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Fünftes Kapitel.
Die Sträflingsjagd.

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Die Erscheinung einer Patrouille Soldaten, welche die Kolben ihrer geladenen Gewehre vor unserer Thür klirrend niedersetzten, bewirkte, daß sich die Gesellschaft in großer Bestürzung vom Tische erhob, und daß Frau Joe, welche gerade mit leeren Händen in die Küche trat, plötzlich in ihrer verwunderten Klage: »Herr, Du meine Güte – was kann nur – aus der Pastete –!« innehielt.

Der Sergeant und ich waren in der Küche, als Frau Joe stieren Blickes stehen blieb, und bei dieser Krisis wurde ich ziemlich meiner Sinne wieder mächtig. Es war der Sergeant gewesen, welcher zu mir gesprochen, und er schaute sich jetzt in der Runde in der Gesellschaft um, indem er mit der rechten Hand derselben auf einladende Weise die Handschellen entgegenhielt und die linke auf meine Schulter legte.

»Entschuldigen Sie mich, meine Herren und Damen,« sagte der Sergeant, »aber, wie ich schon an der Thür zu diesem muntern jungen Knirps bemerkt habe (was ihm gar nicht eingefallen war), ich bin im Namen des Königs auf Verfolgung aus, und bedarf der Dienste des Schmieds.«

»Und was, wenn ich fragen darf, wollen Sie von ihm?« fragte meine Schwester spitz, und schnell bereit, es zu ahnden, daß man seiner überhaupt bedürfe.

»Missis,« erwiederte der galante Sergeant, »wenn ich nur für mich persönlich zu antworten hätte, so würde ich sagen: die Ehre und das Vergnügen, die Bekanntschaft seiner schönen Frau zu machen; für den König aber antworte ich, daß eine kleine Arbeit zu thun ist.«

Dies wurde von der Gesellschaft als sehr artig von dem Sergeanten aufgenommen, so daß Onkel Pumblechook ausrief: »Nicht übel.«

»Sehen Sie, Meister,« sagte der Sergeant, dessen Auge inzwischen Joe herausgeforscht hatte, »uns sind diese Schellen in Unordnung gerathen; das Schloß an der einen ist verdreht und sie gehen nicht ordentlich zusammen. Da sie zu augenblicklichem Gebrauch bestimmt sind, sind Sie wohl so gut, sie gleich 'mal nachzusehen?«

Joe gehorchte und erklärte, daß die Arbeit das Anzünden seines Schmiedefeuers nothwendig mache und eher zwei Stunden als eine währen würde.

»So? Nun, dann machen Sie sich lieber gleich daran, Meister,« sagte der unerschütterliche Sergeant, »da es im Dienste Sr. Majestät geschehen muß. Und falls meine Leute Ihnen irgendwie Hand reichen können, werden sie sich gern nützlich machen.«

Mit diesen Worten rief er seine Leute, welche – Einer nach dem Andern – in die Küche traten und ihre Gewehre in einen Winkel stellten. Darauf standen sie umher, wie die Soldaten es zu thun pflegen: bald mit lose vor sich gefaltenen Händen, bald es sich mit einem Knie oder einer Schulter bequem machend, bald am Gürtel oder an der Patrontasche rückend, bald indem sie die Thür öffneten, um mit steifem Nacken über ihre hohen Halsbinden hinaus in den Hof zu spucken.

Alles Dies sah ich, ohne damals zu wissen, daß ich es sähe, denn ich war in einer wahren Todesangst. Da ich jedoch zu errathen anfing, daß die Handschellen nicht für mich bestimmt seien, und außerdem bemerkte, daß die Soldaten insoweit die Pastete überwunden hatten, daß letztere jetzt in den Hintergrund getreten war, gelang es mir, meine zerstreuten Geisteskräfte wieder etwas zu sammeln.

»Wollten Sie wohl so gut sein, mir zu sagen, welche Zeit es ist?« sagte der Sergeant, sich an Mr. Pumblechook wendend, wie an einen Mann, dessen gescheites Aussehen den Schluß rechtfertigte, daß er ein Mann der Zeit sei.

