Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band
Charles Dickens

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Herrn Pickwicks Erzählung.

Zweites Kapitel

Wir haben Will Marks verlassen, wie er mit der Stadt zugekehrtem Gesichte unter dem Galgen lehnte und mit scharfem Auge, welches die Finsternis zu durchdringen und Alles, was sich ihm nähern mochte, ehestens zu erschauen suchte, die Entfernung durchspähte. Aber Alles war ruhig, und außer dem Heulen des Windes, wenn er stoßweis über die Heide fegte, und dem Klirren der Ketten, die sich über seinem Haupte bewegten, unterbrach kein Laut die öde Stille der Nacht. Nach einer halben Stunde oder etwas darüber wurde diese Eintönigkeit unserem Will beengender, als das wüthendste Getümmel gewesen sein würde, und er wünschte sich sehnsüchtig irgend einen Gegner, mit dem er sich hätte messen können, wäre es auch nur, um sich zu erwärmen. Um die Wahrheit zu sagen – der Wind war schneidend und schien einem Manne, dessen vom raschen Reiten erhitztes Blut für die Kälte besonders empfindlich war, bis in's Mark zu schneiden. Will war ein wagehalsiger Bursche und kümmerte sich keinen Deut um harte Stöße oder scharfe Klingen; er konnte es jedoch nicht über sich gewinnen, sich Bewegung zu machen, oder umherzugehen, denn er machte sich alle Augenblicke auf einen plötzlichen Angriff gefaßt, und für einen solchen Fall war es ein tröstlicher Gedanke, den Rücken gedeckt zu haben, wäre es auch nur durch den Galgen. Er theilte nicht sonderlich den Aberglauben seiner Zeit, aber das, was davon in ihm haftete, diente nicht besonders dazu, ihm die Zeit zu kürzen oder seine Lage leidlicher zu machen. Er erinnerte sich der Sage, daß Hexen in der Geisterstunde sich auf Kirchhöfen, unter Galgen und an ähnlichen unheimlichen Orten einfänden, um das blutige Alräunchen zu pflücken oder das Fleisch von den Knochen der Todten zu kratzen, als ausgesuchte Ingredienzien für ihre Zaubermischungen, oder daß sie sich bei Nacht an einsame Plätze stählen, mit ihren Fingernägeln die Gräber aufscharrten, oder sich vor ihrem Luftritt mit einer köstlichen Pomade aus dem Fette kürzlich gekochter Kinder salbten. Diese und viele andere fabelhafte Erzählungen von nicht viel angenehmerer Beschaffenheit, welche alle auf seinen gegenwärtigen Zustand irgend einen Bezug hatten, beschäftigten in rascher Reihenfolge Will Mark's Gehirn, und indem sie dem Argwohn und der Wachsamkeit, welche seine Lage mit sich führte, eine unbestimmte Furcht beimischten, machten sie die Stimmung des nächtlichen Wächters zu einer ziemlich unbehaglichen. Auch begann, wie vorauszusehen gewesen, der Regen in schweren Strömen niederzufallen, und da er vor dem Winde wie ein dicker Nebel hertrieb, so verdunkelte er auch noch die wenigen Gegenstände, welche früher noch unvollkommen sichtbar gewesen waren.

»Sieh!« schrie jetzt eine Stimme. »Gütiger Himmel, er ist herunter gefallen und steht aufrecht da!«

Der Sprecher war dicht hinter ihm – die Stimme tönte fast vor seinem Ohre. Will warf seinen Mantel ab, zog sein Schwert, machte eine rasche Wendung und faßte ein Weib am Arme, welches mit einem furchtbaren Angstschrei zurückfuhr und, sich sträubend, in die Kniee sank. Ein anderes Weib, gleich der Ergriffenen im Trauergewande, stand wie in die Erde gewurzelt da und sah ihm mit so wirren, funkelnden Augen in's Gesicht, daß er sich ganz darüber entsetzte.

