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Der letzte Tag der erwähnten Woche beschien die Riegel des Marschallgefängnistores. Die eisernen Bänder, die die ganze Nacht, seit das Tor hinter Klein-Dorrit ins Schloß gefallen war, schwarz ausgesehen, verwandelten sich im Glanze der frühen Morgensonne in goldene Bänder. Quer über die Stadt, über ihre wirren Dächer, durch die offene Ornamentik ihrer Kirchtürme schlugen die langen glänzenden Sonnenstrahlen die Riegel des Gefängnisses dieser niederen Welt.
Den ganzen Tag blieb das alte Haus hinter dem Torweg von Besuchen verschont. Als die Sonne jedoch herabsank, traten drei Männer in den Torweg und schritten auf das verwitterte Haus zu.
Rigaud war der erste und ging rauchend allein. Mr. Baptist war der zweite und schlenderte, nicht rechts, nicht links blickend, hinter ihm drein. Mr. Pancks war der dritte; er trug seinen Hut unter dem Arm, um sein starres Haar frei emporstehen zu lassen, da das Wetter außerordentlich heiß war. Sie kamen alle an der Haustreppe zusammen.
»Ihr beiden Verrückten!« sagte Rigaud, indem er sich umsah. »Geht noch nicht!«
»Das ist auch nicht unsere Absicht«, sagte Mr. Pancks.
Rigaud pochte laut, indem er ihm einen finstern Blick als Anerkennung seiner Antwort zuwarf. Er hatte sich etwas angetrunken, um sein Spiel auszuspielen, und harrte ungeduldig auf den Beginn. Er hatte kaum einmal gepocht, daß es lang nachtönte, als er wieder nach dem Klöpfel griff und zum zweitenmal pochte. Dies war noch nicht zu Ende, als Jeremiah Flintwinch die Tür öffnete und sie alle in die steinerne Halle hineinstürmten. Rigaud stieß Mr. Flintwinch auf die Seite und eilte die Treppe hinauf. Seine beiden Gefährten folgten ihm, Mr. Flintwinch diesen, und zuletzt traten sie alle hastig in das stille Zimmer von Mrs. Clennam. Es befand sich in seinem gewöhnlichen Zustand, nur daß eines von den Fenstern weit offen war. Affery saß auf ihrem altvaterischen Fenstersitz und stopfte einen Strumpf. Die gewöhnlichen Gegenstände befanden sich auf dem kleinen Tisch; das gewöhnliche herabgebrannte Feuer flackerte auf dem Kaminrost; auf dem Bette lag das gewöhnliche Bahrtuch; und die Herrin von alledem saß auf ihrem schwarzen bahrenartigen Sofa und stützte sich auf das schwarze eckige Polster, das wie der Block des Henkers aussah.
Und doch war eine unbeschreiblich eigentümliche Luft in dem Zimmer, als wenn sie für eine besondere Gelegenheit gespannt wäre. Woher das kam – da jeder kleine Gegenstand den Platz einnahm, den er seit Jahren eingenommen – konnte niemand sagen, wenn er die Herrin nicht aufmerksam beobachtet hätte, und zwar überdies ausgerüstet mit einer genauen Kenntnis des Gesichts, wie es früher war. Obgleich ihr unveränderliches schwarzes Kleid in jeder Falte noch wie früher lag und ihre unveränderliche Haltung streng beibehalten war, trat ein neuer, an sich unbedeutender Zug in ihrem Gesicht und eine Zusammenziehung der düstern Stirn so scharf hervor, daß dieser Ausdruck sich gleichsam der ganzen Umgebung mitteilte.
»Wer ist das?« sagte sie erstaunt, als die beiden Gefährten eintraten. »Was wollen diese Leute hier?«
»Wer dies sei, verehrte Frau?« versetzte Rigaud. »Nun, das sind Freunde Ihres gefangensitzenden Sohnes. Und was sie wollen, fragen Sie? Zum Teufel, Madame, ich weiß es nicht. Sie werden am besten tun, wenn Sie sie fragen.«
»Sie wissen, Sie sagten uns an der Tür unten, wir sollten noch nicht gehen«, warf Pancks ein.
»Und Sie wissen, Sie sagten mir an der Tür, es sei auch nicht Ihre Absicht zu gehen«, versetzte Rigaud. »Mit einem Worte, Madame, erlauben Sie mir, Ihnen zwei Spione des Gefangenen – verrückte Menschen, aber Spione – vorzustellen. Wenn Sie wünschen, daß sie während unserer kurzen Verhandlung hierbleiben sollen, so sagen Sie es. Es gilt mir gleich.«
»Warum sollte ich wünschen, daß sie hierbleiben?« sagte Mrs. Clennam. »Was habe ich mit ihnen zu schaffen?«
»Dann, teuerste Frau«, sagte Rigaud, indem er so schwer in einen Armstuhl niederfiel, daß das alte Zimmer zitterte, »dann werden Sie gut daran tun, wenn Sie sie entlassen. Es ist Ihre Sache. Sie sind nicht meine Spione, nicht meine Spitzbuben.«
»Hören Sie, Mr. Pancks«, sagte Mrs. Clennam, indem sie zornig die Augenbrauen gegen ihn senkte. »Sie Buchhalter von Casby! Gehen Sie Ihres Prinzipals und Ihren eigenen Geschäften nach. Gehen Sie. Und nehmen Sie den andern Mann mit sich.«
»Danke, Madame«, versetzte Mr. Pancks, »ich freue mich, sagen zu können, ich finde kein Hindernis für unsern Weggang mehr. Wir haben getan, was wir für Mr. Clennam zu tun uns verpflichteten. Seine beständige Sorge (die ihn noch mehr drückte, als er Gefangener wurde) war die, daß dieser angenehme Mensch hierhergebracht werde, an den Ort, von dem er verschwunden ist. Hier ist er nun – wir haben ihn zurückgebracht. Und ich sage es ihm in sein häßliches Gesicht«, fügte Mr. Pancks hinzu, »daß meiner Ansicht nach die Welt ebensogut bestehen könnte, wenn er ganz aus ihr verschwände.«
»Sie werden nicht nach Ihrer Ansicht gefragt«, antwortete Mrs. Clennam. »Gehen Sie.«
»Ich bedauere, Sie nicht in besserer Gesellschaft lassen zu können«, sagte Pancks, »und bedauere außerdem, daß Mr. Clennam nicht zugegen sein kann. Es ist meine Schuld, daß dies der Fall ist.«
»Sie meinen, seine eigene?« versetzte sie.
»Nein, ich meine, die meinige, Madame«, sagte Pancks, »denn es war mein Unglück, daß ich ihn zu dieser verderblichen Geldanlage veranlaßte.« (Mr. Clennam hielt immer noch an diesem Worte fest und sagte nie Spekulation.) »Obgleich ich durch Zahlen beweisen kann«, fügte Mr. Pancks mit kummervollem Ausdruck des Gesichts hinzu, »daß es eigentlich aller Berechnung nach eine günstige Geldanlage hätte sein sollen. Ich habe die Sache, seitdem sie fehlgeschlagen ist, Tag für Tag berechnet und wieder berechnet, und sie geht immer – als Zahlenfrage betrachtet – siegreich aus der Berechnung hervor. Hier ist nicht Zeit und Ort«, fuhr Mr. Pancks mit einem sehnsüchtigen Blick in seinen Hut fort, in dem seine Berechnungen lagen, »um auf Zahlen einzugehen, aber die Zahlen lassen sich nicht bestreiten. Mr. Clennam müßte jetzt in seinem Wagen mit zwei Pferden sitzen, und ich müßte drei- bis fünftausend Pfund verdient haben.«
Mr. Pancks strich sein Haar mit einem Ausdruck der Zuversichtlichkeit, der kaum hätte intensiver sein können, wenn er jenes Geld in der Tasche gehabt hätte, in die Höhe. Diese unwiderleglichen Zahlen waren die Beschäftigung jedes freien Augenblicks gewesen, seit er sein Geld verloren, und sollten ihn bis an das Ende seiner Tage trösten.
»Genug jedoch davon«, sagte Mr. Pancks. »Altro, alter Junge. Sie haben die Zahlen gesehen und Sie wissen, wie sie herauskommen.« Mr. Baptist, der nicht das geringste Rechentalent besaß, sich in solcher Weise zu entschädigen, nickte und zeigte, dabei die glänzendsten Zähne.
Mr. Flintwinch hatte ihn inzwischen angesehen und sagte jetzt zu ihm:
»Oh! Sind Sie es? Ich dachte, ich erinnerte mich Ihres Gesichts, aber ich war meiner Sache nicht gewiß, bis ich Ihre Zähne sah. Ah! ja, Sie sind's. Dieser dienstfertige Flüchtling war es«, sagte Jeremiah zu Mrs. Clennam, »der an die Tür pochte in der Nacht, als Arthur und Chatterbox hier waren, und der einen ganzen Katechismus von Fragen wegen Mr. Blandois an mich richtete.«
»Das ist wahr«, bestätigte Baptist freundlich. »Und sehen Sie nun, Padron! Ich habe ihn daraufhin wirklich gefunden.«
»Ich hätte nichts dagegen gehabt«, versetzte Mr. Flintwinch, »wenn Sie daraufhin wirklich den Hals gebrochen hätten.«
»Und jetzt«, sagte Mr. Pancks, dessen Auge oft verstohlen nach dem Fenstersitz und dem Strumpf hinübergeblickt hatte, der dort gestopft wurde, »jetzt habe ich nur ein Wort zu sagen, ehe ich gehe. Wenn Mr. Clennam hier wäre – aber unglücklicherweise, obgleich er diesem Herrn so weit zuvorgekommen, daß er ihn wider Willen an diesen Ort schaffte, ist er krank und im Gefängnis – krank und im Gefängnis, der arme Junge – wenn er hier wäre«, sagte Mr. Pancks, indem er einen Schritt seitwärts nach dem Fenstersitz machte und seine rechte Hand auf den Strumpf legte, »würde er sagen: ›Affery, erzählen Sie Ihre Träume!‹«
Mr. Pancks hielt seinen rechten Zeigefinger zwischen seine Nase und den Strumpf, mit dem gespenstischen Ausdruck der Mahnung, drehte sich um, dampfte hinaus und nahm Mr. Baptist ins Schlepptau. Man hörte die Haustür hinter ihnen ins Schloß fallen, hörte ihre Tritte auf dem dumpfen Pflaster des hallenden Hofes, und noch hatte niemand ein Wort gesprochen, Mrs. Clennam und Jeremiah hatten einen Blick gewechselt und sahen dann unverrückt auf Affery, die eifrig mit dem Stopfen des Strumpfes beschäftigt dasaß.