»Es ist eben halb drei Uhr.«

»Nun, das geht schon,« sagte der Sergeant nachdenkend; »selbst wenn ich hier beinahe zwei Stunden zu warten habe, wird sichs noch gut machen lassen. Wie weit rechnen Sie ungefähr von hier bis nach den Marschen? Nicht über eine englische Meile, wie?«

»Gerade eine Meile,« sagte Frau Joe.

»So wirds gehen. Wir werden gerade gegen Dunkelwerden ihnen zu Leibe rücken. Kurz vor Dunkelwerden – war meine Ordre. So wird sichs machen.«

»Sträflinge, Sergeant?« fragte Mr. Wopsle, wie wenn es Etwas sei, das sich von selbst verstehe.

»Ja!« entgegnete der Sergeant. »Zwei. Man weiß ziemlich gewiß, daß sie sich in den Marschen aufhalten, und sie werden vor Dunkelwerden sich nicht aus ihnen herauswagen. Hat irgend Jemand hier etwas von solchem Wild gesehen?«

Alle, ich ausgenommen, sagten Nein. An mich dachte Niemand.

»Nun,« sagte der Sergeant, »sie werden sich früher, als sie vermuthen, umzingelt sehen, denk ich mir. Jetzt, Meister! wenn Sie bereit sind. Se. Majestät der König ists.«

Joe hatte Rock, Weste und Halstuch abgelegt, sein Schurzfell vorgebunden und trat jetzt in die Schmiede. Einer von den Soldaten öffnete die hölzernen Läden, ein zweiter zündete das Feuer an, noch ein anderer machte sich an den Blasebalg und die Uebrigen umringten die Glut, welche bald hellauf prasselte. Dann begann Joe mit seinem »Pinkpank, Pinkpank«, und wir Alle schauten zu.

Das Interesse an der bevorstehenden Verfolgung nahm nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch, sondern machte sogar meine Schwester freigebig. Sie zapfte einen Krug voll Bier für die Soldaten vom Faß und lud den Sergeanten zu einem Glase Rum ein.

Aber Mr. Pumblechook sagte streng:

»Geben Sie ihm Wein, Madam. Ich will dafür stehen, daß da wenigstens kein Theer drin ist;« worauf der Sergeant ihm dankte und sagte: Da er sein Getränk ohne Theer vorziehe, wolle er Wein nehmen, falls es genehm. Als man ihm Wein gab, trank er auf das Wohl Sr. Majestät, wünschte dann Glück zu dem Feste – Alles in einem Zuge, und schmatzte mit den Lippen.

»Guter Stoff, wie, Sergeant?« sagte Mr. Pumblechook.

»Ich will Ihnen was sagen,« entgegnete der Sergeant, »ich denke mir, der Stoff da kommt von Ihnen.«

Mr. Pumblechook erwiederte mit einem fetten Lachen:

»Ja, ja! Warum?«

»Weil«, sagte der Sergeant, ihn auf die Schulter klopfend, »Sie der Mann sind, der weiß, wo Barthel den Most holt.«

»Glauben Sie das?« sagte Mr. Pumblechook mit seinem vorigen Lachen. »Nehmen Sie noch ein Glas.«

»Mit Ihnen, mit Vergnügen,« entgegnete der Sergeant. »Der Rand von meinem Glase an den Fuß des Ihren – der Rand des Ihrigen an den Fuß des meinigen – angestoßen – ein Mal – zwei Mal – das ist die schönste Melodie mit den musikalischen Gläsern! Ihr Wohlsein, und auf daß Sie tausend Jahre leben und niemals die rechte Sorte schlechter beurtheilen, als zu Ihrer gegenwärtigen Lebenszeit!«

Der Sergeant goß sein Glas abermals hinunter und schien vollkommen für ein drittes gerüstet. Es fiel mir ein, daß Mr. Pumblechook in seiner Gastfreundschaft zu vergessen schien, daß er den Wein verschenkt hatte, denn er nahm ihn Frau Joe ab und hatte die ganze Ehre, ihn in einem Ergusse gastfreier Gemüthlichkeit auszutheilen. Selbst ich erhielt welchen. Und er war so ungeheuer freigebig mit dem Weine, daß er sogar die zweite Flasche noch forderte und sie mit derselben Gastfreiheit die Runde machen ließ, wie er es mit der ersten gethan hatte.

