Charles Dickens
Clown Grimaldi
Charles Dickens

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Ein wunderliches Vorkommnis. – Ein lakonisches Schreiben. – Zwei wichtige Auftritte mit Mr. Hughes und ein spaßhafter Auftritt mit einem neidischen Freunde. – Zurüstungen zu Grimaldis Verheiratung. – Erschöpfung nach den Strapazen mit einer neuen Rolle.

Es war heller Tag geworden. Die Sonne ergoß ein mildes Licht über die stillen Straßen, in denen man nur Leute erblickte, die zu Wasser oder zu Lande gekommen waren. Obwohl Grimaldi von Kindesbeinen an in London gelebt hatte, war ihm doch weit weniger davon bekannt als vielen Nichtlondonern, die die Hauptstadt nur einige Male besucht haben. So hatte er den Stadtteil, wo er sich jetzt befand, samt dem Tower, noch nie gesehen.

Seine Aufmerksamkeit wurde, da ihm alles neu war, durch tausenderlei Dinge fortwährend und aufs angenehmste beschäftigt.

Da fiel sein Auge plötzlich auf einen am Boden liegenden Gegenstand. Er stieß mit dem Fuße daran, und es klimperte. Da bückte er sich und erkannte nun in dem von Schmutz bedeckten Gegenstande eine große, mit Goldstücken gespickt volle Netzbörse.

Wie gelähmt von dem Anblick, sah er fortwährend vor sich, hin, ohne daß er sich getraute, die Börse anzurühren. Endlich konnte er sich aber nicht mehr beherrschen, guckte sich nach allen Seiten um und nahm, als er sich unbemerkt und allein sah, die Börse in die Tasche.

Kaum aber bückte er sich, so fiel ihm ein zweiter Gegenstand in die Augen: ein dünnes Päckchen Papier. Auch das hob er mechanisch auf, und wer vermöchte sein Erstaunen zu schildern, als er, es untersuchend, wahrnahm, daß es einzig aus Banknoten bestand?

Noch immer war niemand zu sehen. Nicht einmal kommen hörte man jemand. Grimaldi ging in der Straße eine ganze Stunde hin und her, faßte jeden, der an ihm vorbeiging, scharf ins Auge, so scharf, daß jeder hätte meinen müssen, er wolle um etwas fragen, wolle fragen, ob jemand etwas verloren habe . . .

Aber nein! Niemand suchte oder fragte, oder gab durch irgend ein Anzeichen Unruhe oder Ärgernis zu erkennen.

So kehrte er, ohne jemand zu fragen, von dem sich hätte annehmen lassen, daß er die Grimaldis Meinung nach unermeßliche Summe verloren haben könne, schließlich langsam nach dem Postamte zurück.

Die ganze Zeit über und noch stundenlang nachher befand er sich in einer fast unbeschreiblichen Unruhe, war es ihm doch nicht anders zu Mute, als ob er einen schrecklichen Diebstahl begangen hätte, der alle Augenblicke entdeckt und schimpflich bestraft werden würde. Er zitterte dermaßen, daß er kaum gehen konnte. Das Herz hämmerte ihm förmlich, und Angstschweiß trat ihm aufs Gesicht.

Je länger er über seine Lage sann, desto größer wurde seine Unruhe und seine Besorgnis. Wer würde, wenn man soviel Geld bei ihm fände, glauben wollen, daß er es gefunden hätte? Mußte es nicht all und jedem viel wahrscheinlicher vorkommen, daß er es entwendet habe? Und wenn er des Diebstahls angeklagt würde, durch welches Zeugnis könnte er sich rechtfertigen?