»Nun!« sagte Mr. Flintwinch endlich, indem er sich um ein bis zwei Kurven nach dem Fenstersitz zu höherschraubte und sich die Hände an seinem Frackflügel rieb, als wenn er sich etwas mit ihnen zu unternehmen rüstete: »Es wäre besser, wenn wir mit dem, was unter uns zu verhandeln ist, sogleich begännen, ohne weiter Zeit zu verlieren. Affery, Frau, mache, daß du fortkommst!«
In einem Augenblick hatte Affery den Strumpf beiseite gelegt, war aufgesprungen, hatte die Fensterbank mit der rechten Hand angefaßt, das rechte Knie auf den Fenstersitz gestemmt und schwang nun die linke Hand, um den erwarteten Angriff abzuwehren.
»Nein, ich will nicht, Jeremiah – nein, ich will nicht – nein, ich will nicht! Ich will nicht gehen, ich will hierbleiben. Ich will alles hören, was ich noch nicht weiß, und alles sagen, was ich weiß. Ich will's, wenn ich darum stürbe! Ich will's, ich will's, ich will's, ich will's!«
Mr. Flintwinch, der vor Staunen und Entrüstung ganz starr war, befeuchtete die Finger der einen Hand an seinen Lippen, beschrieb mit ihnen einen Kreis im Innern der andern Hand und bewegte sich mit einem drohenden Grinsen auf seine Frau zu, indem er eine Bemerkung hervorjapste, von der in seinem heftigen Zorn nur die Worte: »Solch eine Dosis!« vernehmbar waren.
»Nicht einen Schritt näher, Jeremiah!« rief Affery, die nicht aufhörte, in der Luft umherzufahren. »Nicht einen Schritt näher, oder ich rufe die Nachbarschaft herbei! Ich springe zum Fenster hinaus! Ich schreie Feuer und Mord! Ich wecke die Toten auf! Bleib, wo du bist, oder ich schreie so laut, daß die Toten aufwachen!«
Die entschiedene Stimme von Mrs. Clennam rief: »Halt!« Jeremiah hatte bereits innegehalten.
»Es ist gut, Flintwinch. Lassen Sie sie gehen. Affery, empörst du dich nach so vielen Jahren gegen mich!«
»Ja, wenn das Empörung heißt, zu hören, was ich nicht weiß, und zu sagen, was ich weiß. Ich habe nun einmal begonnen und kann nicht zurückgehen. Ich bin entschlossen, die Sache durchzuführen. Ich will es durchführen, ich will, ich will, ich will! Wenn das Empörung heißt, ja: ich empöre mich gegen die beiden Gescheiten. Ich sagte Arthur, als er in die Heimat zurückkehrte, er solle gegen Sie auftreten. Ich sagte ihm, wenn ich mich meines Lebens bei Ihnen fürchte, so sei das kein Grund für ihn. Alle möglichen Dinge sind seitdem geschehen, und ich will nicht, daß mich Jeremiah zu Boden schmettert, noch die Augen mir ausreißt, noch mich schreckt, noch mich zu irgend etwas mißbraucht. Ich will es nicht, ich will es nicht, ich will es nicht! Ich will für Arthur auftreten, solange er nichts hat und krank ist und gefangensitzt und nicht selbst für sich eintreten kann. Ich will, ich will, ich will, ich will!«
»Wie kannst du wissen, du Haufen von Konfusion«, fragte Mrs. Clennam streng, »daß du durch die Art, wie du verfährst, Arthur auch wirklich dienst?«
»Ich weiß nichts ganz gewiß«, sagte Affery; »und wenn Sie je ein wahres Wort in Ihrem ganzen Leben gesprochen, so ist es das, daß Sie mich einen Haufen Konfusion heißen, denn Sie beide Gescheite haben Ihr möglichstes getan, um mich dazu zu machen. Sie haben mich verheiratet, ob ich wollte oder nicht, und haben mich recht hübsch seit dieser Zeit in einem Traum und in einer Furcht erhalten, wie solche bis jetzt unerhört war. Was können Sie anderes von mir erwarten, als daß ich ein Haufen Konfusion bin? Sie wollten mich zu einem solchen machen, und es ist Ihnen gelungen; aber ich will nicht länger die Unterwürfige spielen; nein, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« Sie schlug immer noch in der Luft herum, um jede Annäherung unmöglich zu machen.
Nachdem sie sie schweigend angesehen hatte, wandte sich Mrs. Clennam an Rigaud. »Sie sehen und hören dieses törichte Geschöpf. Haben Sie etwas dagegen, daß eine solche verwirrte Person bleibt, wo sie ist?«
»Ich, Madame?« versetzte er. »Ich? Das ist Ihre Sache.«
»Ich habe nichts dagegen«, sagte sie finster. »Es bleibt wenig anderes übrig. Flintwinch, die Sache drängt.«
Mr. Flintwinch antwortete, indem er einen Blick furchtbarer Rache auf seine Frau warf und, wie um sich zu halten, damit er nicht auf sie losfahre, seine verschränkten Arme in die Brust seiner Weste steckte und, sein Kinn ganz nahe an den Ellbogen, in einer Ecke stand, indem er Rigaud so in der wunderlichsten Stellung beobachtete. Rigaud dagegen stand auf aus seinem Stuhl und setzte sich auf den Tisch, indem er die Füße baumeln ließ. In dieser bequemen Stellung sah er in Mrs. Clennams gesetztes Gesicht, während sein Bart sich bäumte und seine Nase darüber herabkam.
»Madame, ich bin ein Gentleman –«
»Von dem«, unterbrach sie ihn in ihrem gemessenen Ton, »von dem ich entehrende Dinge wie Gefangenschaft in Frankreich und Anklage auf Mord vernommen.«
Er warf ihr mit übertriebener Galanterie eine Kußhand zu. »Ganz richtig. Genau so war es. Und noch dazu an einer Dame! Welche Abgeschmacktheit! Wie unglaublich! Ich hatte damals die Ehre, mich großen Erfolgs rühmen zu können: ich hoffe, daß dies jetzt wieder der Fall sein wird. Ich küsse Ihnen die Hand, Madame. Ich bin ein Gentleman (wollt' ich bemerken), der, wenn er sagt: ›Ich will diese oder jene Angelegenheit in dieser Sitzung zum Abschluß bringen‹, sie auch wirklich zum Abschluß bringt. Ich erkläre Ihnen, daß wir heute unsere letzte Sitzung wegen unseres kleinen Geschäfts halten. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«
Sie heftete ihre Augen auf ihn, während sich ihre Stirn runzelte, und sagte: »Ja«.
»Ferner bin ich ein Gentleman, der mit dem rein kaufmännischen Geschäftsbetrieb nicht vertraut ist, der aber immerhin Sinn für das Geld hat, da es ihm die Mittel bietet, sich Vergnügen zu verschaffen. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«
»Kaum nötig zu fragen, möchte man sagen. Ja.«
»Ferner bin ich ein Gentleman von der sanftesten und zartesten Gemütsart, der jedoch, wenn man seinen Spaß mit ihm treiben will, wütend wird. Edle Naturen werden in solchen Fällen immer wütend. Ich besitze eine edle Natur. Wenn der Löwe gereizt ist – das heißt, wenn ich wütend werde –, so liegt mir die Befriedigung meines Rachedurstes so sehr am Herzen wie das Geld. Sie haben doch die Güte, meinen Worten zu folgen und zu begreifen?«
»Ja«, antwortete sie etwas lauter als früher.
»Lassen Sie sich nicht durch mich aus Ihrer Ruhe bringen, bitte, verhalten Sie sich ganz ruhig. Ich sagte, wir seien jetzt zu unserer letzten Sitzung gekommen. Erlauben Sie mir, die beiden früheren Sitzungen kurz zu vergegenwärtigen.«
»Es ist nicht nötig.«
»Tod und Teufel, Madame«, brach er los, »ich will aber! Außerdem ebnet es den Weg. Die erste Sitzung war sehr beschränkt. Ich hatte die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen – meine Briefe zu übergeben; ich bin ein Industrieritter, wenn Sie wollen, Madame, aber meine feinen Manieren hatten mir, der vieler Sprachen mächtig ist, unter Ihren Landsleuten, die so steif sind wie ihre gegenseitige Steifheit, gegenüber einem Fremden von feinen Manieren jedoch gern etwas ungezwungener werden, mir so viel Erfolge verschafft und mich zwei bis drei Kleinigkeiten in diesem ehrenwerten Hause herausfinden lassen«, – er blickte im Zimmer umher und lächelte – »daß ich wußte, was nötig war, um mich zu vergewissern und zu überzeugen, daß ich das ausgezeichnete Vergnügen habe, die Bekanntschaft der Dame zu machen, die ich suchte. Dies gelang mir. Ich gab unserm teuren Flintwinch mein Ehrenwort, daß ich zurückkehren wolle. Ich reiste gnädigst ab.«
Sie gab weder ihre Zustimmung zu erkennen, noch machte sie Einwendungen. Er mochte innehalten oder sprechen, ihr Gesicht zeigte ihm immer dieselbe aufmerksame gerunzelte Stirn und machte den früher erwähnten Eindruck auf ihn, daß sie alle ihre Kraft für die Verhandlung zusammengenommen.