Als ich sie betrachtete, wie sie Alle um die Esse herumstanden und sich so schön unterhielten, dachte ich, welch herrliche Würze zu einem Festmahle mein Freund, der Flüchtling, in den Marschen sei. Sie hatten sich nicht halb so schön amusirt, ehe das Mahl durch die Aufregung erheitert wurde, welche er ihnen bot. Und jetzt, als sie Alle in lebhafter Erwartung dem Augenblicke entgegensahen, wo die »beiden Spitzbuben« gefangen würden, als der Blasebalg nach den Flüchtlingen zu stöhnen, das Feuer nach ihnen zu lecken, der Rauch auf ihre Verfolgung hinauszueilen, Joe nach ihnen zu hämmern und zu pinken und die dunklen Schatten an der Wand im Steigen und Sinken der Glut und im Sprühen und Sterben der Funken ihnen zu drohen schienen, da war es meinen mitleidsvollen Kinderaugen, als ob der trübe Nachmittag draußen um der armen Kerle willen noch trüber und fahler werde.

Endlich war Joes Arbeit beendet und des Hämmerns und Blasens ein Ende. Als Joe seinen Rock wieder angezogen, brachte er so viel Muth zusammen, um vorzuschlagen, daß Einige von uns die Soldaten begleiteten und sähen, was aus der Jagd würde, Mr. Pumblechook und Mr. Hubble schlugen dies unter dem Vorwande der Damengesellschaft und einer Pfeife aus; Mr. Wopsle aber sagte, er wolle mitgehen, falls Joe ginge.

Joe sagte, er sei bereit und wolle mich mitnehmen, falls Frau Joe nichts dawider habe.

Wir hätten nimmermehr Erlaubniß erhalten, mitzugehen, wäre nicht Frau Joe selbst außerordentlich neugierig gewesen, den genauen Hergang der Sache, sowie das Ende derselben zu erfahren. So aber stipulirte sie bloß:

»Wenn Ihr mir den Jungen mit einem Kopfe zurückbringt, der von einem Gewehre in Stücke zersplittert ist, so verlangt nicht, daß ich ihn wieder zusammenflicke.«

Der Sergeant verabschiedete sich höflich von den Damen und schied von Mr. Pumblechook wie von einem Kameraden, obgleich ich bezweifle, daß er dieses Herrn Verdienste in einem Zustande der Trockenheit so wohl anerkannt haben würde, als in den Augenblicken, wo das Naß die Runde machte. Seine Leute nahmen ihre Gewehre wieder auf und traten in Reihe und Glied.

Mr. Wopsle, Joe und ich erhielten strengen Befehl, uns im Nachzuge zu halten und, sobald wir in den Marschen angelangt seien, kein Wort zu sprechen. Als wir Alle draußen in der rauhen Luft waren und gemessenen Schrittes dahingingen, flüsterte ich Joe verrätherischer Weise zu:

»Ich hoffe, wir werden sie nicht finden, Joe.«

Und Joe erwiederte ebenfalls flüsternd:

»Ich gäbe einen Schilling drum, wenn sie ausgekratzt und weg wären, Pip.«

Es gesellten sich keine Nachzügler aus dem Dorfe zu uns, denn das Wetter war kalt und drohend, der Weg langweilig und schlecht zu gehen und die Dunkelheit brach herein; wogegen die Leute zu Hause ihr warmes Kaminfeuer hatten und obendrein das Fest feierten. Ein paar Gesichter eilten an die erhellten Fenster und schauten uns nach, aber Niemand kam heraus. Wir gingen an dem Wegweiser vorbei und richteten unsere Schritte gerade auf den Kirchhof zu. Hier hielten wir auf ein Zeichen von der Hand des Sergeanten still, und ein paar von seinen Leuten zerstreuten sich unter den Gräbern und untersuchten das Vorhäuschen der Kirche. Sie kamen zurück, ohne Etwas gefunden zu haben, traten wieder in Reih und Glied, worauf wir durch das Pförtchen auf der einen Seite des Kirchhofs in die offenen Marschen hinausgingen. Eisiger Schnee und Regen kam uns hier mit dem Ostwinde entgegen, und Joe nahm mich auf seinen Rücken.

