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An dem bestimmten Tage machte ich mich wieder auf den Weg nach Miß Havishams Wohnung, und auf mein zaghaftes Schellen am Thore kam Estella heraus, um mir zu öffnen. Sie verschloß, wie das letzte Mal, das Thor, nachdem sie mich eingelassen, und führte mich dann wieder in den finstern Gang, wo ihr Licht stand. Sie nahm keine Notiz von mir, bis sie das Licht in der Hand hatte, wo sie hochmüthig über ihre Schulter blickte und indem sie sagte: »Du sollst heute hierher kommen,« mich nach einem ganz andern Theile des Hauses führte.
Es war ein langer Gang, der im Erdgeschosse sich um das ganze Viereck des Herrenhauses hinzuziehen schien. Doch gingen wir nur an einer Seite des Vierecks entlang, und am Ende derselben stand sie still, setzte ihr Licht hin und öffnete eine Thür. Hier herrschte wieder Tageshelle und ich sah mich in einem kleinen gepflasterten Hofe, dessen mir gegenüberliegende Seite von einem allein stehenden Wohnhause gebildet wurde, welches aussah, als ob es einst dem Geschäfts- oder Buchführer in der ehemaligen Brauerei gehört habe. In der äußern Mauer dieses Hauses befand sich eine Uhr. Doch wie die Wanduhr in Miß Havishams Zimmer und wie ihre Taschenuhr, war sie zwanzig Minuten vor neun Uhr stehen geblieben.
Wir gingen durch die Hausthür, welche offen stand, und traten in ein düsteres Zimmer mit niedriger Decke, welches auf der Hinterseite des Hauses im Erdgeschosse lag. Es war Besuch im Zimmer, und Estella sagte zu mir, indem sie sich zu demselben gesellte:
»Geh, und stelle Dich da drüben hin, Junge, bis man Dich braucht.«
»Drüben« war am Fenster und so ging ich dorthin und stand »drüben«, und schaute in sehr ungemüthlicher Stimmung zum Fenster hinaus.
Dasselbe ging bis auf den Fußboden hinunter und bot eine Aussicht auf einen traurigen Winkel des vernachlässigten Gartens, auf eine üppige Wildniß von Kohlstrünken und einen Buchsbaum, der vor langer Zeit einmal rund beschnitten worden und wie ein Pudding aussah: oben auf der Rundung war der Buchsbaum neu ausgeschlagen, doch in unregelmäßiger Form und verschiedener Farbe, was dem Pudding das Aussehen gab, als wäre dieser Theil in der Casserole kleben geblieben und sei angebrannt. Dies waren meine schlichten Gedanken, während ich den Buchsbaum betrachtete. Es war in der Nacht ein wenig Schnee gefallen, und derselbe lag meines Wissens nirgendwo mehr; doch war er in dem kalten Schatten dieses Gärtchens nicht geschmolzen, und der Wind trieb ihn in kleinen Wirbeln in die Höhe und gegen das Fenster, als ob er mich dafür, daß ich dort hingekommen, mit Schneeballen bewerfen wollte.
Ich errieth, daß mein Eintreten die Unterhaltung im Zimmer unterbrochen hatte, und daß die Anwesenden mich betrachteten. Ich konnte, außer dem Wiederscheine des Feuers im Fensterglase, nichts vom Zimmer sehen, aber das Bewußtsein, daß ich mich unter scharfer Beobachtung befand, machte alle meine Gelenke steif.
Es waren drei Damen und ein Herr im Zimmer. Doch hatte ich kaum fünf Minuten am Fenster gestanden, als sie mir schon, ich weiß nicht wodurch, den Eindruck machten, als ob sie Alle Schmeichler und Speichellecker seien, wobei doch Jeder that, als bemerke er dies nicht an dem Andern: denn hätte Er oder Sie dies zugelassen, so würde die Zulassung Ihn oder Sie ebenfalls zum Schmeichler und Speichellecker gestempelt haben.
Sie hatten Alle ein gleichgültiges, gelangweiltes Aussehen, als ob sie auf Jemandes Befehle oder Erlaubniß warteten, und die gesprächigste von den Damen mußte ganz gezwungen sprechen, um ihr Gähnen zu unterdrücken. Diese Dame, deren Name Camilla war, erinnerte mich sehr an meine Schwester, nur mit dem Unterschiede, daß sie älter war und (wie ich später entdeckte, als ich sie zu Gesicht bekam) eine stumpfere Gesichtsbildung hatte. Ja, als ich sie näher kennen lernte, begann ich zu finden, daß es eine Gnade war, daß sie überhaupt noch Züge besaß; so außerordentlich leer war die Fläche ihres Gesichts.
