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Noch mehr Monate waren zu der Zahl zwölf gekommen und verronnen, und Mr. Charles Darnay wirkte in England als ein höherer Lehrer der französischen Sprache und Literatur. In unsern Tagen würde man ihn Professor genannt haben; damals aber war er eben Privatlehrer. Er hielt Jünglingen, die Zeit und Interesse für das Studium einer lebendigen Sprache hatten, die durch die ganze Welt gesprochen wurde, Vorlesungen und brachte ihnen Geschmack bei für die wissenschaftlichen und poetischen Werke der Franzosen; auch konnte er in gutem Englisch darüber schreiben und sie gut ins Englische übersetzen. Solche Lehrer waren in jener Zeit nicht häufig; denn gewesene Prinzen und künftige Könige hatten sich noch nicht dem Lehrfach zugewendet, wie denn auch noch kein zugrundegerichteter Adel aus Tellsons Büchern gestrichen wurde, nachdem seine Mitglieder Köche oder Zimmerleute geworden waren. Der junge Mr. Darnay wurde bald als Lehrer, der seinen Schülern den Lehrstoff gut und angenehm beizubringen verstand, und als Übersetzer, der nicht bloß mit einer Wörterbuchsprachkenntnis arbeitete, bekannt und unterstützt. Er war außerdem ein gründlicher Kenner der Verhältnisse seines Vaterlandes, die immer interessanter wurden, und so gelang es ihm denn, sich durch seine Beharrlichkeit und seinen unermüdlichen Fleiß ein gutes Auskommen zu verschaffen.
Er hatte von London nicht erwartet, daß er auf einem Pflaster von Gold wandeln oder in einem Rosenbett ruhen dürfe, denn mit solchen hochfliegenden Erwartungen würde er es nie vorwärts gebracht haben. Er war auf Arbeit gefaßt gewesen, die er fand und aufs beste ausnützte. Hierin bestand sein Auskommen.
Einen gewissen Teil seiner Zeit verbrachte er in Cambridge, wo er den Studenten Vorlesungen hielt, als eine Art geduldeter Schmuggler, der einen Schleichhandel trieb mit europäischen Sprachen, statt durch das Zollhaus Griechisch und Lateinisch einzuführen; seine übrige Zeit verlebte er in London.
Nun ist von den Tagen an, als es immer Sommer in Eden war, bis zu denen, in denen es in den tieferen Breiten fast immer wintert, die Welt des Mannes unabänderlich denselben Weg gegangen, den auch Charles Darnay ging – dem Weibe nach.
Er hatte Lucie Manette geliebt von der Stunde seiner Gefahr an. Nie war ihm ein Ton so süß und so lieb vorgekommen wie der Ton ihrer mitleidvollen Stimme; nie hatte er ein so zartes, schönes Gesicht gesehen wie das ihrige, als sie ihm gegenüberstand an dem Grabe, das für ihn bereits offen dalag. Doch war von ihm der Gegenstand noch nie berührt worden. Der Mord in dem verlassenen Schlosse weit weg jenseits der wogenden Wellen und der langen, staubigen Straßen – in dem steinernen Schloß, das selbst zu einem bloßen nebligen Traum geworden – hatte vor einem Jahr stattgefunden, er aber seitdem nie, auch nicht durch eine Silbe, ihr den Zustand seines Herzens geoffenbart.
Daß er sich nicht ohne gute Gründe dessen enthielt, wußte er. Es war wieder ein Sommertag, als er, von seiner Kollegiumsbeschäftigung spät in London angelangt, um die ruhige Ecke in Soho einbog mit der Absicht, eine Gelegenheit herbeizuführen, um Doktor Manette sein Inneres zu erschließen. Es war abends um die Zeit, von der er wußte, daß sich Lucie mit Miß Proß außer dem Hause befand.