Jetzt da wir draußen in der schauerlichen Oede waren, von der sich gewiß Niemand träumen ließ, daß ich vor acht oder neun Stunden hier war und beide flüchtigen Männer gesehen hatte, bedachte ich zum ersten Male mit großer Angst: ob wohl mein specieller Sträfling, wenn wir ihn aufjagten, denken würde, daß ich die Soldaten auf die Spur gebracht? Er hatte mich gefragt, ob ich ein falscher kleiner Satan sei, und gesagt, ich müsse in der That ein boshafter junger Hund sein, wenn ich mich der Hetzjagd auf ihn anschließen könnte. Würde er jetzt denken, ich sei in allem verrätherischen Ernste sowohl Hund, als Satan?

Doch es nützte nichts, daß ich mir jetzt diese Frage vorlegte. Da saß ich auf Joes Rücken und da war Joe unter mir, und setzte über die Gräben, wie ein Jagdpferd, und ermunterte Mr. Wopsle, damit er nicht auf seine römische Nase fiele und hinter uns zurückbliebe. Die Soldaten waren vor uns, zu einer ziemlich weitläufigen Linie ausgedehnt, indem von Mann zu Mann große Zwischenräume waren. Wir nahmen die Richtung, die ich zu Anfang genommen, von der ich aber im Nebel abgeschweift war. Entweder war der Nebel noch nicht wieder aufgestiegen oder der Wind hatte ihn zerstreut. Von der tiefen, rothen Glut des Sonnenuntergangs hob sich die Feuerbake, der Galgen, der Hügel der Batterie und das jenseitige Ufer des Flusses deutlich sichtbar ab, obgleich diese Gegenstände alle von einer wässerigen Bleifarbe waren.

Mit einem Herzen, das wie ein Schmiedehammer pochte, an Joes Schulter ruhend, schaute ich mich rings nach irgend einem Zeichen von den Sträflingen um. Doch konnte ich weder etwas sehen noch hören. Mr. Wopsle hatte mich mehr als ein Mal durch sein Schnaufen und Keuchen in Schrecken gesetzt; aber ich hatte mich jetzt an diese Töne gewöhnt und konnte sie von dem Gegenstande der Verfolgung trennen. Ich fuhr furchtbar zusammen, als es mir ein Mal vorkam, als ob ich die Feile immer noch kreischen hörte – doch war es nur ein Schafglöckchen. Die Schafe hielten im Weiden inne und blickten uns furchtsam nach, und die Ochsen und Kühe, die ihre Köpfe vom Winde, Schnee und Regen abgewendet hatten, stierten uns zornig an, wie wenn sie uns für diese Unannehmlichkeiten verantwortlich hielten; doch diese Dinge und das Zittern des sterbenden Tages in jedem Grashalme ausgenommen, wurde die unheimliche Stille der Marschen durch nichts unterbrochen.

Die Soldaten schritten in der Richtung nach der alten Batterie vorwärts, und wir folgten ihnen in geringer Entfernung, als wir plötzlich Alle mit einem Male still standen. Denn auf den Flügeln des Windes und des Regens war ein langer Ruf zu uns gedrungen. Derselbe wurde wiederholt. Er kam aus einiger Entfernung von Osten her, doch war er lang hallend und laut. Ja, es schien mehr wie das Rufen mehrer Stimmen zusammen – falls man nach der Verwirrung in dem Schalle urtheilen konnte.