»Ich sage, ich reiste gnädigst ab, weil es gnädig war, wegzugehen, ohne eine Dame in Aufruhr zu bringen. Moralisch gnädig zu sein, nicht weniger denn physisch, ist eine Eigenschaft des Charakters von Rigaud Blandois. Auch war es schlau: da ich Sie verließ, während über Ihnen eine Gefahr schwebte, mußten Sie mich ja an irgendeinem Tag mit einiger Angst erwarten. Aber Ihr Sklave ist schlau. Beim Himmel, Madame, schlau! Kehren wir zur Sache zurück. An jenem unbestimmten Tage habe ich wieder die Ehre, mich nach Ihrer Wohnung zu begeben. Ich gebe zu verstehen, daß ich etwas zu verkaufen habe, das, wenn es nicht gekauft wird, die Dame, die ich so hoch schätze, kompromittieren muß. Ich erkläre mich im allgemeinen. Ich verlange – ich glaube, es waren tausend Pfund. Wollen Sie mich berichtigen?«
So zu sprechen genötigt, antwortete sie mit einigem Zwang: »Sie verlangten tausend Pfund.«
»Jetzt verlange ich zweitausend. Das sind die üblen Folgen des Zögerns. Aber noch einmal darauf zurückzukommen. Wir sind nicht eines Sinnes in dieser Sache; wir differieren. Ich scherze gern; Scherz ist eine Eigenschaft meines liebenswürdigen Charakters. Im Scherz gesprochen, mir wird wie einem zumute, der ermordet und versteckt worden ist. Denn es mag für Madame nur die halbe Summe wert sein, von dem Verdacht, den mein drolliger Gedanke erweckt, gereinigt zu werden. Zufall und Spione mischen sich darein, verderben meinen Scherz und verderben die Frucht, vielleicht – wer weiß? nur Sie und Flintwinch – gerade, wenn sie reif ist. Deshalb, Madame, bin ich zum letzten Male hier. Hören Sie! Entschieden zum letzten Male!«
Während er mit seinen schlenkernden Stiefelabsätzen an die Klappe des Tisches schlug und ihrem finsteren Gesicht mit einem unverschämten Blick begegnete, begann er einen stolzeren Ton anzuschlagen.
»Bah! Warten Sie einen Augenblick! Lassen Sie uns Schritt für Schritt vorgehen. Hier ist meine Wirtshausrechnung, die vertragsmäßig bezahlt werden muß. Fünf Minuten später sind wir vielleicht im bittersten Streite begriffen. Ich will es nicht bis dahin anstehen lassen. Sie möchten mich sonst darum betrügen. Bezahlen Sie die Rechnung. Zählen Sie mir das Geld vor.«
»Nehmen Sie sie aus seiner Hand und bezahlen Sie, Flintwinch«, sagte Mrs. Clennam.
Er warf sie Mr. Flintwinch ins Gesicht, als der alte Mann näher trat, um sie in Empfang zu nehmen: dann streckte er seine Hand aus und wiederholte geräuschvoll: »Bezahlen Sie! Geben Sie das Geld! Gutes Geld!«
Jeremiah hob die Rechnung auf, sah mit blutunterlaufenem Auge nach der Summe, nahm einen kleinen Kanevasbeutel aus der Tasche und zahlte ihm den Betrag in die Hand.
Rigaud klimperte mit dem Geld, wog es in seiner Hand, warf es etwas in die Höhe, fing es wieder auf und klimperte noch einmal.
»Der Klang dieses Geldes ist für den kühnen Rigaud Blandois wie der Genuß von frischem Fleisch für den Tiger. So sagen Sie denn, Madame. Wieviel?«
Er drehte sich rasch mit einer drohenden Bewegung der vollen Hand, die das Geld einschloß, nach ihr um, als ob er die Absicht hätte, sie damit zu schlagen.
»Ich sage Ihnen noch einmal, wie ich Ihnen früher schon sagte, daß wir hier nicht so reich sind, wie Sie wohl von uns vermuten, und daß Ihr Verlangen unmäßig ist. Ich habe die Mittel nicht gegenwärtig, um einem solchen Verlangen zu genügen, selbst wenn ich es zu erfüllen auch noch so geneigt wäre.«
»Wenn!« rief Blandois. »Hört diese Dame mit ihrem ›Wenn‹! Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht dazu geneigt sind?«
»Ich will sagen, wie die Sache sich mir darstellt, nicht wie Ihnen.«
»So sagen Sie denn, ob Sie geneigt sind. Rasch. Kommen Sie zu dem Punkt, ob Sie geneigt sind, und ich weiß, was zu tun ist.«
Sie antwortete nicht rascher und nicht langsamer. »Es scheint, Sie seien in den Besitz eines Papiers – oder mehrerer Papiere – gekommen, die ich allerdings wieder an mich zu bringen geneigt bin.«
Rigaud trommelte laut lachend mit den Absätzen an dem Tisch und klimperte mit seinem Geld. »Ich denke wohl! Ich glaube, daß das Ihre Absicht ist.«
»Das Papier mag für mich eine Summe Geldes wert sein, ich kann nicht sagen, wieviel oder wie wenig.«
»Was zum Teufel?« fragte er wild. »Nicht mal, nachdem ich Ihnen eine Woche Bedenkzeit gegeben?«
»Nein! Ich werde nicht aus meinen schwachen Mitteln – denn ich sage Ihnen noch einmal, wir sind hier arm und nicht reich – Ihnen einen Preis für eine Macht bestimmen, deren volle und schlimmste Tragkraft ich nicht kenne. Es ist zum dritten Male, daß Sie bloß andeuten und drohen. Sie müssen sich genau erklären, oder Sie mögen gehen, wohin Sie wollen, und tun, was Sie wollen. Es ist besser, auf einmal zerrissen zu werden, als die Maus für die Laune einer solchen Katze zu sein.«
Er sah sie mit seinen Augen, die viel zu nahe beieinander standen, so gefühllos an, daß der unheimliche Blick des einen, der sich mit dem des andern kreuzte, die Brücke seiner gebogenen Nase zu verschieben schien. Nachdem er sie lange angesehen hatte, sagte er, sein höllisches Lächeln fortsetzend:
»Sie sind eine kühne Frau!«
»Ich bin eine entschlossene Frau.«
»Das waren Sie immer. Wie? Das war sie immer; nicht wahr, mein kleiner Flintwinch?«
»Flintwinch, sprechen Sie nichts mit ihm. Es ist an ihm, hier und jetzt alles zu sagen, was er sagen kann; oder er mag fortgehen und tun, was er kann. Sie wissen, daß das unser Entschluß ist. Lassen Sie ihn nun tun, was ihm beliebt.«
Sie wich seinem scheelen Blick nicht aus und vermied ihn nicht. Er richtete ihn wieder auf sie, aber sie blieb unverwandt in der Stellung, die sie einmal gewählt. Er verließ den Tisch, stellte einen Stuhl an das Sofa, setzte sich darein und lehnte den Arm auf jenes, dicht neben den ihren, den er mit seiner Hand berührte; ihr Gesicht war immer finster, aufmerksam und ruhig.
»Es ist also Ihr Wunsch, Madame, daß ich ein Stück Familiengeschichte in dieser kleinen Familienversammlung erzähle«, sagte Rigaud, mit einer warnenden Bewegung seiner gelenkigen Finger auf ihrem Arm. »Ich bin ein wenig Arzt. Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen.«
Sie gestattete es, daß er ihr Gelenk in seine Hand nahm. Dann fuhr er fort, während er dieses hielt:
»Eine Geschichte von einer seltsamen Heirat und einer seltsamen Mutter, und einer Rache und einer Unterschlagung. – Ei, ei, ei! Der Puls schlägt wunderlich! Es scheint mir, daß er sich verdoppelt, während ich ihn in der Hand halte. Kommt dieser Wechsel in Ihrer Krankheit gewöhnlich vor, Madame?«
Es war ein Kampf in ihrem gelähmten Arm, als sie ihn wegzog, aber es war kein Kampf in ihrem Gesicht. Auf seinem Gesicht spielte sein eigentümliches Lächeln.
»Ich habe ein abenteuerliches Leben geführt. Ich bin ein abenteuerlicher Charakter. Ich habe manche Abenteurer gekannt, interessante Menschen – liebenswürdige Gesellschaft. Einem von ihnen verdanke ich meine Wissenschaft und meine Beweise – ich wiederhole es, schätzbarste Dame, – Beweise – von der reizenden kleinen Familiengeschichte, die ich nun zu erzählen im Begriff bin. Sie werden entzückt sein darüber. Bah, bah! Ich vergesse. Man muß einer Geschichte auch einen Namen geben. Soll ich sie die Geschichte eines Hauses nennen? Aber nein! Es gibt so viele Häuser. Soll ich sie die Geschichte dieses Hauses heißen?«
Über das Sofa gelehnt, auf zwei Beinen seines Stuhles und seinem linken Ellbogen sich wiegend, mit der Hand ihren Arm berührend, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; die Beine kreuzend, während seine rechte Hand bald sein Haar in Ordnung brachte, bald seinen Bart, bald seine Nase strich und, was sie auch tun mochte, eine drohende Haltung hatte, grob, unverschämt, raubsüchtig, grausam und eindringlich setzte er seine Erzählung gemächlich fort.