»Die arme, liebe Seele!« sagte diese Dame mit einer Verbissenheit, wie sie so ganz meiner Schwester eigen war. »Er ist keines Menschen Feind, als sein eigener!«
»Es würde viel lobenswerther sein, falls er der Feind von Jemand Anderm wäre,« sagte der Herr; »viel natürlicher.«
»Vetter John,« bemerkte eine andere Dame, »wir sollen unseren Nächsten lieben.«
»Sarah Pocket,« entgegnete Vetter John, »wenn ein Mann sich nicht selbst der Nächste ist, wer ist ihm da näher?«
Miß Pocket lachte, und Camilla lachte und sagte (einen Gähnanfall unterdrückend):
»Welch eine Idee!«
Aber mir schien, sie fanden die Idee doch eigentlich gut. Die andere Dame, welche bisher noch nicht gesprochen, sagte mit Ernst und Nachdruck:
»Sehr wahr!«
»Das arme Geschöpf!« fuhr Camilla nach einer kleinen Weile fort (ich wußte, daß sie mich Alle inzwischen unausgesetzt betrachtet hatten); »er ist so außerordentlich sonderbar! Sollte mans wohl glauben, daß er, als Toms Frau starb, nicht die Nothwendigkeit einsehen konnte, daß die Kinder den breitesten Kreppbesatz auf ihren Trauerkleidern trügen?«
»Mein Gott, Camilla,« sagte er, »was kann dies ausmachen, so lange die armen verwaisten kleinen Wesen in Schwarz sind? Das sieht dem Matthew so ähnlich! Solch eine Idee!«
»Er hat gute Seiten, sehr gute Seiten,« sagte Vetter John; »Gott verhüte, daß ich ihm seine guten Seiten abspräche; aber er hat nie den geringsten Begriff von Schicklichkeit gehabt, und wird ihn nie bekommen.«
»Ich war natürlich gezwungen,« sagte Camilla, »fest zu bleiben.« Ich sagte: Es geht durchaus nicht, um der Ehre der Familie willen. Ich sagte ihm, daß ohne den breiten Trauerbesatz die Familie entehrt sein würde. Ich weinte vom Frühstück bis Mittag drüber. Ich beeinträchtigte meine Gesundheit. Und endlich fuhr er auf seine heftige Weise auf und sagte, mit einem Fluche: ›Dann thu, was Du willst.‹ Ich danke Gott, daß ich immer das tröstende Bewußtsein haben werde, augenblicklich im fürchterlichsten Regengusse gegangen zu sein, um die Sachen zu kaufen.«
»Er bezahlte sie, nicht wahr?« sagte Estella.
»Es handelt sich nicht darum, wer sie bezahlte, mein liebes Kind,« entgegnete Camilla, »ich kaufte sie. Und es wird mir oft, wenn ich Nachts aufwache, zur Beruhigung gereichen.«
Der Schall einer fernen Handglocke, verbunden mit einem Rufen aus dem Gange her, den ich entlang gekommen, unterbrach hier die Unterhaltung, und Estella sagte zu mir: »Jetzt, Junge!« Als ich mich umwandte, sah ich, daß sie mich Alle mit der tiefsten Verachtung anblickten, und beim Hinausgehen hörte ich Sarah Pocket sagen:
»Na, wenn ich je so Etwas gesehen! Was wohl zunächst noch kommt!«
Und Camilla fügte entrüstet hinzu:
»Hat es je solche Einfälle gegeben! Welch eine Idee!«
Als wir mit unserem Lichte den finstern Gang entlang gingen, stand Estella plötzlich still, und indem sie sich umwandte, sagte sie, mit ihrem Gesichte dicht vor dem meinigen, in ihrer hochmütigen Manier:
»Nun?«
»Nun, Miß?« entgegnete ich, indem ich beinah über sie stolperte und schnell zurückwich.
Sie stand und sah mich an, und natürlich stand ich und sah sie ebenfalls an. »Bin ich hübsch?«
»Ja; ich denke, Sie sind sehr hübsch.«
»Bin ich beleidigend?«
»Nicht so sehr, wie das letzte Mal,« sagte ich.
»Nicht so sehr?«
»Nein.«
Sie wurde feuerroth, als sie die letzte Frage that, und als ich sie beantwortete, schlug sie mich mit aller ihrer Kraft ins Gesicht.
»Und nun?« sagte sie. »Du grobes kleines Unthier, was denkst Du jetzt von mir?«
»Ich werde es Ihnen nicht sagen.«
»Weil Du es oben sagen willst; darum etwa nicht?«
»Nein, das ist nicht der Grund,« sagte ich.
»Warum weinst Du nicht wieder, Du kleiner Wicht?«
»Weil ich Ihretwegen nie wieder weinen will,« sagte ich. Was, wie ich glaube, die unwahrste Erklärung war, welche je gemacht worden; denn im Herzen weinte ich schon in demselben Augenblicke ihretwegen, und ich weiß, welche Schmerzen sie mir später noch verursacht hat.
Nach diesem kleinen Zwischenfalle setzten wir unsern Weg fort, und als wir die Treppe hinaufgingen, begegnete uns ein Herr, welcher dieselbe herunterkam.
»Wen haben wir hier?« frug der Herr, indem er still stand und mich ansah.
»Einen Knaben,« sagte Estella.
