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In allen öffentlichen Anstalten Amerikas herrscht die größte Höflichkeit. Die meisten der unsrigen bedürfen in dieser Beziehung noch bedeutender Verbesserung; vor allem würde das Zollamt gut daran tun, wenn es die Vereinigten Staaten sich zum Vorbild nähme und sich etwas weniger gehässig und beleidigend gegen Fremde zeigte. Die niedrige Habgier der französischen Beamten ist schon verächtlich genug; aber bei den unsrigen findet man eine mürrische, bäurische Unhöflichkeit, die ebensowohl allen, welche in ihre Hände geraten, mißfällig sein muß, als sie der Nation, die fortwährend an ihren Toren so schlimme Köter knurren läßt, wenig Ehre bringt.
Als ich in Amerika landete, machten der Kontrast, den das dortige Zollhaus im Vergleich zu dem unsrigen darbot, und die Aufmerksamkeit, Höflichkeit und Munterkeit, womit die Offizianten desselben ihr Amt verrichteten, einen höchst angenehmen Eindruck auf mich.
Da wir, infolge eines Aufenthalts auf den Werften, erst nachdem es dunkel geworden, in Boston landeten, so genoß ich den ersten Anblick der Stadt erst am Morgen des Tags nach unsrer Ankunft – eines Sonntags –, als wir nach dem Zollhaus gingen. Kaum getraue ich mir, beiläufig gesagt, anzugeben, wie viele Kirchenstühle und Sitze uns für diesen Morgen förmlich durch Einladungskarten angeboten wurden, ehe wir noch unser erstes Mittagsmahl in Amerika zur Hälfte beendigt hatten; dürfte ich einen mäßigen Überschlag davon machen, ohne auf eine genauere Berechnung einzugehen, so würde ich sagen, daß uns wenigstens so viele Sitze angeboten wurden, daß sie mit Bequemlichkeit die Glieder von zwei oder drei Dutzend Familien hätten aufnehmen können. Die Anzahl der verschiedenen Konfessionen und Glaubensformen, die das Vergnügen unserer Gesellschaft wünschten, stand hiermit in gehörigem Verhältnis.
Da wir an diesem Tage keine Kleider zum Wechseln hatten, konnten wir nicht in die Kirche gehen und mußten daher alle diese gütigen Einladungen abschlagen; nur ungern mißte ich das Vergnügen, Dr. Channing zu hören, der diesen Morgen, das erste Mal nach einer sehr langen Pause, gerade predigte. Ich erwähne den Namen dieses ausgezeichneten Mannes (mit welchem ich später das Vergnügen hatte persönlich bekannt zu werden), um dadurch meinen bescheidenen Tribut der Bewunderung und Achtung für seine hohen Fähigkeiten und seinen Charakter und für die kühne Philanthropie darzulegen, womit er sich stets jenem häßlichsten Schandfleck der Menschheit – der Sklaverei – entgegenstellte.
Kehren wir nach Boston zurück. Als ich an diesem Sonntagmorgen auf die Straße kam, war die Luft so klar, die Häuser sahen so heiter und frisch aus, die Firmen waren in so bunten Farben gemalt, die vergoldeten Buchstaben waren so golden, die Ziegel so rot, die Steine so weiß, die Hausgeländer und Jalousien so grün, die Schilder und Knöpfe an den Haustüren so blank und glänzend, alles sah so leicht und unwirklich aus, daß jede Gasse in der Stadt sich just wie eine Szene in einer Pantomime ausnahm. In den Straßen des lebhaften Geschäftsverkehrs trifft es sich selten, daß ein Gewerbsmann – wenn ich da, wo jeder Kaufmann ist, jemand einen Gewerbsmann nennen darf – über seiner Warenniederlage wohnt, so daß oft mehrere Geschäfte in einem und demselben Hause betrieben werden und man die ganze Front von Firmenschildern bedeckt sieht. Beim Weitergehen blickte ich fortwährend zu diesen Schildern empor, in der zuversichtlichen Erwartung, daß sich einige in irgend etwas verwandeln würden, und ich ging nie plötzlich um eine Ecke, ohne mich nach dem Harlekin oder Bajazzo umzusehen, der sich, wie ich nicht anders glaubte, in einem Torweg oder hinter einem nahen Pfeiler verborgen haben mußte.
Die Vorstädte sehen womöglich noch unwirklicher aus als die Stadt selbst. Die weißen hölzernen Häuser (so weiß, daß man blinzeln mußte, wenn man sie ansah) mit ihren grünen Jalousien stehen so verloren, die Kreuz und die Quere, hie und da, die kleinen Kirchen und Kapellen sind so zierlich und bunt übertüncht, daß ich fast meinte, die ganze Geschichte könne wie Kinderspielzeug zusammengeschoben und in eine Schachtel gesteckt werden.
Die Stadt ist schön und muß, nach meiner Ansicht, auf jeden Fremden den günstigsten Eindruck machen. Die Privatwohnungen sind meistenteils groß und elegant, die Läden sehr gut und die öffentlichen Gebäude schön. Das Staatshaus ist auf dem Gipfel eines Berges gebaut, welcher sich vom Wasser an sanft erhebt und weiterhin steil emporsteigt. Vor diesem Gebäude befindet sich ein eingehegter Platz, the common genannt. Die Lage ist schön; und von den oberen Fenstern aus hat man eine reizende panoramische Ansicht der ganzen Stadt und ihrer Umgegend. Außer mehreren bequemen Büros enthält es zwei schöne Säle: in dem einen hält das Repräsentantenhaus des Staats seine Zusammenkünfte, in dem andern der Senat. Die Verhandlungen, denen ich beiwohnte, wurden mit würdevollem, ernstem Anstande geführt und mußten sicherlich Aufmerksamkeit und Achtung erregen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die intellektuelle Überlegenheit Bostons großenteils dem Einflusse der Universität von Cambridge zuzuschreiben ist, welche drei oder vier englische Meilen von der Stadt entfernt liegt. Die Professoren an jener Universität sind Männer von Gelehrsamkeit und Talenten und würden, ohne daß ich mich hiervon einer Ausnahme entsinnen könnte, jeder Gesellschaft in der zivilisierten Welt Ehre machen. Viele der Vornehmen in Boston und der Umgegend, und ich glaube, ich kann hinzufügen, der größte Teil derjenigen, die sich daselbst der Gelehrsamkeit gewidmet haben, sind auf dieser Schule ausgebildet worden. Was auch immer die Mängel der amerikanischen Universitäten sein mögen, so verbreiten sie doch keine Vorurteile, erziehen keine Frömmler, graben nicht die Asche alten Aberglaubens aus, stellen sich nicht zwischen das Volk und dessen Fortschritte, schließen keinen wegen seiner religiösen Meinungen aus und erkennen überdies im ganzen Kursus ihrer Studien an, daß es außer den Wänden des Hörsaales noch eine Welt gibt, und zwar eine sehr große.
Es war mir etwas sehr Erfreuliches, die fast unbemerkbare, aber deshalb nicht weniger gewisse Wirkung zu beobachten, die diese Anstalt auf die kleine Einwohnerschaft von Boston ausübt, und überall die veredelnden Wünsche und Ansichten, die zärtlichen Freundschaften, die sie hervorgerufen, die Vorurteile, die sie ausgerottet hat, zu bemerken. Das goldene Kalb, das in Boston verehrt wird, ist ein Pygmäe im Vergleich mit den riesenhaften Götzen, die man sich in andern Teilen jenes großen Kontors jenseits des Atlantischen Ozeans aufgestellt hat; und der allmächtige Dollar sinkt unter einem ganzen Pantheon besserer Götter zu etwas verhältnismäßig Unbedeutendem herab.
Übrigens glaube ich aufrichtig, daß die öffentlichen Einrichtungen und Wohltätigkeitsanstalten dieser Hauptstadt von Massachusetts der Vollkommenheit so nahe kommen, wie die weiseste Überlegung, Wohlwollen und Menschlichkeit sie nur immer bringen können. Nie hat mich der Anblick eines stillen Glückes, bei aller Entbehrung und Entblößung, mehr erfreut als bei meinem Besuch dieser Anstalten.
Es ist ein großer und wohltuender Vorzug aller solcher Anstalten in Amerika, daß sie entweder ganz oder zum Teil vom Staate unterhalten werden oder (im Fall sie dessen helfender Hand nicht bedürfen) daß sie in Übereinstimmung mit ihm handeln und durchaus dem Volke gehören. Nach meiner Meinung, mit Rücksicht auf das Prinzip und dessen Tendenz, den Charakter der arbeitenden Klassen zu erheben oder herabzudrücken, ist eine öffentliche Wohltätigkeitsanstalt unendlich besser als eine Privatstiftung, mag die letztere auch noch so reichlich dotiert sein. In unserem Vaterlande, wo es bis auf die jüngste Zeit nicht sehr Mode bei den Regierungen war, ungewöhnliche Rücksicht für die große Masse des Volks zu zeigen oder sie der Ausbildung fähig zu halten, sind Privatwohltätigkeitsanstalten – ohne Beispiel in der Geschichte der Welt – entstanden, um unter den Dürftigen und Notleidenden unberechenbar viel Gutes zu stiften. Allein die Regierung, die keinen Teil daran hat, erhält auch keinen Teil der Dankbarkeit, die sie einflößen; und da sie nur sehr wenig Obdach oder Hilfe bietet, außer der, welche das Arbeitshaus und der Kerker gewähren kann, so sieht der Arme in ihr mehr eine strenge Herrin, schnell im Züchtigen und Bestrafen, als eine gütige Beschützerin, die sich in der Stunde der Not barmherzig und wachsam zeigt.
Für die Wahrheit des Satzes, daß Gutes aus Bösem entspringe, spricht am deutlichsten das Dasein dieser Anstalten bei uns. Im Durchschnitt macht jede Woche ein anderer reicher Mann, von armen Verwandten umgeben, sein Testament. Solch ein alter Herr, oder sei es eine alte Dame, in der besten Zeit nie bei sehr guter Laune, ist von Kopf bis Füßen voller Schmerzen und Leiden, voller Kapricen, Spleen, Mißtrauen, Argwohn und Widerwillen. Alte Testamente zu vernichten und neue zu erfinden ist zuletzt das einzige Geschäft eines solchen Menschen; Verwandte und Freunde (von denen manche mit der Aussicht, einen großen Teil des Vermögens zu erben, erzogen und daher von der Wiege an zu jeder nützlichen Beschäftigung unfähig gemacht worden sind) werden so oft, so unerwartet und so summarisch gestrichen, wieder in Gnaden angenommen und wieder gestrichen, daß die ganze Familie bis zum entferntesten Vetter hinab in fortwährendem Fieber erhalten wird. Endlich wird es klar, daß die alte Dame oder der alte Herr nicht mehr lange zu leben hat; und je klarer dies wird, desto deutlicher bemerkt die alte Dame oder der alte Herr, daß alle gegen ihren armen alten Verwandten in Verschwörung sind; daher macht die alte Dame oder der alte Herr ein anderes Testament – diesmal das letzte –, verbirgt es in einer Porzellanteekanne und gibt den nächsten Tag den Geist auf. Jetzt zeigt sich, daß das ganze Vermögen unter ein halb Dutzend Wohltätigkeitsanstalten verteilt ist und der Erblasser oder die Erblasserin aus purem Trotz dazu beigetragen hat, eine große Menge Gutes zu tun, und zwar auf Kosten vieler böser Leidenschaften.
Die Bostoner Perkins-Institution und das Massachusetts-Asyl für Blinde werden durch mehrere Vorsteher verwaltet, welche der Korporation jährlichen Bericht ablegen. Die armen Blinden des Staates werden unentgeltlich aufgenommen. Diejenigen aus dem anliegenden Staate Connecticut oder aus den Staaten Maine, Vermont oder New Hampshire werden auf eine Bescheinigung des Staates, zu welchem sie gehören, aufgenommen; wenn diese fehlt, müssen sie sich unter ihren Freunden für die Bezahlung von ungefähr 20 Pfund für Kost und Unterricht während des ersten Jahres und 10 Pfund während des zweiten einen Bürgen suchen. »Nach dem ersten Jahre«, sagen die Vorsteher, »wird mit jedem Aufgenommenen eine laufende Rechnung eröffnet; es werden ihm die wirklichen Kosten seiner Verpflegung angerechnet, die wöchentlich nicht über zwei Dollar betragen; so viel, wie vom Staate oder von seinen Freunden für ihn bezahlt wurde, wird ihm gutgeschrieben, so wie auch das, was er über die Kosten des von ihm verarbeiteten Rohstoffs verdient, so daß alles, was er über einen Dollar die Woche gewinnt, sein eigen ist. Nach dem dritten Jahre muß sich zeigen, ob sein Verdienst die wirklichen Kosten seines Unterhalts mehr als bezahlt; ist dies der Fall, steht es ihm frei, zu bleiben und seinen Verdienst selbst zu empfangen oder nicht. Diejenigen, welche sich als unfähig erweisen, ihren Lebensunterhalt zu erwerben, werden nicht behalten, da es nicht zu wünschen ist, die Anstalt in ein Almosenhaus umzuwandeln oder nicht arbeitende Bienen im Stock zu lassen. Die, welche wegen physischer oder geistiger Unfähigkeit zur Arbeit untauglich sind, können nicht Mitglieder einer betriebsamen Gemeinschaft sein; für solche kann besser in einer Anstalt für Kranke und Arbeitsunfähige gesorgt werden.«
Ich besuchte die Anstalt an einem sehr schönen Wintermorgen; über mir ein italienischer Himmel, und die Luft so klar und hell, daß selbst meine Augen, keineswegs die besten, die kleinen Linien und Verzierungen an entfernten Gebäuden erkennen konnten. Gleich den meisten andern öffentlichen Anstalten dieser Klasse in Amerika befindet sich auch diese eine oder zwei englische Meilen vor der Stadt, an einem angenehmen, gesunden Plätzchen, und ist ein luftiges, geräumiges, schönes Gebäude. Es ist auf einer Anhöhe erbaut, von welcher aus man den Hafen übersehen kann. Als ich einen Augenblick an der Tür still stand und sah, wie frisch und frei die ganze Landschaft war – wie leichte glänzende Schaumblasen über die Wellen dahintanzten und jeden Augenblick zur Oberfläche emporquollen, als wenn die Welt unten, wie die oben, sich des heitern Tages freue und in dessen Lichtfülle hinüberströmen wolle: wenn ich von Segel zu Segel auf ein Schiff in der offnen See schaute, ein kleines winziges Fleckchen von reinem Weiß, wenn ich auf die einzige Wolke am stillen, tiefen, fernen Blau des Himmels blickte – und mich herumdrehend einem blinden Knaben in das Antlitz sah, das er in derselben Richtung hielt, als ob auch er in sich ein Gefühl der herrlichen Aussicht habe, so fühlte ich eine Art Kummer, daß der Ort so hell und freundlich war, und ein sonderbarer Wunsch kam über mich, daß er um des Blinden willen dunkler sein möchte. Freilich war dies nur für den Augenblick eine bloße Phantasie, allein trotzdem wurde sie mir deutlich bewußt.
