Das geht nicht«, setzte meinen ältesten Hut auf und legte meinen ältesten Schal um, da ich in einer solchen Lage nicht in meinen besten Sachen vor Miß Wozenham erscheinen wollte, und so ging ich denn zu ihrem Haus hinüber und klopfte an.

»Ist Miß Wozenham zu Hause?« fragte ich, mich umwendend, sobald ich die Tür aufgehen höre.

Ich sah, daß es Miß Wozenham selbst war, die geöffnet hatte; das arme Geschöpf sah erbärmlich mitgenommen aus und ihre Augen waren vom vielen Weinen ganz geschwollen.

»Miß Wozenham«, sage ich, »vor einigen Jahren hat es eine kleine Mißhelligkeit zwischen uns gegeben, weil die Mütze meines Enkels in Ihrem Luftschacht lag. Für mich ist das längst erledigt, und ich hoffe, für Sie gleichfalls.«

»Ja, Mrs. Lirriper«, sagt sie ganz überrascht, »allerdings.«

»Dann, meine Liebe«, erwidere ich, »würde ich gern eintreten und ein Wort mit Ihnen sprechen.«

Wie ich »meine Liebe« zu ihr sage, fängt Miß Wozenham ganz erbärmlich zu weinen an. Ein nicht ganz gefühlloser älterer Mann mit einer Nachtmütze und dem Hut darüber, der nur etwas besser hätte rasiert sein können und der sich höflich entschuldigt, weil er Ziegenpeter hätte und auch weil er einen Blasebalg, den er in der Hand hielt, als Schreibunterlage für einen Brief an seine Frau zu Hause benutzte, guckt aus dem Hinterzimmer hervor und sagt:

»Die Dame braucht ein Wort des Trostes«, und geht damit wieder hinein.

Darauf ich ganz unbefangen:

»Sie braucht ein Wort des Trostes, Sir? Dann, zum Kuckuck, soll sie es auch haben!«

Ich trete mit Miß Wozenham in das Vorderzimmer, wo eine elende Kerze, die ebenfalls geweint zu haben schien, in den letzten Zügen knisterte, und sage:

»Nun, meine Liebe, erzählen Sie mir alles.«

Daraufhin ringt sie die Hände und sagt:

»Oh, Mrs. Lirriper, dieser Mann hat hier alles mit Beschlag belegt, und ich habe niemand auf der Welt, der mir mit einem Schilling aushelfen könnte.«

Es kommt nicht im geringsten darauf an, was ein schwatzhaftes altes Geschöpf wie ich zu Miß Wozenham sagte, als sie so sprach, aber ich versichere Ihnen, meine Liebe, daß ich dreißig Schilling dafür gegeben hätte, wenn ich sie zum Tee zu mir hätte mitnehmen können; jedoch wagte ich es nicht wegen des Majors. Ich wußte zwar ganz gut, daß ich den Major in den meisten Sachen, und selbst in dieser, wenn ich es darauf anlegte, um den Finger wickeln konnte. Aber er und ich hatten so oft schlecht von Miß Wozenham gesprochen, daß ich mich schämte; dann wußte ich, sie hatte seinen Stolz, wenn auch nicht den meinen, beleidigt, und schließlich befürchtete ich, daß dieses Mädchen Rairyganoo etwas Dummes anstellen möchte. Deshalb sagte ich:

»Meine Liebe, wenn Sie mir eine Tasse Tee geben könnten, um die Verwirrung in meinem Kopf zu klären, dann würde ich Ihre Angelegenheit besser verstehen.«

Und wir setzten uns zum Tee und zu den Angelegenheiten hin, und nach allem waren es bloß vierzig Pfund und … Nun, sie ist eine so fleißige und vertrauenswürdige Dame, wie nur je eine lebte, und hat bereits die Hälfte zurückgezahlt, und wozu soll ich noch mehr erzählen, besonders wenn es nichts zur Sache tut? Denn die Hauptsache ist, daß ich, als sie mir wieder und wieder die Hände küßte, sie in den ihrigen hielt und mich unzählige Male segnete, schließlich gute Laune bekam und zu ihr sagte:

»Was bin ich doch für eine alte Gans gewesen, meine Liebe, Sie für etwas ganz anderes gehalten zu haben.«

»Ach, ich aber auch«, meint sie darauf, »wie sehr habe ich Sie verkannt!«

»Kommen Sie«, antworte ich, »erzählen Sie mir, was Sie von mir gedacht haben.«

»Oh«, erwidert sie, »ich dachte, sie hätten kein Verständnis für solch ein hartes Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben, wie es meine Existenz ist, und wälzten sich im Überfluß.«

Darauf frage ich, indem ich mich schüttle, und ich war froh, daß ich mir auf diese Weise ein wenig Luft machen konnte, denn ich hatte lange genug an mich halten müssen:

»Sehen Sie sich bloß meine Figur an, meine Liebe, und dann sagen Sie mir, ob Sie es noch für wahrscheinlich halten, daß ich mich im Überfluß herumwälze.«

Das schlug ein! Wir wurden so vergnügt wie ein paar Grillen, und ich kehrte glücklich und dankbar gestimmt in mein gesegnetes Heim zurück. Aber bevor ich diesen Vorfall abschließe, muß ich noch erzählen, wie ich sogar den Major verkannt hatte. Ja, denken Sie sich nur! Am nächsten Morgen kam der Major mit seinem sauber gebürsteten Hut in der Hand in mein kleines Zimmer und begann:

»Meine teuerste Madam …«, worauf er das Gesicht in seinen Hut steckt, als wäre er eben in die Kirche getreten. Während ich ganz erstaunt dasitze, taucht er aus seinem Hut wieder auf und beginnt von neuem:

»Meine geschätzte und geliebte Freundin …«, und damit taucht er wieder in seinen Hut.

»Major«, frage ich sehr erschrocken, »ist unserem lieben Jungen etwas zugestoßen?«

»Nein, nein, nein«, sagt der Major, »aber Miß Wozenham ist hier gewesen, um sich bei mir zu entschuldigen, und ich kann nicht über das hinwegkommen, was sie mir erzählt hat.«

»Ei der Tausend, Major«, sage ich, »Sie wissen noch nicht, daß ich gestern abend Angst vor Ihnen hatte und nicht halb so gut von Ihnen dachte, wie ich hätte denken sollen! Deshalb kommen Sie aus der Kirche heraus, Major, und vergeben Sie mir wie ein guter alter Freund, und ich will es nie wieder tun.«

Und ich überlasse es Ihnen, darüber zu urteilen, meine Liebe, ob ich es jemals wieder getan habe oder tun werde. Wie rührend zu denken, daß Miß Wozenham bei ihrem kleinen Einkommen und trotz ihrer Verluste so viel für ihren armen alten Vater tut und außerdem für einen Bruder sorgt, der das Unglück hatte, sein Gehirn an der harten Mathematik zu erweichen. Er hat das Hinterzimmer im dritten Stock inne, das bei den Mietern als eine Rumpelkammer gilt; da wohnt er so sauber wie eine neue Stecknadel und verzehrt eine ganze Hammelkeule auf einmal, wenn man ihm zu essen bringt.