Der Sergeant und die ihm zunächst marschirenden Soldaten unterhielten sich mit flüsternden Stimmen, als Joe und ich sie erreichten. Nach einem augenblicklichen Horchen stimmten Joe (der die Sache zu beurtheilen verstand) und Mr. Wopsle (der keinen Begriff von derselben hatte) mit ihnen überein. Der Sergeant, ein entschlossener Mann, befahl, daß man den Ruf nicht beantworte, dagegen eine andere Richtung einschlüge, und daß seine Leute ihre Schritte verdoppelten. Demnach bogen wir nach rechts hin ab (was zugleich nach Osten war), und Joe trabte mit so wunderbarer Geschwindigkeit dahin, daß ich mich festhalten mußte, um nicht zu fallen.

Es war jetzt ein förmliches Rennen, und wie Joe es in den einzigen Worten nannte, die er sprach, ein Rennen mit Hindernissen. Bergauf, bergab, über Schleusen, durch die Gräben, durch die Hecken: es kümmerte sich Niemand, wohin er ging.

Als wir dem Rufen näher kamen, wurde es uns immer deutlicher, daß es von mehr Stimmen als einer ausging. Zuweilen schien es ganz aufzuhören, und dann standen die Soldaten still. Wenn es wieder ausbrach, eilten die Soldaten eifriger denn je ihm entgegen und wir ihnen nach. Bald waren wir so nahe herangekommen, daß wir eine Stimme: »Mörder!« und eine zweite: »Sträflinge! Ausreißer! Wache! Hierher nach den entwischten Sträflingen!« ausrufen hörten. Dann schienen beide Stimmen wie im Kampfe zu ersticken und brachen gleich darauf wieder los. Und wie es soweit gekommen, fingen die Soldaten wie die Hirsche zu laufen an, und Joe folgte ihnen.

Als wir unmittelbar an der Stelle anlangten, von der das Rufen und Schreien erscholl, stürzte der Sergeant zuerst auf dieselbe los und zwei von seinen Leuten dicht hinter ihm drein. Da wir ihnen folgten, sahen wir, wie sie ihre Gewehre gespannt und angelegt hatten.

»Hier sind sie alle Beide!« keuchte der Sergeant, in der Tiefe eines Grabens umherstampfend, »Ergebt Euch! Ihr seid ja ein Paar verdammt wilde Bestien! Auseinander!«

Wasser spritzte. Schlamm flog herum, Flüche erschallten und Schläge fielen, als noch einige von den Leuten in den Graben hinabstiegen, um dem Sergeanten zu helfen, und dann Einen nach dem Andern, beide Sträflinge, meinen und den andern, heraufzogen. Beide bluteten und keuchten, und fluchten und kämpften, aber ich erkannte Beide dennoch sofort.

»Bemerkt mir dies wohl!« sagte mein Sträfling, indem er mit seinem zerfetzten Aermel Blut von seinem Gesichte wischte und ausgerissene Haare von seinen Fingern schüttelte. »Ich fing ihn! Ich übergebe ihn Euch! Vergeßt das nicht!«

»Es ist nicht der Mühe werth, darauf Nachdruck zu legen,« sagte der Sergeant; »es wird Euch wenig zum Vortheil gereichen, mein Freund, da Ihr in derselben Klemme steckt. Die Handschellen her!«

»Ich erwarte nicht, daß es mir Vortheil bringen wird, und ich verlange nicht, daß es mir noch mehr gut thut, als jetzt,« sagte mein Sträfling mit einem grimmigen Lachen. »Ich fing ihn. Er weiß es, und daran hab ich genug.«

Der andere Sträfling war von einer fahlen Blässe, und außer der alten zerkratzten Stelle auf der linken Seite seines Gesichtes schien dasselbe jetzt über und über zerschunden und zerrissen zu sein. Er konnte nicht einmal hinlänglich zu Athem kommen, um zu sprechen, bis Beiden einzeln die Handschellen angelegt waren, sondern stützte sich, um nicht umzufallen, auf einen der Soldaten.

»Seid Zeugen, Wache – er versuchte, mich zu ermorden,« waren die ersten Worte, welche er sprach.