Die Kinder waren eben an ihren täglichen Beschäftigungen in den verschiedenen Zimmern, mit Ausnahme einiger weniger, die man schon entlassen hatte und welche spielten. Hier, wie in vielen andern Anstalten trägt keiner Uniform, was mir aus zwei Gründen sehr erfreulich war. Erstens, weil ich überzeugt bin, daß nur sinnlose Gewohnheit und Mangel an Nachdenken uns mit den Livreen und bunten Lappen, die wir zu Hause so gern sehen, versöhnen kann. Zweitens, weil der Mangel solcher Sachen dem Besuchenden jedes Kind in seinem eigenen Charakter zeigt, da sich dessen Individualität hier nicht bei einer häßlichen, einförmigen, steten Wiederholung desselben Anzugs verliert; und dies ist wahrlich ein wichtiger Grund. Die Weisheit, ein wenig harmlosen Stolz auf das Äußere anzuregen, oder die wunderliche Albernheit, Menschenliebe und Lederhosen für unzertrennliche Gefährten zu halten, bedürfen keiner Erörterung.
Ordnung, Reinlichkeit und Bequemlichkeit walteten in jedem Winkel des Gebäudes. Die verschiedenen Klassen, die sich um ihre Lehrer versammelt hatten, beantworteten die ihnen vorgelegten Fragen mit Schnelligkeit, Intelligenz und einem Geiste muntern Wetteifers, der mir sehr gefiel. Die Spielenden waren fröhlich und lärmten wie andere Kinder. Es schienen unter ihnen mehr geistige und zärtliche Freundschaften zu existieren als unter andern jungen Leuten, die nicht unter ähnlicher Trübsal leiden; doch hatte ich das erwartet. Dies ist ein Teil des großen Planes der gnadenvollen Rücksicht Gottes.
In einem Teile des Gebäudes befinden sich Arbeitsgemächer für Blinde, deren Erziehung beendigt ist und die irgendeine gewerbliche Beschäftigung erlernt haben, welche sie jedoch wegen ihres traurigen Schicksales nicht in einer gewöhnlichen Fabrik verrichten können. Hier waren mehrere beschäftigt, Bürsten, Matratzen usw. zu verfertigen; die Heiterkeit, Betriebsamkeit und Ordnung, die in jedem andern Teile des Gebäudes wahrzunehmen war, zeigten sich auch hier.
Auf das Läuten einer Glocke begaben sich die Zöglinge sämtlich, ohne Führer, in einen geräumigen Musiksaal, wo sie auf einem zu diesem Zwecke errichteten Orchester ihre Sitze einnahmen und mit offenbarem Vergnügen dem Präludium auf einer Orgel horchten, das einer von ihnen spielte. Als dies beendigt war, machte der Spieler, ein neunzehn- oder zwanzigjähriger Bursche, einem Mädchen Platz, und zu ihrer Begleitung sangen alle eine Hymne und nachher eine Art Chor. Es erweckte höchst traurige Gefühle, sie so zu sehen und zu hören, so glücklich ihre Lage auch ohne Zweifel war; ich sah, daß ein blindes Mädchen (das gerade durch Krankheit des Gebrauchs seiner Glieder beraubt war) dicht neben mir saß, das Gesicht auf die singende Versammlung gerichtet, und still weinend zuhorchte.
Merkwürdig ist es, die Gesichter der Blinden zu beobachten und zu sehen, wie frei sie von aller Verstellung oder Verheimlichung ihrer Gedanken sind; ein Sehender möchte hierbei erröten, wenn er die Maske betrachtet, die er trägt. Abgerechnet einen leichten Schatten von Ängstlichkeit, der sich stets in ihrem Antlitz ausdrückt und den wir auch in unsrem Gesicht bemerken können, wenn wir im Finstern unseren Weg ausfindig zu machen suchen, drückt sich jede Idee, so wie sie in ihnen entsteht, mit Blitzesschnelle und in ihrer natürlichen Wahrheit in ihren Mienen aus. Wenn eine Ballgesellschaft oder eine Versammlung bei Hofe nur ein einziges Mal sich so wenig der Sehkraft bewußt wäre wie Blinde, welche Geheimnisse würden an den Tag kommen, und als ein wie großer Beförderer der Heuchelei würde dieselbe Kraft erscheinen, deren Verlust wir so sehr beklagen!
Dieser Gedanke kam über mich, als ich in einem anderen Zimmer mich vor einem blinden, tauben und stummen Mädchen niedersetzte, dem der Geruch und fast auch der Geschmack fehlte: vor einem schönen jungen Geschöpf, begabt mit jeder menschlichen Fähigkeit und Hoffnung, empfänglich für Güte und Liebe, und bloß im Besitz eines einzigen äußeren Sinnes – des Gefühls. Da sah ich sie vor mir, gleichsam wie in einer Marmorzelle eingemauert, unzugänglich für den kleinsten Lichtstrahl oder den leisesten Ton, und ihre arme weiße Hand sah hervor durch einen Riß des Steins, irgendeinem guten Menschen um Hilfe zuwinkend, damit eine unsterbliche Seele geweckt werde.
Lange schon, ehe ich sie sah, war die Hilfe gekommen. Ihr Antlitz strahlte von Intelligenz und Vergnügen. Ihr Haar, von ihren eigenen Händen geflochten, war um einen Kopf geschlungen, dessen geistige Fähigkeiten in der schönen Kontur und der hohen, freien Stirn desselben sich herrlich ausdrückten; ihr Kleid, von ihr selbst geordnet, war ein Muster der Sauberkeit und Einfachheit; die Arbeit, an der sie eben gestrickt, ruhte neben ihr; ihr Schreibbuch lag auf dem Pulte, auf das sie sich stützte. – Aus wie kümmerlichen Resten eines Menschenleibes hatte sich langsam dieses sanfte, zarte, schuldlose, dankbare Wesen erhoben!
Gleich den andern Bewohnern des Hauses hatte sie ein grünes Band um ihre Augen gebunden. Eine Puppe, die sie angekleidet hatte, lag neben ihr auf dem Boden. Ich hob dies Spielwerk auf und sah, daß sie ein grünes Band, wie sie selbst trug, gemacht und der Puppe um die Augen gebunden hatte.
Sie saß innerhalb eines kleinen Kreises von Schulpulten und Bänken und schrieb ihr Tagebuch. Bald hatte sie diese Arbeit beendigt, und nun begann sie eine lebhafte Unterhaltung mit einer Lehrerin, die neben ihr saß. Dies war eine Lieblingslehrerin der Armen. Hätte sie ihr Gesicht sehen können, sie würde sie sicher nicht weniger geliebt haben.
Aus einer schriftlichen Mitteilung desselben Mannes, der sie zu dem gebildet hatte, was sie ist, habe ich einige unzusammenhängende Bruchstücke ihrer Geschichte entnommen. Es ist eine sehr schöne, rührende Erzählung und ich wünschte, ich könnte sie dem Leser vollständig vorlegen.
Ihr Name ist Laura Bridgman. »Sie wurde in Hanover in New Hampshire am 21. Dezember 1829 geboren. Sie wird als ein sehr munteres, hübsches Kind mit hellen, blauen Augen geschildert. Bis zum Alter von anderthalb Jahren war sie jedoch so klein und schwächlich, daß ihre Eltern kaum glaubten, sie aufziehen zu können. Sie war harten Krankheitsanfällen unterworfen, welche ihren zarten Körper aufs äußerste mitnahmen; das Leben hing nur noch an einem Faden. Doch im Alter von anderthalb Jahren schien sie sich zu erholen, die gefährlichen Symptome ließen nach, und zwei Monate später war sie vollkommen wohl.
Jetzt entfalteten sich ihre Geistesfähigkeiten, bisher in ihrem Wachstum gehemmt, mit reißender Schnelle, und während der viermonatigen Gesundheit, die sie nun genoß, scheint sie (soweit wir der Erzählung einer liebenden Mutter glauben dürfen) einen bedeutenden Grad von Intelligenz gezeigt zu haben.
Allein plötzlich wurde sie abermals krank; die Krankheit wütete fünf Wochen lang mit großer Heftigkeit; dann entzündeten sich Augen und Ohren, und der Inhalt derselben lief aus. Aber obschon Gesicht und Gehör für immer verloren waren, hatten doch die Leiden des armen Kindes ihr Ende noch nicht erreicht. Fünf Monate mußte sie in einem verfinsterten Zimmer das Bett hüten; es währte ein Jahr, ehe sie ohne Hilfe selbst gehen konnte, und zwei Jahre, ehe sie den ganzen Tag aufrecht sitzen konnte. Man bemerkte jetzt, daß ihr Geruchssinn fast gänzlich zerstört und ihr Geschmack ebenfalls sehr abgestumpft war.
Erst als das arme Kind vier Jahre alt war, schien ihm die körperliche Gesundheit wiedergegeben zu sein, und erst jetzt konnte es in das Leben und die Welt eintreten.
Allein in welcher Lage befand sich das arme Mädchen! Die Dunkelheit und das Schweigen des Grabes herrschten um sie: keiner Mutter Lächeln rief ihr Lächeln hervor, keines Vaters Stimme lehrte sie, Laute nachahmen – Brüder und Schwestern waren für sie bloße Formen, die ihrem Griffe widerstanden, die jedoch in nichts von den Möbeln im Hause sich unterschieden, außer durch Wärme und durch das Vermögen, sich selbst bewegen zu können; und in diesen Beziehungen unterschieden sie sich nicht einmal von der Katze oder dem Hunde.
Aber der unsterbliche Geist, der ihr eingepflanzt worden war, konnte weder sterben noch verstümmelt werden; und obwohl ihm die meisten Mittel, sich mit der Welt in Verbindung zu setzen, abgeschnitten waren, begann er doch sich durch die noch übrigen zu offenbaren. Sobald sie laufen konnte, fing sie an, das Zimmer und dann das Haus zu untersuchen; sie lernte die Form, die Dichte, das Gewicht und die Wärme jedes Körpers kennen, auf den sie ihre Hände legen konnte. Sie folgte ihrer Mutter und befühlte deren Hände und Arme, wenn sie im Hause beschäftigt war; ihre Neigung zur Nachahmung bewog sie, aus freien Stücken alles zu wiederholen. Sie lernte selbst ein wenig nähen und stricken.«
Es wird indes kaum nötig sein zu erwähnen, daß die Mittel und Wege, sich ihr mitzuteilen, sehr beschränkt waren und daß die moralischen Wirkungen ihres elenden Zustandes sich bald zu zeigen begannen. Wer nicht durch die Vernunft gebildet werden kann, der kann bloß durch Gewalt in Schranken gehalten werden; und dies, in Verbindung mit ihrem traurigen Schicksale, würde sie bald in eine schlimmere Lage versetzt haben, als die der Tiere ist, welche ohne rechtzeitige, unverhoffte Hilfe umkommen müssen.
»Um diese Zeit war ich so glücklich, von dem Kinde zu hören, und eilte sogleich nach Hanover, um es zu sehen. Ich fand eine wohlgebildete Gestalt, mit einem stark ausgeprägten, nervös sanguinischen Temperament und einem großen, schöngeformten Kopf; der ganze Körper war in gesunder Tätigkeit. Die Eltern waren leicht zu bewegen, sie nach Boston kommen zu lassen, und am 4. Oktober 1837 brachten sie sie in die Anstalt.
Eine Zeitlang war sie sehr bestürzt; nachdem man ungefähr zwei Monate gewartet hatte, bis sie mit ihrer neuen Umgebung bekannt und mit den Hausbewohnern etwas vertrauter geworden war, wurde der Versuch gemacht, ihr eine Kenntnis von willkürlichen Zeichen beizubringen, wodurch sie andern ihre Gedanken mitteilen konnte.