Mehr denn einmal fühlte er sich versucht, seinen Fund wegzuwerfen und auf und davon zu rennen, und nur durch die Besorgnis, daß er gesehen werden, daß er verhehlt werden könne, daß er so verwirrte Antworten geben könnte, daß man erst daraufhin die Anklage wegen Diebstahls gegen ihn erheben möchte, bestimmte ihn, diesen Einfall nicht zu verwirklichen. Nun sollte man aber meinen, es sei doch ein großes Glück, eine stattliche Summe Geldes zu finden; bei Grimaldi war dies aber keineswegs der Fall, er fühlte sich im Gegenteil kreuzunglücklich darüber und konnte all die quälenden Gedanken keine Minute los werden.

Nun kam er in die Gracechurch-Kirche, fand aber das Postamt noch immer geschlossen und machte sich deshalb durch die City-Road auf den Heimweg, die damals zwischen zwei, nur beim »Engel von Islington« durch ein paar Häuser unterbrochene Reihe von Obst- und Handelsgärten hindurch führte.

Diese Örtlichkeit erlaubte ihm seinen Schutz genauer zu beaugenscheinigen. Die Goldstücke, die die Börse enthielt, waren lauter Guineen; die Banknoten, die das Päckchen bildeten, schwankten zwischen fünf und fünfzig Pfund. Aber nach irgend einem Ausweis über Namen, Wohnort oder Persönlichkeit des Eigentümers suchte er vergebens.

Ein richtiger Schwindel befiel ihn. Die Hände zitterten ihm. Auf der Straße zu zählen, wäre ihm nicht möglich gewesen. Zu Hause aber zählte er seinen Fund: die Guinen beliefen sich auf 380 Stück, die Summe der Banknoten ergab 200 Pfund. In Summa hatte er also annähernd 600 Pfund gefunden.

Zwischen 7 und 8 Uhr kam er nach Hause, legte sich sogleich zu Bett und schlief mehrere Stunden. Als er erwachte, hatte sich über den Eigentümer der von ihm gefundenen Geldsumme noch nicht das mindeste herausgestellt. Er hätte es gar gern sein eigen genannt: aber es sich ungerechterweise zuzueignen, widerstrebte ihm, und darum nahm er sich vor, kein Mittel, das zur Entdeckung des Eigentümers führen könnte, unversucht zu lassen.

Trotz aller Erregtheit unterließ er aber nicht, den Rat zu befolgen, den ihm Mariechen gegeben, und noch einmal an den Papa zu schreiben.

Darauf überlegte er sorgsam, wie er sich am besten betreffs seines Fundes verhalte, und ging abends zu einem alten guten Freunde seines Vaters, der immer auf ihn viel gehalten hatte, und von dem er wußte, daß er ihm nur zum guten und rechten raten würde. Mit diesem Manne hatte er eine lange Unterredung, er machte geltend, daß ihm viel daran gelegen sei, das Geld im eigenen Nutzen zu verwenden, der alte Herr untersagte es ihm jedoch rundweg und mit so schlagenden Gründen, daß er sich seinem Urteil unterwarf und demgemäß handelte.

Acht Tage lang vigilierten nun beide in allen Londoner Blättern unter den Verlustanzeigen, ob sich eine Person nach dem Funde erkundige, aber sie fanden nirgendswo etwas. Nun erließen sie selbst eine diesbezügliche Anzeige unter der Gruppe Gefundene Gegenstände, mit genauer Angabe der Einzelheiten wo und wann die Geldsumme gefunden worden, wo und wie dieselbe abzuholen sei, u. s. w., aber es meldete sich niemand, und Grimaldi hat bis zu seiner letzten Lebensstunde nicht die geringste Spur von der Person entdecken können, die das auf so eigentümliche Weise in seinen Besitz gelangte Geld verloren hatte.

Sein Großvater mütterlicherseits hatte übrigens einen halbwegs ähnlichen Fall erlebt. Es war seine Gewohnheit, am Donnerstag früh den Leadenhall-Markt zu besuchen, und zwar in der Regel mit ziemlich viel Geld im Beutel, da er dort alles einzukaufen pflegte, was er im Laufe der Woche brauchte.