»Kurz, ich nenne sie die Geschichte dieses Hauses. Ich beginne: Es wohnen hier, wollen wir annehmen, ein Onkel und ein Neffe. Der Onkel, ein strenger, alter Mann von starkem Charakter; der Neffe, gewöhnlich schüchtern, gedrückt und unter einem Zwange lebend.«
Mrs. Affery, die in ihrem Fenstersitz ganz Auge und Ohr war und, an ihrem Schürzenende nagend, von Kopf bis zu Fuß zitterte, rief, als er dies sagte: »Jeremiah, komm mir nicht nahe! Ich habe in meinen Träumen von Arthurs Vater und seinem Onkel gehört! Er spricht von diesen. Es war, bevor ich hierherkam; aber ich hörte in meinen Träumen, daß Arthurs Vater ein armer, unselbständiger, eingeschüchterter Mensch war, dem man nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, als er noch jung war, und der bei der Wahl seiner Frau keine Stimme hatte; denn sein Onkel wählte sie für ihn. Da sitzt sie! Ich hörte es in meinen Träumen, und Sie sagten es ja auch zu ihr.«
Während Mr. Flintwinch mit der Faust ihr drohte und Mrs. Clennam sie anstarrte, warf Rigaud ihr eine Kußhand zu.
»Ganz richtig, liebe Madame Flintwinch, Sie haben ein Talent für das Träumen.«
»Ich will nicht von Ihnen gelobt sein«, versetzte Affery. »Ich habe überhaupt nichts mit Ihnen zu schaffen. Aber Jeremiah sagt, es seien Träume, und ich will sie Ihnen als solche erzählen!« Dabei steckte sie wieder ihre Schürze in den Mund, als ob sie eines andern Mund stopfte – vielleicht den von Jeremiah, der mit Drohungen zitterte, als wenn er schrecklich fröre.
»Unsere liebe Madame Flintwinch«, sagte Rigaud, »entfaltet plötzlich eine solche Feinfühligkeit und Geistigkeit, daß sie ein wahres Wunder ist. Ja. So ist die Geschichte. Der Herr Onkel befiehlt dem Neffen zu heiraten. Dieser Herr sagt wirklich zu ihm: ›Mein Neffe, ich führe dich zu einer Dame von starkem Charakter, ganz wie ich selbst; einer entschlossenen Dame, einer ernsten Dame, einer Dame, deren Wille den Schwachen zu Staub zerdrücken kann; einer Dame ohne Mitleid, ohne Liebe, unversöhnlich, rachsüchtig, kalt wie Stein, aber ungestüm wie das Feuer.‹ Ha, welche Seelenstärke! Ha, welche Überlegenheit an geistiger Kraft! Wahrhaftig, ein stolzer und edler Charakter, den ich in den angeführten Worten des Herrn Onkels beschreibe. Ha, ha, ha! Tod meiner Seele, ich liebe diese süße Dame.«
Mrs. Clennams Gesicht hatte einen andern Ausdruck angenommen. Es hatte sich sichtlich dunkler gefärbt, und die Stirn war mehr zusammengezogen als gewöhnlich.
»Madame, Madame«, sagte Rigaud, indem er sie auf den Arm streichelte, als wenn seine grausame Hand ein musikalisches Instrument probierte, »ich merke, daß ich Sie interessiere. Ich merke, daß ich Ihre Teilnahme rege mache. Lassen Sie uns fortfahren.«
Er mußte jedoch die sich senkende Nase und den sich bäumenden Schnurrbart zuvor mit der weißen Hand einen Augenblick bedecken, ehe er fortfahren konnte; so sehr freute er sich über die Wirkung, die seine Worte hervorbrachten.
»Da der Neffe, wie die erleuchtete Madame Flintwinch bemerkte, ein armer Teufel war, dem man durch Furcht und Hunger nichts als sein armseliges Waisenbewußtsein gelassen, – so verbeugt sich der Neffe und gibt die Antwort: ›Mein Onkel, Sie haben zu befehlen, tun Sie, wie Ihnen beliebt!‹ Der Herr Onkel tut, wie ihm beliebt. Ganz wie von jeher. Die glückversprechende Heirat findet statt; die Neuverheirateten kommen in dieses reizende Haus; die Dame, wollen wir annehmen, wird von Flintwinch empfangen. Hm, alter Intrigant?«
Jeremiah, der seine Augen auf seine Herrin geheftet hatte, antwortete nicht. Rigaud sah bald den einen, bald den andern an, strich an seiner häßlichen Nase und schnalzte mit der Zunge.
»Die Dame macht ehestens eine eigentümliche und beunruhigende Entdeckung; voll Zorn, voll Eifersucht, voll Rache entwirft sie – beachten Sie wohl, Madame! – einen Racheplan, dessen ganze Schwere sie scharfsinnigerweise ihren vernichteten Gatten sowohl selbst zu tragen, als auch auf ihre Feindin zu werfen zwingt. Welch überlegener Geist!«
»Laß ihn nicht weiter sprechen, Jeremiah!« rief Affery mit Herzklopfen, indem sie die Schürze wieder aus dem Munde zog. »Aber es war einer meiner Träume, daß du ihr sagtest, als du eines Winterabends mit ihr in der Dunkelheit strittest – sie saß hier, und du sahst sie an –, sie hätte von Arthur, als er nach Hause kam, es durchaus nicht dulden sollen, daß er auch nur den leisesten Verdacht auf seinen Vater werfe; sie habe immer die Stärke und die Macht gehabt; und sie hätte Arthur gegenüber für seinen Vater kräftiger auftreten sollen. In demselben Traume sagtest du zu ihr, sie sei nicht – nicht, ich weiß nicht was, denn sie fuhr heftig auf und brachte dich zum Schweigen. Du kennst den Traum so gut wie ich. Es war damals, als du mit dem Licht in der Hand die Treppe herabkamst und mir die Schürze vom Kopfe rissest; damals, als du mir sagtest, ich hätte geträumt, und als du nicht an das Geräusch glauben wolltest.« Nach diesem Ausbruch steckte Affery wieder die Schürze in den Mund; dabei hielt sie immer die Fensterbank fest und kniete auf dem Fenstersitz, bereit, jeden Augenblick aufzuschreien oder loszufahren, wenn ihr Herr und Meister sich näherte.
Rigaud hatte von alledem nicht ein Wort verloren.
»Haha!« rief er, die Augenbrauen emporziehend, seine Arme kreuzend und im Stuhl sich zurücklehnend. »Ganz gewiß, Madame, Flintwinch ist ein Orakel! Wie sollen wir das Orakel erklären, Sie und ich und der alte Intrigant? Er sagte, Sie seien nicht –? Und Sie fuhren heftig auf und brachten ihn zum Schweigen! Was ist das, was Sie nicht waren? Was ist das, was Sie nicht sind? Sprechen Sie, Madame!«
Bei diesem frechen Spott atmete sie schwerer, und ihr Mund war unruhig. Ihre Lippen zitterten und öffneten sich, obgleich sie sich die größte Mühe gab, sie ruhig zu halten.
»Nun, Madame! Sprechen Sie! Unser alter Intrigant sagte, Sie seien nicht – und Sie brachten ihn zum Schweigen. Er war im Begriff zu sagen, Sie seien nicht – was? Ich weiß es bereits, aber ich verlange etwas Vertrauen von Ihrer Seite. Nun denn? Sie seien nicht, was?«
Sie versuchte, sich wieder zusammenzunehmen, brach aber ungestüm in die Worte aus: »Nicht Arthurs Mutter!«
»Gut«, sagte Rigaud. »Sie sind gehorsam.«
Der gesetzte Ausdruck ihres Gesichts war durch den Ausbruch ihrer Leidenschaft verschwunden, und aus jeder Falte ihres Gesichts brach das so lange zurückgehaltene dampfende Feuer, als sie ausrief: »Ich will es selbst sagen! Ich will es nicht von Ihren Lippen hören, da sonst der Flecken Ihrer Bosheit daran klebt. Wenn es einmal an den Tag kommen muß, will ich, daß man es in dem Licht sehe, in dem ich stand. Kein Wort mehr. Hören Sie mich!«
»Wenn Sie nicht eine halsstarrigere und hartnäckigere Frau sind, als ich Sie kenne«, warf Mr. Flintwinch ein, »so würden Sie besser daran tun, wenn Sie Mr. Rigaud, Mr. Blandois, Mr. Beelzebub es auf seine Weise sagen ließen. Was hat es zu bedeuten, wenn er alles weiß?«
»Er weiß nicht alles.«
»Er weiß alles, woran ihm zu wissen liegt«, drängte Mr. Flintwinch mürrisch.
»Er kennt mich nicht.«
»Was glauben Sie denn, daß er sich um Sie kümmern werde, Sie eingebildete Frau?« sagte Mr. Flintwinch.
»Ich sage Ihnen, Flintwinch, ich will sprechen. Ich sage Ihnen, da es so weit gekommen, so will ich es mit meinen eigenen Lippen sagen und mich ganz und gar aussprechen. Habe ich nichts in diesem Zimmer gelitten, keine Entbehrung, keine Gefangenschaft, um mich zuletzt dazu herbeizulassen, daß man mich durch ein solches Glas wie dieses betrachte! Können Sie ihn sehen? Können Sie ihn hören? Wenn Ihre Frau hundertmal so undankbar wäre, wie sie ist, wenn ich tausendmal weniger Hoffnung hätte, als ich wirklich habe, sie zum Schweigen zu bringen, wofern dieser Mann zum Schweigen gebracht ist, so würde ich es doch lieber selbst sagen, ehe ich die Qual ertrüge, es vom ihm zu hören.«
Rigaud schob seinen Stuhl etwas zurück; streckte seine Füße gerade vor sich aus und saß mit gekreuzten Armen ihr gegenüber.