Zu diesem Ende konnte man zweierlei Wege einschlagen. Man mußte entweder eine Zeichensprache wählen, wobei man die natürlichen Zeichen benutzte, durch die sie sich schon auszudrücken wußte, oder sie die gewöhnlich angewandte, gänzlich willkürliche Sprache zu lehren suchen, das heißt, man mußte ihr für jedes Ding ein Zeichen geben oder ihr eine Kenntnis von Buchstaben beibringen, durch deren Zusammensetzung sie ihren Begriff von dem Dasein und der Art und Weise des Daseins irgendeines Dinges ausdrücken konnte. Das erstere wäre leicht, allein von nur geringem Nutzen gewesen; das letztere schien sehr schwer, aber wenn es erreicht war, mußte es sich als sehr brauchbar erweisen. Daher wählte ich das letztere.
Den ersten Versuch machte ich damit, daß ich auf allgemein gebrauchte Dinge, wie zum Beispiel Messer, Gabeln, Löffel, Schlüssel usw. Zettel kleben ließ, auf welchen der Name des Gerätes in erhabenen Buchstaben gedruckt war. Diese Buchstaben befühlte sie sehr sorgfältig und unterschied natürlich gar bald, daß die gekrümmten Linien des Wortes Löffel ebensosehr von den gekrümmten Linien des Wortes Schlüssel unterschieden waren, wie die Form des Löffels von der des Schlüssels.
Dann wurden kleine besondere Zettel, worauf dieselben Worte gedruckt waren, ihr in die Hände gegeben, und sie bemerkte bald, daß sie den auf die Geräte geklebten ähnlich waren. Sie bezeigte ihre Wahrnehmung dieser Ähnlichkeit dadurch, daß sie den Zettel ›Schlüssel‹ auf den Schlüssel und den Zettel ›Löffel‹ auf den Löffel legte. Hierin wurde sie durch das natürliche Zeichen der Billigung, durch Klopfen auf den Kopf, aufgemuntert.
Dasselbe Verfahren befolgte man mit allen Gegenständen, die sie in die Hand nehmen konnte; und bald lernte sie, die richtigen Zettel auf dieselben zu legen. Es versteht sich indessen, daß die einzige Geisteskraft, die sich hier übte, die Kraft der Nachahmung und des Gedächtnisses war. Sie erinnerte sich, daß der Zettel ›Buch‹ auf ein Buch gelegt war; sie wiederholte das Verfahren erst aus Nachahmung und dann aus dem Gedächtnis; dabei hatte sie bloß den Beweggrund der Liebe zum Beifall, aber, wie es schien, ohne geistige Wahrnehmung irgendeiner Beziehung zwischen den Dingen.
Nach einiger Zeit wurden ihr statt Zettel die einzelnen Buchstaben auf besonderen Stücken Papier gegeben: diese wurden so nebeneinandergelegt, daß man das Wort ›Buch‹, ›Schlüssel‹ usw. herauslesen konnte; dann wurden sie in einen Haufen gemischt, und man gab ihr ein Zeichen, die Buchstaben selbst so zu legen, daß man die Worte ›Buch‹, ›Schlüssel‹ lesen könnte, und dies tat sie auch.
Bis jetzt war das Verfahren mechanisch gewesen und der Erfolg ungefähr ebenso groß, wie wenn man einen recht klugen Hund mehrere Kunststücke lehrt. Das arme Kind hatte in stummem Staunen dagesessen und geduldig alles nachgeahmt, was ihr der Lehrer vormachte. Aber jetzt schien ihr das Licht der Wahrheit aufzugehen; ihr Verstand begann zu arbeiten: sie bemerkte, daß sie jetzt Mittel hatte, sich ein Zeichen von etwas, was vor ihrer Seele stand, zusammenzusetzen und dies einer andern Seele zu zeigen, und sogleich strahlte ihr Antlitz von menschlicher Vernunft; sie war nicht mehr einem Hunde oder Papagei zu vergleichen – der unsterbliche Geist ergriff jetzt begierig das neue Glied der Vereinigung mit andern Geistern! Ich könnte fast den Augenblick angeben, als diese Wahrheit in ihrem Gemüt aufdämmerte und Licht über ihr Antlitz goß. Ich sah, daß das große Hindernis nunmehr beseitigt war und daß von nun an nur Geduld und Ausdauer erforderlich seien, denn das allerdings schwer zu erreichende Ziel lag offen und klar vor mir.
Das Resultat ist soweit schnell erzählt und leicht zu begreifen; allein das Verfahren war es nicht, denn viele Wochen scheinbar vergeblicher Arbeit vergingen, ehe man so weit kam.
Wenn ich eben sagte, daß ein Zeichen gemacht wurde, so soll das soviel heißen, daß der Lehrer die Handlung verrichtete; sie befühlte dabei seine Hände und ahmte dessen Bewegungen nach.
Nachher wurde ein Satz Metalltypen angeschafft, auf deren Enden sich die verschiedenen Buchstaben des Alphabets befanden, sowie auch ein Brett, in welches viereckige Löcher geschnitten waren, in die sie die Typen setzen konnte, so daß die Buchstaben bloß auf der Oberfläche gefühlt werden konnten.
Wenn man ihr nun irgendeinen Gegenstand reichte, zum Beispiel einen Bleistift, eine Uhr, so wählte sie die zu dem Worte gehörenden Buchstaben, ordnete sie auf ihrem Brette und schien sie mit Vergnügen zu überlesen.
Auf diese Weise wurde sie mehrere Wochen geübt, bis ihr Wortreichtum ausgedehnter wurde. Dann wurde der wichtige Schritt getan, sie zu lehren, die verschiedenen Buchstaben statt mit der unbehilflichen Vorrichtung des Brettes und der Typen durch die Lage ihrer Finger darzustellen. Sie lernte dies schnell und leicht, denn ihr Verstand hatte begonnen zu arbeiten, und ihre Fortschritte waren bedeutend.
Dies war die Zeit – ungefähr drei Monate nach ihrer Aufnahme –, als der erste Bericht von ihr gemacht wurde, worin angegeben wird, sie habe eben das Fingeralphabet gelernt, wie es die Taubstummen brauchen, und daß es Vergnügen und Verwunderung errege zu sehen, wie schnell, richtig und begierig sie mit ihren Übungen weitergehe. Ihre Lehrerin gibt ihr einen neuen Gegenstand, zum Beispiel einen Bleistift, läßt sie ihn erst untersuchen, um einen Begriff von seinem Gebrauch zu erhalten; dann zeigt sie ihr, wie der Name desselben buchstabiert wird, indem sie ihr die Zeichen der Buchstaben mit ihren eigenen Fingern vormacht. Das Kind ergreift ihre Hand und befühlt ihre Finger, so wie die verschiedenen Buchstaben gebildet werden; es hält den Kopf etwas auf eine Seite, wie jemand, der angestrengt horcht; seine Lippen sind halb geöffnet, es scheint kaum zu atmen; die Spannung seines Antlitzes verändert sich nach und nach in ein Lächeln, sowie es die Lektion begreifen lernt. Es hält dann seine kleinen Finger empor und buchstabiert das Wort in der Fingersprache; dann ergreift es seine Typen und ordnet die Buchstaben, und zuletzt, um ganz sicherzugehen, nimmt es alle Typen, aus denen das Wort besteht, und legt sie auf oder neben den Bleistift, oder was sonst der Gegenstand der Lektüre sein mag.
Das ganze folgende Jahr wird damit verbracht, die begierigen Fragen der armen Schülerin nach den Namen aller Gegenstände, die sie in die Hand nehmen konnte, zu beantworten, sie im Gebrauche des Fingeralphabets zu üben, auf jede mögliche Weise ihre Kenntnis der physischen Beziehungen der Dinge zu erweitern und ihre Gesundheit gehörig zu pflegen.
Am Ende dieses Jahres ward ein Bericht von ihr erstattet, wovon Folgendes ein Auszug ist:
›Es ist jetzt außer allem Zweifel, daß sie nicht den kleinsten Lichtstrahl sehen, nicht den geringsten Ton hören kann und nie gezeigt hat, daß sie den Sinn des Geruchs besitze. So ruht ihre Seele in Finsternis und Stille, wie in einem verschlossenen Grabe um Mitternacht. Von schönen Aussichten, angenehmen Tönen und gefälligen Farben kann sie sich keinen Begriff machen; trotzdem erscheint sie so glücklich und mutwillig wie ein Vogel oder ein Lamm; die Anwendung ihrer intellektuellen Fähigkeiten oder die Auffassung eines neuen Begriffes machen ihr lebhaftes Vergnügen, das sich in ihren ausdrucksvollen Zügen deutlich widerspiegelt. Sie scheint sich nie zu grämen, sondern zeigt immer die heitere Munterkeit der Jugend. Sie liebt Scherz und Lustigkeit, und wenn sie mit den übrigen Kindern spielt, so übertönt ihr heiteres Lachen alle übrigen.
Wird sie allein gelassen, so scheint sie am glücklichsten, wenn sie ihr Strickzeug oder ihre Näherei bei sich hat; sie beschäftigt sich dann wohl stundenlang. Hat sie keine Beschäftigung, so unterhält sie sich augenscheinlich durch Phantasiegespräche oder damit, daß sie sich vergangene Eindrücke zurückruft. Sie zählt an ihren Fingern oder buchstabiert die Namen von Dingen, die sie vor kurzem gelernt hat, in der Fingersprache der Stummen. In diesen einsamen Selbstgesprächen scheint sie zu urteilen, zu überlegen und zu folgern; buchstabiert sie mit ihrer rechten Hand ein Wort falsch, so schlägt sie sich sogleich mit ihrer linken darauf, wie der Lehrer, zum Zeichen der Mißbilligung; buchstabiert sie es richtig, so klopft sie sich selbst auf den Kopf und sieht zufrieden aus. Sie buchstabiert zuweilen vorsätzlich mit der linken Hand ein Wort falsch, sieht einen Augenblick lang recht schelmisch aus, lacht dann und schlägt mit der Rechten die Linke, um sie zu korrigieren.
In einem Jahre hat sie eine große Geschicklichkeit in dem Gebrauch des Fingeralphabets der Stummen erlangt und buchstabiert die Worte und Sätze, die sie kennt, so schnell und gewandt, daß nur die, welche sich an diese Sprache gewöhnt haben, den schnellen Bewegungen ihrer Finger folgen können.
So wunderbar aber auch die Schnelligkeit ist, mit welcher sie ihre Gedanken in die Luft schreibt, so ist es noch mehr die Ruhe und Genauigkeit, womit sie die solchergestalt von andern geschriebenen Worte liebt; sie nimmt dabei die Hände der letztern in die ihrigen und folgt jeder Bewegung der Finger, so wie Buchstabe auf Buchstabe deren Bedeutung ihrer Seele zuführt. Auf diese Weise unterhält sie sich mit ihren blinden Gespielen, und nichts kann deutlicher die Kraft der Seele zeigen, alles zu dem erforderlichen Zweck anzuwenden, als eine Zusammenkunft zwischen diesen Blinden. Denn wenn schon große Geschicklichkeit und hohes Talent bei Mimikern dazu erforderlich ist, um Gedanken und Gefühle durch die Bewegungen des Körpers und den Ausdruck des Gesichts zu malen, wieviel größer muß nicht die Schwierigkeit sein, wenn beide von Dunkelheit umgeben sind und der eine noch dazu nicht hören kann!
Wenn Laura mit vor sich hingestreckten Händen durch einen Gang geht, so kennt sie sogleich jeden, dem sie begegnet, und geht mit einem Zeichen, daß sie ihn erkannt, an ihm vorüber: aber wenn die ihr begegnende Person ein Mädchen ihres Alters oder vielleicht ein Liebling von ihr ist, so fliegt augenblicklich ein heiteres Lächeln des Erkennens über ihre Züge; beide umschlingen sich, drücken sich die Hände und tauschen mit schnellen Fingerbewegungen gegenseitig ihre Gedanken aus. Da gibt es Fragen und Antworten, Verkündigungen von Freude oder Sorge, Küsse und Scheidegrüße, just wie zwischen kleinen Kindern, die alle Sinne haben.‹
Während dieses Jahres – sechs Monate, nachdem sie das Elternhaus verlassen hatte, kam ihre Mutter, sie zu besuchen; die Szene ihres Wiedersehens war sehr interessant.
Die Mutter blickte eine Weile mit überströmenden Augen auf ihr Kind, das, ganz unwissend über ihre Gegenwart, im Zimmer umherspielte. Jetzt rannte Laura gegen sie an, begann sogleich die Hände ihrer Mutter zu befühlen, ihr Kleid zu untersuchen, um zu sehen, ob sie sie kenne. Doch da ihr dies nicht gelang, wandte sie sich von ihr ab wie von einer Fremden; die gute Frau konnte den Schmerz, den sie fühlte, als sie sah, daß ihr eigenes geliebtes Kind sie nicht mehr kannte, nicht verbergen.
Sie gab hierauf dem Kinde eine Perlenkette, die sie zu Hause zu tragen pflegte, welche Laura sogleich wiedererkennte; sie wand sie mit großer Freude sich um den Hals und suchte mich begierig auf, um mir zu sagen, sie wisse, daß die Kette aus ihrem Vaterhause sei.
Die Mutter versuchte jetzt, sie zu liebkosen, allein die arme Laura stieß sie zurück und zog es vor, bei ihren Gespielinnen zu bleiben.
Jetzt wurde ihr ein anderer Gegenstand aus dem väterlichen Hause gegeben, und sie fing an, sehr aufgeregt zu werden; sie untersuchte die Fremde genauer und gab mir zu verstehen, daß sie wisse, diese Person komme aus Hanover; sie ließ sich sogar ihre Liebkosungen gefallen, verließ sie jedoch bei dem geringsten Zeichen mit Gleichgültigkeit. Jetzt wurde es peinlich, den Kummer der Mutter zu sehen; denn obwohl sie gefürchtet hatte, daß sie nicht erkannt werden würde, so war es doch zu schmerzlich und kränkend für ein Mutterherz, sich wirklich von ihrem geliebten Kinde mit Gleichgültigkeit behandelt zu sehen.