Er war ein rundlicher Mann von außerordentlich dunkler Gesichtsfarbe, mit einem außerordentlich großen Kopfe und einer entsprechend großen Hand. Er faßte mein Kinn mit seiner großen Hand und wandte mein Gesicht zu sich hinauf, um mich bei Lichte zu besehen. Er war vorzeitig kahl auf dem Kopfe und hatte buschige schwarze Augenbrauen, welche nicht glatt liegen wollten, sondern sich wie Borsten erhoben. Seine Augen lagen ihm sehr tief im Kopfe und hatten etwas unangenehm Scharfes und Argwöhnisches. Er trug eine sehr große Uhrkette, und an den Stellen, wo sein Kinn- und Backenbart gewesen wäre, falls er dieselben hätte wachsen lassen, hatten die rasirten Haare starke schwarze Tupfen zurückgelassen. Er war mir fremd und gleichgültig, und ich konnte damals noch keine Ahnung haben, daß er jemals in nähere Beziehung zu mir kommen würde, aber ich hatte zufälliger Weise diese Gelegenheit, um ihn genau in Augenschein zu nehmen.
»Ein Knabe aus der Nachbarschaft, wie?« sagte er.
»Ja, Sir,« sagte ich.
»Wie kommst Du hierher?«
»Miß Havisham hat mich kommen lassen,« erklärte ich ihm.
»Nun sei hübsch artig. Ich habe ziemliche Erfahrung in Knaben, und Ihr seid eine böse Art. Hörst Du!« sagte er, indem er an der Seite seines großen Zeigefingers nagte und die Stirn gegen mich runzelte; »betrage Dich ordentlich!«
Mit diesen Worten ließ er mich los, – was mir sehr angenehm war, denn seine Hand roch nach parfumirter Seife – und ging die Treppe hinunter. Ich erging mich in Muthmaßungen, ob er wohl der Arzt sei. Doch nein, dachte ich, der Arzt konnte er nicht sein, sonst hätte er ein ruhigeres, einnehmenderes Wesen gehabt. Es blieb mir übrigens nicht viel Zeit, den Gegenstand ferner zu überlegen, denn bald waren wir in Miß Havishams Zimmer angelangt, wo sie selbst und Alles um sie her noch gerade ebenso war, wie ich es das letzte Mal gesehen. Estella ließ mich an der Thür stehen, wo ich blieb, bis Miß Havisham vom Toilettetische her die Blicke auf mich warf.
»So!« sagte sie, ohne erschrocken oder überrascht zu sein; »die Tage sind also vergangen, wie?«
»Ja, Madam, heute ist …«
»Schon gut! Schon gut!« sagte sie mit der ungeduldigen Bewegung ihrer Finger; »das will ich gar nicht wissen. Bist Du bereit zu spielen?«
Ich war genöthigt, in einiger Verlegenheit zu antworten:
»Ich glaube kaum, Madam.«
»Du magst nicht wieder Karten spielen?« frug sie mit einem prüfenden Blicke.
»O ja, Madam; das könnt ich schon, wenn man es von mir verlangte.«
»Da Dich dieses Haus alt und ernst macht,« sagte Miß Havisham ungeduldig, »und Du nicht gern spielen magst, willst Du da arbeiten?«
Ich konnte diese Frage mit besserem Muthe beantworten, als ich zu der vorigen Antwort gefunden hatte, und sagte, daß ich ganz dazu bereit sei.
»Dann geh in das Zimmer da drüben,« sagte sie, indem sie mit ihrer welken Hand auf eine Thür im Gange hinter mir deutete, »und warte dort, bis ich komme.«
Ich ging über den Gang und trat in das Zimmer, welches sie mir bezeichnet hatte. Auch aus diesem Zimmer war das Tageslicht vollkommen ausgeschlossen, und es herrschte in demselben ein dumpfer, betäubender Geruch. In dem feuchten, altmodischen Feuerroste des Kamins war ein Feuer angemacht worden, welches jedoch mehr auszugehen als zu brennen geneigt war, und der widerstrebende Rauch, welcher in dem Zimmer schwebte, schien kälter als die klare Luft – gerade wie unser Marschnebel. Gewisse winterlich aussehende Lichtendchen oben auf dem hohen Kaminsimse erleuchteten matt das Zimmer, oder besser ausgedrückt: unterbrachen auf matte Weise die Dunkelheit in demselben.
Das Gemach war geräumig und, wie ich nicht bezweifle, einst schön und stattlich gewesen; doch war jetzt jeder Gegenstand, den man darin unterscheiden konnte, mit Staub und Schimmel bedeckt und in einem zerbröckelnden Zustande. Der am meisten ins Auge fallende Gegenstand war ein langer Tisch, mit einem Tischtuch überdeckt, als ob man zu der Zeit, wo das Haus und alle Uhren darin stehen blieben, hier Vorbereitungen zu einem großen Festmahle getroffen gehabt. In der Mitte auf diesem Tischtuche stand eine Art von Tafelaufsatz; derselbe war so dicht mit Spinnegeweben behangen, daß seine Form ganz unkenntlich war, und als ich auf die gelbliche Fläche hinblickte, aus der er mir, wie ich mich erinnere, wie ein schwarzer Pilz herausgewachsen schien, sah ich Spinnen mit gesprenkelten Beinen und gedunsenem Körper darauf zu und daraus hervor eilen, als ob irgend ein Ereignis? von der größten öffentlichen Wichtigkeit sich soeben in der Spinnengemeinde zugetragen hätte.
Auch die Mäuse hörte ich hinter den Holzpaneelen rasseln, als ob dasselbe Ereigniß auch ihre Interessen anginge. Die schwarzen Käfer aber schienen von der Aufregung nicht berührt zu werden, und krochen auf eine gewichtige, ältliche Manier auf dem Herde umher, als ob sie kurzsichtig seien und schwer hörten, und mit einander auf keinem freundschaftlichen Fuße ständen.