»Sagt,« rief Will, als sie sich eine Zeitlang so gegenüber gestanden hatten, »wer seid ihr?«

»Sagt, wer Ihr seid,« entgegnete das Weib, »daß Ihr selbst diesen häßlichen Ruheplatz der Todten stört und den Galgen seiner geehrten Last beraubt? Wo ist die Leiche?

Er blickte verwundert und erschrocken von der Fragerin auf die Andere, deren Arm er umfaßt hielt.

»Wo ist die Leiche?« wiederholte die Erstere noch fester als zuvor. »Ihr tragt keine Livree, welche Euch als einen Miethling der Regierung bezeichnet. Ihr seid keiner unserer Freunde, sonst würde ich Euch kennen, denn die Freunde von unseres Gleichen sind gering an der Zahl. Wer seid Ihr also und warum finden wir Euch hier?«

»Ich bin kein Feind der Unglücklichen und Hilflosen,« versetzte Will. »Gehört ihr unter diese Zahl? Euer Aussehen scheint es wenigstens anzudeuten.«

»Wir gehören darunter,« lautete die Antwort.

»Seid ihr es, die unter dem Schutze der Nacht hieher kommen, um hier zu weinen und zu wehklagen?« fuhr Will fort.

»Es ist so,« entgegnete das Weib und deutete, während sie so sprach, auf ihre Begleiterin; »sie trauert um einen Gatten und ich um einen Bruder. Selbst das blutige Gesetz, das mit seiner Rache nicht einmal die Todten verschont, erklärt dieß für kein Verbrechen: und wenn es auch wäre, was würde es uns kümmern – uns, die wir nichts mehr davon zu fürchten oder zu hoffen haben.«

Will blickte auf die zwei Weiber und konnte nur mit Mühe unterscheiden, daß die eine, mit welcher er gesprochen, viel älter, die andere aber ein junges Geschöpf von schwächlichem Körperbau war. Todtenblässe lagerte auf ihren Gesichtern; ihre Kleider waren durchnäßt und abgetragen, ihr loses Haar flog im Winde, und sie selbst waren von Gram und Elend niedergedrückt; ihr ganzes Aeußere verrieth niedergedrückte, unglückliche, verlorene Wesen. Ein Anblick, so verschieden von dem, welchem er zu begegnen erwartet hatte, rührte ihn im Innersten der Seele, und jeder andere Gedanke, als der des Mitleids mit ihrer bedauerungswürdigen Lage, war verschwunden.

»Ich bin nur ein rauher, derber Freisasse,« erwiderte Will, »und warum ich hier bin, läßt sich in kurzen Worten sagen. Man hat euch des Nachts in der Entfernung gehört, und ich stehe hier, um auf Hexen oder Geister zu passen. Ich erwartete ein Abenteuer und war auf Alles gefaßt. Wenn ich euch übrigens in Etwas helfen oder beistehen kann, so sagt es, und bei dem Worte eines Mannes, auf dessen Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit ihr bauen dürft, ich will euch beistehen bis in den Tod.«

»Wie kommt es, daß dieser Galgen leer ist?« fragte die ältere der beiden Weibspersonen.

»Ich schwöre es Euch,« erwiderte Will, »daß ich so wenig davon weiß, als Ihr. So viel ist mir übrigens bekannt, daß er bereits vor etwa einer Stunde, als ich hierher kam, eben so war, wie er jetzt ist. Wenn dieß, wie ich aus Eurer Frage entnehme, gestern Abend nicht der Fall war, so bin ich überzeugt, daß hier im Geheimen etwas vorgegangen ist, wovon die Leute in der Stadt dort keine Kunde haben. Besinnt Euch daher, ob Ihr keine Freunde habt oder ob er, an dem das Gesetz sein Schlimmstes gethan, nicht mit Leuten in Verbindung stand, welche vielleicht seine Ueberreste abgenommen haben, um dieselben zu beerdigen.