Nach einer Weile, als die Mutter ihr wieder nahte, schien eine unbestimmte Idee aus Lauras Seele zu schießen, daß dies keine Fremde sein könne; sie betastete daher die Hände derselben sehr eifrig, während ihr Antlitz den Ausdruck gespannten Interesses annahm; sie wurde totenblaß und dann plötzlich rot; die Hoffnung schien mit Zweifel und Ängstlichkeit zu kämpfen, und nie malten sich streitende Leidenschaften stärker auf einem menschlichen Antlitz. In diesem Augenblick peinlicher Ungewißheit zog die Mutter sie zu sich und küßte sie voll Liebe; jetzt leuchtete dem Kinde auf einmal die Wahrheit ein; alles Mißtrauen, alle Ängstlichkeit schwand, als sie sich mit dem Ausdruck der höchsten Freude an den Busen ihrer Mutter warf und sich ihren liebenden Umarmungen überließ.
Jetzt blieben die Perlen und jedes Spielzeug, das ihr angeboten wurde, gänzlich unbeachtet; ihre Gespielen, um derentwillen sie einen Augenblick vorher gern die Fremde verließ, strebten jetzt vergebens, sie von ihrer Mutter hinwegzuzerren; und obschon sie mit ihrem gewöhnlichen augenblicklichen Gehorsam auf mein Zeichen mir nachfolgte, so geschah dies offenbar nur mit schmerzlichem Zaudern. Sie hielt sich fest an mich, wie bestürzt und furchtsam; und als ich sie nach einem Augenblick wieder zu ihrer Mutter nahm, sprang sie in ihre Arme und umschlang sie mit lebhafter Freude. Die nachherige Trennung zwischen beiden zeigte sowohl die Liebe als auch die Intelligenz und Entschlossenheit des Kindes.
Laura begleitete ihre Mutter bis zur Türe, wobei sie sie fest umschlungen hielt; als beide an die Schwelle kamen, blieb sie stehen und fühlte rings umher, um zu wissen, wer in der Nähe sei. Als sie die Lehrerin bemerkte, welche sie sehr liebt, erfaßte sie diese mit der einen Hand, während sie sich mit der andern krampfhaft an ihre Mutter anklammerte. So blieb sie einen Augenblick stehen; dann ließ sie die Hand ihrer Mutter fahren, hielt das Schnupftuch an ihre Augen, wandte sich um und hielt sich schluchzend an die Lehrerin. Indessen entfernte sich die Mutter, nicht weniger bewegt als ihr Kind.
In früheren Berichten ist bemerkt worden, daß sie verschiedene Grade des Verstandes in andern unterscheiden kann und daß sie bald eine Neuangekommene mit Verachtung behandelte, wenn sie nach ein paar Tagen ihre Geistesschwäche bemerkte. Dieser nicht liebenswürdige Zug ihres Charakters hat sich in dem vergangenen Jahre immer mehr und mehr entwickelt.
Zu ihren Freundinnen und Gespielinnen wählt sie diejenigen Kinder, die verständig sind und am besten mit ihr reden können; hingegen ist sie nur höchst ungern in Gesellschaft derjenigen, denen es an Intelligenz mangelt, wenn sie nicht etwa ihrer zu ihren Absichten bedarf, was sie offenbar gern tut. Sie benutzt sie, läßt sich von ihnen bedienen, auf eine Art, wie sie wohl weiß, daß sie es nicht von andern verlangen kann; überhaupt zeigt sie auf mehrfache Weise ihr sächsisches Blut.
Sie hat es gern, wenn andere Kinder, nämlich solche, die sie leiden mag, von den Lehrern beachtet und geliebkost werden; doch darf dies nicht zu weit getrieben werden, sonst wird sie eifersüchtig. Sie will ihren Teil auch haben, welcher, wenn auch nicht der des Löwen, doch immer der größere ist; und wenn sie ihn nicht erhält, sagt sie: ›Meine Mutter wird mich lieben.‹
Ihre Neigung zur Nachahmung geht so weit, daß sie Handlungen vornimmt, die ihr ganz unbegreiflich sein müssen und die ihr kein anderes Vergnügen gewähren können als die Befriedigung einer innern Fähigkeit. Man hat sie halbe Stunden lang sitzen, ein Buch vor ihre gesichtlosen Augen halten und die Lippen dabei bewegen sehen, wie sie bemerkt, daß Sehende es machen, wenn sie lesen.
Eines Tages behauptete sie, ihre Puppe sei krank; sie hätschelte sie auf alle mögliche Weise und gab ihr Arznei ein; dann brachte sie sie sorgfältig zu Bett und legte eine Flasche mit heißem Wasser zu ihren Füßen, wobei sie in einem fort recht herzlich lachte. Als ich nach Hause kam, bestand sie darauf, daß ich zur Puppe hinginge und ihr den Puls fühlte; und als ich ihr sagte, sie solle ihr ein Zugpflaster auf den Rücken legen, schien sie sich ganz erstaunlich zu freuen und kreischte fast vor Entzücken.
Ihre geselligen Gefühle und ihre Neigungen sind sehr stark; wenn sie bei der Arbeit oder beim Lernen neben einer ihrer kleinen Freundinnen sitzt, unterbricht sie sich alle Augenblicke in der Arbeit, um ihre Nachbarin mit großem Eifer und rührender Wärme zu küssen.
Allein gelassen, beschäftigt und unterhält sie sich und scheint ganz zufrieden; ja so stark scheint das natürliche Streben ihrer Gedanken zu sein, sich in das Gewand der Sprache zu kleiden, daß sie in der Fingersprache oft Monologe hält, so langsam und beschwerlich dies auch ist. Jedoch nur wenn sie allein ist, verhält sie sich ruhig; denn wenn sie gewahr wird, daß sich noch jemand im Zimmer befindet, ruht sie nicht eher, als bis sie dicht neben ihm sitzen, seine Hände erfassen und durch Zeichen mit ihm sprechen kann.
Es ist erfreulich, in intellektueller Beziehung bei ihr einen unersättlichen Durst nach Kenntnissen und eine schnelle Auffassung der Beziehungen der Dinge untereinander zu beobachten. Noch mehr Vergnügen macht es, in ihrem moralischen Charakter ihre beständige Fröhlichkeit, ihre hohe Freude über ihr Dasein, ihr rückhaltloses Zutrauen, ihr Mitgefühl mit fremdem Leiden, ihr Selbstbewußtsein, ihre Wahrheitsliebe zu bemerken.«
Dies sind einige Fragmente aus der einfachen, aber höchst interessanten Geschichte von Laura Bridgman. Der Name ihres großen Wohltäters, der ihre Geschichte niedergeschrieben hat, ist Dr. Howe. Ich glaube sicherlich, daß es wenig Personen gibt, die, nachdem sie diese Bruchstücke gelesen, den Namen dieses Mannes je mit Gleichgültigkeit werden aussprechen hören.
Außer dem Bericht, aus dem ich einen Auszug entnommen habe, ist noch ein zweiter von Dr. Howe erschienen. Er schildert die schnellen geistigen Fortschritte seiner Schülerin während des nächsten Jahres und führt ihre kleine Geschichte bis zu Ende des vorigen Jahres fort. Es ist erstaunlich: Wie wir in Worten träumen und Unterhaltungen mit Luftgestalten fortspinnen, worin wir für uns und die Schatten reden, die uns in diesen nächtlichen Visionen erscheinen, so gebraucht Laura, da sie keine Worte hat, ihre Fingersprache im Schlafe. Und man hat beobachtet, daß, wenn ihr Schlummer unterbrochen oder sehr durch Träume gestört wird, sie ihre Gedanken auf unregelmäßige und verwirrte Weise durch ihre Finger ausdrückt, gerade wie wir unter ähnlichen Umständen undeutlich murmeln würden.
Ich blätterte in ihrem Tagebuch und fand es mit schöner, leserlicher, fester Hand geschrieben und in einem Stil, der ohne weitere Erklärung ganz verständlich war. Als ich sagte, daß ich sie gern selbst schreiben sehen möchte, gebot ihr der Lehrer, der neben ihr saß, in ihrer Sprache, ihren Namen ein paarmal auf einen Streifen Papier zu schreiben. Als sie dies tat, bemerkte ich, daß sie mit ihrer Linken stets der Rechten, in welcher sie die Feder hielt, nachfolgte. Es war durchaus keine Linie angegeben, allein sie schrieb trotzdem grade.
Bis jetzt wußte sie noch nichts von der Gegenwart eines Fremden, doch als sie ihre Hand in die des Herrn legte, der mich begleitete, schrieb sie sogleich dessen Namen in die Handfläche ihres Lehrers. Ihr Tastsinn ist in der Tat jetzt so ausgebildet, daß sie eine Person, mit der sie einmal bekannt geworden ist, fast nach jedem noch so langen Zeitraum wiedererkennt. Dieser Herr war, glaube ich, nur sehr selten in ihrer Gesellschaft gewesen und hatte sie sicher seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen. Meine Hand stieß sie sogleich zurück, wie sie dies mit jedem Manne macht, der ihr fremd ist. Allein meine Frau hielt sie mit Vergnügen bei der Hand fest, küßte sie und untersuchte ihr Kleid mit mädchenhafter Neugier.
Sie war munter und fröhlich und zeigte viel unschuldige Schalkhaftigkeit im Umgang mit ihrem Lehrer. Ihr Entzücken, als sie eine ihrer liebsten Spielgenossinnen – selbst ein blindes Mädchen – erkannte, die schweigend und in freudiger Erwartung der kommenden Überraschung einen Sitz neben ihr einnahm, bot eine schöne Szene dar. Dies entlockte ihr, wie einige Male andere unbedeutende Umstände während meines Besuchs, einen häßlichen Laut, der fast peinlich zu hören war. Als ihr aber der Lehrer die Hand auf den Mund legte, enthielt sie sich dessen sogleich und umarmte ihre Gespielin lachend und liebevoll.
Ich war vorher in einem andern Zimmer gewesen, wo eine Anzahl blinder Knaben sich schwang, kletterte und mit verschiedenen Spielen unterhielt. Als wir eintraten, riefen sie alle dem Hilfslehrer, der uns begleitete, zu: »Sehen Sie einmal mich, Mr. Hart! Bitte, Mr. Hart, sehen Sie einmal!« So bezeigten sie auch hierin den ihrem Zustande eigentümlichen Wunsch, gesehen zu werden. Es befand sich ein kleiner lachender Bursche unter ihnen, der fern stand und sich mit gymnastischen Übungen zur Kräftigung der Arme und Brust unterhielt, woran er sich höchlich ergötzte, besonders wenn er etwa beim Ausstrecken seines rechten Armes mit einem anderen Knaben in Berührung kam. So wie Laura Bridgman war dieses Kind taubstumm und blind.
Dr. Howes Beschreibung des ersten Unterrichts dieses Zöglings ist so frappant und so eng mit Laura selbst verknüpft, daß ich mich nicht enthalten kann, einen kurzen Auszug daraus zu geben. Der arme Knabe heißt Oliver Caswell, ist dreizehn Jahre alt und war im vollen Besitz all seiner Sinne, bis er drei Jahre und vier Monate alt war. In dieser Zeit bekam er das Scharlachfieber: nach vier Wochen wurde er taub, einige Wochen darauf blind und in sechs Monaten stumm. Er bezeigte sein ängstliches Gefühl über diesen letzten Verlust dadurch, daß er oft die Lippen anderer Personen befühlte, wenn sie redeten, und dann seine Hand auf seine eigenen legte, als wollte er sich überzeugen, daß er sie noch in der rechten Lage habe.
»Sein Durst nach Kenntnissen«, sagt Dr. Howe, »offenbarte sich, sobald er in die Anstalt kam, durch seine eifrige Untersuchung eines jeden Dinges, das er in seiner neuen Umgebung fühlen oder riechen konnte. Als er zum Beispiel auf das Register eines Ofens trat, bückte er sich sogleich nieder, betastete es und entdeckte bald die Art und Weise, wie sich die obere Platte auf der unteren bewegte; allein dies war ihm nicht genug; er legte sich nieder auf das Gesicht, beleckte erst die eine und dann die andere Platte und schien zu merken, daß sie von verschiedenem Metall waren.
Seine Zeichen waren sehr ausdrucksvoll, und seine Natursprache, Lachen, Schreien, Seufzen, Küssen, Umarmungen usw., war vollkommen.
Einige der analogen Zeichen, die er sich (geleitet von seiner Nachahmungsfähigkeit) selbst gemacht hatte, waren sehr deutlich und leicht verständlich, zum Beispiel die wellenförmige Bewegung seiner Hand für die Bewegung eines Kahnes, die kreisförmige für die eines Rades usw.
Das erste, was man tat, war, ihm den Gebrauch dieser Zeichen abzugewöhnen und dafür rein willkürliche zu lehren.