Der Doktor saß eben lesend in seinem Armstuhl am Fenster. Er war allmählich wieder in den Besitz der Tatkraft gelangt, die ihn unter seinen früheren Leiden aufrechterhalten, aber auch diese um so schmerzlicher für ihn gemacht hatte. Man konnte ihn jetzt einen sehr tatkräftigen Mann mit ehernem Willen und fester Ausdauer nennen. In seiner wiedergewonnenen Energie zeigte sich indes bisweilen etwas Unstetes, Raschaufzuckendes, wie sich dies im Anfange auch bei seinen andern wiedererwachenden Fähigkeiten kundgetan hatte; allerdings bemerkte man es nie oft, und in letzter Zeit war es immer seltener und seltener geworden.
Er studierte viel, schlief wenig, konnte große Anstrengung mit Leichtigkeit ertragen und war dabei heiter und zufrieden. Als Charles Darnay bei ihm eintrat, legte er sein Buch beiseite und bot ihm die Hand.
»Charles Darnay! Ich freue mich, Sie zu sehen. Wir haben Sie schon vor drei oder vier Tagen zurückerwartet. Mr. Stryver und Sydney Carton waren gestern hier, und beide erklärten, Sie übertreiben die Pünktlichkeit.«
»Ich bin ihnen sehr verbunden für ihr Interesse an der Sache«, versetzte er mit einiger Kälte für die Angezogenen, aber dafür mit desto mehr Wärme gegen den Doktor. »Miß Manette –«
»Ist wohl«, sagte der Doktor, ihm ins Wort fallend, »und Ihre Rückkehr wird uns allen Freude machen. Sie ist in Haushaltungsangelegenheiten ausgegangen, wird aber bald wieder hier sein.«
»Doktor Manette, ich weiß, daß sie abwesend ist, und wollte diese Gelegenheit benutzen, mit Ihnen zu sprechen.«
Es folgte ein Schweigen der Verlegenheit.
»Ja?« »ersetzte endlich der Doktor mit sichtlichem Zwange. »So bringen Sie Ihren Stuhl her und reden Sie.«
Mr. Darnay willfahrte in Beziehung auf den Stuhl, schien aber das Reden weniger leicht zu finden.
»Ich habe seit anderthalb Jahren das Glück gehabt, Doktor Manette«, begann er zuletzt, »hier so vertraut angesehen zu werden, daß ich hoffe, der Gegenstand, der mir auf dem Herzen liegt, werde –«
Er schwieg, denn der Doktor streckte seine Hand aus, um ihm Einhalt zu tun. Nachdem dieser eine Weile in seiner Gebärde verharrt und dann die Hand wieder zurückgezogen hatte, fragte er:
»Ist Lucie der Gegenstand?«
»Ja.«
»Es kommt mir zu jeder Zeit schwer an, über sie zu sprechen; besonders schmerzlich aber wird mir's, wenn ich von ihr reden hören soll in dem Tone, dessen Sie sich eben bedienten, Charles Darnay.«
»Es ist der Ton heißer Verehrung, treuer Huldigung und wahrer Liebe, Doktor Manette«, versetzte der andere ehrerbietig.
Abermals eine Pause der Verlegenheit, ehe der Doktor erwiderte:
»Ich glaube es. Ich lasse Ihnen Gerechtigkeit widerfahren, ich glaube es.«
Sein Zwang war so augenfällig, und man sah so klar, wie er aus der Abgeneigtheit, diesen Gegenstand zu berühren, hervorging, daß Charles Darnay zögerte.
»Soll ich fortfahren, Sir?«
Abermalige Pause.
»Ja; fahren Sie fort.«
»Sie werden sich wohl denken, was ich sagen will, obgleich Sie nicht wissen können, mit welchem Ernst ich es sage, und wie tief ich es fühle, wenn Sie nicht mein innerstes Herz und die Hoffnungen und Befürchtungen kennen, mit denen es sich schon so lange trägt. Mein teurer Doktor Manette, ich liebe Ihre Tochter warm, innig, uneigennützig und hingebend. Wenn es je Liebe in der Welt gab, so liebe ich sie. Sie haben selbst geliebt; lassen Sie Ihre alte Liebe für mich das Wort nehmen.«
Der Doktor saß mit abgewendetem Gesicht da und hielt die Augen auf den Boden geheftet. Bei den letzten Worten streckte er hastig seine Hand wieder aus und rief:
»Nicht so, Herr; lassen Sie das. Ich beschwöre Sie, rufen Sie mir nicht dies in Erinnerung.«
Sein Ausruf trug so unverkennbar den Charakter eines wahren Schmerzes, daß er Charles Darnay noch lange nachher in den Ohren klang. Er bewegte die ausgestreckte Hand und schien damit Darnay anzuflehen, daß er innehalten möchte. Wenigstens deutete sich letzterer die Sache so und blieb still.