So hatte er einmal 400 Pfund meist in Gold und Silber bei sich. Unweit von der königlichen Börse bemerkte er, daß ihm eine seiner Schuhschnallen aufgegangen war. Da ihm der schwere Geldbeutel beim Bücken hinderlich war, – er war nämlich ein gar wohlbeleibter Herr – zog er ihn aus der Tasche, setzte ihn auf einen Balken, zog die Schnalle fest, ging weiter, dachte aber mit keinem Atem mehr an seinen Beutel. Erst als er die Einkäufe bezahlen wollte, die er auf dem Markte gemacht, fiel ihm ein, wo er ihn hatte stehen lassen. Wie ein Sturmwind sauste er wieder an die Stelle zurück, wo er sich die Schuhschnalle festgemacht hatte, fand auch richtig den Balken wieder – und richtig auch noch den Beutel! Auf offner Straße! – Seitdem hat er aber nichts mehr stehen lassen, so alt er geworden ist.

Vier angstvolle Tage folgten nun, und vier angstvollere Wochen waren bereits vergangen, denn sechshundert Pfund und eine junge Frau standen auf dem Spiele. Da endlich – am fünften Tage – kam ein Brief von Mr. Hughes, die langersehnte Antwort! . . . Aber was stand in dem Briefe? Einen kürzeren mochte der Postbote wohl seit langem, oder überhaupt noch nicht ausgetragen haben, denn weiter nichts stand drin als die Worte:

»Lieber Grimaldi, Sie werden mich in einigen Tagen sehen.

Ihr ergebener

R. Hughes.

Also weder günstig, noch ungünstig! Man konnte aus der einzigen Zeile lesen, was man wollte. Aber es war wenigstens kein direkter Korb! Und als eine Beleidigung persönlicher Natur hatte Mr. Hughes Grimaldis Ansuchen nicht aufgefaßt. Das war immerhin ein Vorteil, wenn auch noch kein großer . . . Mr. Hughes schien also mit sich reden lassen zu wollen. Zu diesem Schlüsse gelangte Joe nach vielem Überlegen, und durch Mariechens Wiederkunft wurde er auch nicht trübseliger gestimmt.

Aber auf ihres Papas Schreiben schien sie nicht viel geben zu wollen, denn sie las es kaum durch, als Joe es ihr zeigte, sagte vielmehr, als er sich darüber wunderte:

»Ja, Sepp, wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, so ist Papa schon wieder zu Hause. Gestern habe ich ihn zum ersten Male wiedergesehen und er sagte mir bei der Gelegenheit, ich solle dir sagen, daß er dich am Montag früh in seiner Stube erwarte.«

Grimaldi schnitt ein Gesicht, wie ein Gerber, dem alle Felle weggeschwommen sind.

»Aber sei doch nicht töricht,« tröstete ihn Mariechen »ich sollte meinen, du könntest eher recht vergnügt dreinschauen.«

Aber Grimaldi wußte nicht, ob er hoffen oder fürchten müsse, und so brauchte es Zeit und Weile, bis es Mariechen gelang, ihn heiter zu stimmen. Sie selbst hatte Hoffnung, kannte sie doch ihres Papas gutes Herz . . . Schließlich sah also der verliebte Sepp der Stunde, die über sein Schicksal entscheiden sollte, mit Ruhe entgegen.

Endlich kam der bedeutungsvolle Montag. Seine Unruhe nach besten Kräften zu verbergen suchend, begab Grimaldi sich nach Sadlers-Well und traf dort den Vater seiner Herzallerliebsten im Kassenzimmer.