Diese kriechenden Wesen hatten meine Aufmerksamkeit gefesselt, und ich beobachtete sie aus der Ferne, als Miß Havisham eine Hand auf meine Schulter legte. In der andern Hand hielt sie einen krückenartigen Stock, auf den sie sich stützte, und sie sah aus, wie die Hexe des Ortes.
»Hier«, sagte sie, mit dem Stabe auf den Tisch deutend, »wird man mich hinlegen, wenn ich todt bin. Und sie werden herkommen und mich beschauen.«
In der unbestimmten Befürchtung, sie werde sofort auf den Tisch steigen und gleich sterben – wie eine vollständige Verwirklichung der gespenstischen Wachsfigur auf dem Jahrmarkte – erbebte ich unter ihrer Berührung.
»Was ist dies – glaubst Du wohl?« frug sie mich, indem sie abermals mit ihrer Krücke zeigte. »Das da, wo die vielen Spinnengewebe sind?«
»Ich kann nicht errathen, was es ist, Madame.«
»Es ist ein großer Kuchen. Ein Hochzeitskuchen. Der meinige!«
Sie schaute mit wilden Blicken rund im Zimmer umher und sagte dann, auf mich gestützt, wobei ihre Hand meine Schulter drückte: »Komm, komm, komm! Führe mich, führe mich!«
Ich entnahm hieraus, daß die Arbeit, welche man von mir verlangte, darin bestehe, daß ich Miß Havisham fortwährend rund ums Zimmer führte. Demnach brach ich sofort auf, und wir gingen mit einer Geschwindigkeit dahin, die eine – auf meine unter diesem Dache zuerst gehabte Idee begründete – Nachahmung von Mr. Pumblechooks zweirädrigem Wagen hätte sein können.
Sie war physisch nicht sehr kräftig, und nach einer kleinen Weile sagte sie: »Langsamer!« Doch gingen wir noch immer mit ungeduldiger, unregelmäßiger Eile dahin, wobei sie mit der Hand meine Schulter faßte und mit den Lippen arbeitete und sich einbildete, daß wir schnell gingen, weil ihre Gedanken flogen. Nach einer kleinen Weile sagte sie: »Rufe Estella!« Ich ging also den Gang hinaus und brüllte diesen Namen, wie ich es das vorige Mal gethan. Als ich ihr Licht erblickte, kehrte ich zu Miß Havisham zurück, und dann setzten wir unsern Spaziergang ums Zimmer wieder fort.
Es wäre mir schon hinreichend unangenehm gewesen, falls Estella allein gekommen wäre, um unser Verfahren zu beobachten; da sie aber die drei Damen und den Herrn, welche ich unten gesehen, mitbrachte, wußte ich wirklich nicht, was ich thun sollte. In meiner Höflichkeit wollte ich stillstehen, aber Miß Havisham kniff meine Schulter, und wir marschirten vorwärts – und zwar meinerseits mit dem beschämenden Bewußtsein, daß die Zuschauer mir die Schuld hiervon geben würden.
»Meine liebe Miß Havisham,« sagte Miß Sarah Pocket, »wie wohl Sie aussehen!«
»Das ist nicht wahr,« erwiederte Miß Havisham. »Ich bin nichts als gelbe Haut und Knochen.«
Camillas Gesicht erheiterte sich, als Miß Pocket diese Zurückweisung erhielt; und sie murmelte, indem sie Miß Havisham mit kläglicher Miene betrachtete:
»Die arme liebe Seele! Wie könnte man erwarten, daß sie wohl aussähe? Solch eine Idee!«
»Und wie gehts Ihnen?« sagte Miß Havisham zu Camilla. Da wir eben gerade vor Camilla angelangt waren, wollte ich, wie etwas, das sich von selbst verstände, still stehen, aber Miß Havisham wollte nicht. Wir schritten weiter, und ich fühlte, daß ich Camilla ein Gräuel sei.
»Ich danke Ihnen, Miß Havisham,« sagte sie; »mir geht es so gut, wie sich dies erwarten läßt.«
»Wie? Was fehlt Ihnen?« fragte Miß Havisham mit außerordentlicher Schärfe.
»Nichts, das des Erwähnens werth wäre,« sagte Camilla. »Ich trage nicht gern meine Gefühle zur Schau, aber ich denke in der Nacht mehr an Sie, als sich mit meiner Gesundheit verträgt.«
»Dann denken Sie lieber nicht an mich,« gab Miß Havisham zurück.
»Das ist leicht gesagt!« bemerkte Camilla, indem sie auf liebenswürdige Weise ihr Schluchzen unterdrückte, wobei jedoch ihre Oberlippe zuckte und ihre Thränen überströmten. »Raymond ist mein Zeuge, welch eine Menge Ingwer und Sal volatile ich Nachts zu nehmen habe; er kann bezeugen, welches nervöse Zucken ich in den Beinen habe. Doch sind mir diese Gefühle des Erstickens und des nervösen Zuckens, wenn ich an Diejenigen denke, die ich liebe, gar nichts Neues. Könnte ich mein Herz weniger weich und liebreich machen, so würde ich mich einer bessern Verdauung und eines Nervensystems von Eisen zu erfreuen haben. Ich wollte wirklich, daß dem so wäre. Was aber Das betrifft, daß ich Nachts nicht an Sie denken soll – solch eine Idee!« Und hier folgte eine Thränenflut.