»Sie wissen nicht, was es heißt«, fuhr sie, an ihn gewandt, fort, »streng und hart erzogen zu werden. Ich wurde so erzogen. Ich kannte keine Jugend irdischer Heiterkeit und Lust. Ich kannte nur Tage heilsamer Unterdrückung, Züchtigung und Furcht. Die Verdorbenheit unsrer Herzen – das Böse unsres Treibens, der Fluch, der auf uns lastet, die Schrecken, die uns umgeben – das waren die Gedanken, mit denen meine Kindheit beschäftigt wurde. Sie bildeten meinen Charakter und erfüllten mich mit Abscheu vor denen, die Böses tun. Als der alte Mr. Gilbert Clennam seinen verwaisten Neffen meinem Vater als Gatten für mich vorschlug, wies mich mein Vater nachdrücklich darauf hin, daß seine Erziehung wie die meine von der größten Strenge geleitet gewesen sei. Er sagte mir, daß, abgesehen von der Zucht, in der sein Geist gehalten worden, er in einem sparsamen Hause gelebt habe, wo Schwelgerei und Heiterkeit unbekannte Gäste seien, und wo jeder Tag wie der vorhergehende ein Tag voll Mühe und Last war.
Er sagte mir, er sei ein Mann bei Jahren gewesen, ehe sein Onkel ihn als solchen anerkannt, und daß von seiner Schulzeit bis zu jener Stunde seines Onkels Dach ein Heiligtum für ihn gewesen, das die ansteckende Hand der Irreligiosität und des Leichtsinns nicht berührte. Als ich ein Jahr nach unsrer Hochzeit entdeckte, daß mein Gatte gegen Gott gesündigt und mich beschimpft, indem er einem verbrecherischen Geschöpf meine Stelle eingeräumt, konnte ich da zweifeln, daß es mir auferlegt sei, diese Entdeckung zu machen, und daß es mir bestimmt sei, die strafende Hand an dieses verdorbene Geschöpf zu legen? Sollte ich in einem Augenblick – nicht die mir widerfahrene Unbill – was war ich! – sondern all den Abscheu vor der Sünde und all den Kampf gegen sie, in dem ich erzogen wurde, vergessen?«
Sie legte ihre zornige Hand auf die Uhr, die auf dem Tisch lag.
»Nein! ›Vergiß nicht!‹ Die Initialen dieser Worte stehen jetzt hier innen und standen damals hier innen. Es war mir bestimmt, den alten Brief zu finden, der darauf Bezug hatte und mir sagte, was sie bedeuten sollten, und wessen Arbeit sie waren, und weshalb sie gestickt wurden; jener Brief lag bei dieser Uhr in seiner geheimen Schieblade. Wäre es mir nicht bestimmt gewesen, ich hätte die Entdeckung nicht gemacht. ›Vergiß nicht.‹ Es sprach zu mir wie eine Stimme aus einer Zorneswolke. Vergiß nicht die Todsünde. Vergiß nicht die dir bestimmte Entdeckung. Vergiß nicht das dir bestimmte Leiden. Ich habe nicht vergessen. Was ist die mir widerfahrene Unbill, von der ich sprach? Meine Unbill! Ich war ja nur eine Dienerin und ein Werkzeug. Welche Macht hätte ich über sie haben können, wenn sie nicht in den Banden ihrer Sünde gelegen und mir ausgeliefert gewesen wären!«
Mehr als vierzig Jahre waren über das graue Haupt dieser entschlossenen Frau seit der Zeit hingegangen, von der sie sprach. Mehr als vierzig Jahre unausgesetzten Kämpfens und Ringens, und es ging ein Geflüster, daß, welchen Namen sie auch ihrem rachesüchtigen Stolz und Grimm geben mochte, nichts in alle Ewigkeit ihre Natur zu ändern imstande sein würde. Nachdem jedoch diese vierzig Jahre vorübergegangen waren und diese Nemesis ihr nun ins Gesicht schaute, beharrte sie dennoch bei ihrer alten Gottlosigkeit – verdrehte die Ordnung der Schöpfung und blies ihren Atem einem Lehmbilde ihres Schöpfers ein. Wahrlich, wahrlich, viele Reisende haben viele ungeheuerliche Idole in vielen Ländern gesehen; aber kein menschliches Auge sah je keckere, gröbere und widrigere Bilder der göttlichen Natur, als wir Staubgeborene aus unsern schlechten Leidenschaften uns zum Bilde schaffen.
»Als ich ihn zwang, mir ihren Namen und ihre Wohnung zu nennen«, fuhr sie in der vollen Entrüstung ihrer Verteidigung fort; »als ich ihr Vorwürfe machte und sie, ihr Gesicht bedeckend, mir zu Füßen fiel, war es da meine Kränkung, wegen der ich mich erhob, waren es meine Vorwürfe, die ich auf sie schleuderte? Die, die in alten Zeiten auserwählt wurden, zu gottlosen Königen zu gehen und sie anzuklagen – waren das nicht Werkzeuge und Diener? Und hatte ich Unwürdige und weit unter ihnen Stehende keine Sünde zu bekennen? Als sie mir ihre Jugend vorhielt und sein elendes und hartes Leben (das war ihr Ausdruck für die tugendhafte Erziehung, die er Lügen gestraft hatte) und die entweihte Hochzeitszeremonie, die sie im geheimen begangen, und die Schrecken des Mangels und der Schande, die über ihnen geschwebt, als ich zuerst die Mission erhielt, das Werkzeug ihrer Züchtigung zu werden, und die Liebe vorhielt (denn sie gebrauchte das Wort, als sie zu meinen Füßen lag), um deretwillen sie ihn verlassen und ihn mir wieder geschenkt, war es da mein Feind, der mein Schemel wurde, waren es die Worte meines Zornes, die sie niederschmetterten und erbeben machten? Nicht mir darf diese Strenge zugemessen werden; nicht mir die Qual der Sühne!«
Manches Jahr war gekommen und gegangen, seit sie den freien Gebrauch ihrer Finger besessen; aber es war bemerkenswert, daß sie bereits mehr als einmal mit ihrer geballten Hand kräftig auf den Tisch geschlagen hatte, und daß sie bei diesen Worten ihren Arm in die Luft erhob, als wenn dies eine gewöhnliche Gebärde für sie wäre.
»Und was war die Reue, die ich ihrem harten Herzen und ihrer schwarzen Verdorbenheit abringen konnte? Ich rachsüchtig und unversöhnlich? Es mag Leuten wie Ihnen, die keine Gerechtigkeit, keine Mission als die des Satans kennen, so erscheinen. Lachen Sie; aber ich will gekannt sein, wie ich mich kenne und wie Flintwinch mich kennt, obgleich ich es nur mit Ihnen und dieser einfältigen Person zu tun habe.«
»Fügen Sie hinzu, mit sich selbst, Madame«, sagte Rigaud. »Ich habe meine bescheidene Vermutung, daß Madame bemüht ist, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.«
»Das ist falsch. Dem ist nicht so. Ich brauche das nicht«, sagte sie mit großer Energie und Entrüstung.
»Wirklich!« versetzte Rigaud. »Ha!«
»Ich frage, was war die tatsächliche Buße, die man von ihr verlangte? ›Sie haben ein Kind; ich habe keines. Sie lieben dieses Kind, geben Sie es mir. Es soll glauben, daß es mein Sohn, und jedermann soll glauben, daß es mein Sohn ist. Um Sie vor Bloßstellung zu sichern, soll sein Vater schwören, daß er Sie nie wiedersehen noch mit Ihnen verkehren wolle; und um auch ihn davor zu sichern, daß ihn sein Onkel nicht enterbe und sein Kind ein Bettler werde, sollen Sie schwören, keines von beiden je wiederzusehen oder mit ihnen zu verkehren. Wenn dies geschehen und Sie auf die von meinem Manne bezogenen Mittel verzichtet haben, übernehme ich Ihren Unterhalt. Sie mögen dann, während Ihr Aufenthaltsort unbekannt ist, wenn Sie wollen, die Lüge hinterlassen, daß Sie einen guten Namen verdienen, und ich werde nicht widersprechen.‹ Das war alles. Sie hatte ihre sündige und schmachvolle Neigung zu opfern; nicht mehr. Sie konnte die Last ihrer Schuld im stillen tragen, und ihr Herz konnte im stillen brechen. Durch solchen Schmerz in diesem Leben aber (der, sollt' ich denken, leicht genug für sie war) die Erlösung von dem ewigen Verderben sich erkaufen, wenn es ihr möglich wäre. Wenn ich sie hienieden strafte, öffnete ich ihr nicht einen Weg für das Jenseits? Wenn sie sich von unersättlicher Rache und unlöschbaren Feuern umgeben sah, waren diese mein? Wenn ich ihr damals und später mit den Schrecken drohte, die sie umringten, hielt ich sie in meiner rechten Hand?«
Sie drehte die Uhr auf dem Tische, öffnete sie und blickte mit ungemildertem Ausdruck auf die darinstehenden Buchstaben.