Die Weiber sprachen mit einander, und Will trat etliche Schritte zurück, um ihr leises Gespräch nicht zu stören. Er konnte sie ächzen und schluchzen hören und sah, daß sie in vergeblichem Schmerz die Hände rangen. Aus dem, was sie sprachen, wußte er nur wenig zu machen, doch konnte er aus einigen Worten so viel entnehmen, daß er mit seiner Muthmaßung ziemlich die Wahrheit getroffen, und daß sie nicht nur zu wissen glaubten, wer die Leiche entfernt, sondern auch wohin man sie gebracht hatte. Nachdem sie lange mit einander geredet, wandten sie sich wieder nach Will um. Dießmal ergriff die Jüngere von den beiden Frauen das Wort.

»Ihr habt uns Eure Hilfe angeboten?«

»Ja.«

»Und Euer Wort zum Pfande gegeben, das Ihr jetzt nicht zurückzunehmen gedenkt?«

»Ja; so ferne man mir in der Sache mit Comploten und Verschwörungen auf Armslänge vom Leibe bleibt.«

»So folgt uns, Freund.«

Will, der inzwischen wieder seine ganze Fassung gewonnen hatte, ließ sich nicht zweimal auffordern, sondern folgte den beiden Weibern, das gezogene Schwert in der Hand und den Mantel in einer Weise um seinen linken Arm gewickelt, daß er ihm als eine Art von Schild diente, ohne seine freie Bewegung zu hemmen. Sie gingen schweigend eine volle Meile weit, durch Dick und Dünn, durch Wind und Regen. Endlich gelangten sie zu einem dunklen Feldwege, wo unter der Obhut eines Mannes drei gesattelte Pferde standen, welche unter einigen Bäumen Schutz gegen das Unwetter gefunden hatten. Der Mann wies, nach einem kurzen Flüstern mit den Frauenzimmern, Will eines der Thiere (augenscheinlich sein eigenes) an, und sobald dieser sah, daß seine Begleiterinnen in den Sattel stiegen, saß er gleichfalls auf.

Sie hielten nicht inne, sondern ritten in raschem Trabe weiter, bis sie in der Nähe von Putney anlangten. Vor einem großen hölzernen Hause, das von den übrigen gesondert stand, stiegen sie ab, übergaben ihre Pferde einem Mann, der bereits ihrer wartete, traten durch eine Seitenthüre ein und gingen einige enge, knarrende Treppen hinauf, nach einem kleinen getäfelten Zimmer, wo Will allein gelassen wurde. Er war noch nicht sehr lange hier, als sich die Thüre leise aufthat und ein Cavalier eintrat, dessen Gesicht durch eine schwarze Maske bedeckt war.

Will war auf der Hut und musterte diese Gestalt vom Kopf bis zu den Füßen. Das Aeußere derselben bekundete einen Mann von ziemlich vorgerücktem Alter, obgleich seine Haltung noch fest und stattlich war. Er trug ein reiches und kostbares Gewand; aber es war so beschmutzt und in Unordnung, daß man darin kaum einen jener prunkenden Anzüge erkennen konnte, welche der verschwenderische Geschmack und die Mode Leuten von Rang und Stand vorschrieb. Seine Stiefel waren mit Spornen versehen; auch zeigte er eben so viele Merkmale der schlechten Wege, als Will selbst. All' dieß bemerkte er, während die Augen hinter der Maske ihn mit gleicher Aufmerksamkeit betrachteten. Als die gegenseitige Musterung eine Weile gedauert hatte, unterbrach der Cavalier das Schweigen.

»Du bist jung und kühn, und möchtest wohl gerne reicher werden, als du bist?«

»Mit den beiden erstgenannten Punkten hat es seine Richtigkeit,« versetzte Will; »an das Letztere habe ich jedoch kaum gedacht, obgleich ich nichts dagegen einzuwenden habe. Angenommen also, ich möchte gerne reicher werden, als ich bin – was weiter?«

»Der Weg dazu liegt jetzt vor dir,« entgegnete die Maske.