Der Raymond, auf den sie sich berief, war, wie ich vermuthete, der anwesende Herr, und in ihm sah ich zugleich den Gatten Camillas. Er kam ihr jetzt zu Hülfe und sagte mit tröstender, becomplimentirender Stimme:
»Meine liebe Camilla, jeder Mensch weiß, daß Deine Zärtlichkeit für Deine Angehörigen bereits in dem Grade Deine Gesundheit beeinträchtigt hat, daß eins Deiner Beine dadurch kürzer geworden ist, als das andere.«
»Ich wußte nicht,« sagte die ernste Dame, deren Stimme ich erst ein Mal vorher gehört, »daß es große Ansprüche an eine Person machen heißt, wenn wir an sie denken, meine Liebe.«
Miß Sarah Pocket, von der ich jetzt, da ich sie erblickte, wahrnahm, daß sie eine kleine, braune, verschrumpfte alte Dame war, deren kleines Gesicht Einen fast zu der Vermuthung berechtigte, es sei aus Wallnußschalen angefertigt, und die einen großen Mund – wie eine Katze, ohne die Barthaare – hatte, unterstützte die Bemerkung, indem sie sagte:
»In der That, nein, meine Liebe. Ahem!«
»Das Denken ist leicht genug«, sagte die ernste Dame.
»Was gäbe es wohl Leichteres, wie?« fuhr Miß Sarah Pocket fort.
»O ja, ja!« rief Camilla, deren gährende Gefühle von ihren Beinen in ihre Brust hinaufzusteigen schienen. »Das ist Alles sehr wahr! Es ist eine Schwäche von mir, so liebevoll zu sein, aber ich kann mir nicht helfen. Gewiß würde ich einer weit bessern Gesundheit genießen, wenn es anders mit mir wäre, dennoch aber wollte ich mein Gemüth nicht verändern, selbst wenn ich es könnte. Es verursacht mir allerdings viele Leiden, aber es ist mir auch, wenn ich in der Nacht aufwache, ein großer Trost, zu fühlen, daß ich ein solches Gemüth besitze.« Und hier folgte eine abermalige Thränenflut.
Miß Havisham und ich standen unterdessen nicht ein einziges Mal still, sondern fuhren fort, im Zimmer herum und wieder herum zu gehen, wobei wir bald die Kleider der Besuchenden streiften, bald die ganze Länge des düstern Zimmers zwischen ihnen und uns ließen.
»Da ist zum Beispiel Matthew!« sagte Camilla; »der sich nie um meine Blutsverwandtschaft kümmert, niemals herkommt, um sich nach Miß Havishams Befinden umzusehen. Ich habe stundenlang bewußtlos und mit zerschnittenem Schnürbande auf dem Sopha gelegen, mit dem Kopfe ganz auf der Seite und ganz aufgelöstem Haar, und meinen Füßen, ich weiß nicht wo –«
»Viel höher, als Dein Kopf, meine Liebe,« sagte Mr. Camilla.
»Ich bin wegen Matthews seltsamem, unbegreiflichem Betragen stundenlang in diesem Zustande gewesen, und es hat mir kein Mensch dafür gedankt.«
»Ich muß wirklich sagen, daß ich das wohl glauben will,« sagte die ernste Dame.
»Ja, siehst Du, meine Liebe,« sagte Miß Sarah Pocket (eine freundlich boshafte Person), »die Frage, die Du Dir selbst vorlegen solltest, ist die: von wem Du Dank dafür erwartetest, meine Liebe?«
»Ohne Dank oder sonst irgend Etwas dafür zu erwarten,« sagte Camilla, »bin ich stundenlang in diesem Zustande geblieben, und Raymond ist mein Zeuge, welche Erstickungsanfälle ich gehabt habe, und wie vollkommen nutzlos sich Ingwer und Sal volatile erwiesen. Man hat mich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße beim Clavierstimmer hören können, wo die armen, unwissenden Kinder geglaubt haben, es seien Tauben, die in der Ferne girrten – und jetzt hören zu müssen –«
Hier griff Camilla an ihren Hals, und fing, so zu sagen, eine chirurgische Untersuchung desselben an.
Als der Name Matthew erwähnt wurde, stand Miß Havisham still und sah die Sprechende an. Diese Veränderung hatte die Wirkung, daß sie Camillas chirurgischen Studien schnell ein Ende machte.
»Matthew wird am Ende doch zu mir kommen,« sagte Miß Havisham streng, »wenn man mich auf diesen Tisch da gelegt haben wird. Dort wird er stehen – da,« sagte sie, indem sie mit dem Stabe auf den Tisch schlug, »neben meinem Kopfe! Sie dort, Camilla, und dort Ihr Mann! Und hier Sarah Pocket und Georgiana dort! Und jetzt wißt Ihr Alle Eure Plätze, wenn Ihr kommen werdet, um Euch an meinem Anblicke zu weiden. Und jetzt geht!«
Bei Nennung jedes neuen Namens hatte sie an einer andern Stelle mit dem Stocke auf den Tisch geschlagen. Jetzt sagte sie: »Führe mich, führe mich!« und wir nahmen unsern Spaziergang wieder auf.