Die Erfahrung benutzend, die ich in andern Fällen gemacht hatte, unterließ ich mehrere Schritte, die ich bei dem früheren Verfahren angewandt hatte, und begann sogleich mit der Fingersprache. Ich nahm daher mehrere Gegenstände, die kurze Namen haben, zum Beispiel Dose, Uhr usw., rief Laura zu meiner Unterstützung herbei, ergriff seine Hand und legte sie auf einen der Gegenstände; dann machte ich mit meiner eigenen die Buchstaben ›Uhr‹. Er befühlte eifrig meine Hand mit seinen beiden, und als ich die Buchstaben wiederholte, versuchte er augenscheinlich, die Bewegungen meiner Finger nachzuahmen. Nach einigen Minuten gelang es ihm, die Bewegungen meiner Finger mit der einen Hand zu fühlen und mit der andern mir nachzuahmen, wobei er herzlich lachte, wenn ihm dies gelang. Laura zeigte sich dabei sehr gespannt; überhaupt war es interessant, beide zu betrachten. Ihr Gesicht verkündete lebhafte, ängstliche Aufmerksamkeit, und ihre Finger verschlangen sich so eng mit den unsrigen, daß sie jeder Bewegung folgen konnte, ohne uns dabei zu hindern; Olivier stand aufmerksam dabei, hielt den Kopf etwas zur Seite und das Gesicht emporgerichtet, seine Linke erfaßte die meine, und seine Rechte hielt er ausgestreckt; bei jeder Bewegung meiner Finger verkündete sein Gesicht die gespannteste Aufmerksamkeit; man sah eine gewisse Ängstlichkeit in seinen Zügen, wenn er es versuchte, die Bewegungen nachzuahmen; dann stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht, wenn er glaubte, sie nachmachen zu können, welches in ein freudiges Lachen überging, sobald es ihm gelang und wenn er fühlte, daß ich ihm auf den Kopf und Laura ihm herzhaft auf den Rücken pochte und dabei fröhlich emporsprang.
Er lernte mehr als ein halb Dutzend Buchstaben in der halben Stunde und schien mit seinem guten Erfolg zufrieden, wenigstens damit, daß er Beifall erhielt. Dann begann seine Aufmerksamkeit zu ermatten, und ich fing an mit ihm zu spielen. Es war offenbar, daß er hierbei immer nur die Bewegungen meiner Finger nachgeahmt und seine Hand auf die Dose, Uhr usw. gelegt hatte, ohne weitere Wahrnehmung der Beziehung zwischen den Zeichen und dem Gegenstand.
Wenn er des Spielens müde war, nahm ich ihn wieder an den Tisch, und er war gern bereit, das Verfahren der Nachahmung von neuem zu beginnen. Er lernte bald die Buchstaben für Dose, Uhr usw. machen, und da ich ihm dabei wiederholt den bezüglichen Gegenstand in die Hand gab, bemerkte er endlich die Beziehung zwischen demselben und dem Worte; denn wenn ich die Buchstaben ›Dose‹ oder ›Uhr‹ machte, ergriff er allemal den rechten Gegenstand.
Die Wahrnehmung dieser Beziehung war jedoch bei ihm nicht von dem heitern Strahl der Intelligenz, der glühenden Freude begleitet, welche diesen schönen Moment bei Laura bezeichneten. Ich legte nun die Gegenstände auf die Tafel, ging mit den Kindern einige Schritte weg davon, buchstabierte mit Olivers Fingern das Wort ›Dose‹, und Laura ging und holte den Gegenstand herbei. Der Kleine schien dadurch sehr unterhalten und sah recht aufmerksam und heiter aus. Ich ließ ihn hierauf die Buchstaben ›Brot‹ machen; augenblicklich ging Laura und holte ihm ein Stück. Er roch daran, hielt es an seine Lippen, richtete mit listigem Blick den Kopf empor, schien einen Augenblick nachzudenken und lachte dann aus vollem Halse, als wollte er sagen: ›Aha! jetzt weiß ich, wie daraus was zu machen ist.‹
Es war jetzt klar, daß er Fähigkeit und Neigung zum Lernen hatte und bloß ausdauernder Aufmerksamkeit bedürfe. Ich übergab ihn daher einem verständigen Lehrer und zweifelte gar nicht an seinen schnellen Fortschritten.«
Wohl mag dieser Menschenfreund das einen schönen Augenblick nennen, wo eine ferne Aussicht auf ihren jetzigen Zustand in der umdunkelten Seele Laura Bridgmans zu schimmern begann. Während seines ganzen Lebens wird ihm dieser Augenblick eine Quelle reinen, unverwelklichen Glückes sein und wird nicht weniger hell am Abende seiner der leidenden Menschheit gewidmeten Tage strahlen.
Die Neigung zwischen beiden – dem Lehrer und der Schülerin – ist ebenso fern von aller gewöhnlichen Aufmerksamkeit und Rücksicht, wie die Umstände, unter welchen sie entstand und gepflegt wurde, fern von den gewöhnlichen Vorfällen des Lebens sind. Er beschäftigte sich jetzt damit, Mittel und Wege zu ersinnen, um ihr höhere Kenntnisse und einen Begriff von dem großen Schöpfer jenes Weltalls beizubringen, in welchem, so dunkel und still es für sie auch ist, sie sich ihres Daseins so innig freut.
Ihr, die ihr Augen habt und nicht seht, die ihr Ohren habt und nicht hört; ihr, die ihr seid wie die Heuchler mit trübseligen Mienen und die ihr euer Antlitz verzerrt, um die Menschen glauben zu machen, daß ihr fastet, lernt reinen Frohsinn und ruhige Genügsamkeit von den Taubstummen und Blinden. Ihr selbstgewählten Heiligen mit finstern Stirnen, dies gesichtslose, gehörlose, sprachlose Kind kann euch Lehren geben, denen zu folgen euch wohl anstünde. Laßt seine arme Hand sanft auf eurem Herzen ruhen; denn vielleicht hat sie eine ähnliche Heilkraft wie die des großen Meisters, von dessen Liebe und Sympathie für die ganze Welt nicht einer unter euch so viel weiß wie viele der Schlechtesten unter jenen Gefallenen, gegen die ihr mit nichts freigebig seid als mit dem Geschrei der Verdammung!
Als ich aufstand, um aus dem Zimmer zu gehen, kam ein hübsches kleines Kind hereingerannt, um seinen Vater zu begrüßen. Für den Augenblick machte ein Kind mit sehenden Augen unter dem blinden Haufen fast einen ebenso schmerzlichen Eindruck auf mich wie vor zwei Stunden der blinde Knabe vor dem Hause. Oh, um wieviel heller und heiterer schien mir jetzt die Landschaft draußen, im Vergleich mit der Dunkelheit so vieler jugendlicher Wesen drin!
*
In Süd-Boston, wie es genannt wird, in einer vortrefflichen Lage, befinden sich mehrere wohltätige Anstalten nebeneinander. Eine derselben ist das Staatshospital für Geisteskranke, das auf bewundernswürdige Weise nach jenen aufgeklärten Grundsätzen der Güte und Aussöhnung geleitet wird, die vor zwanzig Jahren für die ärgste Ketzerei gegolten hätten und welche mit so vielem Erfolg in unsrem Armenasyl zu Hanwell beobachtet werden. »Man muß Vertrauen selbst gegen Geisteskranke zeigen«, sagte der Arzt des Hospitals, als wir in den Galerien umhergingen, während sich seine Patienten ungezwungen um uns versammelten. Von denen, die die Weisheit dieses Satzes bezweifeln oder leugnen, wenn es überhaupt solche gibt, kann ich bloß sagen, daß ich nicht aufgefordert werden möchte, als Geschworner über sie zu entscheiden, ob sie geisteskrank sind oder nicht; denn ich würde sie sicherlich bloß auf dieses Zeugnis hin für sinnlos halten.
Jede Abteilung in dieser Anstalt ist wie eine lange Galerie gebaut, nach welcher sich zu beiden Seiten die Schlafgemächer der Patienten öffnen. Hier arbeiten sie, lesen, spielen Kegel und andere Spiele, und wenn das Wetter ihnen nicht erlaubt auszugehen, bringen sie den ganzen Tag hier zu. In einem dieser Säle saßen, als wenn es so sein müßte, unter einer Menge schwarzer und weißer geisteskranker Weiber des Arztes Gattin und eine andere Dame nebst ein paar Kindern. Beide waren schön, und man konnte gleich auf den ersten Blick bemerken, daß ihre Gegenwart hier einen höchst wohltätigen Einfluß auf die Kranken übte, die sich um sie gruppiert hatten.
Den Kopf an den Kaminsims gelehnt, mit großer Würde und höchst vornehmer Miene, saß eine ältliche Frau, mit so vieler Lappen und bunten Schnitzeln behängt wie Madge Wildfire. Besonders war ihr Kopf ringsum so besteckt mit Stückchen Gaze, Kattun, Papierstreifen und allerhand zusammengesuchten Läppchen, daß er wie ein Vogelnest aussah. Sie strahlte von falschen Juwelen und trug eine ohne Zweifel echt goldene Brille; als wir uns ihr näherten, legte sie mit vielem Anstand eine seht alte, zerrissene Zeitung in ihren Schoß, in welcher sie vermutlich eine Schilderung ihrer eigenen Vorstellung an irgendeinem auswärtigen Hofe gelesen hatte.
Ich habe sie deshalb so genau beschrieben, weil ich sie als Beispiel für die Art und Weise des Arztes, sich das Vertrauen seiner Patienten zu erwerben und zu erhalten, anführen will.
»Diese Dame«, sagte er laut, indem er mich bei der Hand nahm und mit großer Höflichkeit zu der phantastischen Gestalt hinführte, wobei er auch nicht durch den flüchtigsten Seitenblick oder das leiseste Flüstern ihren Argwohn erregte, »diese Dame ist die Gastgeberin dieses Hauses. Es gehört ihr. Niemand weiter hat was darin zu befehlen. Es ist eine große Anstalt, wie Sie sehen, und erfordert eine große Anzahl von Dienern. Sie lebt, wie sie bemerken, im vornehmsten Stil. Sie ist so gütig, meine Besuche anzunehmen und meiner Frau und Familie zu erlauben, daß wir hier wohnen. Sie ist äußerst höflich, wie Sie bemerken« – auf diesen Wink verbeugte sie sich sehr herablassend –, »und wird mir das Vergnügen gönnen, Sie ihr vorzustellen: ein Herr aus England, Madame, just von England angekommen, und zwar nach einer sehr stürmischen Überfahrt: Mr. Dickens – die Dame des Hauses!«
Wir tauschten die würdevollsten Grüße aus und benahmen uns überhaupt mit großem Ernst und Respekt. Die übrigen Irrsinnigen schienen den Spaß vollkommen zu verstehen (und nicht bloß in diesem, sondern in jedem andern Falle, ausgenommen in ihrem eigenen) und sich sehr zu amüsieren. Die Art ihrer verschiedenen Arten von Wahnsinn wurde mir auf dieselbe Weise bekannt, und wir verließen diese kranken Frauen in der besten Laune. Durch solche Mittel wird nicht nur ein vollkommenes Vertrauen zwischen Arzt und Patient hergestellt in bezug auf die Natur und die Ausdehnung ihrer irrigen Ideen, sondern es begreift sich auch leicht, daß sich dadurch Gelegenheiten darbieten, jeden lichten Augenblick zu benutzen, um sie aus ihrem Traume aufzurütteln, indem man ihnen ihre Einbildungen in dem ungereimtesten und abgeschmacktesten Lichte vor Augen stellt.
Jeder Patient dieser Anstalt setzt sich täglich mit Messer und Gabel zu Tische; mitten unter ihnen sitzt der Mann, dessen Umgang mit den ihm Anvertrauten ich soeben beschrieben habe. Bei jeder Mahlzeit hält bloß der moralische Einfluß die heftigeren unter ihnen ab, die übrigen niederzustechen; allein die Wirkung dieses Einflusses ist bis zur absolut sichern Herrschaft gebracht worden, und man hat ihn selbst als Zwangsmittel, geschweige denn als Mittel zur Heilung, hundertmal wirksamer gefunden als alle Zwangsjacken, Fesseln und Handschellen, welche Unwissenheit, Vorurteil und Grausamkeit seit Erschaffung der Welt verfertigt haben.
Bei der Arbeit werden jedem Patienten die zu seinem Gewerbe erforderlichen Werkzeuge so frei anvertraut, als wär er ein vernünftiger Mann. Im Garten und im Hofe arbeiten sie mit Spaten, Rechen und Hacken. Zur Belustigung gehen sie spazieren oder laufen um die Wette, fischen, malen, lesen und fahren in Wagen aus, die zu dem Zwecke angeschafft sind. Sie haben unter sich eine Nähgesellschaft, um Kleider für die Armen zu verfertigen; diese hält Zusammenkünfte, faßt Beschlüsse, und es kommt nie zu Faustschlägen oder Messerstichen, wie es bei verständigen Versammlungen anderswo schon der Fall gewesen ist; sie leitet alle Verhandlungen mit dem größten Anstande. Die Reizbarkeit, die sich außerdem an ihrem eigenen Fleische, ihren Kleidern oder Gerätschaften auslassen würde, wird durch solche Beschäftigungen zerstreut. Sie sind fröhlich, ruhig und gesund.
Wöchentlich geben sie einen Ball, woran der Doktor und seine Familie sowie alle Wärter und Diener tätig teilnehmen. Tänze und Märsche werden abwechselnd nach den muntern Tönen eines Pianofortes ausgeführt; dann und wann erfreut ein Herr oder eine Dame (deren Talent man schon kennt) die Gesellschaft mit einem Gesang, der nie, etwa bei einer leichten Krise, in Heulen und Schreien ausartet, worin, wie ich anfangs meinte, die ganze Gefahr liegen mußte. Zu diesem Feste versammeln sich alle bei guter Zeit; um acht Uhr werden Erfrischungen herumgereicht und um neun Uhr trennen sie sich.