Und nun, meine Liebe, will ich Ihnen wirklich von meinem Vermächtnis erzählen, wenn Sie mich mit Ihrer Aufmerksamkeit beehren wollen; es war auch meine feste Absicht gewesen, ohne Umschweife darauf zu sprechen zu kommen, bloß daß eine Sache immer die andere mit sich bringt. Es war im Juni und gerade am Tag vor Johannis, als mein Mädchen Winifred Madgers – sie war eine Schwester aus der Brudergemeinde von Plymouth, und der Plymouth-Bruder, der mit ihr davonlief, tat vollkommen recht daran, denn ein ordentlicheres und mehr zu einer Hausfrau geeignetes Mädchen hat es nie gegeben; und später besuchte sie mich mit den schönsten Plymouth-Zwillingen – es war also am Tag vor Johannis, als Winifred Madgers in mein Zimmer tritt und zu mir sagt:

»Ein Gentleman vom Konsul möchte dringend Mrs. Lirriper sprechen.«

Wenn Sie mir glauben wollen, meine Liebe, so kamen mir die Konsol-Aktien der Bank, wo ich einige Kleinigkeiten für Jemmy liegen habe, in den Sinn, und ich sagte daher:

»Du lieber Gott, ich hoffe, er ist doch nicht etwa furchtbar gefallen?«

Darauf meinte Winifred:

»Er sieht durchaus nicht danach aus, Ma'am.«

Worauf ich sagte:

»Führ ihn herein.«

Daraufhin tritt ein Gentleman in schwarzer Kleidung und meiner Ansicht nach mit zu kurz geschnittenen Haaren ein und fragt sehr höflich:

»Madame Lirriper?«

Darauf ich:

»Ja, Sir. Nehmen Sie bitte Platz.«

»Ich komme«, erklärt er, »vom französischen Konsul.«

So sah ich gleich, daß es nicht die Bank von England war.

»Wir haben«, fährt er fort, »von der Mairie in Sens eine Mitteilung erhalten, die ich die Ehre haben werde, vorzulesen. Madame Lirriper versteht Französisch?«

»Du lieber Himmel, nein, Sir!« sage ich. »Kein Wort.«

»Das macht nichts«, meint der Gentleman. »Ich werde übersetzen.«

Darauf, meine Liebe, übersetzte der Gentleman ein langes Schriftstück in der liebenswürdigsten Weise, und es kam auf folgendes hinaus: In der Stadt Sens in Frankreich liege ein unbekannter Engländer im Sterben. Er sei außerstande, zu sprechen oder sich zu bewegen. In seiner Wohnung befänden sich eine goldene Uhr und eine Börse, in der soundso viel Geld sei, und außerdem ein Koffer, der die und die Kleidungsstücke enthalte, aber kein Paß und keine Papiere, ein Paket Spielkarten ausgenommen, das auf seinem Tisch läge; auf dem Herzas stünde mit Bleistift geschrieben: »Für die Behörde: Wenn ich tot bin, schicken Sie bitte meinen Nachlaß als letztes Vermächtnis an Mrs. Lirriper, Norfolk Street einundachtzig, Strand, London. Als der Gentleman alles das erklärt hatte – und es schien viel methodischer aufgestellt zu sein, als ich es von den Franzosen geglaubt hätte, da ich sie damals nicht kannte –, legte er das Dokument in meine Hand. Ich wurde dadurch um vieles klüger, wie Sie sich denken können, ausgenommen daß es so aussah, als wäre es auf Tütenpapier niedergeschrieben, und daß es über die ganze Fläche mit Adlern gestempelt war.

»Glaubt Madame Lirriper«, sagt darauf der Gentleman, »daß sie ihren unglücklichen Kompatrioten wiedererkennt?«

Sie können sich denken, meine Liebe, in welche Verwirrung es mich versetzte, wenn jemand von meinem Kompatrioten zu mir sprach. Ich sagte deshalb:

»Entschuldigen Sie. Würden Sie die Freundlichkeit haben, Sir, so einfach wie möglich zu sprechen?«

»Dieser unglückliche Engländer, der im Sterben liegt, dieser vom Schicksal verfolgte Angehörige ihres Volkes«, sagt der Gentleman.

»Ich danke Ihnen, Sir«, sage ich, »jetzt verstehe ich Sie. Nein, Sir, ich habe nicht die mindeste Ahnung, wer das sein könnte.«

»Hat Madam Lirriper keinen Sohn, keinen Neffen, kein Patenkind, keinen Freund, keinen ihr irgendwie bekannten Menschen in Frankreich?«

»Ich weiß bestimmt«, sage ich, »daß ich keinen Verwandten oder Freund dort habe, und soviel ich glaube, auch keinen Bekannten.«

»Verzeihen Sie. Sie nehmen Locataires?« fragte der Gentleman.

Ich glaubte tatsächlich, meine Liebe, er wolle mir mit seinen liebenswürdigen fremdländischen Manieren etwas anbieten – Schnupftabak, so meinte ich. Ich neige deshalb ein wenig den Kopf und sage, wenn Sie es mir glauben wollen:

»Nein, ich danke Ihnen. Ich habe mir das noch nicht angewöhnt.«

Der Gentleman blickt mich erstaunt an und sagt:

»Mieter!«

»Oh!« meine ich lachend. »Der Himmel segne Sie! Aber gewiß!«

»Könnte es nicht ein früherer Mieter sein?« fragt der Gentleman. »Ein Mieter, dem Sie die Bezahlung erließen? Sie haben doch sicher manchmal Mietern die Bezahlung erlassen?«

»Hm! Das ist schon vorgekommen, Sir«, erwidere ich. »Aber ich versichere Ihnen, ich kann mich an keinen Gentleman erinnern, der es sein könnte.«

Kurz, meine Liebe, wir konnten mit der Sache nicht ins reine kommen, und der Gentleman notierte sich meine Aussagen und ging davon. Aber er ließ mir eine Kopie des Dokuments zurück, die er bei sich hatte, und als der Major kam, sagte ich zu ihm, während ich sie ihm reichte:

»Major, hier ist Moores Kalender mit der kompletten Hieroglyphenschrift, und Sie sollen Ihre Meinung dazu abgeben.«

Der Major brauchte etwas mehr Zeit, um das Schriftstück zu lesen, als ich nach dem Redefluß geglaubt hätte, mit dem er begabt zu sein schien, wenn er gegen die Leierkastenmänner vorging. Aber schließlich war er damit fertig und stand da, die Augen verwirrt auf mich gerichtet.