Mr. Hughes sagte ihm freundlich guten Tag, sagte ein paar gleichgültige Worte, setzte dann aber ernster hinzu:

»Sie wollen uns also verlassen, lieber Grimaldi, Sadlers-Wells und all Ihre alten guten Freunde? Und allein aus dem Grunde, weil Ihnen anderswo ein paar Pfund mehr geboten werden?«

Grimaldi war so verdutzt, daß er im ersten Augenblick kein Wort über die Lippen bringen konnte. Er sammelte sich aber rasch und erwiderte:

»Aber, Mr. Hughes, mein Ehrenwort, daß ich mit keinem Gedanken an so etwas gedacht habe . . . Es ginge doch schon deshalb nicht, weil ich mich Ihnen kontraktlich verpflichtet habe.«

»Sie denken wohl nicht daran, mein Lieber,« antwortete Mr. Hughes in strengem Tone, »daß Ihr Kontrakt abgelaufen ist?«

Das stimmte. Daran hatte Grimaldi nicht gedacht. Das also mußte er zugestehen.

»Es ist recht auffällig, mein lieber Grimaldi,« fuhr Mr. Hughes fort, »daß Ihnen ein so wichtiger Umstand aus dem Gedächtnis kommen konnte . . . Aber eins: Kennen Sie Mr. Cross?«

Mr. Cross war der Direktor des Zirkusses, aus dem später das Surrey-Theater wurde, und hatte Grimaldi wiederholt unter sehr günstigen Bedingungen für sich gewinnen wollen, zum letzten Male erst vor wenigen Tagen. Grimaldi hatte sich aber immer ablehnend verhalten, denn er hatte nicht die geringste Lust, Sadlers-Wells zu verlassen, wo er seit seiner Kindheit beschäftigt gewesen und sein Brot gehabt hatte.

Er merkte im Nu, daß ihn jemand bei Mr. Hughes anzuschwärzen versucht hatte. Zufällig hatte er die letzte Zuschrift, die er von Mr. Cross erhalten, bei sich, auch die Abschrift der Antwort, die er darauf gegeben, und überreichte sie Mr. Hughes zum Beweise seiner Rechtfertigung.

»Ich bin mit Mr. Cross nicht bekannt, Mr. Hughes,« sagte er dabei, »bin aber sehr froh, die zuletzt mit ihm gewechselten Briefe bei der Hand zu haben und Ihnen vorlegen zu können.«

»Sehr schön, sehr schön,« antwortete Mr. Hughes lächelnd, »und da Sie auf dem Standpunkte stehen, keinen Quartierwechsel zu lieben, wollen wir doch gleich über das neue Engagement sprechen. Ich zahle Ihnen jetzt vier Pfund in der Woche. Sie sollen hinfort drei weitere Saisons verpflichtet sein, in der ersten sechs, in der zweiten sieben, in der dritten acht Pfund wöchentlich bekommen. Ist's Ihnen recht?«

Das war mehr als Grimaldi gerechnet hatte, und er sagte mit freudigem Herzen Ja. Mr. Hughes schien an der sofortigen Regelung gelegen zu sein, denn er ließ zwei Zeugen holen, und der Vertrag wurde ohne weiteres ausgefertigt und unterschrieben.

Hierauf wechselten sie noch einige Worte. Dann stand Mr. Hughes auf und sagte:

»Wir sehen uns wohl heute abend noch einmal. Ich will mir nämlich den Blaubart im Drury-Lane ansehen.« An der Tür drehte er sich aber noch einmal um und fragte: »Sonst haben Sie nichts auf dem Herzen?«

Jetzt war der Moment gekommen. Jetzt galt es, oder nie! Grimaldi spornte seinen Mut, gab seinen Wünschen und Bitten Ausdruck, erst in stockender, dann in immer geschwinderer Rede, bis er es endlich heraus hatte, daß von Mr. Hughes' Ja oder Nein sein und Mariechens Lebensglück abhinge . . .

Mr. Hughes antwortete, er habe sich die Sache nach allen Seiten hin reiflich überlegt, meine nur, daß wir beide noch ein bißchen jung zu solchem Entschlusse seien, gab aber zuletzt seine Einwilligung und rückte Joe dadurch in den siebenten Himmel hinauf. Aber er schien noch ein weiteres tun zu wollen, denn er öffnete jetzt die Tür des anstoßenden Zimmers und rief hinein:

»Mariechen, hier ist Joe . . . vielleicht willst du ihm guten Morgen sagen?«

Mariechen, die natürlich ganz zufällig in dem Zimmer war, widersprach nicht als gehorsames Töchterlein, sondern sagte dem Freunde einen herzlichen Guten Morgen, und verdient hatte solchen auch Joseph für seine wahrhafte und treue Liebe!