Die größte Höflichkeit und Artigkeit werden durchgängig beobachtet. Sie nehmen sich alle das Benehmen des Doktors zum Muster, und dieser bewegt sich in der Gesellschaft wie ein wahrer Chesterfield. Gleich andern Zusammenkünften gewähren diese Bälle den Damen einige Tage hindurch fruchtbaren Stoff zur Unterhaltung; und die Herren sind so begierig, bei diesen Gelegenheiten zu glänzen, daß man sie oft für sich die Schritte probieren sieht, um eine desto bessere Figur beim Tanze machen zu können.
Es ist klar, daß ein Hauptvorzug dieses Systems die Anregung und Aufmunterung, selbst unter so Unglücklichen, zu einer gewissen bescheidenen Selbstachtung ist. Ein ähnlicher Geist herrscht in allen Anstalten in Süd-Boston.
Dort befindet sich auch das Arbeitshaus. In derjenigen Abteilung desselben, welche zur Aufnahme alter oder sonst hilfloser Armen bestimmt ist, stehen folgende Worte an der Wand: »Zu beachten: Selbstbeherrschung, Ruhe und Frieden sind Segnungen.« Man setzt nicht voraus, daß die, welche hierherkommen böse und gottlose Menschen sind, vor deren lasterhaften Augen Drohungen und Verbote aufgestellt werden müßten. Schon an der Schwelle sehen sie dies schöne Motto. Alles im Hause ist sehr einfach, wie es sein muß, aber mit Rücksicht auf Ruhe und Bequemlichkeit eingerichtet. Es kostet nicht mehr, als irgendein anderes Haus gekostet hätte, allein es beweist eine große Rücksichtnahme für alle, die gezwungen sind, ihr Obdach hier zu suchen, welche sie zur Dankbarkeit und zu einem guten Betragen auffordert. Statt in große, lange Säle, worin man sich den ganzen Tag nicht erwärmen kann, ist das Gebäude in besondere Zimmer geteilt, von denen jedes seinen gehörigen Anteil Licht und Luft hat. In diesen wohnt die bessere Klasse der Armen. In dem Wunsche, diese kleinen Gemächer nett und komfortabel zu machen, haben sie einen Beweggrund zur Anstrengung und zu anständigem Stolze. Ich weiß mich keines einzigen zu entsinnen das nicht sauber und rein gewesen wäre; in jedem sah ich ein paar Blumentöpfe am Fenster oder eine Reihe Teller auf einem Sims oder einige bunte Bilder an der weißen Wand oder etwa eine Wanduhr hinter der Tür.
Die Waisen und kleinen Kinder befinden sich in einem besonderen anstoßenden Gebäude, das jedoch auch mit zur Anstalt gehört. Einige der Kinder sind noch so klein, daß die Treppen nach liliputanischem Maße gebaut sind, um für ihre kleinen Schritte zu passen. Dieselbe Rücksicht auf ihre Jahre und Schwäche zeigt sich sogar in ihren Sitzen, die wahre Kuriositäten sind und wie die Möbel eines Puppenarmenhauses aussehen.
Hier gefielen mir ebenfalls die Inschriften an der Wand außerordentlich; es waren dies kurze, leicht zu merkende (und zu verstehende) moralische Denksprüche, wie zum Beispiel »Liebet euch untereinander«, »Gott kennt auch die kleinste Kreatur in seiner Schöpfung«, und dergleichen mehr. Die Bücher und Aufgaben für diese kleinsten Schüler waren auf ebenso zweckmäßige Weise ihren kindlichen Kräften angepaßt. Als wir die Lektionen durchgesehen hatten, sangen vier winzige Mädchen (von denen eines blind war) ein kleines Lied über den lustigen Maimonat, das, wie ich dachte (denn es klang höchst traurig), besser auf einen englischen November gepaßt hätte. Nachher besahen wir uns die Schlafgemächer eine Treppe höher, wo die Anordnungen nicht weniger vortrefflich und niedlich waren als unten. Und nachdem ich bemerkte, daß die Lehrer ganz für ihre Stellung paßten, nahm ich von den Kindern mit leichterm Herzen Abschied, als ich je von armen Kindern Abschied genommen hatte.
Mit dem Arbeitshaus steht auch ein Hospital in Verbindung, das sich in der besten Ordnung befand und wo ich – ich freue mich, dies sagen zu können – viel unbesetzte Betten sah. Es hatte jedoch einen Fehler, der allen amerikanischen Wohnräumen eigen ist, nämlich den ewigen, fluchwürdigen, erstickenden, glühendroten Teufel von Ofen, dessen Atem die reinste Luft unter dem Himmel vergiften würde.
In der Nähe befinden sich zwei Anstalten für Knaben. In der einen, der Boylston-Schule, werden vernachlässigte, arme Knaben aufgenommen, die noch kein Verbrechen begangen haben, die jedoch nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge sehr bald sich diese Auszeichnung erwerben würden, wenn man sie nicht zeitig genug von den hungrigen Straßen nähme und hierherschickte. Die andre ist das Besserungshaus für jugendliche Verbrecher. Beide befinden sich in demselben Gebäude, doch kommen die beiden Knabengruppen nie in Berührung miteinander.
Die Knaben der Boylston-Schule haben in betreff des persönlichen Aussehens einen bedeutenden Vorzug vor den andern. Sie waren eben im Schulzimmer, als ich in die Anstalt kam, und beantworteten ohne Buch gewöhnliche leichte Fragen schnell und richtig, beispielsweise wo England liege, wie weit es bis dahin sei, wieviel Einwohner es habe, wie seine Hauptstadt heiße, welche Regierungsform es habe usw. Sie sangen auch ein Lied über einen Landmann, der seine Saat ausstreut, mit entsprechenden Bewegungen bei solchen Stellen, wie »so säet er aus«, »er dreht sie herum«, »er klatscht mit den Händen«, was ihnen die Sache interessanter machte und sie gewöhnte, ordentlich und gleichzeitig sich zu bewegen. Sie schienen sehr gut unterrichtet und nicht weniger gut genährt; denn pausbäckigere, rundere Jungen habe ich in meinem Leben nicht gesehen.
Die jugendlichen Verbrecher hatten größtenteils keine so angenehmen Gesichter; auch gab es unter ihnen viele farbige Knaben. Als ich kam, waren sie eben bei ihrer Arbeit (diese besteht im Flechten von Körben und in der Verfertigung von Palmhüten); nachher sangen sie in der Schule ein Lied zum Lobe der Freiheit: ein sonderbares und, man sollte meinen, ziemlich anstößiges Thema für Gefangene. Die Knaben sind hier in vier Klassen geteilt; jeder trägt seine Klassennummer auf einem Schildchen am Arme. Jeder neue Ankömmling wird in die vierte oder niedrigste Klasse gesetzt; durch gutes Betragen kann er nun durch alle Klassen bis in die erste gelangen. Der Zweck der Anstalt ist, den jugendlichen Verbrecher durch strenge und dabei doch gütige und verständige Behandlung vom Pfade des Lasters abzulenken, ihm sein Gefängnis zu einem Orte der Reinigung und Besserung, nicht der Demoralisation und Verderbnis zu machen, ihm klar zu zeigen, daß nur ein Pfad und nur nüchterne Tätigkeit ihn jemals zum Glück führen können, ihn zu lehren, wie er diesen Pfad einzuschlagen habe, wenn seine Schritte ihn noch nie betreten, ihn dahin zurückzubringen, wenn er davon abgeirrt war – mit einem Worte, ihn dem Verderben zu entreißen und der menschlichen Gesellschaft ein bußfertiges, nützliches Mitglied zurückzugeben. Die Wichtigkeit einer solchen Anstalt, von jedem Standpunkt aus betrachtet, und in bezug auf alle menschlichen und gesellschaftlichen Rücksichten, bedarf keiner weiteren Erörterung.
Jetzt ist hier noch eine Anstalt zu erwähnen. Dies ist das Besserungshaus für den Staat, in welchem das Schweigesystem durchgeführt wird, wo jedoch die Gefangenen den Trost haben, einander zu sehen und miteinander zu arbeiten. Dies ist das verbesserte System der Gefängnisdisziplin, das wir in England eingeführt haben und das seit einigen Jahren in erfolgreicher Wirksamkeit bei uns besteht.
Amerika, als ein neues, nicht allzu bevölkertes Land, hat in allen seinen Gefängnissen den einen großen Vorteil, nützliche und einträgliche Arbeit für die Gefangenen zu finden, wohingegen das Vorurteil gegen die Arbeit von Gefangenen bei uns sehr stark und fast unüberwindlich ist, da rechtschaffene Leute, die nie das Gesetz übertraten, oft vergebens Arbeit suchen. Selbst in den Vereinigten Staaten hat das Prinzip, Gefängnisarbeit und freie Arbeit in Konkurrenz zu bringen, welche offenbar zum Nachteil der letztern ausfallen muß, viele Gegner gefunden, deren Zahl sich mit der Zeit nicht vermindern wird.
Demnach würden also unsre besten Gefängnisse auf den ersten Blick besser geleitet scheinen als die amerikanischen. Die Tretmühle macht wenig oder kein Geräusch; fünfhundert Mann können Werg in demselben immer sortieren, ohne den geringsten Laut; und beide Arten von Arbeit lassen eine so strenge, wachsame Beaufsichtigung zu, daß es den Gefangenen fast unmöglich wird, auch nur ein einziges Wort zu wechseln. Andererseits begünstigen das Geräusch des Webstuhls, des Schmiedehammers, des Zimmerbeiles oder der Steinmetzwerkzeuge sehr die Gelegenheiten zu gegenseitiger Mitteilung – freilich flüchtige und kurze, aber doch immer Gelegenheiten –, welche diese verschiedenen Arbeiten, da die Männer dabei dicht nebeneinander sitzen oder stehen müssen, ohne eine Scheidewand oder irgendeinen trennenden Gegenstand zwischen sich zu haben, notwendig gewähren müssen. Ein Fremder muß übrigens erst ein wenig nachdenken, ehe der Anblick einer Anzahl mit gewöhnlicher Arbeit beschäftigter Männer, die er außer dem Gefängnisse verrichten zu sehen gewohnt ist, einen nur halb so starken Eindruck auf ihn hervorbringt, als wenn er dieselben Personen an demselben Orte und in derselben Kleidung mit einer nur von Gefangenen in Kerkern verrichteten beschäftigt sieht. In einem amerikanischen Staatsgefängnis oder Besserungshaus fand ich es am Anfang schwer, mich zu überzeugen, daß ich mich in einem Gefängnisse – einem Orte schmachvoller Bestrafung – befand. Und noch bis auf diesen Augenblick bezweifle ich sehr, ob der Ruhm der Menschlichkeit, wo dies der Fall ist, sich auf wahre Weisheit gründet.
Ich hoffe, daß ich über diesen Gegenstand nicht mißverstanden werde, denn es ist für mich einer von hohem Interesse. Ich neige mich ebensowenig dem krankhaften Gefühle zu, das jede heuchlerische Lüge oder listige Rede eines notorischen Verbrechers zum Gegenstande von Zeitungsnachrichten und der allgemeinen Sympathie macht, wie zu jenen guten alten Bräuchen der guten alten Zeit, welche England sogar nach und unter Georgs des Dritten Regierung im Hinblick auf seinen Kriminalkodex und seine Gefängniseinrichtungen zu einem der blutdürstigsten und barbarischsten Länder der Erde machten. Wenn ich dächte, daß es für die erstehende Generation gut sein würde, so wollte ich gern meine Einwilligung zur Ausgrabung der Knochen irgendeines anständigen Straßenräubers (je anständiger, um so lieber) und zu deren Ausstellung auf einer Säule, einem Tore oder Galgen – der für einen zweckmäßigen Platz hierzu gehalten werden mag – geben. Meine Vernunft ist ebensowohl überzeugt, daß diese Herren ganz niederträchtige, elende Schurken waren, wie daß die Gesetze und Kerker sie auf ihrer Lasterbahn verhärteten oder daß ihr wunderbares Entkommen immer durch die Gefängnisschließer bewerkstelligt wurde, welche in jener bewundernswerten Zeit stets selbst Spitzbuben gewesen waren und daher bis aufs äußerste zu ihren Busenfreunden und Trinkbrüdern hielten. Zugleich weiß ich auch, wie alle Menschen wissen oder doch wissen sollten, daß die Disziplin in den Gefängnissen überall ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit ist und daß Amerika in seiner durchgängigen Reform und dem glänzenden Beispiele, das es hierin andern Ländern gegeben hat, hohe Weisheit, großes Wohlwollen und eine erhabene Politik gezeigt hat. Wenn ich daher das amerikanische System mit dem, das wir uns danach gebildet haben, vergleiche, so will ich bloß zeigen, daß das unsre trotz allem doch einige Vorteile hat.Abgesehen von dem Vorteil, der aus der Arbeit der Sträflinge gezogen wird – ein Vorteil, den wir nie in größerem Ausmaß erzielen können und vielleicht nicht einmal anstreben dürfen –, gibt es in London zwei Gefängnisse, die sich in allen Beziehungen jedem, das ich in Amerika sah, an die Seite stellen können, in manchem Betracht aber sogar entschiedene Vorzüge haben. Eines davon ist Tothill-Fields-Bridewell unter der Leitung von Leutnant A. F. Tracey; das andere das Besserungshaus von Middlesex unter Chesterton. Beide sind aufgeklärte und treffliche Männer, und es würde ebenso schwer sein, Direktoren zu finden, die ihren Obliegenheiten mit mehr Eifer, Festigkeit, Umsicht und Humanität nachkämen, wie Anstalten nachzuweisen, welche die unter ihrer Aufsicht stehenden an Ordnung und zweckmäßiger Einrichtung übertreffen.