»Major«, meinte ich, »Sie sind sprachlos.«

»Madam«, sagte der Major, »Jemmy Jackman ist in Verlegenheit.«

Nun traf es sich gerade, daß der Major ausgewesen war, um sich ein wenig nach Zügen und Schiffen zu erkundigen, denn unser Junge sollte am folgenden Tag für seine Sommerferien nach Hause kommen und wir wollten, um ihm eine Freude und etwas Abwechslung zu bereiten, mit ihm verreisen. Als der Major noch so dastand und mich anstarrte, kam es mir daher in den Sinn, zu ihm zu sagen:

»Major, ich wünschte, Sie gingen hin und sähen einmal in Ihren Büchern und Karten nach, wo diese Stadt Sens liegt.«

Der Major raffte sich auf, ging in sein Zimmer und stöberte ein wenig umher, worauf er zu mir zurückkam und berichtete:

»Sens, meine teuerste Madam, liegt etwa fünfzehn Meilen südlich von Paris.«

Darauf meinte ich mit einer, wie ich wohl sagen kann, verzweifelten Anstrengung:

»Major, wir wollen mit unserem lieben Jungen dorthin reisen.«

Wenn der Major jemals außer sich war, so war er es bei dem Gedanken an diese Reise. Den ganzen Tag über war er wie der Wilde im Wald, wenn er eine Anzeige in der Zeitung las, aus der er etwas für die Reise Brauchbares entnehmen konnte, und schon ganz früh am nächsten Morgen, Stunden bevor Jemmy eintreffen konnte, stand er auf der Straße, um ihm zuzurufen, daß wir alle drei nach Frankreich führen. Mein junger Herr Rosenwange war ebenso wild wie der Major, das können Sie mir glauben, und sie trieben es derartig, daß ich schließlich sagte:

»Wenn ihr zwei Kinder euch nicht ordentlicher aufführt, stecke ich euch beide ins Bett.«

Und dann machten sie sich daran, das Fernrohr des Majors zu reinigen, um sich Frankreich dadurch anzugucken, und sie gingen zusammen aus und kauften eine Ledertasche mit einem Schnappschloß, um sie Jemmy umzuhängen. Dieser sollte nämlich das Geld tragen, wie ein kleiner Fortunatus mit seinem Glückssäckel.

Wenn ich nicht mein Wort gegeben und ihnen erst Hoffnungen gemacht hätte, so zweifle ich, ob ich das Unternehmen wirklich durchgeführt haben würde, aber es war jetzt zu spät, um wieder davon abzustehen. So fuhren wir denn zwei Tage nach Johannis mit der Morgenpost davon. Und als wir an die See kamen, die ich erst einmal zuvor in meinem Leben gesehen hatte, und zwar, als sich mein armer Lirriper um mich bewarb, da stimmten mich die Frische und Tiefe des Meeres, der weite, freie Blick und der Gedanke, daß es seit jeher seine Wogen dahergewälzt hatte und das immer weiter tat, während so wenige unter uns daran dachten, ganz ernsthaft. Aber ich fühlte mich dabei auch glücklich, und ebenso Jemmy und der Major, und es gab im ganzen nicht viel Bewegung auf dem Schiff, obwohl ich mit einem Schwindel im Kopf und einem Schwächegefühl bloß imstande war zu beobachten, daß die fremdländischen Kajüten hohler als die englischen konstruiert sind, was ein viel größeres Geräusch veranlaßt, wenn sich die Leute nicht aufs Segeln verstehen.

Aber, meine Liebe, die Bläue und die Leichtigkeit und die Buntheit von allem, wo sogar die Schilderhäuschen gestreift sind, und die funkelnden, rasselnden Trommeln und die kleinen Soldaten in ihren Jacken und reinlichen Gamaschen, als wir auf den Kontinent kamen – das alles gab mir ein Gefühl, das sich schwer in Worte fassen läßt, ein Gefühl, als ob der Druck der Atmosphäre von mir genommen wäre. Und was den Lunch angeht, so könnte ich mir einen Koch und zwei Küchenmädchen halten und würde es doch für das doppelte Geld nicht so bekommen. Und dabei hat man kein gekränktes Mädchen um sich, das einen finster anstarrt und einem den Bissen im Mund nicht gönnt und die gute Behandlung damit vergilt, daß sie einem wünscht, man möchte am Essen ersticken, sondern so höflich und eilfertig und aufmerksam und alles in jeder Beziehung behaglich, bloß daß Jemmy ganze Wassergläser voll Wein in sich hineingoß, so daß ich jeden Augenblick erwartete, er würde unter den Tisch sinken.

Ganz reizend aber war, wie Jemmy französisch sprach. Es wurde oft von ihm verlangt, denn sowie jemand eine Silbe zu mir sprach, sagte ich: »Nix verstehen, Sie sind sehr liebenswürdig, aber es hat keinen Zweck – nun, Jemmy!« Und darauf legte Jemmy los und sprach in der hübschesten Weise auf sie ein. Das einzige, was Jemmys Französisch abging, war, daß er, wie es mir schien, kaum jemals ein Wort von dem verstand, was sie zu ihm sagten, und infolgedessen hatte es kaum den Nutzen, den es hätte haben können, obwohl er im übrigen sprach wie ein Eingeborener. Was aber das Sprechen des Majors angeht, so hätte ich der Meinung sein können, wenn ich das Französische nach dem Englischen beurteilte, daß das Französische viel ärmer an Worten ist. Andererseits aber muß ich zugeben, daß, wenn ich ihn nicht gekannt hätte, als er einen militärischen Gentleman in einem grauen Überzieher nach der Zeit fragte, ich ihn für einen geborenen Franzosen gehalten hätte.

Bevor wir die Reise fortsetzten, um uns nach meinem Vermächtnis umzutun, wollten wir einen regelrechten Tag in Paris verbringen, und ich überlasse es Ihnen, meine Liebe, sich vorzustellen, was für ein Tag das war mit Jemmy und dem Major und dem Fernrohr und mir und dem jungen Mann, der an der Hoteltür herumgelungert hatte (aber er war dabei sehr manierlich), der mit uns ging, um uns die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Auf der ganzen Fahrt nach Paris hatten Jemmy und der Major mich zu Tode erschreckt, indem sie an den Stationen sich auf den Bahnsteigen niederbeugten, um die Lokomotivräder unter den Kesseln zu untersuchen, und an allen möglichen Orten ein und aus krochen, um Verbesserungen für die Vereinigte Große Salon-Linie ausfindig zu machen; aber als wir an einem sonnigen Morgen auf die glänzenden Straßen heraustraten, gaben sie alle ihre Verbesserungspläne für London als unnützes Zeug auf und richteten ihren Sinn ganz auf Paris.

Auf einmal sagte der herumlungernde junge Mann zu mir:

»Soll ich jetzt englisch sprechen?«

Darauf meinte ich:

»Wenn Sie es können, so würde ich Ihnen dankbar sein.«

Aber nach einer halben Stunde Englischsprechen, als ich vollkommen überzeugt war, daß der Mann von Sinnen gekommen war und ich desgleichen, sagte ich:

»Seien Sie so gut, wieder Ihr Französisch zu sprechen, Sir.«

Denn ich wußte, daß es mir dann nicht soviel Kopfzerbrechen bereiten würde, seine Reden zu verstehen, und das war eine große Erleichterung. Übrigens verlor ich dabei nicht viel mehr als die beiden anderen, denn ich bemerkte gewöhnlich, wenn er etwas sehr ausführlich beschrieben hatte und ich Jemmy fragte: »Was sagt er, Jemmy?« dann erwiderte Jemmy mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck: »Er spricht so verflixt undeutlich!« und wenn er es ein zweites Mal noch ausführlicher beschrieben hatte und ich zu Jemmy sagte: »Nun, Jemmy, um was handelt es sich?« dann meinte Jemmy: »Er sagt, das Gebäude wäre im Jahre siebzehnhundertvier ausgebessert worden, Großmutti.«