»Zeigt ihn.«

»Zuerst muß ich dir mittheilen, daß du diese Nacht hierher gebracht wurdest, um nicht zu bald den Leuten, welche dich auf jene Wache gestellt haben, Bericht erstatten zu können.«

»Ich dachte mir das schon auf dem Wege,« sagte Will; »doch ich bin kein Plauderer – gewiß nicht.«

»Gut,« erwiederte die Maske. »Jetzt höre. Derjenige, welcher mit der Beerdigung der Leiche, von welcher du vermuthetest, sie sei in der letzten Nacht abgenommen worden, beauftragt wurde, hat uns in unserer Noth verlassen.«

Will nickte mit dem Kopfe und machte sich in seinem Innern Gedanken, wenn die Maske es versuchen wollte, ihm einen Streich zu spielen, so dürfte das erste Schnürloch auf der linken Seite seines Wamses, von den Vorderknöpfen an gerechnet, ein ganz passender Ort sein, um hübsch hinein stechen zu können.

»Du bist einmal hier, und der Fall ist ein verzweifelter. Ich schlage dir die Ausführung des Geschäfts vor. Führe die Leiche, die hier in diesem Hause eingesargt ist, morgen Abend auf eine Weise, welche ich dir bezeichnen werde, nach der Kirche von Sanct Dunstan in London, und du sollst einen reichen Lohn für deinen Dienst erhalten. Du willst fragen, um wessen Leiche es sich handelt? Suche es nicht zu erfahren. Ich rathe dir wohlmeinend, verlange es nicht zu wissen. Auf jedem Moor, auf jeder Haide sind Verbrecher in Ketten aufgehangen. Du magst mit Andern glauben, daß es ein solcher war; nach mehr brauchst du nicht zu fragen. Die Mordthaten der Staatspolitik, ihre Opfer, oder ihre Rächer bleiben für deines Gleichen am besten unbekannt.«

»Das Geheimniß, welches diesen Dienst umgiebt,« sagte Will, »bekundet, wie sehr er mit Gefahr verbunden ist. Welche Belohnung ist dadurch zu gewinnen?«

»Hundert Goldstücke,« versetzte der Cavalier. »Die Gefahr ist für einen Mann, den man nicht als den Freund einer gefallenen Sache kennt, nicht groß, und daher auch von einem besondern Wagniß keine Rede. Entschließe dich daher, und die Belohnung soll dir nicht entgehen.«

»Wenn ich mich aber weigerte?« sprach Will.

»So ziehe in Gottes Namen ruhig von dannen,« erwiederte die Maske in einem melancholischen Tone, »und bewahre unser Geheimniß; denn du darfst nicht vergessen, daß diejenigen, welche dich hierher brachten, von Schmerz und Kummer gebeugte Weiber waren, und daß man dich frei von dannen ließ, obgleich es nur eines Wortes bedurfte, dir das Leben zu nehmen, ohne daß ein Hahn darnach gekräht hätte.«

Die Männer waren damals weit bereitwilliger, auf verzweifelte Abenteuer einzugehen, als heut zu Tage. In dem gegenwärtigen Falle war die Versuchung groß, und selbst wenn eine Entdeckung folgte, so konnte die Strafe nicht sehr strenge sein, da Will einer loyalen Familie angehörte und sein Onkel in einem guten Rufe stand; auch ließ sich leicht eine annehmbare Fabel ersinnen, womit er die Art, wie er in den Besitz der Leiche gekommen, erklären, und seine völlige Unkenntniß der Person, welche er weiter schaffte, darthun konnte. Der Cavalier theilte ihm mit, daß zu dem genannten Zwecke ein bedeckter Karren bereit stehe, daß man die Zeit seines Aufbruches in einer Weise bestimmen könne, welche es möglich mache, Cambridge in der Dunkelheit zu erreichen und den Weg durch die City bei Nacht fortzusetzen, daß an dem Ziele seiner Fahrt Leute bereit wären, um den Sarg ohne Zögerung in einer Gruft zu bestatten, und daß er vorwitzige Nachfrager auf der Straße leicht durch die Angabe zurückschrecken könne, er führe die Leiche eines an der Pest Gestorbenen zu ihrem Beerdigungsort: mit einem Worte, er gab ihm lauter Gründe für die Wahrscheinlichkeit des Erfolges, keinen aber für die Möglichkeit eines Mißlingens an. Nach einer Weile stellte sich auch ein anderer Herr ein, welcher wie der erste maskirt war und den bereits mitgetheilten Argumenten, noch weitere beifügte; die unglückliche Gattin des Hingerichteten unterstützte die ruhigen Vorstellungen der Männer durch Thränen und Bitten, und so ließ sich am Ende Will durch sein Mitleid und seine Gutmüthigkeit, durch seine Liebe zum Wunderbaren, durch eine schadenfrohe Vorahnung des Schreckens der Bewohner von Kingston, wenn sie ihn am andern Tag vermißten, und endlich durch die Aussicht auf Gewinn veranlassen, sich der Aufgabe zu unterziehen und seine ganze Thatkraft einer erfolgreichen Durchführung zu weihen.