»Ich hätte versucht, ihn zu ermorden!« sagte mein Sträfling verachtend. »Hätts versucht, und nicht gethan? Ich fing ihn und überlieferte ihn, das hab ich gethan. Ich verhinderte ihn nicht allein, aus den Marschen zu entkommen, sondern schleppte ihn zurück – schleppte ihn bis hierher wieder zurück. Er ist ein Gentleman, bitt ich Euch zu bemerken, dieser Schurke. Jetzt haben die Hulks ihren Gentleman wieder, und zwar durch mich. Ihn ermorden! Das fehlte mir noch, daß ich ihn ermordete, wenn ich ihm noch viel Schlimmeres thun konnte, indem ich ihn wieder zurückschleppte!«

Der Andere keuchte noch immer:

»Er versuchte – er versuchte – mich – zu ermorden. Ihr seid Zeugen!«

»Sehen Sie her!« sagte mein Sträfling zu dem Sergeanten. »Ich bin ganz allein aus dem Gefangenenschiffe entkommen; ich machte einen Satz, und weg war ich. Ich wäre auch aus dieser todtkalten Wildniß entkommen – sehen Sie mein Bein: Sie werden nicht viel Eisen mehr daran finden – wenn ich nicht die Entdeckung gemacht hätte, daß er hier sei. Ich hätte ihn frei lassen können? Ihn an der Rettung theilnehmen lassen können, die ich entdeckt? Ihn von Neuem ein Werkzeug aus mir machen lassen? Noch ein Mal? Nein, nein, nein, und hätte ich dort unten sterben müssen.« Hier machte er eine emphatische Bewegung mit seiner gefesselten Hand nach dem Graben zu. »Ich würde ihn mit einem solchen Griffe festgehalten haben, daß Sie ihn ganz sicher in meinen Fäusten gefunden haben würden.«

Der andere Flüchtling, welchen augenscheinlich das äußerste Entsetzen vor seinem Gefährten erfüllte, wiederholte:

»Er versuchte, mich zu ermorden. Ich wäre des Todes gewesen, wenn Sie nicht gekommen wären.«

»Er lügt!« sagte mein Sträfling mit zornigem Nachdruck. »Er ist ein geborener Lügner und wird als Lügner sterben. Seht ihm nur ins Gesicht, – stehts nicht drin geschrieben? Laßt ihn mir ins Auge sehen – er wagt es nicht.«

Der Andere versuchte ein verachtendes Lächeln, das jedoch wegen des nervösen Zuckens seines Mundes zu keinem entschiedenen Ausdrucke kam, sah die Soldaten an, hinaus auf die Marschen und zu dem dunklen Himmel hinauf; aber allerdings Den, der ihn dazu aufgefordert, faßte er nicht ins Auge.

»Seht Ihr ihn?« fuhr mein Sträfling fort. »Seht Ihr wohl, was er für ein Schurke ist? Seht Ihr wohl seine falschen, unstäten Augen? So sah er aus, als wir zusammen vor dem Richter standen. Er sah mich nicht ein einziges Mal an.«

Der Andere, welcher fortwährend mit seinen trockenen Lippen arbeitete und seine unruhigen Blicke nah und fern umherschweifen ließ, richtete diese endlich für einen Augenblick auf seinen Gefährten und sagte: »Ich finde nichts besonders Schönes an Dir« – mit einem höhnischen Seitenblicke auf des Andern gefesselte Hände. Hierüber gerieth mein Sträfling in eine so rasende Wuth, daß er sich auf ihn gestürzt haben würde, falls sich nicht die Soldaten ins Mittel gelegt hätten.

»Hab ichs Euch nicht gesagt,« sprach darauf der andere Sträfling, »daß er mich morden würde, wenn er könnte?« Und man konnte deutlich sehen, daß er vor Angst zitterte, und daß seltsame weiße Flocken, wie dünner Schnee, auf seine Lippen traten.