Woher dieser herumlungernde junge Mann seine Vagabundengewohnheiten hatte, darüber kann man keine Auskunft von mir erwarten, aber die Art, wie er um die Ecke verschwand, als wir uns zum Frühstück niedersetzten, und wieder da war, als wir den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatten, war im höchsten Grade erstaunlich. Ebenso war es auch beim Diner und am Abend; wo wir waren, am Theater, am Hoteleingang, an den Läden, wo wir ein paar Kleinigkeiten einkauften, und an allen anderen Orten lungerte er umher, bloß hatte er die Neigung zu spucken. Und von Paris kann ich Ihnen nicht mehr sagen, meine Liebe, als daß es Stadt und Land in einem ist; modellierte Steinblöcke und lange Straßen mit hohen Häusern und Gärten und Springbrunnen und Statuen und Bäume und Gold und ungeheuer große Soldaten und ungeheuer kleine Soldaten und die hübschesten Kindermädchen in den weißesten Hauben, die mit den rundlichsten Kindern in den flachsten Häubchen mit dem Springseil spielen, und saubere Tischtücher, die überall zum Diner ausgebreitet sind, und Leute, die den ganzen Tag lang rauchend und an Gläsern nippend vor den Haustüren sitzen, und kleine Stücke, die im Freien für kleine Leute aufgeführt werden, und jeder Laden ein vollständig und elegant ausgestatteter Raum, und jeder, wie es den Anschein hat, mit allem auf dieser Welt spielend. Und die funkelnden Lichter am Abend, meine Liebe, die bis hoch hinauf und bis tief hinab und vor einem und hinter einem und überall in der Runde glitzern, und die Menge der Theater und die Menge der Menschen und die Mengen von jedem und allem – das ist rein wie im Märchen. Und so ziemlich das einzige, was mir nicht gefiel, war, daß überall, sei es, daß man sein Fahrgeld am Eisenbahnschalter bezahlt, daß man sein Geld bei einem Wechsler wechseln läßt, oder daß man eine Eintrittskarte am Theater kauft, die Dame oder der Herr in einem Käfig aus stärksten Eisenstangen sitzt (vermutlich auf Anordnung der Regierung), so daß es mehr nach dem Zoologischen Garten als einem freien Land aussieht.

Als ich an diesem Abend meine armen Knochen endlich ins Bett gelegt hatte und mein junger Schelm hereinkam, um mir den Gutenachtkuß zu geben, und mich fragte: »Was hältst du von diesem schönen, schönen Paris, Großmutti?« da sagte ich: »Jemmy, mir kommt es vor, als wäre es ein wunderbares Feuerwerk, das in meinem Kopf losgelassen wird.« Und am folgenden Tag wirkte das schöne freie Land im höchsten Grade kühlend und erfrischend auf mich, als wir unsere Reise fortsetzten, um uns nach meinem Vermächtnis umzutun. Es gewährte mir Ruhe und Erholung und tat mir sehr gut.

So kamen wir schließlich und endlich nach Sens, einer hübschen kleinen Stadt mit einer großen, zweitürmigen Kathedrale, an der die Krähen zu den Luken aus und ein fliegen und auf deren einem Turm ein zweiter Turm sitzt, wie eine Art steinernes Pult. Auf diesem Pult, unter dem die Vögel dahinflogen, wenn Sie mir glauben wollen, sah ich einen Fleck, als ich vor dem Diner im Gasthaus ausruhte, und dieser Fleck war, wie man mir sagte, Jemmy. Als ich auf dem Balkon des Hotels saß, war mir der Einfall gekommen, daß ein Engel sich dort niederlassen und den Menschen unten zurufen könnte, gut zu sein, aber ich dachte wenig daran, was Jemmy, sich selbst ganz unbewußt, von diesem hohen Platz aus jemand in der Stadt zurief.

Ein Gasthaus, wie man es sich nicht schöner gelegen denken kann, meine Liebe! Gerade unter den beiden Türmen, deren Schatten den ganzen Tag lang darüber hinlaufen, als wäre es eine Art Sonnenuhr, während Landleute mit Karren und planbedeckten Wägelchen zum Hof ein und aus fahren und draußen, der Kathedrale gegenüber, sich ein Budenplatz befindet – alles so altertümlich wie auf einem Gemälde. Der Major stimmte mit mir darin überein, daß, was auch bei meinem Vermächtnis herauskommen mochte, dies hier der Ort sei, wo wir unsere Ferien verbringen wollten. Auch machten wir aus, unserem lieben Jungen an diesem Abend nicht seine Freude durch den Anblick des Engländers, wenn er noch am Leben war, zu verderben, sondern daß wir beide allein gehen wollten. Denn Sie müssen verstehen, daß der Major, da er sich der Höhe, bis zu der Jemmy emporgeklettert war, in seinem Atem nicht gewachsen fühlte, zu mir zurückgekommen war und ihn bei dem Führer gelassen hatte.

Dementsprechend begab sich der Major nach dem Essen, als Jemmy ausgegangen war, um sich den Fluß anzusehen, zum Bürgermeisteramt und kam kurz darauf in Begleitung eines militärisch aussehenden Herrn mit Degen und Sporen, Dreimaster, gelbem Schulterriemen und einer Menge langer Schnüre, die ihm ziemlich unbequem sein mußten, zurück. Der Major sagt zu mir:

»Der Engländer liegt noch immer in demselben Zustand da, teuerste Madam. Dieser Gentleman wird uns zu ihm führen.«

Daraufhin zieht der militärische Herr seinen Dreimaster vor mir, und ich bemerkte, daß er sich die Stirn wie Napoleon Bonaparte ausrasiert hatte, aber er sah ihm trotzdem nicht ähnlich.

Wir verließen den Gasthof durch das Hoftor, gingen an den großen Türen der Kathedrale vorbei und in eine enge Straße, wo die Leute schwatzend vor den Ladentüren saßen und die Kinder ihre Spiele trieben. Der militärische Herr ging voraus und blieb vor einem Schlächterladen stehen, in dessen Schaufenster sich eine kleine Statue eines sitzenden Ferkels befand, während aus der Flurtür ein Esel herausschaute.

Als der Esel den militärischen Herrn sah, glitt er auf das Pflaster hinaus, um sich besser umdrehen zu können, und polterte dann den Flur entlang in einen Hinterhof. Da jetzt also die Luft rein war, wurden der Major und ich die Treppe hinauf in das Vorderzimmer des zweiten Stocks geführt. Es war ein kahler Raum mit einem Fußboden aus roten Ziegelsteinen, und die Jalousien vor dem Fenster waren dicht geschlossen, um das Zimmer dunkel zu halten. Als der militärische Herr die Jalousien aufzog, sah ich den Turm, auf dessen Spitze ich Jemmy erblickt hatte und um den sich in dem hereinbrechenden Abend die Schatten sammelten, und ich wandte mich dem Bett an der Wand zu, wo ich den Engländer wahrnahm.