»Sie vergaßen sich nicht. Es ist solchen Sünden eigentümlich, daß die Sünder nicht imstande sein sollen zu vergessen. Wenn die Gegenwart Arthurs für seinen Vater ein täglicher Vorwurf war und die Abwesenheit Arthurs ein täglicher Stachel für seine Mutter, so war dies die gerechte Fügung Jehovas. Ebensogut könnte es mir zur Last gelegt werden, daß der Stachel des erwachten Gewissens sie wahnsinnig machte, und daß es der Wille des Lenkers aller Dinge war, daß sie in diesem Zustand viele Jahre lebte. Ich opferte mich, den sonst verlorenen Knaben zu beanspruchen, ihm den Namen ehrlicher Geburt zu geben; ihn in Furcht und Zittern zu erziehen, in einem Leben werktätiger Zerknirschung für die Sünden, die schwer auf seinem Haupt lasteten, ehe er in diese verdammte Welt trat. War das grausam? Litt ich nicht ebenfalls unter den Folgen der ursprünglichen Schande, an der ich keine Mitschuld trug? Arthurs Vater und ich lebten nicht geschiedener voneinander zu der Zeit, da die halbe Erde zwischen uns lag, denn da wir zusammen in diesem Hause wohnten. Er starb und schickte mir diese Uhr mit ihrem ›Vergiß nicht‹. Ich vergesse nicht, obgleich ich diese Worte nicht lese, wie er sie las. Ich lese aus denselben heraus, daß es meine Mission war, dies zu tun. Ich habe diese Buchstaben so gelesen, seit die Uhr auf diesem Tisch liegt. Und ich las sie ebenso deutlich, als sie Tausende von Meilen entfernt waren.«
Als sie das Uhrgehäuse mit jener Freiheit des Gebrauchs der Finger, von der sie kein Bewußtsein zu haben schien, in die Hand nahm und mit den Augen sich darüber herabbeugte, als wollte sie sie herausfordern, sich zu bewegen, rief Rigaud mit lautem und verächtlichem Schnalzen seiner Finger: »Nun, Madame, vorwärts. Die Zeit verfliegt. Vorwärts, Frau des Mitleids, es muß sein! Sie können nichts sagen, was ich nicht wüßte, kommen Sie zu dem gestohlenen Gelde, oder ich werde es tun. Tod meiner Seele, ich habe genug von Ihrem übrigen Geschwätz gehört. Kommen Sie sogleich zu dem gestohlenen Gelde!«
»Schurke, der Sie sind!« antwortete sie, und dabei faßten ihre Hände an ihren Kopf. »Durch welch unglückseligen Irrtum Flintwinchs, durch welche Unvorsichtigkeit seinerseits, da er die einzige damit vertraute und dabei helfende Person war, durch wessen und was für eine Sammlung der Asche eines verbrannten Papieres Sie in den Besitz einer Urkunde gekommen sind, weiß ich so wenig, als wie Sie zu der übrigen Macht an diesem Ort gelangten –«
»Und doch habe ich das wunderliche Glück, an einem nur mir bekannten geeigneten Ort eben diesen kleinen Anhang zu dem Testament von Monsieur Gilbert Clennam zu besitzen, geschrieben von einer Dame und bezeugt von eben dieser Dame und auch dem alten Intriganten! Ah, bah, alter Intrigant, alte krumme Puppe! Madame, lassen Sie uns fortfahren. Die Zeit drängt. Sie oder ich müssen die Sache zu Ende bringen!«
»Ich!« antwortete sie mit gesteigerter Entschiedenheit, wenn eine solche möglich, »ich, weil ich es nicht ertragen werde, mich mit Ihrer abscheulichen Verzerrung meines Bildes vor mir selbst oder einem andern zu zeigen. Sie, mit Ihren Ränken aus abscheulichen fremden Gefängnissen und Galeeren, würden das Geld als meine Triebfeder hinstellen. Es war nicht das Geld.«
»Oho, oho, oho! Ich verzichte für den Augenblick auf meine Höflichkeit und sage: ›Lügen, Lügen, Lügen.‹ Sie wissen, Sie unterschlugen die Urkunde und behielten das Geld.«
»Nicht um des Geldes willen, Schurke!« Sie machte eine Anstrengung, als wenn sie auffahren und in ihrer Entrüstung sich auf ihre lahmen Füße erheben wollte. »Wenn Gilbert Clennam, geistig und körperlich schwach geworden, im Begriff zu sterben und in dem Wahn einer gerührten Stimmung gegenüber einem Mädchen, von dem er gehört, daß sein Neffe einst eine Neigung für sie gehabt, die er in ihm unterdrückt, und daß das Mädchen später in Melancholie und geistiger Zerrüttung untergegangen – wenn er, sage ich, in diesem Zustand der Schwäche mir, deren Leben sie durch ihre Sünde verdunkelt und der es auferlegt war, ihre Gottlosigkeit von ihrer eigenen Hand und ihren eigenen Lippen zu erfahren, ein Legat diktierte, das als eine Entschädigung für vermeintlich unverdientes Leiden gelten sollte, war in diesem Falle kein Unterschied zwischen meiner Widersetzlichkeit gegen diese Ungerechtigkeit und der bloßen Gier nach dem Geld – einer Sache, die Sie und Ihre Kameraden in den Gefängnissen jedermann stehlen?«
»Die Zeit drängt. Bedenken Sie das!«
»Wenn dieses Haus vom Dach bis zum Boden brennte«, entgegnete sie, »würde ich darin bleiben, um mich dagegen zu wehren, daß meine gerechten Motive nicht mit denen von Meuchelmördern und Dieben verwechselt werden.«
Rigaud schnalzte ihr höhnisch in das Gesicht. »Tausend Guineen, für die kleine Schönheit, die Sie langsam zu Tode gehetzt. Tausend Guineen für die jüngste Tochter, die ihr Beschützer im fünfzigsten Jahre hätte, oder (wenn er keinen hätte) für die jüngste Tochter des Bruders, wenn sie mündig wäre, als Anerkennung seiner uneigennützigen Protektion, die er einer freundelosen jungen Waise angedeihen ließ. Zweitausend Guineen. Wie! Sie werden doch endlich zu dem Gelde kommen?«
»Dieser Beschützer«, fuhr sie ungestüm fort, als er sie wieder unterbrach.
»Namen! Nennen Sie ihn Mr. Frederick Dorrit. Keine ausweichenden Redensarten mehr!«
»Dieser Frederick Dorrit war der Anfang von all dem Unglück. Wenn er kein Musiker gewesen wäre und in jenen Tagen seiner Jugend und seines Glückes nicht ein üppiges Haus geführt hätte, wo Sänger und Musiker und solche Kinder des Satans ihren Rücken dem Licht und ihr Gesicht der Finsternis zugekehrt, so wäre sie wohl in ihrer untergeordneten Stellung verblieben und nicht aus ihr hervorgehoben worden, um wieder hinabgeschleudert zu werden. Doch nein. Der Satan kam zu diesem Frederick Dorrit und sagte ihm, er sei ein Mann von unschuldigem und lobenswertem Sinn, der edle Handlungen zu tun imstande wäre, und hier sei ein armes Mädchen mit Talent für den Gesang. Da muß er sie in Unterricht nehmen. Da wird Arthurs Vater, der sich auf den Pfaden rauher Tugend schon lange nach den verruchten Schlingen gesehnt, die man Künste nennt, mit ihr bekannt. Und so trägt eine schamlose Waise, die zur Sängerin abgerichtet wird, durch die Vermittlung dieses Frederick Dorrit den Sieg über mich davon, und ich bin gedemütigt und hintergangen! Nicht ich, soll das heißen«, fügte sie rasch hinzu, während Röte ihr Gesicht übergoß, »ein größerer als ich. Was bin ich?«
Jeremiah Flintwinch, der immer näher zu ihr hinkam und jetzt dicht bei ihr stand, ohne daß sie es wußte, machte ein besonders schiefes, vorwurfsvolles Gesicht, als sie dies sagte, und zupfte außerdem an seinen Gamaschen, als wenn diese die Stellung kleiner Bärte an seinen Beinen einnähmen.
»Kurz«, fuhr sie fort, »denn ich bin zu Ende mit dieser Angelegenheit und werde nicht weiter darüber sprechen, und auch Sie sollen nicht weiter darüber sprechen; alles, was noch bleibt, ist zu entscheiden, ob die Kenntnis dieser Dinge unter uns, die wir hier anwesend sind, bleiben kann: kurz, als ich jenes Papier mit Wissen von Arthurs Vater unterschlug –«
»Aber nicht mit seiner Zustimmung, werden Sie wissen«, sagte Mr. Flintwinch.
»Wer sagte, mit seiner Zustimmung?« Sie erschrak, Jeremiah so nahe bei sich zu sehen, und hielt den Kopf zurück, indem sie ihn mit wachsendem Mißtrauen ansah. »Sie waren oft genug zwischen uns, wenn er wollte, daß ich es herausgebe, und ich nicht wollte, um mir zu widersprechen, wenn ich sagte, mit seiner Zustimmung. Ich sagte, als ich jenes Papier unterschlug, tat ich nichts, es zu vernichten, sondern bewahrte es auf, in diesem Hause, viele Jahre lang. Da das übrige Vermögen Gilberts Arthurs Vater zufiel, konnte ich jederzeit, ohne mehr als die beiden Summen in Zweifel zu stellen, behaupten, ich hätte es gefunden. Aber abgesehen davon, daß ich eine solche Behauptung durch eine direkte Falschheit hätte unterstützen müssen (eine große Verantwortung), sah ich keinen neuen Grund, während meiner ganzen Prüfungszeit, das Papier ans Licht zu bringen. Es war eine Strafe für die Sünde; die schlimme Folge eines Betrugs. Ich tat, was mir zu tun bestimmt war, und ich habe getragen innerhalb dieser vier Wände, was mir zu tragen bestimmt war. Als das Papier endlich – wie ich glaubte – in meiner Gegenwart vernichtet wurde, war sie lange tot, und ihr Beschützer, Frederick Dorrit, war verdienterweise lange schon ruiniert und kindisch. Er besaß keine Tochter. Ich hatte die Nichte schon früher gefunden, und was ich für sie tat, war besser als das Geld, von dem sie keinen Nutzen gehabt.« Sie fügte einen Augenblick später, als spräche sie mit der Uhr, hinzu: »Sie selbst war unschuldig, und ich würde nicht versäumt haben, es ihr bei meinem Tode zu hinterlassen«; dabei sah sie auf die Uhr.