Das Besserungshaus, das mich zu diesen Bemerkungen führte, ist nicht wie andre Gefängnisse mit Mauern eingeschlossen, sondern ringsum mit langen, rohen Pfählen verpalisadiert, ungefähr nach Art der Pferche, in denen man Elefanten hält, wie wir dies auf Kupferstichen und Bildern dargestellt sehen. Die Gefangenen tragen einen doppelfarbigen Anzug, und die zu harter Arbeit Verurteilten müssen Nägel machen und Steine hauen. Als ich die Anstalt besuchte, war die letztere Klasse der Arbeiter mit den Steinen für ein neues Zollhaus beschäftigt, das gerade damals in Boston errichtet wurde. Sie schienen dem Stein geschickt und mit Schnelligkeit seine Form zu geben, obwohl wenige oder gar keine unter ihnen waren, die diese Kunst nicht erst im Gefängnisse gelernt hätten.
Die Frauenzimmer, alle in einem großen Saale, waren mit dem Verfertigen leinener und baumwollener Kleidungsstücke für New Orleans und die südlichen Staaten beschäftigt. Wie die Männer verrichteten sie ihre Arbeit schweigend und wurden wie diese von demjenigen, der sich ihre Arbeit ausbedungen hatte, oder einem Agenten desselben beaufsichtigt. Außerdem müssen sie noch jeden Augenblick erwarten, von den hierzu angestellten Gefängnisbeamten besucht zu werden.
Die Einrichtungen zum Kochen, Waschen der Kleidungsstücke usw. sind fast ganz nach dem Plane ähnlicher Anstalten getroffen, die ich in England gesehen habe. Die allgemein angenommene Methode, die Gefangenen während der Nacht unterzubringen, weicht von der unsrigen ab und ist ebenso einfach wie zweckmäßig. In der Mitte eines hohen Saales, der durch Fenster in allen vier Wänden Licht erhält, stehen fünf Stockwerke von Zellen, eines über dem andern; jedes Stockwerk hat eine leichte eiserne Galerie, zu der man mittels einer Treppe von gleicher Bauart und demselben Material gelangt: nur die unterste von der Erde aus ist massiv gebaut. Hinter diesen, nach der gegenüberliegenden Wand zu, befinden sich fünf gleiche Reihen von Zellen, zu denen man auf ähnliche Weise gelangt, so daß, wenn die Gefangenen in ihren Zellen eingeschlossen sind, ein Beamter, der unten mit dem Rücken an der Wand steht, ihre Zahl zur Hälfte mit einem Blicke übersehen kann; die andere Hälfte steht auf gleiche Weise unter der Aufsicht eines Beamten auf der entgegengesetzten Seite, und dies alles in einem einzigen großen Saale. Wenn einer der Wachhabenden nicht bestochen ist oder auf seinem Posten schläft, kann unmöglich ein Gefangener entwischen; denn selbst falls er die Tür seiner Zelle ohne Geräusch erbräche (was höchst unwahrscheinlich ist), muß er dem unten stehenden Beamten, sobald er in die Galerie vor seiner Zelle tritt, deutlich sichtbar sein. Jede dieser Zellen enthält ein schmales Rollbett, in welchem ein Gefangener – nie mehr als einer – schläft. Natürlich ist es schmal, und da die Türe aus Gitterwerk besteht und keinen Vorhang hat, so ist der in der Zelle befindliche Gefangene zu jeder Zeit der Beobachtung jeder Wache ausgesetzt, die etwa während der Nacht durch die Galerien geht. Täglich erhalten die Gefangenen ihr Mittagessen durch einen Schieber in der Küchenwand; jeder trägt es dann nach seiner Schlafzelle, um es zu essen, wo er zu dem Ende eingeschlossen und eine Stunde allein gelassen wird. Diese ganze Einrichtung schien mir bewundernswert, und ich hoffe, daß das nächste neue Gefängnis, das wir in England errichten werden, nach diesem Plane erbaut wird.
Man sagte mir, daß man in diesem Gefängnisse keine Säbel oder Feuergewehre oder selbst nur Geißeln hätte; auch ist es nicht wahrscheinlich, daß, solange die jetzige treffliche Leitung fortbesteht, jemals eine Waffe irgendeiner Art innerhalb seiner Mauern erforderlich sein wird.
So sind die Anstalten von Süd-Boston! In allen werden die unglücklichen oder entarteten Bürger des Staates in ihren Pflichten gegen Gott und die Menschen sorgfältig unterrichtet; man gewährt ihnen jedwede Bequemlichkeit, die ihre Lage zuläßt; man behandelt sie als Mitglieder der großen menschlichen Familie, wie trübselig und beladen oder tief gesunken sie auch sein mögen; man regiert sie mit dem Herzen und nicht mit der Hand. Ich habe diese Anstalten etwas weitläufig beschrieben: erstens, weil ihr Wert es verlangt; und zweitens, weil ich sie zum Muster ausstellen und, wenn wir später von ähnlichen Anstalten sprechen werden, bloß anführen will, in welchen Rücksichten sie mangelhaft sind oder von jenen erstern abweichen.
Ich wünschte, daß ich durch diese Schilderung der Anstalten Bostons, so unvollkommen in ihrer Ausführung wie redlich in ihrer Absicht sie ist, meinen Lesern nur den hundertsten Teil der Befriedigung gewähren könnte, welche mir die Beobachtung derselben verursacht hat.
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Für einen Engländer, der an die Trachten der Rechtsgelehrten in Westminster Hall gewöhnt ist, muß ein amerikanischer Gerichtshof ein ebenso sonderbarer Anblick sein, wie vermutlich ein englischer Gerichtshof für einen Amerikaner sein mag. Außer in dem obersten Gerichtshof zu Washington (wo die Richter einen einfachen schwarzen Talar tragen) sieht man die Jünger der Gerechtigkeit nie in Perücke oder Robe. Die Herren im Gerichtshofe sind Barristers und Attorneys zugleich, denn man trennt die Funktionen nicht wie in England. Die Jury macht es sich bei ihren Versammlungen so bequem, wie es die Umstände nur erlauben. Der Zeuge steht sowenig höher als die Gerichtsversammlung oder ist überhaupt sowenig von derselben gesondert, daß ein Fremder, der etwa während einer Pause hereintritt, ihn schwerlich aus den übrigen herausfinden wird; und wenn vielleicht gerade ein Kriminalverhör stattfindet, so wird man in neun Fällen unter zehn vergebens nach der Loge blicken, um den Gefangenen zu sehen; denn dieser wird höchstwahrscheinlich ganz ungeniert unter den ausgezeichnetsten Zierden der Rechtsgelehrsamkeit umherspazieren, seinem Verteidiger Ratschläge zuflüstern oder sich aus einem alten Gänsekiele mit seinem Federmesser einen Zahnstocher schnitzen.
Dieser Unterschied mußte mir natürlich auffallen, als ich die Gerichtshöfe in Boston besuchte. Anfangs war ich überdies auch sehr überrascht, als ich sah, daß der Anwalt, der den gerade zu verhörenden Zeugen fragte, dies sitzend tat. Doch da ich bemerkte, daß er die Antworten sogleich niederschrieb und daß er keinen Gehilfen zur Seite hatte, so tröstete ich mich schnell mit der Überlegung, daß die Justiz hier kein so teurer Artikel sein könne wie bei uns und daß die Unterlassung verschiedener Formalitäten, die wir für unerläßlich halten, ohne Zweifel einen sehr günstigen Einfluß auf die Kostenrechnung ausüben würde.
In jedem Gerichtshof ist hinreichender und bequemer Platz für die Zuhörer. Dies ist der Fall durch ganz Amerika. In jeder öffentlichen Anstalt wird das Recht des Volks, den Verhandlungen beizuwohnen, vollkommen anerkannt. Da sieht man keine mürrischen Türsteher, die ihre saumselige Höflichkeit sechspenceweise verhandeln; auch findet man sicherlich nirgends die mindeste Beamtengrobheit. Was der Nation gehört, wird nicht für Geld gezeigt, und kein öffentlicher Beamter macht sich zum Schausteller. In jüngster Zeit erst haben wir angefangen, dies gute Beispiel nachzuahmen. Hoffentlich werden wir damit fortfahren, und vielleicht werden in späterer Zeit sogar Dekane und Kirchenkapitel sich solchen Grundsätzen zuwenden.
Beim Zivilgericht wurde gerade eine Klage über einen durch einen Unfall auf einer Eisenbahn verursachten Schaden verhandelt. Die Zeugen waren verhört worden, und der Anwalt redete die Jury an. Der gelehrte Herr (gleich einigen wenigen seiner englischen Kollegen) holte verzweifelt weit aus und hatte die merkwürdige Fähigkeit, einen und denselben Satz immer wieder vorzubringen. Sein Hauptthema war: »Warren, der Lokomotivführer«, das er in jede Sentenz, die er äußerte, einklemmte. Ich hörte ihm eine Viertelstunde zu; und als ich darauf aus dem Gerichtssaal ging, ohne nur im mindesten über den Fall aufgeklärt zu sein, war mir zumute, als ob ich wieder daheim wäre.
In der Gefängniszelle befand sich ein Knabe, der wegen Diebstahls verhört werden sollte. Dieser Knabe, statt in ein gewöhnliches Gefängnis gesteckt zu werden, wurde später wahrscheinlich in das Asyl zu Süd-Boston getan und dort in einem Gewerbe unterwiesen; im Laufe der Zeit wurde er dann Lehrling bei einem achtbaren Meister. Also ließ sich vernünftigerweise hoffen, daß die Entdeckung seines Vergehens, statt die Einleitung zu einem ehrlosen Lebenswandel und einem elenden Tode zu sein, ihn dem Laster entreißen und der bürgerlichen Gesellschaft als brauchbares Mitglied zurückgeben würde.
Ich bin keineswegs über Hals und Kopf ein Bewunderer unserer gerichtlichen Feierlichkeiten, von welchen manche einen höchst lächerlichen Eindruck auf mich machen. So sonderbar es überdies auch scheinen mag, aber ohne Zweifel flößt die Anlegung von Perücke und Talar ein Gefühl ein, als ob man sich von persönlicher Verantwortlichkeit losmachte, und dies ermutigt zu jenem insolenten Benehmen, zu jener anmaßenden Sprache und zu jener plumpen Verkehrung des Amtes eines Anwalts der Wahrheit, die man so häufig in unseren Gerichtshöfen trifft. Indessen kann ich nicht umhin zu bezweifeln, ob Amerika, in dem Wunsche, die Albernheiten und Mißbräuche des alten Systems abzuschütteln, nicht in das entgegengesetzte Extrem verfallen sein mag und ob es nicht wünschenswert sei – zumal bei der kleinen Einwohnerschaft einer Stadt wie dieser, wo einer den andern kennt –, die Verwaltung der Gerechtigkeit mit einer künstlichen Schranke gegen das Alltagsbenehmen der untern Klassen zu umgeben. Alle Unterstützung, die ihr der hohe Charakter und die Geschicklichkeit der Richter geben können, genießt sie und gebührt ihr auch. Allein es möchte wohl etwas mehr erforderlich sein: nicht um Eindruck auf Nachdenkende und Wohlunterrichtete zu machen, sondern auf Unwissende und Achtlose – eine Klasse, zu welcher manche Gefangene und viele Zeugen gehören. Diese Institutionen wurden ohne Zweifel nach dem Grundsatze begründet, daß diejenigen, welche so großen Anteil an der Zusammenstellung der Gesetze haben, sie sicher auch achten würden. Allein die Erfahrung hat die Unzuverlässigkeit dieser Hoffnung gezeigt, denn niemand weiß besser als die amerikanischen Richter, daß bei Gelegenheit einer großen Volksaufregung das Gesetz machtlos ist und, solange sie währt, seine hohe Stelle nicht behaupten kann.
Der Ton der Gesellschaft in Boston ist der feinster Höflichkeit und Bildung. Die Damen sind ohne Frage sehr schön – von Gesicht: doch hier muß ich innehalten. Ihre Erziehung ist fast dieselbe wie bei uns, weder besser noch schlechter. In dieser Beziehung hatte ich einige recht wunderbare Geschichten gehört; allein da ich sie nicht glaubte, sah ich mich auch nicht getäuscht. Es gibt auch gelehrte Damen in Boston, allein gleich den Philosophinnen unter den meisten andern Breitengraden wünschen sie mehr für gelehrt zu gelten, als daß sie es wirklich sind. Fromme Damen gibt es gleichfalls, deren Anhänglichkeit an die Formen der Religion und deren Abscheu vor theatralischen Vergnügungen höchst musterhaft sind. Damen, die gern Vorlesungen beiwohnen, findet man in allen Klassen und Ständen. Bei der Art des provinziellen Lebens, das in Städten wie Boston herrscht, übt die Kanzel einen großen Einfluß aus. Man sollte fast meinen, die vornehmste Pflicht der Prediger in Neuengland (jedoch stets mit Ausnahme der unitarischen Pfarrer) sei, vor allen unschuldigen, vernünftigen Vergnügungen zu warnen. Kirche, Kapelle und Vorlesungszimmer sind die einzigen erlaubten Mittel zur Aufregung; und daher wallfahrten auch die Damen in Scharen nach der Kirche, der Kapelle und dem Vorlesungszimmer.