Es war eine Art Nervenfieber, was er gehabt hatte; seine Haare waren gänzlich ausgegangen, und ein paar zusammengefaltete feuchte Tücher lagen auf seinem Kopf. Ich betrachtete sein abgezehrtes Gesicht mit größter Aufmerksamkeit, während er mit geschlossenem Mund dalag, dann sagte ich zu dem Major:

»Ich habe dieses Gesicht nie zuvor gesehen.«

Der Major sah ihn ebenfalls sehr aufmerksam an und sagte:

»Ich ebensowenig.«

Als der Major unsere Worte dem militärischen Herrn erklärte, zuckte dieser Gentleman die Achseln und zeigte dem Major die Karte, auf dem das von dem Vermächtnis an mich geschrieben stand. Die Worte waren mit zitternder, schwacher Hand im Bett geschrieben worden, und ich kannte die Schrift ebensowenig wie das Gesicht. Dem Major erging es ebenso.

Obwohl der arme Mensch ganz allein dalag, war er doch so gut versorgt, wie man es nur wünschen konnte, und er hätte sowieso in seinem Zustand nichts davon gemerkt, wenn jemand an seiner Seite gesessen hätte. Ich ließ durch den Major mitteilen, daß wir für eine Weile in der Stadt blieben und daß ich morgen wiederkommen würde, um ein wenig am Bett des Kranken zu wachen. Aber gleichzeitig veranlaßte ich ihn hinzuzufügen, und dabei schüttelte ich energisch den Kopf, um der Versicherung Nachdruck zu verleihen:

»Wir sind uns beide einig, daß wir dieses Gesicht niemals zuvor gesehen haben.«

Unser Junge war sehr erstaunt, als wir ihm am Abend im Sternenlicht auf dem Balkon die Sache erzählten. Er brachte einige von den Geschichten über frühere Mieter vor, die der Major niedergeschrieben hatte, und fragte, ob es nicht dieser oder jener sein könnte. Aber es stimmte alles nicht, und so gingen wir zu Bett.

Am Morgen, gerade als wir beim Frühstück saßen, kam der militärische Herr angeklirrt und sagte, der Doktor wäre der Ansicht, gewisse Zeichen deuteten darauf hin, der Kranke werde vor dem Ende wieder ein wenig zu sich kommen. Daraufhin sagte ich zu dem Major und Jemmy:

»Ihr beiden Jungens geht und amüsiert euch, während ich mein Gebetbuch nehmen und hingehen will, um an seinem Bett zu sitzen.«

So ging ich also und setzte mich an sein Bett. Es verflossen einige Stunden, während deren ich ab und zu für den armen Menschen ein Gebet las, und es war schon ziemlich spät am Tag, als er auf einmal seine Hand bewegte.

Er hatte bisher so still dagelegen, daß mir die Bewegung sofort zu Bewußtsein kam. Ich setzte meine Brille ab, legte mein Buch hin und stand auf, um nach ihm zu sehen. Nach der einen Hand begann er beide zu rühren, und dann bewegte er sich wie ein Mensch, der im Dunkeln umhertastet. Obwohl seine Augen schon lange geöffnet waren, lag doch ein Nebel über ihnen und er tastete immer noch nach dem Weg ins Licht hinaus. Aber ganz allmählich wurden seine Augen klarer und seine Hände hielten inne. Er sah die Zimmerdecke, er sah die Wand, er sah mich. Während seine Blicke klar wurden, fiel es auch mir wie Schuppen von den Augen, und als wir schließlich einander ins Gesicht sahen, fuhr ich zurück und rief leidenschaftlich aus:

»Oh, Sie ruchloser, ruchloser Mensch! Ihre Sünde ist Ihnen heimgezahlt worden!«

Denn im selben Augenblick, wie wieder Leben in seinen Augen war, hatte ich ihn erkannt. Es war Mr. Edson, Jemmys Vater, der Jemmys junge, unvermählte Mutter so grausam betrogen und verlassen hatte – das arme, liebevolle Geschöpf, das in meinen Armen gestorben war und mir Jemmy hinterlassen hatte.

»Sie grausamer, ruchloser Mensch! Sie gewissenloser, schurkischer Betrüger!«

Mit den geringen Kräften, die ihm noch geblieben waren, machte er einen Versuch, sich auf sein elendes Gesicht herumzudrehen und es zu verbergen. Jedoch sanken ihm Arm und Kopf schlaff herab und hingen zum Bett heraus, und so blieb er vor mir liegen, an Leib und Seele vernichtet. Ein Anblick, wie man ihn sich jämmerlicher nicht denken konnte!

»Oh, heiliger Himmel«, sagte ich weinend, »gib mir ein, was ich diesem gebrochenen Menschen sagen soll! Ich bin ein armes, sündiges Geschöpf, und es steht mir nicht zu zu richten.«

Als ich meine Augen zu dem klaren, leuchtenden Himmel erhob, sah ich den hohen Turm, auf dem Jemmy über den kreisenden Vögeln gestanden und auf dieses selbe Fenster niedergesehen hatte, und es kam mir vor, als ob der letzte Blick seiner armen hübschen jungen Mutter, als ihre Seele sich erhellte und ihre irdischen Fesseln abstreifte, von seiner Spitze herunterleuchtete!

»Oh, Mensch, Mensch, Mensch!« sagte ich und fiel neben dem Bett auf die Knie nieder; »wenn Ihr Herz zerrissen ist und Sie Ihre Tat wahrhaft bereuen, dann wird unser Erlöser noch Erbarmen mit Ihnen haben.«

Als ich mein Gesicht gegen das Bett lehnte, fand seine schwache Hand gerade noch die Kraft, mich zu berühren. Ich hoffe, es war eine reumütige Berührung. Er versuchte, mein Kleid zu fassen und festzuhalten, aber seine Finger waren zu schwach, um sich schließen zu können.

Ich hob ihn wieder auf das Kissen zurück und sagte zu ihm:

»Können Sie mich hören?«

In seinen Augen las ich eine bejahende Antwort.

»Kennen Sie mich?«

In seinen Augen stand eine noch deutlichere Bejahung.

»Ich bin nicht allein hier. Der Major ist mit mir. Sie erinnern sich an den Major?«

Ja. Das heißt, er gab in derselben Weise wie zuvor eine bejahende Antwort mit seinen Augen.

»Und auch der Major und ich sind nicht allein da. Mein Enkel – sein Patenkind – ist mit uns. Hören Sie wohl? Mein Enkel.«

Seine Finger versuchten abermals meinen Ärmel zu erfassen, doch konnten sie nur bis in die Nähe kommen und fielen dann schlaff nieder.

»Wissen Sie, wer mein Enkel ist?«

Ja.

»Ich bemitleidete und liebte seine einsame Mutter. Als seine Mutter im Sterben lag, sagte ich zu ihr: ›Meine Liebe, dieser Kleine ist einer kinderlosen alten Frau geschickt worden.‹ Er ist seitdem stets meine Freude und mein Stolz gewesen. Ich liebe ihn so innig, als hätte er an meiner Brust getrunken. Möchten Sie meinen Enkel sehen, bevor Sie sterben?«

Ja.