»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagte der Doktor nach einer Weile in gedämpftem Ton. »Ich zweifle nicht daran, daß Sie Lucie lieben. Dies mag Sie zufriedenstellen.«
Er drehte sich auf seinem Sitz gegen ihn hin, ohne ihn jedoch anzusehen oder die Augen aufzuschlagen. Sein Kinn ruhte auf der unterstützenden Hand, und das weiße Haar überschattete sein Gesicht.
»Haben Sie mit Lucie gesprochen?«
»Nein.«
»Ihr geschrieben?«
»Nie.«
»Es wäre unedel, wenn ich mir den Anschein geben wollte, als fühle ich nicht, daß Ihre Selbstverleugnung in den Rücksichten für ihren Vater begründet ist. Der Vater dankt Ihnen.«
Er bot seine Hand an, aber seine Augen folgten ihr nicht.
»Ich weiß,« sagte Darnay achtungsvoll »wie sollte es mir, der ich euch Tag für Tag zusammen gesehen habe, Doktor Manette, entgangen sein, daß zwischen Ihnen und Miß Manette eine so ungewöhnliche, so rührende und ganz den Umstanden angemessene Zuneigung besteht, wie man sie selbst in der Zärtlichkeit zwischen einem Vater und einem Kinde nur selten findet. Ich weiß, Doktor Manette – wie sollte ich es nicht wissen –, daß ihr Herz Ihnen die volle Innigkeit und das Vertrauen des Kindes, gemischt mit der Liebe und dem Pflichtgefühl der zur Jungfrau herangewachsenen Tochter, bewahrt hat. Ich weiß, daß sie jetzt, nachdem ihre Kindheit des Vaters beraubt war, sich Ihnen widmet mit der warmen Glut und Beständigkeit ihres reiferen Alters und Charakters, vereint mit der Zutraulichkeit und Liebe jener früheren Zeit, in der sie den Vater missen mußte. Ich weiß vollkommen wohl, daß Sie, wenn Sie aus einer andern Welt zu ihr zurückgekehrt wären, in ihren Augen keine heiligere Glorie hätten tragen können, als die ist, in welcher sie Sie stets erblickt. Ich weiß, daß, wenn sie sich an Sie anklammert, die Arme des Kindes, der Jungfrau und des Weibes zugleich Ihren Nacken umfangen halten. Ich weiß, daß in ihrer Liebe zu Ihnen sie ihre Mutter sieht und liebt, wie diese in ihrem Alter war – daß sie Sie sieht und liebt als einen Mann in meinem Alter – daß sie die Mutter mit ihrem gebrochenen Herzen liebt und Ihnen liebend folgt durch Ihre schrecklichen Prüfungen bis zu Ihrer glücklichen Erlösung. Ich habe all dies in meinem Innern geschaut Tag und Nacht, seit ich Sie in Ihrem Heimwesen kennenlernte.«
Ihr Vater saß stumm da, das Antlitz niedergebeugt. Sein Atem ging ein wenig schneller, aber er unterdrückte alle weiteren Zeichen der Aufregung.