In der schwärmerischen Verzücktheit beider Gemüter bemerkte weder Joe noch Mariechen, daß die Tür offen stand, und daß eine dritte Person Zeugin der holden Szene sein konnte . . .

Diesen Tag strich Grimaldi natürlich rot in seinem Kalender an. Ein Glück für ihn war es, daß er an diesem Abend im Drury-Lane-Theater erst im letzten Aufzuge auftrat und nur ein paar Worte zu reden hatte.

Als er dorthin kam, war Mr. Hughes schon anwesend und damit beschäftigt, die im letzten Aufzuge wirkenden Verwandlungsapparate zu besichtigen. Er hatte nämlich die Absicht, den Blaubart auch auf dem Exeter-Theater zu spielen, und gab Grimaldi zu verstehen, daß seiner Meinung nach der Apparat viel zu kompliziert sei.

Grimaldi gab ihm hierin recht und setzte hinzu, daß der Apparat obendrein noch nicht einmal gut wirke. Grimaldi stand darüber insofern ein Urteil zu, als er sich in seinen Mußestunden viel mit der Erfindung von Modellen zu Verwandlungs- und Pantomimen-Coups befaßte. Das tat er bis zu seinem Tode und in seinem Nachlasse fanden sich auch recht viel solcher Modelle, darunter manches ganz ausgezeichnete. Im Dezember 1836 verkaufte er verschiedene davon ans Drury-Lane-Theater, die zum ersten Male in der Pantomime »Harlekin und Hexe Gurton« Verwendung fanden. Fast alle Maschinerien, die er sah, modellierte er und brachte nicht selten Verbesserungen an, was zufällig auch gerade bei der Maschinerie in dieser letzten Blaubart-Szene der Fall war.

Das kam ihm nun zu statten. Ihm lag natürlich viel daran, Mr. Hughes zu Diensten zu sein. Er kramte alles aus, was er von Modellen in Bereitschaft hatte. Mr. Hughes war darüber sehr erfreut, er bat ihn auf den kommenden Morgen zum Frühstück, forderte ihn auf, seine Modelle zu dem Verwandlungsapparat im Blaubart mitzubringen, was Grimaldi begreiflicherweise mit größtem Vergnügen tat. Hierbei sollte sich nun ein recht spaßhafter Auftritt abspielen.

Beim Sadlers-Wells-Theater waren damals ein paar Leutchen angestellt, die Grimaldi nicht sonderlich gewogen waren und aus Künstlerneid ihm mancherlei Tort antaten. Einer von ihnen hatte von einem Dienstmädchen, mit dem er zufällig bekannt geworden, gehört, es habe gesehen, wie Grimaldi Miß Hughes geküßt habe. Daraufhin ersuchte er Mr. Hughes um ein paar Minuten Gehör, als dieser vom Drury-Lane-Theater nach Hause kam und machte ihm von diesem Gerücht, natürlich nebst allerlei Ausschmückung und Erweiterung, ausführliche Mitteilung, streute allerhand Glossen ein über Grimaldis Undank, daß es nicht gerade nett von demselben sei, sich hinter dem Rücken der Eltern die Zuneigung der Tochter zu erschleichen, und ließ es schließlich an allerhand weisen und rührenden Kommentaren, wie sie bei solchen Anlässen Brauch zu sein pflegen, nicht fehlen . . .

Mr. Hughes hörte sich dies alles mit Seelenruhe an, worüber sich der Zuträger nicht wenig wunderte, bis ihm zuletzt der Einfall kam, daß sich hinter dieser gemütlichen Auffassung nur Grimm verhalte.