»Soll ich Sie an etwas erinnern, würdige Frau?« sagte Rigaud. »Das kleine Papier befand sich in diesem Hause an jenem Abend, als unser Freund, der Gefangene – der Gefängnisfreund meiner Seele – von fernen Ländern heimkehrte. Soll ich Sie noch an etwas Weiteres erinnern? Der kleine Singvogel, der nie flügge ward, wurde lange von einem durch Sie bestellten Wächter im Käfig gehalten, der auch unsrem alten Intriganten hier wohlbekannt ist. Sollten wir unsern alten Intriganten zwingen, uns zu sagen, wo er ihn zuletzt sah?«
»Ich will es Ihnen sagen!« rief Affery, die Schürze aus ihrem Munde nehmend. »Es war der erste aller meiner Träume. Jeremiah, wenn du mir jetzt zu nahe kommst, schreie ich, daß man es bei St. Pauls hört! Die Person, von der dieser Mann sprach, war Jeremiahs eigener Zwillingsbruder; er war in totenstiller Nacht hier, in jener Nacht, als Arthur heimkehrte, und Jeremiah gab ihm mit eigner Hand dieses Papier, von dem ich nichts weiter weiß, und er trug es in einer eisernen Kapsel weg. – Hilfe! Mörder! schützt mich vor Jere – mi – ah!«
Mr. Flintwinch war auf sie zugestürzt, aber Rigaud hatte ihn noch zur rechten Zeit am Arme gegriffen. Nachdem er einen Augenblick mit ihm gerungen, ließ Flintwinch los und steckte seine Hände in seine Taschen.
»Wie!« rief Rigaud spottend, indem er ihn mit seinem Ellbogen zurückstieß, »Eine Dame angreifen, die ein solches Talent für das Träumen besitzt? Ha, ha, ha! Sie wird eine Quelle des Reichtums für Sie werden, wenn Sie sie öffentlich zeigen. Alles, was sie träumt, trifft ein. Ha, ha, ha! Sie sehen ihm so ähnlich, kleiner Flintwinch. So ähnlich, als ich ihn kennenlernte (da ich zuerst englisch für ihn mit dem Wirt sprach), in der Schenke zu den drei Billards, in der kleinen Straße mit den hohen Dächern an dem Kai von Antwerpen. Ach, er war ein tüchtiger Junge im Trinken! Und ein tüchtiger Junge im Rauchen! Er wohnte in einem hübschen möblierten Junggesellenlogis im fünften Stock, über dem Holz- und Kohlenhändler und dem Frauenschneider und dem Stuhlmacher und dem Böttcher – dort kannte ich ihn, und dort machte er bei seinem Kognak und seinem Tabak zwölf Schläfchen des Tages und hatte jeden Tag seine Ohnmacht, bis er einst eine Ohnmacht zuviel hatte und zum Himmel emporstieg. Ha, ha, ha! Was tut das zur Sache, wie ich von den Papieren in seiner eisernen Kapsel Besitz nahm? Vielleicht vertraute er sie meinen Händen an, um sie Ihnen zu geben; vielleicht war die Kapsel geschlossen, und meine Neugierde wurde dadurch gereizt, vielleicht unterschlug ich sie. Ha, ha, ha! Was hat es auch zu sagen, wenn ich sie noch ganz besitze? Wir sind hier nicht so eigen; hm, Flintwinch? Wir sind hier nicht so eigen; nicht wahr, Madame?«
Mr. Flintwinch hatte sich mit boshaften Gegenstößen seiner Ellbogen in seinen Winkel zurückgezogen, wo er jetzt, atemholend und Mrs. Clennams Blicke erwidernd, mit den Händen in den Taschen stand.
»Ha, ha, ha! Was ist das?« rief Rigaud. »Es scheint, als kennten Sie sich gegenseitig nicht. Erlauben Sie mir, Madame Clennam, die unterschlägt, Mr. Flintwinch, der betrügt, vorzustellen.«
Mr. Flintwinch, der eine Hand aus der Tasche zog, um sich am Kinn zu kratzen, trat in dieser Haltung einen Schritt vor, während er immer noch Mrs. Clennams Blick erwiderte, und sagte zu ihr:
»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, daß Sie die Augen so weit aufreißen, aber Sie brauchen sich die Mühe nicht zu nehmen, weil ich mich nicht darum kümmere. Ich habe Ihnen seit vielen Jahren gesagt, daß Sie eine der starrsinnigsten und hartnäckigsten Frauen seien. Das sind Sie. Sie nennen sich demütig und sündenvoll, aber Sie sind die anmaßendste Frau Ihres Geschlechts. Das sind Sie. Ich habe Ihnen ab und zu, wenn wir miteinander grollten, gesagt, daß Sie möchten, alles solle sich Ihnen fügen, aber ich wollte mich Ihnen nicht fügen, daß Sie gern jeden Menschen bei lebendigem Leibe verschlängen, aber ich wollte mich nicht bei lebendigem Leibe verschlingen lassen. Warum vernichteten Sie das Papier nicht, als Sie zum ersten Male Hand an dasselbe legten? Ich riet Ihnen dazu; aber nein, es ist nicht Ihre Sache, Rat anzunehmen. Sie mußten es freilich statt dessen aufbewahren. Vielleicht werden Sie es zu einer andern Zeit zum Vorschein bringen. Als ob ich es nicht besser wüßte. Ich denke, ich sehe Ihren Stolz noch das Papier selbst auf die Gefahr hin zum Vorschein bringen, daß Sie in den Verdacht geraten, es zurückbehalten zu haben. Aber das ist die Art, wie Sie sich selbst betrügen. Gerade wie Sie sich auch betrügen, indem Sie vorgeben, Sie tun all das nicht, weil Sie eine harte Frau sind, ganz Stolz und Haß und Gewalt und Unversöhnlichkeit, sondern weil Sie eine Dienerin und ein Werkzeug seien, dem diese Mission zuteil geworden. Wer sind Sie denn, daß Sie eine solche Mission erhalten haben sollten? Es mag das für Sie Religion sein, für mich sind es Possen. Und um Ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, da ich mal im Zuge bin«, fuhr Mr. Flintwinch fort, indem er die Arme übereinander kreuzte und das vollendete Bild eines gereizten Murrkopfs darbot, »Sie haben mich förmlich geraspelt – geraspelt, sage ich, in den letzten vierzig Jahren – indem Sie sich auf einen so hohen Standpunkt selbst mir gegenüber stellten, der die Sache doch besser kennt. Die Absicht war freilich allein die, mich um so tiefer zu stellen. Ich bewundre Sie sehr; Sie sind eine Frau von starkem Kopf und großem Talent; aber der stärkste Kopf und das größte Talent kann einen Mann nicht vierzig Jahre lang raspeln, ohne ihn zu reizen. Ich kümmere mich nichts darum, was für Blicke Sie mir zuwerfen. Ich komme jetzt zu dem Papier, und merken Sie nun, was ich sage. Sie brachten es irgendwohin auf die Seite, hielten aber den Art, wo Sie es versteckt, geheim. Sie waren damals noch eine rüstige Frau, und wenn Sie das Papier brauchten, konnten Sie es jeden Augenblick holen. Aber merken Sie wohl! Es kommt eine Zeit, wo Sie gelähmt sind wie jetzt: und wenn Sie dann das Papier brauchen, können Sie es nicht holen. So liegt es lange Jahre an dem verborgenen Platz. Zuletzt, da wir Arthurs Heimkehr jeden Tag erwarten und jeder Tag ihn bringen kann, da sich ferner unmöglich sagen läßt, wie er das Haus durchstöbern wird, mache ich Ihnen fünftausendmal den Vorschlag, wenn Sie das Papier nicht holen könnten, wolle ich es holen, um es in das Feuer zu werfen. Doch nein – niemand als Sie weiß, wo es ist, und das ist eine Macht; geben Sie sich so bescheidene Namen wie Sie wollen, ich heiße Sie einen weiblichen Luzifer in der Gier nach Macht! An einem Sonntagabend kommt Arthur zurück. Er ist noch nicht zehn Minuten in diesem Zimmer, so spricht er von seines Vaters Uhr. Sie wissen wohl, daß das ›Vergiß nicht‹ zu der Zeit, da sein Vater jene Uhr Ihnen sandte, nur so viel bedeuten konnte als, da alles übrige vorüber und vergessen ist, so vergiß die Vernichtung des Papiers nicht. Es herausgeben! Arthurs Benehmen hat Sie ein wenig erschreckt, und das Papier soll nun verbrannt werden. Ehe diese tolle Dirne und Jesabel«, grinste Mr. Flintwinch seine Frau an, »Sie zu Bett gebracht hat, sagen Sie mir deshalb endlich, wohin Sie das Papier getan, nämlich unter die alten Lagerbücher im Keller, wohin Arthur schon am nächsten Morgen kommt, als er im Hause herumstöbert. Aber an einem Sonntagabend soll es nicht verbrannt werden. Nein, Sie sind streng; wir müssen bis über zwölf warten, um in den Montag hineinzukommen. Das geht mir denn doch zu weit, das reizt mich, und da ich etwas ärgerlich bin und nicht so streng als Sie, so werfe ich vor zwölf Uhr einen Blick in das Dokument, um mein Gedächtnis bezüglich seines Aussehens zu erfrischen, lege eines von den vielen alten, vergilbten Papieren im Keller gerade wie das Dokument zusammen und mache später, als es Montagmorgen geworden und ich bei dem Scheine Ihrer Lampe von dem Bett, in dem Sie liegen, nach diesem Kamingitter gehen soll, einen kleinen Tausch, wie etwa ein Zauberer, und verbrenne das falsche Papier. Mein Bruder Ephraim, der Irrenpfleger (ich wünschte, er hätte sich selbst in die Zwangsjacke gesteckt), hatte seit dem großen einträglichen Auftrage, mit dem Sie ihn betrauten, gar mancherlei Aufträge, aber er spann trotzdem keine Seide. Seine Frau starb (das hatte gerade nichts zu bedeuten, die meine hätte statt ihrer gern sterben können), er spekulierte unglücklich mit den Irren und verwickelte