»Genug von dem Geschwätz,« sagte der Sergeant. »Brennt die Fackeln an.«

Als einer der Soldaten, welcher anstatt eines Gewehrs einen Korb trug, niederkniete, um denselben zu öffnen, schaute mein Sträfling zum ersten Male um sich und erblickte mich. Ich war, als wir an den Graben kamen, von Joes Rücken herabgestiegen und hatte mich seitdem nicht gerührt. Ich sah den Mann, als sein Auge auf mich fiel, bewegte leicht meine Hand und schüttelte den Kopf. Ich hatte gewartet, bis er mich ansehen würde, um zu versuchen, ihn von meiner Unschuld zu überzeugen. Es war mir gar nicht deutlich, daß er begriffen, was ich gemeint, denn er gab mir einen Blick, den ich nicht verstand, und das Ganze währte kaum eine Secunde. Aber hätte er mich auch eine ganze Stunde oder einen ganzen Tag lang angeblickt, ich hätte mich seines Gesichtes später nicht genauer, als nach diesem blitzschnellen Blicke, erinnern können.

Der Soldat mit dem Korbe hatte bald Licht angemacht und drei oder vier Fackeln angezündet, von denen er eine für sich behielt und die anderen unter die Soldaten vertheilte. Es war vorher fast schon finster gewesen, jetzt aber schien es ganz finster zu werden, und bald darauf sehr finster. Ehe wir die Stelle verließen, feuerten vier Soldaten, die sich im Kreise aufstellten, zwei Mal in die Luft. Gleich darauf sahen wir in einiger Entfernung hinter uns und auf den Marschen jenseit des Flusses ebenfalls Fackeln aufflackern.

»Alles richtig!« sagte der Sergeant, »vorwärts, Marsch!«

Wir waren nicht weit gegangen, als vor uns mit einem Knalle, der Etwas im Innern meines Ohres zu zerschmettern schien, drei Kanonen abgefeuert wurden.

»Ihr werdet an Bord erwartet,« sagte der Sergeant zu meinem Sträflinge. »Nicht zurückbleiben, mein Freund. Kommt heran, hier.«

Die Sträflinge gingen getrennt, und Jeder mit einer Wache für sich. Ich hielt jetzt Joes Hand, und Joe trug eine von den Fackeln. Mr. Wopsle hatte dafür gestimmt, daß man jetzt zurückginge, aber Joe war entschlossen, das Ende von der Sache zu sehen, und so folgten wir denn dem kleinen Trupp. Der Weg war jetzt erträglich, meistens am Rande des Flusses hin, indem er hier und da, wo ein Damm mit einer Miniaturwindmühle und einer kleinen Schleuse kam, etwas zur Seite abwich. Als ich zurückschaute, konnte ich sehen, wie die anderen Fackeln uns folgten. Von den Fackeln, welche wir trugen, fielen große Feuerflocken auf den Weg, und dort sah ich sie qualmen und flackern. Sonst aber sah ich nichts als dichte Finsterniß. Unsere Fackeln schienen um uns her mit ihrer harzigen Glut die Luft zu wärmen, und dies schien den beiden Gefangenen zu behagen, als sie von Gewehren umringt, dahinhinkten. Wir konnten wegen ihrer Lahmheit nicht schnell vorwärts gehen, und sie waren so ermattet, daß wir ein paar Mal Halt machen mußten, damit sie sich ausruhten.

Nachdem wir ungefähr eine Stunde auf diese Weise marschirt waren, kamen wir an eine rohe Hütte bei einem Landungsplatze. Es war eine Wache in der Hütte, welche uns anrief, worauf der Sergeant antwortete. Dann traten wir in die Hütte, in der es nach Tabak und Kalk roch, wo ein helles Feuer und eine Lampe brannten, wo ein Gestell für Gewehre, eine Trommel und eine niedrige hölzerne Pritsche stand, welche letztere aussah wie eine übergroße Wäschrolle ohne die Maschinerie, und wie gemacht, um wenigstens ein Dutzend Soldaten mit einem Male zu beherbergen. Drei oder vier Soldaten, die in ihren Ueberröcken darauf lagen, nahmen kein besonderes Interesse an uns, sondern erhoben nur eben die Köpfe, stierten uns schläfrig an, und legten sich dann wieder nieder. Der Sergeant machte eine Art von Bericht und trug Etwas in ein Buch ein, worauf der Sträfling, welchen ich den »andern« Sträfling genannt habe, von seiner Wache fortgeführt wurde, um zuerst an Bord zu gehen.