»Mein teurer Doktor Manette, ich wußte dies immer, sah Sie beide stets in diesem geheiligten Lichte und habe deshalb an mich gehalten – an mich gehalten, solange die Mannesnatur es vermochte. Ich fühlte, und fühle es auch jetzt, daß ein Einmengen meiner Liebe – der meinigen sogar – als eine Berührung Ihrer Liebe mit etwas Unheiligerem erscheint. Aber ich liebe sie. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich sie liebe.«
»Ich glaube es«, entgegnete ihr Vater traurig. »Es ist mir schon früher so vorgekommen. Ich glaube es.«
»Aber glauben Sie ja nicht«, sagte Darnay, an dessen Ohr der wehmütige Ton der Stimme wie ein Vorwurf schlug, »daß mir ernst sein könnte mit dem, was ich jetzt sage, wenn in dem für mich überglücklichen Fall, daß sie mein Weib werden wollte, nur entfernt an eine Trennung zwischen Ihnen gedacht werden müßte. Abgesehen davon, daß ich weiß, wie wenig Hoffnung mir dann bliebe, müßte es mir auch in dem Lichte einer Schändlichkeit erscheinen. Wenn der Gedanke an eine solche Möglichkeit, selbst für noch so ferne Zeit, je in dem verborgensten Winkel meines Herzens geweilt hätte oder darin überhaupt Eingang zu finden vermöchte, so könnte ich nicht jetzt diese geehrte Hand berühren.«
Und er legte bei diesen Worten die seinige auf die des Doktors.
»Nein, mein teurer Doktor Manette. Wie Sie ein freiwilliger Verbannter aus Frankreich; wie Sie aus der Heimat vertrieben durch ihre Zerrüttung, ihre Bedrückung und ihr Elend; wie Sie meinen Unterhalt und eine glücklichere Zukunft von der eigenen Anstrengung erwartend, sehne ich mich nur danach, Ihrem Glücksstern zu folgen, Leben und Herd mit Ihnen zu teilen und Ihnen treu zu sein bis in den Tod. Ich will Lucien von ihrem Vorrecht, Ihr Kind, Ihre Gefährtin und Freundin zu sein, nichts entziehen: aber zu Hilfe kommen möchte ich ihr dabei und sie noch inniger an Sie heften, wenn dies anders möglich ist.«
Seine Hand ruhte noch immer auf der ihres Vaters. Nachdem letzterer für einen Augenblick, aber nicht kalt, die Berührung erwidert hatte, stützte er die Hände auf die Stuhllehne und blickte zum erstenmal seit dem Beginn der Besprechung auf. In seinem Gesicht zeigte sich ein Kampf – ein Kampf, begleitet von jenem gelegentlichen Ausdruck, der so leicht in düsteren Zweifel und Furcht überging.
»Sie sprechen so gefühlvoll und männlich, Charles Darnay, daß ich Ihnen aus voller Seele danke und auch Ihnen mein ganzes Herz oder doch fast mein ganzes Herz aufschließen will. Haben Sie Grund zu glauben, daß Lucie Sie liebt?«
»Nein. Bis jetzt nicht.«
»Ist es der unmittelbare Zweck dieses Vertrauens, darüber mit meinem Vorwissen Gewißheit zu erhalten?«
»Nicht gerade. Ich erwarte dies vor Wochen noch nicht zu erfahren, obschon ich meine Hoffnungsfülle, sei sie nun eine begründete oder nicht, mir bewahren möchte.«
»Verlangen Sie Unterstützung von mir?«
»Nein, Sir, obschon ich es für möglich gehalten habe, es dürfte in Ihrer Macht liegen, mich zu leiten, wenn es Ihnen passend erscheinen sollte.«
»So erwarten Sie wohl eine Zusage?«
»Ja.«
»Des Inhalts?«
»Ich begreife wohl, daß ich ohne Sie keine Hoffnung haben kann. Auch ist mir klar, daß ich in Miß Manettes unschuldigem Herzen, selbst wenn sie mein Bild darin trüge, obschon ich nicht so anmaßend bin, dies zu vermuten, keinen Platz zu behaupten vermöchte im Widerspruch mit ihrer Liebe zu ihrem Vater.«
»Wenn dies der Fall ist, sehen Sie wohl, was anderweitig daraus folgen müßte?«
»Ich begreife nicht minder, daß ein Wort aus dem Munde ihres Vaters zugunsten eines Bewerbers bei ihr mehr Gewicht hätte als die ganze übrige Welt. Aus diesem Grunde, Doktor Manette«, fügte Darnay bescheiden, aber mit Festigkeit bei, »möchte ich um dieses Fürwort nicht bitten, und wenn mein Leben daran hinge.«
»Ich traue Ihnen dies zu. Charles Darnay, Geheimnisse entstehen aus inniger Liebe ebensogut wie aus weiter Spaltung; im ersteren Falle sind sie gar zart und verfänglich und schwer zu ergründen. Meine Tochter Lucie ist in dieser Beziehung ein solches Geheimnis für mich; ich habe keine Vermutung über den Zustand ihres Herzens.«
»Darf ich fragen, Sir, ob Sie glauben, es –«
Da er zögerte, so ergänzte ihr Vater den Satz.