Wo man zur Religion seine Zuflucht nimmt, um sich zu erregen und der stillen Einförmigkeit auf eine Weile zu entgehen, gefallen die Prediger am meisten, die am ärgsten losdonnern. Die, welche den Pfad zum Himmel mit dem meisten Schwefel bestreuen und die ohne Erbarmen die Blumen und Blätter, die zur Seite des Pfades stehen, niedertreten, nennt man die frömmsten; und die, welche sich am weitschweifigsten über die Schwierigkeiten, in den Himmel zu gelangen, auslassen, müssen nach der Ansicht aller Rechtgläubigen zunächst dahin kommen; freilich läßt sich schwerlich bestimmen, durch welche Logik sie zu diesem Schlusse gelangen. So wie es bei uns zu Hause ist, findet man es überall. Hinsichtlich des andern Mittels der Erregung und Unterhaltung, der Vorlesungen, kann man wenigstens sagen, daß sie stets neu sind. Eine Vorlesung folgt der andern immer so schnell, daß man sich auf keine wieder besinnt, und der Kursus dieses Monats kann recht gut im nächsten wiederholt werden, ohne daß dadurch der Reiz der Neuheit verlorenginge oder das allgemeine Interesse geschmälert würde.
Die Früchte dieser Erde erstehen aus der Verderbnis. Aus der Fäulnis der vergänglichen Dinge ist in Boston eine Sekte von Philosophen, bekannt als Transzendentalisten, entsprungen. Auf meine Frage, was diese Benennung denn zu bedeuten habe, sagte man mir, daß alles, was unverständlich, transzendental sei. Diese Erläuterung war mir nicht sehr tröstlich, doch setzte ich meine Ausforschungen fort und fand, daß die Transzendentalisten Anhänger meines Freundes Mr. Carlyle oder vielmehr eines seiner Anhänger, Mr. Ralph Waldo Emerson, sind. Dieser hat einen Band Abhandlungen geschrieben, worin man unter vielem Träumerischen und Phantastischen (wenn er mir diesen Ausdruck verzeiht) noch viel mehr Männliches und Kühnes findet. Der Transzendentalismus hat zuweilen seine Grillen (welche Schule hat sie nicht?), aber trotzdem hat er gute, kernige Eigenschaften, unter denen eine herzliche Verachtung des Pietismus und das Geschick, diesen aus allen seinen verschiedenen Verkleidungen herauszufinden, nicht die geringste ist. Daher würde ich sicherlich, wenn ich ein Bostoner wäre, Transzendentalist sein.
Der einzige Prediger, den ich in Boston hörte, war Mr. Taylor, welcher vorzüglich Matrosen zu Zuhörern hat und der früher selbst Seemann war. Ich fand seine Kapelle unweit des Hafens in einer der engen, alten Straßen, die nach dem Wasser zu gehen; über ihrem Dache flatterte lustig eine blaue Flagge im Winde. Auf der Galerie der Kanzel gegenüber befand sich ein kleiner Chor von Sängern und Sängerinnen, ein Cello und ein Violinspieler. Der Prediger saß schon auf der Kanzel, welche auf Pfeilern ruhte und hinter ihm mit einem bunt bemalten Behang verziert war, der sich etwas theatralisch ausnahm. Er schien ein abgehärteter kräftiger Mann von ungefähr sechs- oder achtundfünfzig Jahren zu sein; die Zeit hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben; er hatte dunkles Haar und ein strenges, scharfblickendes Auge. Doch war der Ausdruck seines Gesichts im ganzen genommen gefällig und angenehm.
Der Gottesdienst fing mit einer Hymne an, auf welche ein extemporiertes Gebet folgte. Dieses hatte den Fehler häufiger Wiederholung, der allen solchen Gebeten eigen ist; doch war es deutlich und verständlich in seinen Lehren und atmete allgemeine Sympathie und Nächstenliebe, was in dieser Art der Rede zur Gottheit nicht so gewöhnlich der Fall ist, wie er es wohl sein könnte. Hierauf eröffnete er seine Predigt, wozu er den Text aus den Sprüchen Salomonis nahm, welche vor dem Anfang des Gottesdienstes durch irgendeine unbekannte Person aus der Versammlung auf das Pult gelegt worden waren: »Wer ist die, welche aus der Wildnis kommt, gestützt auf den Arm ihres Geliebten?«
Er behandelte seinen Text auf alle nur erdenkliche Weise und flocht ihn in alle möglichen Gestalten, allein stets sehr sinnreich und mit einer rohen Beredsamkeit, die der Fassungskraft seiner Zuhörer ganz angemessen war. Wenn ich mich nicht irre, hatte er mehr das Verständnis derselben als die Darlegung seiner eigenen Fähigkeiten im Auge. Seine Bilder entnahm er alle dem Seemannsleben, und sie waren oft recht gut und treffend. Er sprach zu der Versammlung von dem berühmten Lord Nelson und von Collingwood; er zog nichts mit Gewalt an den Haaren herbei, sondern alles, was er vorbrachte, stand in gehörigem Einklang mit seinem Thema und war auf natürliche und scharfsinnige Weise geordnet. Zuweilen, wenn er durch seinen Gegenstand sehr aufgeregt wurde, hatte er die sonderbare Manier, seine große Quartbibel unter den Arm zu nehmen und so auf der Kanzel hin und her zu schreiten, wobei er immer fest mitten in die Versammlung herabblickte. Als er nun seinen Text auf die erste Zusammenkunft seiner Zuhörer anwandte und die Verwunderung der Kirche schilderte, daß sie sich angemaßt hatten, eine Gemeinde unter sich zu bilden, blieb er auf einmal mit der Bibel unter dem Arme stehen und fuhr in seiner Rede folgendermaßen fort:
»Wer sind diese? – wer sind diese Leute? wo kommen sie her? wo gehen sie hin? – Wo sie herkommen? Wie lautet die Antwort?« (Indem er sich über die Kanzel herauslehnt und mit seiner rechten Hand niederwärts zeigt:) »Von unten!« (Wieder zurückfahrend und die Matrosen vor sich anblickend:) »Von unten, meine Brüder. Unter den Lukenklappen der Sünde hervor, die der Böse über euch geschlossen hatte. Dorther seid ihr gekommen.« (Auf der Kanzel hin und her gehend:) »Und wo geht ihr hin« (plötzlich stehenbleibend), »wo geht ihr hin? Hinauf!« (Ganz leise, und dabei emporzeigend:) »Hinauf!« (lauter:) »hinauf!« (noch lauter:) »Dahin geht ihr – mit günstigem Winde – alles straff und stramm steuert ihr geradezu nach dem Himmel in seiner Glorie, wo es weder Sturm noch Ungewitter gibt, wo die Gottlosen aufhören auf Böses zu sinnen, und die Müden ruhen können.« (Wieder auf- und abschreitend:) »Das ist der Ort, wo ihr hingehet, meine Freunde. Das ist er. Das ist der Port. Das ist der Hafen. Es ist ein gesegneter Hafen – dort ist stilles Wasser bei allem Wechsel der Winde und der Gezeiten; dort rennt ihr nicht auf die Uferfelsen, dort reißen eure Kabeltaue nicht, und ihr werdet nicht auf die hohe See hinausgetrieben. Dort ist Ruhe und Frieden – tiefer Frieden – tiefer Frieden!« (Abermals auf- und abschreitend und auf die Bibel unter seinem linken Arme klopfend:) »Wie! diese Leute kommen aus der Wüste? – aus der Wüste? Ja. Aus der traurigen, jämmerlichen Wüste der Gottlosigkeit, deren einzige Ernte der Tod ist. Aber stützen sie sich auf etwas – stützen sich diese armen Seeleute auf nichts?« (Drei Schläge auf die Bibel.) »Oja. – Ja. – Sie stützen sich auf den Arm ihres Geliebten« (von neuem drei Schläge), »auf den Arm ihres Geliebten.« (Wieder drei Schläge und abermaliges Auf- und Abschreiten:) »Lotse, Leitstern und Kompaß, alles zugleich, und für alle und jeden – hier ist er.« (Wieder drei Schläge.) »Hier ist er. Ihr könnt männlich eure Pflicht erfüllen, und Ruhe wird in eurer Seele walten, habt ihr nur dies.« (Abermals zwei Schläge.) »Ihr könnt kommen, selbst ihr armen Leute könnt kommen aus der Wildnis, gestützt auf den Arm eures Geliebten, und könnt hinauf – hinauf – hinaufsteigen!« – Hier erhob er seine Hand höher und höher, bei jeder Wiederholung des Wortes, so daß er sie endlich über seinen Kopf ausgestreckt hielt, wobei er seine Zuhörer in sonderbarer Verzückung anstarrte und das Buch triumphierend an seine Brust drückte, bis er nach und nach in einen andern Teil seiner Predigt überging.
Ich habe dies angeführt mehr als ein Beispiel der Exzentrizität als der Verdienste des Predigers, obwohl sein Sermon, mit Rücksicht auf seinen Blick, sein Benehmen und den Charakter seiner Zuhörer, wirklich frappant war. Es ist jedoch möglich, daß der günstige Eindruck, den dieser Mann auf mich machte, sehr verstärkt wurde, weil er seinen Zuhörern einzuprägen suchte, daß die wahre Beobachtung der Religion nicht unverträglich sei mit strenger Erfüllung der Pflichten ihres Standes, und weil er sie warnte, sich im Paradiese nicht etwa einen Vorrang oder ein Monopol vorzustellen. Ich hörte nie diese beiden Punkte von irgendeinem Prediger so weise behandeln, wenn überhaupt ich sie jemals behandeln hörte.
Da ich meine Zeit in Boston damit hinbrachte, mich mit diesen Dingen bekannt zu machen, den Weg zu bestimmen, den ich bei meinen künftigen Reisen nehmen wollte, und mich stets in das soziale Leben zu mischen, so wüßte ich nicht, daß ich noch irgendeinen Anlaß hätte, dieses Kapitel zu verlängern. Diejenigen sozialen Gebräuche, die ich noch nicht erwähnte, können mit wenigen Worten geschildert werden.
Die gewöhnliche Zeit des Mittagessens ist zwei Uhr. Diners finden um fünf Uhr statt; bei einem Souper speist man spätestens um elf Uhr, so daß man sicher, auch nach einem Gelage, um Mitternacht zu Hause ist. Ich konnte nie einen Unterschied zwischen einer Gesellschaft in Boston und einer Gesellschaft in London entdecken, außer daß man sich im erstern Orte zu viel besser gewählten Stunden versammelt, daß die Unterhaltung vielleicht ein wenig lauter und fröhlicher geführt wird, daß man von jedem erwartet, daß er bis an den Gipfel des Hauses emporsteige, um seinen Mantel zu holen, daß er mit Sicherheit erwarten kann, bei jedem Diner eine ungewöhnliche Menge Geflügel und bei jedem Souper zwei mächtig große Terrinen – so groß, daß man bequem einen halb erwachsenen Herzog von Clarence darin sieden könnte – voll gedämpfter Austern zu finden.
Es gibt zwei Theater in Boston von stattlicher Größe und Bauart, denen aber leider sehr die Gunst des Publikums mangelt. Die wenigen Damen, die dieselben besuchen, sitzen gebührendermaßen in den vordersten Logenreihen.
In keinem Hotel gibt es ein Rauchzimmer, mithin war auch keines in dem unsrigen; allein die Schenkstube ist ein großer Raum mit steinernem Fußboden, und hier rauchen die Gäste den ganzen Abend, sitzend, umherschlendernd, auf- und abgehend, wie sie die Laune ankommt. Hier wird auch der Fremde in die Geheimnisse des Gin-sling, Cocktail, Sangaree, Mint Julep, Sherrycobbler, Timber Doodle und anderer seltener Getränke eingeweiht. Das Haus ist gefüllt von Speisenden, sowohl Verheirateten als auch Ledigen, unter denen manche im Hause schlafen und Kost und Logis wöchentlich bezahlen, wofür ihnen, je näher dem Himmel sie wohnen, desto weniger berechnet wird. In einem schönen Saale wird eine öffentliche Tafel zum Frühstück, zum Mittag- und Abendessen gedeckt. Die Gesellschaft, die sich zu diesen Mahlzeiten an der Tafel zusammenfindet, wechselt in der Zahl von ein- bis zweihundert; zuweilen sind es noch mehr. Das Herannahen jeder dieser wichtigen Epochen des Tags wird durch eine furchtbar große Glocke verkündet, welche während ihres Läutens das ganze Haus erschüttert und für nervenschwache Gäste sehr störend ist. Man findet eine Speisetafel für Damen und eine für Herren.
Um keinen Preis in der Welt hätte in unserem Privatzimmer der Tisch zum Mittagsmahle gedeckt werden können, ohne daß eine ungeheure Schüssel voll Maulbeeren in die Mitte gestellt worden wäre; und Frühstück wäre nicht Frühstück gewesen, wenn das Hauptgericht nicht in einem unförmigen Beefsteak, mit einem großen flachen Knochen in der Mitte und bestreut mit dem schwärzesten allen Pfeffers, bestanden hätte. Unser Schlafzimmer war geräumig und luftig, enthielt aber (gleich jedem Schlafzimmer jenseits des Atlantischen Ozeans) nur sehr wenig Möbelstücke; denn man sah weder am Bett noch am Fenster Vorhänge. Es hatte jedoch einen ungewöhnlichen Luxusartikel, nämlich einen angestrichenen hölzernen Kleiderschrank, etwas kleiner als ein englisches Schilderhaus, oder wenn man sich aus diesem Vergleich vielleicht noch keine richtige Idee von seinen Dimensionen machen kann, so braucht der Leser nur zu bedenken, daß ich vierzehn Tage und Nächte in dem festen Glauben stand, daß dieser Schrank ein Duschbad sei.