Am folgenden Abend, als es bereits ganz dunkel war, hallte das hohle Echo der alten Londonbrücke das Geholper des Karrens wieder, welcher die unserm Will Marks anvertraute unheimliche Bürde führte. Hinreichend verkleidet, um durch seinen Anzug keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ging Will neben dem Kopfe des Pferdes her, so unbekümmert, als ein Mann nur sein konnte, welcher, trotz seiner Kühnheit und Zuversichtlichkeit, fühlte, daß er jetzt auf dem gefährlichsten Punkte seines Unternehmens angelangt wäre.

Es war acht Uhr. Nach neun Uhr konnte sich Niemand ohne Lebensgefahr auf den Straßen blicken lassen, und selbst zu dieser Stunde waren Raub und Mord keine ungewöhnlichen Ereignisse. Die Laden auf der Brücke waren geschlossen; die niedrigen hölzernen Bogen, welche den Weg kreuzten, glichen eben so vielen dunkeln Löchern, in welchen übelgesinnte Kerle in Gruppen zu dreien und vieren lauerten; Einige paßten an die Mauer gelehnt, Andere schlichen in den Thorwegen umher, aus welchen sie ihre ungekämmten Köpfe und ihre finsteren Augen hervorsteckten; wieder Andere gingen in der Straße hin und her und stießen ohne Unterlaß sowohl gegen das Pferd, als gegen den Mann an, um einen Streit herbei zu führen, während etliche Weitere hinweggeschlichen und durch ein leises Pfeifen ihre Kameraden herbeiriefen. Einmal vernahm sogar Will während dieser kurzen Wanderung den Lärm von Händeln und das Klirren von Schwertern hinter sich; da er aber die City und ihre Straßen kannte, so ließ er sich dadurch nicht stören und wandte kaum seinen Kopf um.

Der Regen der vorigen Nacht hatte die ungepflasterten Straßen in einen vollkommenen Morast verwandelt, woran auch die Wassergüsse aus den Giebelrinnen nebst dem Schmutze und dem Kehricht aus den Häusern keinen geringen Antheil hatten. Da der letztere Unrath liegen blieb, um in der dicken und schweren Luft zu verwesen, so erzeugte er einen unerträglichen Gestank, zu welchem noch jeder Hof und jeder Winkel das Seinige beitrug. Selbst die Hauptstraßen mit ihren vorspringenden und wankenden Stockwerken, welche die Aussicht nach dem Himmel fast ganz versperrten, glichen an vielen Stellen mehr ungeheuren Schornsteinen, als offenen Wegen. Hin und wieder brannten an den Ecken große Feuer, um die Fortpflanzung der Pest zu verhindern, an welcher, wie die Sage ging, kürzlich einige Bürger gestorben wären; und Wenige, welche das ihnen in dieser Weise gebotene Licht benützten, um einen Augenblick umher zu schauen, wären wohl geneigt gewesen, das Vorhandensein dieser Krankheit zu bezweifeln, oder sich über die Möglichkeit einer so schrecklichen Heimsuchung zu verwundern.