Mr. Hughes ließ ihn aber ruhig ausreden und fragte ihn dann, ob er ihm die Ehre geben wolle, ihn am andern Morgen in der neunten Stunde noch einmal zu besuchen?

»Ganz zu Befehl, werter Herr,« antwortete der Zuträger.

»Dawider werden Sie wohl nichts haben, daß ich Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit schon jetzt meinen Dank ausspreche? Es ist mir natürlich sehr lieb, von Dingen unterrichtet zu werden, die zu meinem häuslichen Glücke in so enger Beziehung stehen. Ein Gläschen Madeira gefällig, Herr?«

»Sehr verbunden!«

Der »gute Freund« entfernte sich, nachdem er das Glas geleert hatte, und gratulierte sich beim Weggehen, »Joe endlich etwas eingerührt zu haben.« – Das war nun allerdings so, nur nicht in seinem Sinne und seiner Absicht gemäß.

Grimaldi war am andern Morgen mit der Lerche auf und legte die letzte Hand an seine Maschinerie. Zufrieden mit seiner Arbeit, schob er die versprochenen Modelle in die Tasche und ging zum Frühstück.

In der Wohnung seines zukünftigen Schwiegervaters angelangt, hörte er von dem Dienstmädchen, das die Geschichte von dem heimlich gestohlenen Kusse herumgebracht hatte, daß Mr. Hughes ihn im Kassenzimmer erwarte. Der Ton, in welchem das Mädchen ihm die Mitteilung machte, weckte eine unbestimmte Furcht in ihm, als wenn sich etwas zugetragen hätte, das ihm sein ganzes Glück zu vernichten drohte.

»Ist Mr. Hughes allein?« fragte er.

»Nein, Herr! Es ist schon ein Herr bei ihm,« antwortete das Mädchen und nannte einen Namen, bei dessen Klange seine Besorgnisse noch höher stiegen.

Nichtsdestoweniger raffte er all seinen Mut zusammen und trat in das Kassenzimmer. Mr. Hughes erwiderte seinen Gruß mit seltsamer Kälte. Der »gute Freund,« der die Zwischenträgerei besorgt hatte, wandte sich ab, ohne ihn eines Blickes oder gar Wortes zu würdigen. Grimaldi kam sich vor, als ob er wie ein Verbrecher dastände . . .

Mr. Hughes nahm mit großer Förmlichkeit und Feierlichkeit das Wort . . . »Mr. Grimaldi,« sagte er, »ich habe Ihnen eine höchst wichtige Mitteilung zu machen. Wider Sie ist eine Anklage höchst ernsthafter Natur erhoben worden.«

»Sie sehen wohl, daß mich das aufs höchste überrascht, Herr,« erwiderte Grimaldi.

»Glaub's Ihnen gern, Herr,« sagte der gute Freund, und über sein Gesicht huschte eine siegesbewußte Miene.

»Es scheint, als wenn die Anschuldigung wohlbegründet sei,« fuhr Hughes fort, »nur fürchte ich, daß Sie sich von ihr nicht werden reinigen können. Aber Ihr Recht soll Ihnen werden! Die Anklage soll in Ihrer Gegenwart erhoben werden. Wiederholen Sie, Sir, was Sie mir gestern abend erzählt haben.«

Der Zuträger ließ sich nicht nötigen, sondern tat es mit Worten, die von Bosheit überflossen, die von der Falschheit sprachen, sich in eine gastliche, in trautem Frieden lebende Familie zu schleichen, um einen Vater und einer Mutter eine geliebte Tochter zu rauben und ein junges, unerfahrenes Mädchen in der Achtung herabzusetzen. Dann erging er sich noch in der Schilderung all der Sorgen und Mühen, die einem Mädchen bevorständen, das sich einen wandernden Schauspieler an den Hals würfe.