»Geben Sie mir ein Zeichen, wenn ich mit meiner Rede zu Ende bin, ob Sie alles, was ich sagte, richtig verstanden haben. Wir haben ihm die Geschichte seiner Herkunft verheimlicht. Er weiß nichts davon, ahnt die Wahrheit nicht. Wenn ich ihn an die Seite dieses Bettes bringe, wird er glauben, Sie wären ein ganz fremder Mensch. Es steht nicht in meiner Macht, ihn vor dem Wissen zu bewahren, daß es auf der Welt solches Unrecht und solches Elend gibt; aber daß es ihm je so nahe war, als er noch als unschuldiges Kind in der Wiege lag, das habe ich vor ihm verheimlicht und verheimliche es noch vor ihm und werde es in alle Zukunft vor ihm verheimlichen, um seiner Mutter und um seiner selbst willen.«

Er zeigte mir, daß er meine Worte vollkommen verstand, und Tränen rannen aus seinen Augen.

»Nun gönnen Sie sich etwas Ruhe, und dann sollen Sie ihn sehen.«

Ich reichte ihm ein wenig Wein und brachte sein Bett in Ordnung. Jedoch begann ich zu fürchten, daß Jemmy und der Major zu spät zurückkommen könnten. Ich war so von diesem Gedanken und von meiner Tätigkeit in Anspruch genommen, daß ich einen Schritt auf der Treppe überhörte und erschreckt emporfuhr, als ich auf einmal den Major mitten im Zimmer stehen sah. Er war durch die Augen des Mannes im Bett an seine Stelle gebannt worden und hatte ihn in diesem Augenblick erkannt, wie ich ihn kurze Zeit zuvor erkannt hatte.

In dem Gesicht des Majors drückten sich Zorn, Abscheu, Entsetzen und zahllose andere Empfindungen aus. Ich ging zu ihm hin und führte ihn an das Bett, und als ich meine Hände faltete und sie emporhob, tat der Major das gleiche.

»O Gott im Himmel«, sagte ich, »du weißt, was wir beiden von dem Leiden und dem Herzweh der jungen Frau, die jetzt bei dir ist, mit angesehen haben. Wenn dieser Sterbende wirkliche Reue empfindet, dann richten wir beide zusammen in Demut die Bitte an dich, barmherzig gegen ihn zu sein!«

Der Major sagte: »Amen!« und nach einer kurzen Pause flüsterte ich ihm zu:

»Lieber alter Freund, holen Sie unseren geliebten Jungen.«

Und der Major, der klug genug war, um alles zu verstehen, ohne daß ich ihm ein Wort gesagt hätte, ging und holte ihn.

Nie, nie in meinem ganzen Leben werde ich das schöne, lebenerfüllte Gesicht unseres Jungen vergessen, als er am Fußende des Bettes stand und auf seinen unbekannten Vater blickte. Wie sehr glich er in diesen Minuten seiner lieben jungen Mutter!

»Jemmy«, sagte ich, »ich habe alles über diesen armen Herrn, der so krank ist, herausgefunden. Er hat wirklich einmal in unserem Haus gewohnt, und da er jetzt, wo sein Ende naht, gern alles sehen möchte, was damit in Verbindung steht, so habe ich nach dir geschickt.«

»Ach, armer Mann!« sagte Jemmy, indem er vortrat und eine seiner Hände mit der größten Behutsamkeit berührte. »Das Herz tut mir um ihn weh. Armer, armer Mann!«

Die Augen, die sich so bald für immer schließen sollten, richteten sich auf mich, und ich war nicht so stark bei allem Stolz auf meine Festigkeit, daß ich ihnen hätte widerstehen können.

»Mein liebster Junge, aus einem bestimmten Grund in der geheimen Geschichte dieses deines Mitmenschen, der jetzt so daliegt, wie die Besten und die Schlechtesten unter uns alle eines Tages daliegen müssen, würde es ihm, wie ich glaube, in seiner letzten Stunde Erleichterung verschaffen, wenn du deine Wange auf seine Stirn legen und sagen würdest: ›Möge Gott Ihnen verzeihen!‹«

»O Großmutter«, sagte Jemmy aus vollem Herzen, »ich bin dessen nicht würdig!«

Aber er beugte sich nieder und tat es. Da gelang es den zitternden Fingern endlich, meinen Ärmel zu erfassen, und ich glaube, er versuchte mein Kleid zu küssen, als er seinen Geist aufgab.

So, meine Liebe! Da haben Sie die Geschichte meines Vermächtnisses in ihrer ganzen Länge, und sie ist zehnmal die Mühe wert, die ich mit ihrer Abfassung gehabt habe, wenn Sie so freundlich sind, Gefallen daran zu finden.

Vielleicht glauben Sie, daß uns dieses Erlebnis die kleine französische Stadt Sens verleidete, aber das war nicht der Fall. Sooft ich zu dem hohen Turm, der auf dem anderen Turm sitzt, emporblickte, stiegen in meiner Seele die Tage wieder empor, als das schöne junge Geschöpf mit ihrem hübschen blonden Haar mir wie einer Mutter vertraute, und die Erinnerung ließ mir den Ort so voller Frieden erscheinen, daß ich es nicht wiedergeben kann. Auch schloß jedermann im Hotel bis herab zu den Tauben im Hof mit Jemmy und dem Major Freundschaft und unternahm mit ihnen alle möglichen Ausflüge in allen möglichen Wagen, die von unruhigen Karrenpferden gezogen wurden und an denen der Straßenschmutz die Farbe und Stricke das Geschirr bildeten. Jeder neue Freund war wie ein Fleischer in Blau gekleidet, jedes neue Pferd stand auf den Hinterbeinen und versuchte, jedes andere Pferd zu verschlingen, und jeder Mann, der eine Peitsche hatte, knallte und knallte mit ihr, als wäre er ein Schuljunge, der zum erstenmal eine geschenkt bekommen hat.

Was den Major angeht, meine Liebe, so verbrachte er den größten Teil seiner Zeit mit einem kleinen Wasserglas und einer Flasche leichten Weins in der anderen Hand, und sowie er ein paar andere Leute mit einem kleinen Wasserglas sah, mochte es sein, wer da wollte – der militärische Herr mit den Schnüren oder das Gasthofgesinde beim Abendbrot im Hof oder ein paar Einwohner der Stadt, die plaudernd auf einer Bank saßen, oder ein paar Landleute, die nach Schluß des Markts wieder nach Hause fuhren –, da stürzte der Major auf sie zu, stieß mit ihnen an und rief: Holla! Vive der und der! oder vive das und das!, als hätte er den Verstand verloren. Und wenn ich diese Aufführung des Majors auch nicht ganz billigen konnte, so muß man doch bedenken, daß die Lebensgewohnheiten in jedem Land anders sind. Und wenn er schön auf offenem Platz mit einer Dame, die einen Barbierladen hatte, tanzte, so bin ich der Ansicht, daß der Major recht daran tat, so gut er konnte zu tanzen und den Tanz mit einer Energie aufzuführen, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Freilich beunruhigten mich ein wenig die barrikadenhaften Schreie, die die übrigen Tänzer und der Rest der Gesellschaft ausstießen, bis ich schließlich Jemmy fragte:

»Was rufen sie denn bloß, Jemmy?«

Worauf Jemmy erwiderte:

»Sie rufen, Großmutti: Bravo der militärische Engländer! Bravo der militärische Engländer!«

Das tat meinen Gefühlen als Britin sehr wohl, und diese Bezeichnung wurde der allgemeine Name des Majors.