Doch waren es nicht gerade diese Scenen, und nicht einmal der tiefe Schmutz des Weges, was Will Marks Fortschritten das Haupthinderniß in den Weg legten, sondern Geier und Raben (die einzigen Straßenreiniger der City) suchten Nahrung, und da sie witterten, was er führte, so folgten sie dem Karren, flatterten auf ihn nieder und gaben zu erkennen, daß sie Kunde hatten von seiner Last und wie gierig sie auf die Beute waren. Hin und wieder sah man in der Ferne eine Feuersbrunst, wovon die ärmlichen Holz- und Gypswohnungen wild verzehrt wurden, und tobende Banden zogen dahin, nach dem Raube lechzend und wie losgelassene Teufel brüllend, indem sie Alles niederschlugen, was in ihren Bereich kam. Man traf auf einzelne Menschen, welche sich vor den Bösewichtern flüchteten, während ihnen Letztere mit bloßen Schwertern nachsetzten und wie eine Koppel blutdürstiger Hunde auf sie Jagd machten; da sah man betrunkene, tollkühne Räuber aus ihren Löchern kriechen und über die offene Straße wanken, wo niemand sie zu belästigen wagte; dort kehrten vagabundirende Diener von dem Bärengarten zurück, wo den Tag über eine große Hatz stattgefunden hatte, und zogen ihre zerrissenen und blutenden Rüden hinter sich her, oder ließen sie an dem Wege sterben und verfaulen. Das Auge traf auf nichts, als auf Grausamkeit, Gewaltthat und Unordnung.

Will Marks wurde oft von diesen Nachtschwärmern angehalten, denen er nicht selten nur mit knapper Noth entrann. Bald wollte sich ein vierschrötiger Raufbold auf den Karren setzen, indem er verlangte nach seinem eigenen Hause gefahren zu werden, und bald kamen etliche Kerle heran, welche ihm unter Bedrohung seines Lebens befahlen, ihnen zu zeigen, was er hier fortschaffe. Einmal begegnete ihm die Stadtwache, welche die Runde über seinen Weg führte, und da sie mit seiner Erzählung nicht zufrieden war, so verhörte sie ihn streng und rächte sich an ihm durch etliche Rippenstöße für die üble Behandlung, welche sie denselben Abend von anderen Seiten erhalten hatte. Alle diese Angriffe mußten zurückgewiesen werden, was ihm bald durch gute, bald durch böse Worte, bisweilen aber auch durch tüchtige Hiebe gelang; denn Will war nicht der Mann, der sich, nachdem er einmal so weit gekommen war, anhalten oder zum Umkehren zwingen ließ, und obgleich es mit seiner Fahrt nur langsam ging, so kam er doch die Fleetstraße hinab und gelangte endlich zu der Kirche. Wie ihm zuvor angedeutet worden, war alles in Bereitschaft. Sobald er Halt machte, wurde der Sarg durch vier Männer abgenommen, welche so plötzlich zum Vorschein kamen, daß sie aus der Erde hervorgeschossen zu sein schienen. Ein Fünfter stieg auf den Karren und fuhr schnell von dannen, indem er Will kaum so viel Zeit ließ, ein kleines Bündel an sich zu nehmen, das diejenigen seiner Kleider enthielt, welche er bei Gelegenheit seiner Maskerade abgelegt hatte. Will hat weder den Karren, noch den Mann je wieder gesehen.

Er folgte der Leiche in die Kirche, und es war gut, daß er damit keine Zeit verlor, denn die Thüre wurde unmittelbar hinter ihm abgeschlossen. In der Kirche befand sich kein weiteres Licht, als das, welches von ein paar Fackeln in den Händen zweier Männer ausströmte, die, in Mäntel gehüllt, an dem Rande der Gruft standen. Auf Jeden derselben stützte sich eine weibliche Gestalt, und Alles beobachtete ein tiefes Schweigen.

Unter dieser düstern und feierlichen Beleuchtung, bei welcher es Will vorkam, als sei das Licht selbst die Leiche und die düsterblickenden Bogen ihr Grab, senkten sie mit unbedeckten Häuptern den Sarg in die Gruft und verschlossen dieselbe. Einer der Fackelträger wandte sich sodann an Will und hielt ihm einen Beutel mit Gold entgegen. Der letztere fühlte augenblicklich in seinem Innern, daß dieß dieselben Augen wären, welche er unter der Maske gesehen hatte.