Mein Sträfling sah mich nicht ein einziges Mal an, außer dem einen Male. Während wir in der Hütte waren, stand er vor dem Feuer und schaute gedankenvoll in dasselbe hinein, oder auf seine Füße, welche er abwechselnd auf dem Herde wärmte, und auf die er nachdenkliche Blicke warf, wie wenn er sie wegen ihrer jüngsten Erlebnisse bemitleide. Plötzlich wandte er sich zu dem Sergeanten und sagte:

»Ich habe Etwas über diese Flucht zu sagen, damit man nicht um meinetwillen vielleicht andere Leute im Verdacht habe.«

»Ihr könnt sagen, was Ihr wollt,« sagte der Sergeant, welcher mit übereinander geschlagenen Armen dastand und ihn ruhig anschaute; »aber Ihr habt nicht nöthig, hier Etwas zu sagen. Ihr werdet noch Gelegenheit genug haben, davon zu sprechen und zu hören, ehe diese Geschichte vorbei ist, wie Ihr wißt.«

»Ich weiß wohl, aber dies ist etwas Anderes – es hat damit nichts zu thun. Der Mensch kann nicht verhungern; wenigstens ich nicht. Ich nahm da drüben in dem Dorfe einige Lebensmittel – da wo die Kirche beinah in den Marschen steht.«

»Ihr meint, Ihr stahlt sie,« sagte der Sergeant.

»Und ich will Euch sagen, wo. Bei einem Schmied.«

»Halloh!« sagte der Sergeant, Joe anstierend.

»Halloh, Pip!« sagte Joe, mich anstierend.

»Es war ein Bischen übrig gebliebenes Essen – war's – und ein Schluck Rum, und 'ne Pastete.«

»Haben Sie vielleicht so ein Ding wie eine Pastete vermißt, Meister?« fragte der Sergeant Joe vertraulich.

»Meine Frau hat sie vermißt – gerade in dem Augenblicke, wo Sie hereinkamen. Weißt Du wohl, Pip?«

»So?« sagte der Sträfling, indem er gedankenvoll seine Augen auf Joe richtete, ohne aber im Geringsten von mir Notiz zu nehmen; »also Sie sind der Schmied? Dann thut mirs leid, sagen zu müssen, daß ich Ihre Pastete verzehrt habe.«

»Gott weiß, ich gönne sie Euch herzlich – soviel mein daran war,« sagte Joe mit vorbehaltener Erinnerung an Frau Joe. »Wir wissen nicht, was Ihr gethan habt, aber wir möchten gewiß nicht, daß Ihr deshalb todt hungern müßtet; das könnt ich einem armen, elenden Nebenmenschen nicht wünschen. Wie, Pip?«

Das seltsame Klucken, das ich schon einmal bemerkt hatte, ließ sich hier abermals in des Mannes Halse hören, und er selbst wandte sich von uns ab. Das Boot war zurückgekehrt und seine Wache bereit, und so folgten wir ihm auf die Bühne, welche den Einschiffungsplatz bildete und von rohen Bretern und Steinen gemacht war, und sahen ihn in das Boot hinabsteigen, das von einer Mannschaft von Sträflingen gleich ihm gerudert wurde. Niemand schien erstaunt, oder froh, oder traurig ihn zu sehen, und Niemand sprach ein Wort, außer daß Jemand in dem Boote, wie wenn er es mit Hunden zu thun gehabt, »Angezogen, Ihr da!« herausknurrte, was das Signal zum Einsetzen der Ruder war. In dem Fackelscheine sahen wir den schwarzen Hulk in kurzer Entfernung von dem Schlamme des Ufers wie eine verwünschte Arche Noahs daliegen Mit massiven rostigen Ketten befestigt, verankert und angeschlossen schien das Gefangenenschiff in meinen jungen Augen, wie seine Gefangenen, in Eisen zu liegen. Wir sahen das Boot an der Schiffsseite beilegen, den Sträfling hinansteigen und verschwinden. Dann flogen die Enden der Fackeln zischend ins Wasser und verlöschten, wie wenn nun Alles mit ihm vorüber gewesen wäre.

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