Aber zu einer ganz bestimmten Zeit an jedem Abend saßen wir alle drei draußen auf dem Balkon des Hotels am Ende des Hofes, blickten zu dem rosiggoldenen Licht empor, wie es auf den hochragenden Türmen langsam seine Farben wechselte, und beobachteten die Schatten der Türme, wie sie sich immer mehr auf alles um uns herum, uns selbst eingeschlossen, verbreiteten, und was meinen Sie wohl, was wir da taten? Sollten Sie es glauben, meine Liebe, daß Jemmy einige von den Geschichten mitgebracht hatte, die der Major nach den Erzählungen von früheren Mietern in Norfolk Street einundachtzig aufgezeichnet hatte, und daß er sie mit folgenden Worten hervorzog:

»Hier, sieh einmal her, Großmutti! Sieh einmal her, Pate! Mehr Geschichten! Ich werde lesen. Und obwohl du sie für mich geschrieben hast, Pate, weiß ich doch, daß du nichts dagegen haben wirst, wenn ich sie der Großmutti übergebe, nicht wahr?«

»Nein, mein lieber Junge«, meinte der Major. »Alles, was wir besitzen, gehört ihr, und wir selbst gehören ihr.«

»Wir sind immer herzlichst und ergebenst die ihrigen, J. Jackman und J. Jackman Lirriper«, rief der junge Schelm, mich fest in die Arme schließend. »Nun gut also, Pate. Sieh einmal her. Da Großmutti gerade dabei ist, Vermächtnisse zu empfangen, so sollen diese Geschichten einen Teil von Großmuttis Vermächtnis bilden. Ich will sie ihr überlassen. Was sagst du dazu, Pate?«

»Hip hip hurra!« schrie der Major.

»Also gut«, rief Jemmy ganz aufgeregt. »Vive der militärische Engländer! Vive die Lady Lirriper! Vive der Jemmy Jackman Ditto! Vive das Vermächtnis! Paß auf, Großmutti. Und paß du auch auf, Pate. Ich werde lesen. Und ich will euch sagen, was ich außerdem tun werde. Am letzten Abend unseres Ferienaufenthalts hier, wenn unsere Sachen gepackt und wir fertig zur Abreise sind, da werde ich mit etwas Eigenem herauskommen.«

»Vergiß es nicht, mein Freund«, sagte ich.

* * *

Zweites Kapitel.
Mrs. Lirriper berichtet, wie Jemmy herauskam

Nun, meine Liebe, so brachten uns die abendlichen Vorlesungen der Schreibübungen des Majors schließlich bis zu dem Abend, an dem unsere Sachen gepackt und wir zur Abreise am folgenden Tag fertig waren. Ich versichere Ihnen, daß ich, obwohl es eine köstliche Erwartung war, das liebe alte Haus in Norfolk Street wieder zu Gesicht zu bekommen, mittlerweile eine hohe Meinung von dem französischen Volk bekommen und bemerkt hatte, daß sein Familienleben viel einfacher und häuslicher und seine Ansprüche viel bescheidener und liebenswürdiger waren, als man mich hatte erwarten lassen. Besonders – das sage ich Ihnen unter uns – in einer Sache könnten die Franzosen einem anderen Volk, das ich nicht nennen will, zum Vorbild dienen, und zwar in dem Mut, mit dem sie sich mit geringen Mitteln und kleinen Dingen ihre kleinen Freuden verschaffen und es nicht dulden, daß feierliche große Tiere sie aus der Fassung bringen oder so lange auf sie einreden, bis sie ganz wirr im Kopf werden. In bezug auf diese besagten feierlichen großen Tiere bin ich stets der Meinung gewesen, daß man sie sämtlich einzeln in Kessel stecken, die Deckel aufsetzen und nie wieder herauslassen sollte.

»Nun, junger Mann«, sagte ich zu Jemmy, als wir an diesem Abend unsere Stühle auf den Balkon herausnahmen, »erinnere dich gefälligst daran, wer ›herauskommen‹ wollte.«

»Ganz recht, Großmutti«, erwiderte Jemmy. »Ich bin diese hervorragende Persönlichkeit.«

Aber während er mir diese scherzhafte Antwort gab, machte er ein so ernstes Gesicht, daß der Major seine Augenbrauen gegen mich und ich meine Augenbrauen gegen den Major erhob.

»Großmutti und Pate«, sagte Jemmy, »ihr könnt euch kaum vorstellen, wie sehr mich Mr. Edsons Tod beschäftigt hat.«

Das gab mir einen kleinen Ruck.

»Ja«, sagte ich, »es war ein trauriger Augenblick, mein Lieber, und traurige Erinnerungen haften stärker als fröhliche. Aber dies«, fügte ich nach einem kleinen Schweigen hinzu, um mich und den Major und Jemmy ein bißchen aufzumuntern, »ist nicht ›herausgekommen‹. Erzähle uns deine Geschichte, mein Kind.«

»Das will ich«, sagte Jemmy.

»Wann spielt sie, mein Freund?« fragte ich. »Einst vor einer Zeit, als Ferkel Wein tranken?«

»Nein, Großmutti«, sagte Jemmy immer noch ernst. »Einst vor einer Zeit, als die Franzosen Wein tranken.«

Abermals sah ich den Major an und der Major mich.

»Kurz, Großmutti und Pate«, sagte Jemmy aufblickend, »sie spielt in unserer Zeit, und ich bin im Begriff, euch Mr. Edsons Geschichte zu erzählen.«

In welche Aufregung ich geriet! Und wie der Major die Farbe wechselte!

»Das heißt, müßt ihr verstehen«, sagte unser helläugiger Junge, »ich bin im Begriff, euch meine Auffassung davon zu geben. Ich werde nicht fragen, ob sie richtig ist oder nicht, erstens, weil du sagtest, du wüßtest sehr wenig davon, Großmutti, und zweitens, weil das wenige, was du wußtest, ein Geheimnis war.«

Ich faltete die Hände im Schoß und wandte kein Auge von Jemmy, während er seine Geschichte vortrug.

»Der unglückliche Mann«, begann Jemmy, »von dem unsere gegenwärtige Erzählung handelt, war der Sohn von irgend jemand, wurde irgendwo geboren und ergriff irgendeinen Beruf. Mit diesem Teil seines Lebens haben wir es nicht zu tun, sondern mit seiner frühen Zuneigung zu einer jungen und schönen Dame.«

Ich glaubte, ich müßte ohnmächtig werden. Ich wagte nicht, nach dem Major hinzublicken, aber ich wußte, auch ohne ihn anzusehen, in welchem Zustand er war.