»Ich denke, es bleibt uns nichts weiter übrig, als zu gehorchen und zu gehen,« sagte Camilla. »Es ist immer schon Etwas, wenn auch nur auf so kurze Zeit, den Gegenstand unserer Liebe und Pflicht gesehen zu haben. Ich werde, wenn ich in der Nacht aufwache, mit trauriger Genugthuung daran denken. Ich wollte, Matthew könnte sich dieses Trostes erfreuen, aber er weist ihn von sich. Ich bin entschlossen, meine Gefühle nicht zur Schau zu tragen, aber es ist sehr hart, hören zu müssen, daß man kommt, um sich an dem Anblicke seiner Angehörigen zu weiden, und Befehl zu erhalten, zu gehen. Solch eine Idee!«
Da Mr. Camilla sich dazwischen legte, als Mrs. Camilla eine Hand auf ihre wogende Brust legte, so nahm diese Dame eine übernatürlich scheinende Festigkeit an, die mir die Absicht auszudrücken schien, sowie man sie nicht mehr sehen würde, hinzufallen und zu ersticken; worauf sie Miß Havisham ein Kußhändchen zuwarf und sich dann hinausgeleiten ließ, Sarah Pocket und Georgiana begannen einen heimlichen Streit, welche von ihnen die Letzte sein solle; doch war Sarah zu pfiffig, um sichs nehmen zu lassen, und tänzelte mit einer so künstlichen Geschwindigkeit um Georgiana herum, daß die Letztere voranzugehen gezwungen war. Darauf machte Sarah Pocket mit den Worten: »Gott sei mit Ihnen, meine liebe Miß Havisham! und einem mitleidsvollen Lächeln der Vergebung für die Schwächen der Uebrigen auf ihrem Wallnußschalen-Antlitz, ihren besonderen Abschiedseffect.
Während Estella ihnen hinunter leuchtete, fuhr Miß Havisham noch immer fort, mit der Hand auf meine Schulter gestützt ums Zimmer zu gehen, doch wurde ihr Schritt allmälig langsamer. Endlich stand sie vor dem Kaminfeuer still und sagte, nachdem sie ein paar Secunden lang hineingeschaut und für sich gemurmelt hatte:
»Dies ist mein Geburtstag, Pip.«
Ich war im Begriff, ihr meine Glückwünsche darzubringen, als sie ihren Stock erhob.
»Ich erlaube nicht, daß man seiner erwähnt. Weder Denen, die soeben hier waren, noch sonst irgend Jemand ist es erlaubt, zu mir davon zu sprechen. Sie kommen an dem Tage her, aber sie wagen nicht, davon zu sprechen.«
Natürlich machte ich keinen weitern Versuch, davon zu reden.
»An diesem Jahrestage, lange ehe Du geboren, wurde dieser verfallene Haufen« – bei welchen Worten sie mit ihrem Krückenstocke nach dem Haufen von Spinnegeweben auf dem Tische stieß, ohne ihn jedoch zu berühren – »hierher gebracht. Er und ich sind zusammen zerfallen. An ihm haben die Mäuse genagt, und an mir noch schärfere Zähne, als die der Mäuse.«
Sie drückte das obere Ende ihres Stocks, während sie stand und die Spinnegewebe anschaute, an ihr Herz; sie in ihrem einst weißen Kleide, so gelb und verblichen, und das einst weiße Tischtuch, so gelb und verblichen; und Alles rings umher in einem Zustande, daß es unter der leichtesten Berührung zusammenbröckeln mußte.
»Wenn der Verfall vollständig ist,« sagte sie mit einem gespenstischen Blicke, »und wenn sie mich in meinem Hochzeitskleide todt auf den Hochzeitstisch legen – was geschehen, und so den letzten Fluch auf ihn werfen soll – so ist es um so besser, wenn es an diesem Tage geschieht!«
Sie stand und schaute den Tisch an, wie wenn sie ihre eigene, dort liegende Gestalt betrachtet hätte. Ich verhielt mich ruhig. Estella kam zurück und auch sie blieb ruhig. Es schien mir eine lange Zeit, während welcher wir uns nicht rührten. In der schweren Luft des Zimmers und in der schweren Finsterniß, die in seinen äußersten Winkeln herrschte, kam mir sogar der beunruhigende Einfall, daß Estella und ich jetzt ebenfalls anfangen würden zu zerfallen.
Endlich sagte Miß Havisham, indem sie nicht allmälig, sondern ganz plötzlich aus ihrem abwesenden Zustande erwachte:
»Laßt mich sehen, wie Ihr Beide Karten spielt? warum habt Ihr noch nicht angefangen?«
Worauf wir in ihr Zimmer zurückkehrten und unsere Plätze wie das vorige Mal nahmen. Ich verlor, wie das vorige Mal, und wie das vorige Mal beobachtete Miß Havisham uns fortwährend, lenkte meine Aufmerksamkeit auf Estellas Schönheit, und machte dieselbe, indem sie abermals die Wirkung der Kleinode auf Estellas Hals und Haar versuchte, noch mehr ins Auge fallend.