»Nimm das,« sprach der Cavalier mit dumpfer Stimme, »und sei glücklich. Obgleich dieß eine schleunige Beerdigung war und kein Priester das Volk einsegnete, so wirst du doch nicht weniger Frieden haben, weil du seine Gebeine an der Seite seiner kleinen Kinder niederlegtest. Sei behutsam, sowohl um deiner selbst, als um unserer Willen, und Gott geleite dich.«

»Der Segen einer verwittweten Mutter auf dein Haupt, wackerer Junge!« rief die jüngere Dame unter Thränen; »der Segen einer Unglücklichen, der keine Hoffnung mehr bleibt, und die ihre Ruhe erst in diesem Grabe wieder finden wird!«

Will blieb mit dem Beutel in der Hand stehen und machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle er ihn wieder zurückgeben, denn, obgleich ein gedankenloser Bursche, war sein Charakter doch edel und großmüthig. Die beiden Herren löschten jedoch ihre Fackeln aus und riethen ihm, sich zu entfernen, da ihre gemeinschaftliche Sicherheit durch eine längere Zögerung gefährdet würde; zugleich hörte man die Fußtritte der sich Entfernenden durch die Kirche schallen. Er wandte sich daher nach der Stelle, durch welche er eingetreten war, und durch einen matten Strahl in der Entfernung erkennend, daß die Thüre wieder etwas geöffnet war, tappte er in dieser Richtung fort und gelangte auf die Straße.

Inzwischen war die Ortsobrigkeit von Kingston die ganze verwichene Nacht wach geblieben. Hin und wieder war es ihnen, als würden schauerliche Angstrufe durch den Wind zu ihren Ohren getragen, wobei sie sich gegenseitig zublinzelten, näher an das Feuer rückten und die Gesundheit der einsamen Schildwache tranken, auf welche ein anwesender Geistlicher wegen ihres Leichtsinns und jugendlichen Uebermuths gar nicht gut zu sprechen war. Zwei oder drei der Ernstesten in der Gesellschaft, welche sich etwas in theologicis umgesehen hatten, legten ihm die Frage vor, ob ein solcher Charakter nicht zu armselig für den Einzelkampf mit dem Teufel bewaffnet sei, und ob er selbst nicht einen kräftigeren Gegner abgegeben haben würde; aber der geistliche Herr verwies ihnen scharf die Anmaßung, solche Fragen an ihn zu stellen, und zeigte deutlich, daß ein passenderer Kämpe als Will kaum hätte aufgefunden werden können, nicht nur weil er ein Kind des Satans sei, und daher wahrscheinlich durch das Auftreten seines eigenen Vaters nicht sonderlich beunruhigt werde, sondern auch, weil Satan sich in einer solchen Gesellschaft nicht geniren und wohl kein Bedenken tragen würde, so kräftig auszuschlagen, wie er es ganz gewiß vor priesterlichen Augen nie wagen dürfte, unter deren Einfluß er ja bekanntermaßen ganz zahm und degenmäßig werde.

Als jedoch der nächste Morgen und mit ihm kein Will Marks kam, als sich ferner eine starke Abtheilung (stark genug, um am hellen Tage ein solches Wagniß bestehen zu können) an Ort und Stelle begab, und fand, daß Will fort und der Galgen leer war – da wurde die Sache in der That sehr ernstlich. Der Tag verging, ohne daß Nachricht einlief, die Nacht verschwand gleichfalls, ohne Kunde zu bringen – und der Vorgang wurde noch schrecklicher. Mit einem Worte, die ganze Umgegend arbeitete sich zu einer so behaglichen Höhe von Unheimlichkeit und Entsetzen hinan, daß es eine große Frage bleibt, ob man sich nicht allgemein unangenehm getäuscht fühlte, als Will am zweiten Morgen wieder zum Vorschein kam.