»Der Vater unseres unter einem unglücklichen Gestirn geborenen Helden«, fuhr Jemmy fort, wie es mir schien, den Stil einiger seiner Lesebücher kopierend, »war ein weltlich gesinnter Mensch, der ehrgeizige Pläne für seinen einzigen Sohn hatte und sich der beabsichtigten Verbindung mit einer tugendhaften, aber mittellosen Waisen entschieden widersetzte. Ja, er ging so weit, unserem Helden rundweg zu erklären, entweder er schlüge sich seine zärtliche Neigung aus dem Kopf oder er würde enterbt werden. Zur selben Zeit schlug er ihm die Tochter eines begüterten Gentleman aus der Nachbarschaft vor, die weder häßlich noch unliebenswürdig und in finanzieller Hinsicht eine unbestreitbar gute Partie war. Aber der junge Mr. Edson, treu der ersten und einzigen Liebe, die sein Herz entflammt hatte, ließ alle Rücksichten auf weltliche Vorteile außer acht, richtete einen respektvollen Brief an seinen Vater, um seinen Zorn zu besänftigen, und ging mit ihr auf und davon.«

Meine Liebe, ich hatte begonnen, mich ein wenig besser zu fühlen, aber als es zum Aufunddavongehen kam, wurde mir wieder schlimmer.

»Das Liebespaar«, fuhr Jemmy fort, »floh nach London und wurde am Altar der St.-Clement's Danes-Kirche getraut. Und in diesem Abschnitt ihrer einfachen, aber rührenden Geschichte finden wir sie als Einwohner in dem Haus einer hochgeehrten und geliebten Dame, die zwanzig Meilen von Norfolk Street entfernt lebt.«

Ich fühlte, daß wir jetzt beinahe in Sicherheit waren; ich fühlte, daß der liebe Junge nichts von der bitteren Wahrheit argwöhnte. Ich atmete tief auf und blickte den Major zum erstenmal an. Der Major nickte mir zu.

»Da der Vater unseres Helden«, fuhr Jemmy fort, »unerbittlich blieb und seine Drohung erbarmungslos wahr machte, hatte das junge Paar in London schwer um sein Dasein zu ringen. Es wäre ihnen noch schlimmer ergangen, wenn ihr guter Engel sie nicht in das Haus jener Dame geführt hätte. Diese erriet ihre Armut trotz ihrer Bemühungen, sie vor ihr geheimzuhalten, glättete voller Zartgefühl auf tausenderlei Art ihren rauhen Weg und machte ihnen die Bitterkeit ihrer ersten Not erträglicher.«

Hier nahm Jemmy eine meiner Hände und begann, die Wendepunkte seiner Geschichte dadurch zu bezeichnen, daß er von Zeit zu Zeit mit meiner Hand auf seine andere Hand schlug.

»Nach einiger Zeit verließen sie das Haus jener Dame und suchten ihr Glück mit wechselndem Erfolg anderswo. Aber bei allem, was ihnen das Schicksal bescherte, mochte es gut oder böse sein, waren die Worte Mr. Edsons an seine schöne junge Lebensgefährtin stets: ›Unwandelbare Liebe und Treue wird uns durch alles hindurchhelfen!‹«

Als ich diese Worte, die in so schmerzlichem Widerspruch zu der Wahrheit standen, vernahm, zitterte meine Hand in der des lieben Jungen.

»Unwandelbare Liebe und Treue«, wiederholte Jemmy, als ob er eine Art stolzer Freude an den Worten hätte, »wird uns durch alles hindurchhelfen! So sprach er. Und so erkämpften sie sich ihren Weg, arm, aber tapfer und glücklich, bis Mrs. Edson ein Kind gebar.«

»Eine Tochter«, sagte ich.

»Nein«, sagte Jemmy, »einen Sohn. Und der Vater war so stolz auf ihn, daß er ihn kaum aus den Augen lassen konnte. Aber eine dunkle Wolke lagerte sich über ihr Glück. Mrs. Edson erkrankte, wurde schwächer und schwächer und starb.«

»Ah! Erkrankte, wurde schwächer und schwächer und starb!« sagte ich.

»Und so war Mr. Edsons einziger Trost, seine einzige Hoffnung auf Erden und das einzige, was ihn zur Tätigkeit anspornte, sein geliebter Junge. Als der Kleine heranwuchs, wurde er seiner Mutter so ähnlich, daß er ihr lebendes Abbild war. Der Kleine pflegte sich deshalb zu wundern, warum sein Vater weinte, wenn er ihn küßte. Aber unglücklicherweise glich er auch in der Gesundheit seiner Mutter, und er starb, bevor er noch aus den Kinderjahren heraus war. Da ließ Mr. Edson in seiner Verlassenheit und Verzweiflung alle die guten Fähigkeiten, die er besaß, ungenutzt. Er wurde gleichgültig gegen alles und ließ sich gehen. Ganz allmählich sank er immer tiefer und tiefer, bis er sich schließlich (wie ich glaube) fast ganz dem Glücksspiel hingab. Da überfiel ihn in der Stadt Sens in Frankreich eine Krankheit, und er legte sich nieder um zu sterben. Aber jetzt, wo er dalag und sein Leben fast abgeschlossen war, blickte er über die Zeit hinweg, wo er die Erinnerung mit Asche bedeckt hatte, auf die schöne Vergangenheit hin und dachte dankbar an jene gute Dame in England, die er längst aus den Augen verloren hatte. Er erinnerte sich, wie freundlich sie zu ihm und zu seinem jungen Weib in der ersten Zeit nach der Hochzeit gewesen war, und hinterließ ihr das wenige, was er besaß, als ein letztes Vermächtnis. Als die Dame aber herbeigeholt wurde, um ihn zu sehen, erkannte er sie zuerst ebensowenig, wie sie aus den Ruinen eines griechischen oder römischen Tempels erkennen würde, wie er vor der Zerstörung aussah; aber schließlich kam ihr die Erinnerung zurück. Und dann sagte er ihr unter Tränen, wie sehr er diejenigen Jahre seines Lebens, die er nutzlos vergeudet hatte, bereue, und bat sie, so milde wie möglich darüber zu denken, weil sich schließlich selbst darin noch seine unwandelbare Liebe und Treue zeige. Und weil sie ihren Enkel bei sich hatte und er der Meinung war, daß sein Knabe, wenn er am Leben geblieben wäre, ihm hätte ähnlich werden können, bat er sie, daß der Knabe seine Stirn mit der Wange berühren und bestimmte Abschiedsworte zu ihm sprechen solle.«

Jemmys Stimme war ganz leise geworden, als die Erzählung so weit gediehen war, und Tränen füllten meine Augen und die des Majors.

»Du kleiner Hexenmeister«, sagte ich, »wie hast du das alles bloß herausgefunden? Geh hinein und schreibe es wörtlich nieder, denn es ist ein wahres Wunder.«

Das tat Jemmy auch, und ich habe es Ihnen nach seiner Niederschrift wiederholt, meine Liebe.

Darauf nahm der Major meine Hand, küßte sie und sagte:

»Teuerste Madam, wir haben in allem Glück gehabt.«

»Ah, Major«, sagte ich, mir die Augen wischend, »wir hätten keine Angst zu haben brauchen. Wir hätten es wissen können. Strahlende Jugend denkt nicht an Verrat, sondern an Vertrauen und Mitleid, an Liebe und Beständigkeit – daran denkt sie, dem Himmel sei Dank!«

* * *


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