sich in allerlei Schwierigkeiten, indem er einem Patienten zu sehr zusetzte, um ihn zur Vernunft zu bringen, und geriet darüber in Schulden. Er machte sich mit dem, was er aufbringen konnte, und einer Kleinigkeit von mir aus dem Staube. Er war an jenem Montagmorgen in der Frühe hier, um die Abfahrt des Schiffes abzuwarten; kurz, er ging nach Antwerpen, wo er (ich fürchte, Sie werden sich ärgern, wenn ich es sage: Hol' ihn der Teufel!) die Bekanntschaft dieses Herrn machte. Er hatte einen weiten Weg gemacht, und ich glaubte damals, er sei nur schläfrig: aber jetzt vermute ich, er war betrunken. Als Arthurs Mutter unter seiner und seiner Frau Obhut stand, schrieb sie immer und in einem fort – meist Briefe mit Bekenntnissen, die an Sie gerichtet waren und Bitten um Ihre Verzeihung enthielten. Mein Bruder hatte mir von Zeit zu Zeit Stöße von solchen Papieren eingehändigt. Ich dachte, ich könnte sie ebensogut für mich behalten, als sie auch lebendig verschlingen zu lassen; deshalb bewahrte ich sie in einer Kapsel auf und durchblätterte sie, wenn ich in der Stimmung dazu war. Überzeugt, daß es rätlich sei, das Papier fortzuschaffen, wenn Arthur nicht dahinterkommen sollte, legte ich es in dieselbe Kapsel, schloß das Ganze mit zwei Schlössern und übergab es meinem Bruder, daß er es mit sich nehme und aufbewahre, bis ich ihm schriebe. Ich schrieb ihm darüber, aber erhielt nie eine Antwort. Ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte, bis dieser Herr uns mit seinem ersten Besuch beehrte. Natürlich begann ich nun auf die Vermutung zu kommen, wie all das zusammenhing: und ich brauchte seine Erklärung nicht, um zu verstehen, wie er aus meinen Papieren und Ihrem Papier und dem Kognak- und Tabaksgeschwatze meines Bruders (ich wollte, er hätte sich knebeln müssen) zu seiner Wissenschaft kam. Ich habe jetzt nur eines noch zu sagen, Sie hartnäckige Frau, und das ist, daß ich mir nie klar wurde, ob ich Ihnen mit dem Dokument einen Kummer bereitet haben möchte oder nicht – ich glaube nicht –, und daß ich ganz damit zufrieden war, daß ich wußte, ich hatte den Vorteil über Sie errungen und hielt Sie in meiner Hand. Unter den gegenwärtigen Umständen habe ich Ihnen keine Erklärung mehr zu geben bis morgen abend um diese Stunde. Deshalb mögen Sie Ihre Augen gegen jemand andern aufreißen«, sagte Mr. Flintwinch, indem er seine Rede mit einer Steigerung schloß, »denn es ist unnütz, sie gegen mich aufzureißen.«
Sie wandte sich langsam weg, als er geschlossen hatte, und senkte ihre Stirn auf ihre Hand. Ihre andre Hand drückte sie schwer auf den Tisch, und wieder war die seltsame Unruhe bei ihr zu bemerken, als beabsichtigte sie aufzustehen.
»Diese Kapsel kann nie und nirgend so teuer verkauft werden wie hier. Dieses Geheimnis kann Ihnen nie den gleichen Nutzen bringen, wenn Sie es an jemand anderen verkaufen, als wenn Sie es an mich verkaufen. Aber ich habe im Augenblick nicht die Mittel, die Summe aufzutreiben, die Sie verlangten. Ich war in meinen Geschäften nicht glücklich. Was wollen Sie jetzt und was später, und wie kann ich mich Ihrer Verschwiegenheit versichern?«
»Mein Engel«, versetzte Rigaud, »ich sagte, was ich verlange, und die Zeit drängt. Ehe ich hierherkam, deponierte ich Abschriften der wichtigsten unter diesen Papieren in einer andren Hand. Verzögern Sie den Abschluß, bis das Tor des Marschallgefängnisses sich für die Nacht geschlossen hat, und es wird zu spät sein. Der Gefangene wird dann die Papiere gelesen haben.«
Sie legte wieder ihre beiden Hände an den Kopf, stieß einen lauten Seufzer aus und fuhr in die Höhe. Sie schwankte einen Augenblick, als wollte sie fallen: dann stand sie fest.
»Sagen Sie, was Sie damit meinen. Sagen Sie, was Sie damit meinen, Mann!«
Vor dieser geisterhaften Gestalt, die man so lange nicht mehr in dieser aufrechten Stellung gesehen, in der sie wie erstarrt war, fuhr Rigaud zurück und dämpfte seine Stimme. Es war für alle drei, als wenn eine tote Frau auferstanden wäre.
»Miß Dorrit«, antwortete Rigaud, »die kleine Nichte von Monsieur Frederick, den ich jenseits des Meeres kannte, ist um die Person des Gefangenen. Miß Dorrit, die kleine Nichte von Monsieur Frederick, pflegt in diesem Augenblick den Gefangenen, der krank ist. Für sie hinterließ ich in eigner Person auf dem Wege hierher ein Paket in dem Gefängnis, nebst einem Brief mit Instruktionen ›in seinen Angelegenheiten‹ – und in seinen Angelegenheiten wird sie gern zu allem bereit sein – welches Paket sie aufbewahren und nicht erbrechen solle, für den Fall, daß es vor dem Torschluß reklamiert würde; im Fall dies jedoch vor dem Läuten der Gefängnisglocke nicht geschähe, es ihm zu geben; es enthält eine zweite Abschrift für sie selbst, die er ihr geben soll. Ja! Ich halte mich unter euch nicht mehr sicher, nachdem wir so weit gediehen sind; deshalb habe ich mein Geheimnis verdoppelt. Was im übrigen das betrifft, Madame, daß es mir nirgends einen solchen Nutzen abwerfen kann als hier, so sagen Sie denn, haben Sie den Preis bestimmt und festgesetzt, den die kleine Nichte – um seinetwillen – geben wird, um es zu vertuschen? Noch einmal sage ich Ihnen, die Zeit drängt. Ist das Paket vor dem Läuten der Glocke zu Nacht nicht reklamiert, so können Sie es nicht mehr kaufen. Ich verkaufe dann an das kleine Mädchen!«
Noch einmal sah man einen Kampf und Aufruhr in ihr, dann eilte sie nach einem Kabinett, riß die Tür auf, nahm eine Kapuze oder einen Schal heraus und warf ihn über den Kopf. Affery, die sie erschrocken beobachtet hatte, stürzte nach der Mitte des Zimmers, wo ihre Herrin stand, erfaßte ihr Kleid und rutschte auf den Knien zu ihr.
»Bleiben Sie, bleiben Sie, bleiben Sie! Was wollen Sie tun? Wohin gehen Sie? Sie sind eine furchtbare Frau, aber ich hege keine Feindschaft gegen Sie. Ich kann dem armen Arthur jetzt nicht nützlich sein, das sehe ich; und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten. Ich will Ihr Geheimnis bewahren. Gehen Sie nicht aus, Sie sterben auf der Straße. Versprechen Sie mir nur, wenn es sich um die Arme handelt, die hier im geheimen eingesperrt ist, lassen Sie mich sie pflegen und für sie sorgen. Versprechen Sie mir nur das, und Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.«
Mrs. Clennam stand mitten in ihrer ungestümsten Hast einen Augenblick still und sagte in finsterem Erstaunen:
»Hier eingesperrt? Sie ist seit zwanzig Jahren und länger tot. Frage Flintwinch – frage ihn. Sie können beide sagen, daß sie starb, als Arthur auf Reisen ging,«
»Um so schlimmer«, sagte Affery mit einem Schauer, »denn sie geht dann als Gespenst im Hause umher. Wer sonst als sie raschelt hier herum und macht Zeichen, indem sie sanft Staub fallen läßt? Wer sonst als sie geht aus und ein und macht lange krumme Striche an die Wände, wenn wir alle zu Bett sind? Wer sonst als sie hält die Türen zuweilen fest? Aber gehen Sie nicht fort – gehen Sie nicht fort! Mistreß, Sie werden auf der Straße sterben!«
Ihre Herrin machte einfach ihr Kleid von den bittenden Händen los, sagte zu Rigaud: »Warten Sie hier, bis ich zurückkomme!« und stürzte aus dem Zimmer. Sie sahen sie vom Fenster aus, wie sie ungestüm durch den Hof und zum Torweg hinauseilte.
Einige Augenblicke standen die Zurückbleibenden bewegungslos da. Affery war die erste, die sich rührte: händeringend folgte sie ihrer Herrin. Nach ihr zog sich Jeremiah Flintwinch langsam nach der Tür zurück und schlich sich, die eine Hand in der Tasche, mit der andern das Kinn reibend, in seiner verstohlenen Weise und still hinaus. Rigaud, der allein zurückgeblieben, setzte sich auf die Fensterbank ans offene Fenster in seiner alten Positur wie ehedem in dem Gefängnis zu Marseille. Er legte seine Zigarette und seine Zündholzschachtel neben sich und begann zu rauchen.
»Puh! Beinahe so düster wie das alte höllische Gefängnis. Wärmer, aber beinahe so trübselig. Warten, bis sie zurückkommt? Ja, gewiß; aber wohin ist sie gegangen und wie lange wird sie fortbleiben? Gleichgültig! Rigaud Lagnier Blandois, mein liebenswürdiges Ich, du wirst dein Geld bekommen. Du wirst dich bereichern. Du hast als Gentleman gelebt; du wirst als Gentleman sterben. Du triumphierst, mein kleiner Junge; aber es liegt in deinem Charakter, zu triumphieren. Uf!«
In der Stunde seines Triumphes bäumte sich sein Schnurrbart, und seine Nase senkte sich, während er einen großen Balken über seinem Kopf mit besonderem Vergnügen beäugelte.