Wie dem übrigens sein mag, Will kam sehr ruhig und gefaßt zurück, und schien sich nicht viel um Jemand anders, als um den alten John Podgers zu kümmern, der, als man nach ihm schickte, auf dem Rathhaus zu Windsor saß, in bedächtigen Reden seine Meinung zum Besten gab und zwischen hinein sein Schläfchen hielt. Sobald Will seinen Onkel umarmt und von seinem Wohlbefinden sich überzeugt hatte, stieg er auf einen Tisch und erzählte dem großen Haufen seine Geschichte.

Und gewiß, es hätte der unverständigste Haufen sein müssen, welcher je zusammengelaufen, wenn er durch die vorgetragene Geschichte auch nur im mindesten enttäuscht worden wäre; denn außer der Beschreibung des Hexentanzes bis auf die geringste Bewegung der Beine, welche Will mittelst eines Besenstiles pantomimisch auf dem Tische anschaulich machte, erzählte er auch, wie sie den Gehängten in einem Kupferkessel entführt und ihn selbst so behext hätten, daß er ganz vom Bewußtsein kam, bis er sich, wenigstens zehn Meilen von der Stelle, unter einer Hecke fand, von wo aus er, wie sie ihn sähen, geradewegs wieder zurückgekehrt sei. Die Geschichte fand so allgemeinen Beifall, daß sie bald nachher durch einen Expressen nach London an den großen Hexenaufspürer seiner Zeit, den himmelgebornen Hopkins überbracht wurde, welcher dieselbe, nachdem er Will noch besonders über einzelne Punkte genau in's Verhör genommen, für die außerordentlichste und glaubwürdigste Hexengeschichte, von welcher man je gehört hatte, erklärte. Unter diesem Titel wurde sie auch bei den »Dreibibeln« auf der Londonbrücke in klein Quart, nebst der Ansicht des Hexenkessels nach einer Originalzeichnung und einem Porträt des geistlichen Herrn, wie er beim Feuer sitzt, veröffentlicht.

Hinsichtlich eines Punkts nahm sich jedoch Will sehr in Acht, nämlich in der Beschreibung der von ihm gesehenen Hexen, welche er als drei unmögliche alte Weiber schilderte, wie sie nie ihres Gleichen hatten, noch haben werden. So rettete er das Leben der verdächtigen Personen und aller übrigen alten Frauen, welche wegen Identitätsnachweisung vor ihn geschleppt wurden.

Dieser Umstand machte John Podgers viel Kummer und Sorge, bis er zufälligerweise eines Tages seiner Haushälterin nachsah und die Entdeckung machte, daß sie augenscheinlich an einem Rheumatismus litt, weßhalb er Anstalt traf, daß sie als eine unzweifelhafte Hexe verbrannt wurde. Für dieses Verdienst um das Staatswohl erhielt er unmittelbar die Ritterwürde, und nannte sich von dieser Zeit an Sir John Podgers.

Will Marks fand nie den Schlüssel zu dem Geheimnisse, bei welchem er mitgewirkt hatte, und eben so wenig eine Inschrift in der Kirche, welche er nachher oft besuchte. Auch die vorsichtigen Fragen, welche er wagen durfte, führten zu keinem Aufschlusse. Da er seine Thätigkeit bei der Sache nicht veröffentlichen durfte, so sah er sich auch genöthigt, mit seinem Gelde sparsam und behutsam umzugehen. Im Laufe der Zeit heirathete er die bereits erwähnte junge Dame (wir haben ihren Namen nirgends aufgezeichnet gefunden), mit welcher er ein gesegnetes und glückliches Leben führte. Viele Jahre nach diesem Abenteuer pflegte er ihr in stürmischen Nächten zu sagen, es liege ein großer Trost für ihn in dem Gedanken, daß jene Gebeine, wem immer sie angehört haben mochten, nicht in den wildbewegten Lüften bleichten, sondern neben dem Staube derjenigen, welche dem unglücklichen Opfer im Leben theuer gewesen, im ruhigen Grabe moderten.



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