Grimaldi war vor Verwunderung schier außer sich, und ganz außer sich wäre er fast geraten, als er sah, daß Mr. Hughes mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte, wie wenn er der Anschuldigung völligen Glauben schenkte, ja zuweilen sogar den guten Freund durch einen Blick oder ein Nicken ermutigte, was natürlich nicht dazu beitragen konnte, Grimaldis Zuversicht zu erhöhen.

»Sie befinden sich im vollen Rechte, mein Lieber,« sagte Mr. Hughes, »und dergleichen Aufführung ist absolut nicht zu entschuldigen, einen Umstand ausgenommen, nämlich . . .«

»Mr. Hughes,« nahm der Zuträger wieder mit Emphase das Wort, »Ihre Herzensgüte ist mir bekannt, so wohlbekannt, daß ich nicht zweifeln möchte, daß Sie, ungeachtet der Ihnen widerfahrenen schweren Kränkung, auch jetzt noch nach mildernden Umständen suchen. Sie erlauben mir wohl aber, als unparteiischem Beobachter, Ihnen zu sagen, daß es für einen Menschen gar keinen Entschuldigungsgrund gibt, der sich in die Neigung einer jungen, unendlich hoch über ihm stehenden Dame einschleicht, die obendrein eines Mannes Tochter ist, dem er zum größten Danke verpflichtet ist.«

»Bitte, nur eine halbe Minute Gehör, lieber Mann,« erwiderte Mr. Hughes in auffallend ruhigem Tone.

»Von Herzen gern, mein werter Sir!«

»Sie haben mich gerade in dem Augenblick – wie ich wohl beifügen darf, in einer etwas wenig manierlichen Weise – unterbrochen, als ich Ihnen wiederholen wollte, daß auch ich für ein solches Verhalten eines jungen Menschen keinen Entschuldigungsgrund finden möchte, sofern ein solcher Mensch sich nicht der Einwilligung seitens der Eltern des Mädchens versichert hat. Im letztern Falle steht es ihm allerdings frei, sich um die Gunst des Mädchens zu bemühen, wenn sie geneigt ist, sie ihm zu gewähren.«

»Zweifellos, zweifellos,« versetzte der Ankläger, »aber in dem Falle, über den wir diskutieren . . .«

»In dem Falle, über den wir diskutieren,« wiederholte Mr. Hughes, »verhält es sich so, wie ich meine. Meine Tochter ist im Besitze der elterlichen Erlaubnis, Mr. Grimaldi zum Manne zu nehmen, und da sie, meines Wissens, mit Mr. Grimaldi einig ist, wird sie von dieser Erlaubnis wohl recht bald Gebrauch machen.«

Der gute Freund saß da, wie vom Donner gerührt, Grimaldi aber war vor Vergnügen schier außer sich. Endlich ging ihm ein Licht auf, endlich verstand er, daß Mr. Hughes den Zuträger auf eine feine, vorwurfsfreie Weise hatte ablaufen lassen wollen, vielleicht sogar nicht frei von Schadenfreude war und sich auf Kosten des Unheilstifters ein Späßchen machen wollte. Mit ernster Miene, doch sichtlich nur unter Aufwand von Anstrengung imstande, ein Lächeln zurückzuhalten, sagte er zu seinem künftigen Schwiegersohne:

»Immerhin war es nicht ganz in der Ordnung, mein lieber Joe, meiner Tochter vor allen Leuten einen Kuß zu geben, und falls es Ihnen oder meiner Tochter neuerdings beikommen sollte, sich solchen Genuß nicht versagen zu wollen, so möchte ich doch recht sehr gebeten haben, das nur unter vier Augen abzutun. Ein wenig Rücksicht auf die zurzeit herrschende Sitte ist doch notwendig, und ich meine, sie dürfte auch dem Zartsinne der in Frage stehenden jungen Dame genehmer liegen.«

Hierauf schnitt Mr. Hughes dem diensteifrigen guten Freund einen tiefen Bückling, machte die Tür auf und befahl dem zunächst stehenden Diener, »den Herrn bis zur Tür zu geleiten.«

Er selbst begab sich mit Grimaldi zum Frühstück, an dem auch sein Töchterchen teilnahm.