Estella behandelte mich ebenfalls wie das vorige Mal, nur mit dem Unterschiede, daß sie sich nicht zu sprechen herabließ. Als wir ungefähr ein halbes Dutzend Spiele gemacht, wurde ein Tag bestimmt, an welchem ich wiederkommen sollte, und dann wurde ich in den Hof geführt, um auf dieselbe hundeartige Weise, wie das letzte Mal, dort gefüttert zu werden. Und wie das letzte Mal ließ man mich hier nach Gefallen umherwandern.
Es ist unerheblich, ob ein Pförtchen in jener Gartenmauer, an der ich das letzte Mal emporkletterte, um hinüber zu schauen, damals offen oder verschlossen war. Es genüge zu sagen, daß ich damals kein Pförtchen gesehen, jetzt aber eines erblickte. Da dasselbe offen stand und ich wußte, daß Estella die Fremden hinaus gelassen hatte – denn sie war mit den Schlüsseln in der Hand zurückgekehrt – trat ich in den Garten und schlenderte in demselben umher. Derselbe war eine wahre Wildniß und es befanden sich alte Melonen- und Gurkenbeete darin, die in ihrem Verfalle freiwillig einen matten Versuch in Hervorbringung alter Hüte und Stiefeln, und hier und dort eines unkrautähnlichen Ablegers einer zerbrochenen Casserole gemacht zu haben schienen.
Als ich den Garten und ein Gewächshaus durchstöbert hatte, in welchem letztern nichts zu sehen war, als ein herunter gesunkener Weinstock und einige Flaschen, sah ich, daß ich in dem öden Winkel war, auf den ich durchs Fenster hinausgeschaut hatte. Da ich keinen Augenblick daran zweifelte, daß das Haus jetzt leer sein würde, schaute ich durch ein anderes Fenster hinein und fand zu meinem großen Erstaunen, daß ein blasser junger Herr mit rothen Augenlidern und sehr hellem Haar, und ich, einander gerade ins Gesicht stierten.
Dieser blasse junge Herr verschwand plötzlich und stand im nächsten Augenblicke neben mir. Er war mit Büchern beschäftigt gewesen, als ich zu ihm hineingeschaut, und ich entdeckte jetzt, daß er dintenfleckig war.
»Holla!« sagte er; »junger Bursch!«
Da ich von »Holla« einsah, daß es eine Bemerkung ist, die sich am besten durch sich selbst beantwortet, so sagte auch ich: »Holla!« doch ließ ich höflicher Weise den »jungen Burschen« aus.
»Wer hat Dich hereingelassen?« sagte er.
»Miß Estella.«
»Wer hat Dir Erlaubniß gegeben, hier umherzustreifen?«
»Miß Estella.«
»Komm und boxe Dich mit mir,« sagte der blasse junge Herr.
Was konnte ich anders thun, als ihm folgen? Ich habe mir seitdem oft die Frage vorgelegt: aber was hätte ich Anderes thun können? Sein Wesen war so entschieden und ich so erstaunt, daß ich ihm folgte, wohin er mich führte, wie wenn ich unter einem Zauberbanne gewesen wäre.
»Aber warte einen Augenblick,« sagte er, sich, ehe wir noch viele Schritte gegangen waren, zu mir umwendend. »Ich muß Dir eine Ursache zum Boxen geben. Da hast Du sie.«
Mit diesen Worten schlug er auf höchst beleidigende Weise die Hände an einander, schlug geschickt mit einem Beine hinten aus, riß mich am Haar, schlug nochmals die Hände an einander, duckte den Kopf und stieß mir denselben in den Magen.
Dieses letztgenannte stierartige Verfahren war, außerdem, daß er sich unfraglich eine große Freiheit dadurch herausnahm, sogleich nach dem Genusse von Brod und Fleisch besonders unangenehm. Deshalb schlug ich auf ihn zu und wollte nochmals auf ihn zuschlagen, als er: »Aha, das willst Du?« sagte und auf eine Weise rück- und vorwärts zu tanzen anfing, wie sie mir in meiner beschränkten Erfahrung noch niemals vorgekommen.
»Die Gesetze der Kunst!« sagte er. Und hier hüpfte er von seinem linken Beine auf sein rechtes. »Ordentliche Regeln!« Hier hüpfte er wieder vom rechten Beine auf das linke. »Komm auf den Platz, und mache die Präliminarien durch!« Hier sprang er vorwärts und rückwärts und machte allerlei Sachen, während ich hülflos dastand und ihm zuschaute.
Da ich ihn so gewandt sah, war mir im Geheimen bange vor ihm; aber ich fühlte die moralische und physische Ueberzeugung, daß sein hellblonder Kopf nichts mit meinem Magen zu schaffen gehabt, und daß ich ein Recht hatte, es für ganz ordnungswidrig anzusehen, daß sich derselbe auf diese Weise meiner Aufmerksamkeit aufdrängte. Deshalb folgte ich ihm, ohne ein Wort zu sagen, nach einem entlegenen Winkel des Gartens, welcher durch das Zusammenstoßen zweier Mauern gebildet und durch einen Schutthaufen geschützt wurde. Nachdem er mich gefragt, ob ich mit der Stelle zufrieden und ich ihm Ja geantwortet, bat er mich um Erlaubniß, sich einen Augenblick entfernen zu dürfen, und kehrte dann in ganz kurzer Zeit mit einer Flasche Wasser und einem in Essig getauchten Schwamme zurück. »Für Beide verwendbar!« sagte er, die Gegenstände an der Mauer niedersetzend. Und dann begann er nicht allein seine Jacke und Weste, sondern auch sein Hemd abzulegen, und zwar auf eine Weise, die ebenso leichtherzig, als geschäftsmäßig und blutdürstig war.