Von diesem Augenblicke an war endlich treuer Liebe die Bahn geebnet, und alles weitere Verhalten des Mr. Hughes gegen Grimaldi legte sattsam Beweis für die Wertschätzung ab, die dieser ihm durch seine oft unter widrigen Verhältnissen aufrecht erhaltene Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit abgewonnen hatte.

Am Sonnabend nach dem erzählten Auftritte wurde mit der Einrichtung der gemieteten Wohnung begonnen, und am Ostersonntage folgte das erstmalige Aufgebot des jungen Paares.

Wie immer nahmen die Vorstellungen im Sadlers-Wells-Theater am Ostermontage ihren Anfang, und Grimaldi trat in einer neuen Rolle auf, die noch bedeutender war als all seine bisherigen, und durch deren brillante Durchführung ihm neuer Ruhm erstehen sollte.

Vier bis fünf Monate hatte er verhältnismäßige Ruhe gehabt. In seiner neuen Rolle, die ihn recht angriff, begann er indessen zu fühlen, daß auch ihn das Los seines Standes ereilen sollte, Abnahme und Erschlaffung der Kräfte infolge von allerhand körperlichen Gebrechen, die anderen Menschen vorenthalten zu bleiben pflegen.

Es wurde ihm unaufhörlich Beifall gespendet, der ihn aber zu immer neuen Anstrengungen spornte, und die Folge davon war, daß er am Schlusse der Vorstellung immer so erschöpft war, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte, den kurzen Weg bis zu seiner Wohnung nur mit großer Mühe zurücklegen konnte und sich sogleich zu Bett legen mußte.

In seinen späteren Jahren war seine Rede oft, daß ihm die glänzenden Einnahmen, die er machte, die schwere Mühe, die ihm die Durchführung seiner Rollen verursacht, auch nur eben wett gemacht hätten, und daß er um kein Pfund dabei besser gefahren sei als Leute, denen es beschert sei, in Ruhe und mit Gemächlichkeit einen regelmäßigen Verdienst zu haben und dabei alt zu werden, statt sich in einer verhältnismäßig kurzen Zeit völlig abzuwirtschaften.

Grimaldis Worte sind nur zu wahr; sie beruhen auf der Erfahrung eines langen und nicht immer freudigen Lebens. In der Tat kann nur sehr gute Einnahme solchen Künstlern – besonders dann, wenn sie leicht erregbar und empfindsam sind wie eben Grimaldi – das Los eines frühen Alters mit all seiner Pein und Trübsal einigermaßen vergüten helfen.

Am Morgen nach dem erstmaligen Auftreten in seiner neuen Rolle erwachte Grimaldi gestärkt und erquickt in der elften Stunde. Er erschrak beinahe, als er den Blick auf die Uhr richtete, denn sonst pflegte er schon um sieben Uhr angekleidet zu sein, sich mit der Fütterung seiner Tauben zu befassen oder die Geige zu spielen oder seine Modelle zu fertigen. Müßiggang war ihm unausstehlich; er verbitterte ihm das Leben, und für die Wonne »süßen Nichtstuns« konnte er niemals Verständnis gewinnen.

Bei neuen Stücken pflegt der Vormittag nach den ersten Vorstellungen der Repetition zu gehören: es gilt, Längen auszumerzen und Verbesserungen vorzunehmen, wie sie durch das Spiel als wünschenswert sich herausstellen. Selbstverständlich müssen dann alle, die in dem Stücke auftreten, erscheinen, weil sich ja in allen Rollen Änderungen ergeben können. In dem neuen Stücke hatte Grimaldi nun eine Hauptrolle. Es war ihm deshalb höchst unangenehm, so lange geschlafen zu haben. Ohne die geringste Säumnis kleidete er sich an und eilte ins Theater.

 


 << zurück weiter >>