Obgleich er nicht sehr gesund aussah – denn er hatte Blüthen im Gesichte und Ausschlag um den Mund – so flößten mir diese fürchterlichen Vorbereitungen doch einiges Bangen ein. Er schien mir ungefähr in meinem Alter zu sein, doch war er viel größer und hatte eine Art und Weise umher zu springen, die einen bedeutenden Anschein hatte und sehr eindrucksvoll war. Im Uebrigen war er ein junger Herr in einem grauen Anzuge (als er noch nicht für den Zweikampf entkleidet war), dessen Ellnbogen, Knie, Handgelenke und Fersen in Bezug auf ihre Entwickelung seinem übrigen Körper bedeutend vorausgeeilt waren.
Mir sank das Herz, als ich sah, wie er mich mit jedem Anzeichen mechanischer Genauigkeit aufs Korn nahm und meine Anatomie beäugelte, als ob er sich auf das sorgfältigste »seinen Knochen« aussuchte. Ich war in meinem ganzen Leben nicht so erstaunt, als ich, da ich ihm den ersten Schlag versetzt, ihn auf dem Rücken liegen und mir mit blutiger Nase und einem außerordentlich verkürzten Antlitz ins Gesicht blicken sah.
Doch war er schnell wieder auf den Beinen, und nachdem er sich mit anscheinend großer Gewandtheit das Gesicht mit dem Schwamme abgewaschen, kam er wieder auf mich los. Die zweite größte Ueberraschung meines Lebens wurde mir, als ich ihn abermals auf dem Rücken liegend erblickte, und er mich mit einem blauen Auge anschaute.
Sein Muth flößte mir große Achtung ein. Er schien gar keine Kraft zu haben, und traf mich nicht ein einziges Mal recht hart, noch weniger warf er mich zu Boden; aber er war jedes Mal in einem Augenblicke wieder auf den Beinen, wo er sich dann das Gesicht mit dem Schwamme abwusch oder aus der Wasserflasche trank, mit der größten Befriedigung, sich so nach den Regeln des Kampfes selbst zu secundiren, – und dann rückte er wieder mit einer Miene und einer Manier auf mich los, als ob er mir diesmal nun wirklich den Garaus zu machen gedenke. Er wurde arg zerschlagen, denn ich bedaure, berichten zu müssen, daß ich ihn, je mehr ich ihn schlug, immer härter traf; doch stand er immer wieder auf, bis er endlich einen bösen Fall mit dem Hinterkopfe an die Mauer that. Selbst nach dieser Krisis in unserm Streite, stand er auf und drehte sich mehre Male verwirrt rund um, indem er nicht wußte, wo ich war; zuletzt aber sank er bei seinem Schwamme auf die Knie und warf denselben in die Höhe, wobei er herauskeuchte: »Das bedeutet, Du hast gewonnen.«
Er schien so tapfer und so unschuldig, daß ich, obgleich ich den Kampf nicht vorgeschlagen, nur geringe Freude an meinem Siege fand. Ich gehe in der That so weit, zu hoffen, daß ich, während ich mich ankleidete, mir ungefähr wie ein wüthender junger Wolf oder ein sonstiges wildes Thier vorkam. Indessen kleidete ich mich an, wobei ich mir von Zeit zu Zeit düster das Gesicht trocknete, und sagte zu ihm: »Kann ich Ihnen helfen?« worauf er: »Nein, danke,« sagte, und ich: »Guten Tag,« und er gleichfalls.
Als ich in den Hof kam, fand ich, daß Estella dort mit den Schlüsseln auf mich wartete. Doch fragte sie weder, wo ich gewesen, noch, warum ich sie habe warten lassen; und auf ihren Wangen lag eine helle Glut, als ob sich Etwas ereignet habe, das ihr Freude gemacht. Und anstatt gerade nach dem Thore zu gehen, trat sie in den Gang zurück und winkte mir:
»Komm her! Du magst mich küssen, wenn Du willst.«
Ich küßte ihre Wange, welche sie mir darbot. Ich glaube, ich hätte gern Vieles ertragen, um ihre Wange küssen zu dürfen. Aber ich fühlte, daß dieser Kuß dem groben, gewöhnlichen Jungen gegeben wurde, wie man ihm wohl ein Geldstück gegeben hätte, und daß er gar nichts werth sei.
Durch den Geburtstagsbesuch und das Kartenspiel und den Zweikampf hatte sich mein Bleiben so verzögert, daß, als ich mich unserm Hause näherte, das Licht auf der Landzunge, die sich von den Marschen ins Meer hinauszog, hell gegen den Nachthimmel emporleuchtete, und Joes Esse einen Feuerschein über den Weg warf.
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