»Es bemühe sich ein anderer Freier um sie?«
»Das ist ist's, was ich sagen wollte.«
Nach einigem Nachdenken erwiderte der Doktor:
»Sie haben Mr. Carton selbst hier gesehen. Auch Mr. Stryver kommt gelegentlich her. Wenn es der Fall wäre, so könnte nur einer von diesen zweien in Frage kommen.«
»Oder beide«, sagte Darnay.
»Ich hatte nicht an beide gedacht und halte es auch nicht für wahrscheinlich. Sie verlangen eine Zusage von mir. Sprechen Sie, worin soll sie bestehen?«
»Wenn Miß Manette je von freien Stücken sich mit einem ähnlichen Vertrauen an Sie wendet, wie ich es heute zu tun gewagt habe, so bitte ich Sie, mir meine heutigen Worte und Ihren Glauben daran zu bezeugen. Ich hoffe, Sie haben eine so gute Meinung von mir, daß Sie Ihren Einfluß nicht gegen mich geltend machen werden, und will daher nichts mehr zu meinen Gunsten sagen. Um dies allein bitte ich: Sie haben ein unbezweifeltes Recht, mir eine Gegenbedingung zu stellen, und ich werde sie unverweilt erfüllen.«
»Sie haben mein Versprechen ohne Bedingung«, sagte der Doktor. »Ich glaube, daß Ihre Absichten so rein und treu sind, wie Sie sie darstellen. Auch glaube ich, daß Sie das Band zwischen mir und meinem andern mir viel teureren Ich erhalten und nicht geschwächt zu sehen wünschen. Wenn sie mir einmal erklärt, daß Sie ein wesentliches Erfordernis sind zu ihrem vollkommenen Glück, so werde ich sie Ihnen nicht versagen. Sollten auch, Charles Darnay –«
Der junge Mann hatte dankbar seine Hand ergriffen. Ihre Hände waren vereinigt, während der Doktor fortfuhr –
»Sollten auch Meinungen, Gründe oder Besorgnisse irgendwelcher Art, aus alter oder neuer Zeit, gegen den Mann sprechen, den sie wirklich liebt – vorausgesetzt, daß ihm dabei keine persönliche Verantwortlichkeit zur Last fällt –, so mögen sie um ihretwillen vergessen sein. Sie ist mir alles – ist mir mehr als meine Leiden, mehr als das erlittene Unrecht, mehr als – Pah! das ist eitles Gerede.«
Die Art, wie er plötzlich abbrach, und der starre Blick, der auch noch nachher anhielt, war so befremdlich, daß Darnay fühlte, wie seine eigene Hand in der des Doktors kalt wurde, als dieser sie langsam los- und fallen ließ.
»Sie haben mir etwas sagen wollen«, begann Doktor Manette wieder, und ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Was war es doch?«
Der junge Mann wußte nicht, was er antworten sollte, bis ihm einfiel, daß er von einer Bedingung gesprochen hatte. Mit erleichtertem Herzen griff er auf diesen Umstand zurück und entgegnete:
»Ihr Vertrauen verdient auch von meiner Seite vertrauensvolles Entgegenkommen. Sie werden sich erinnern, daß mein gegenwärtiger Name nicht der wahre, obschon nur eine leichte Abänderung von dem meiner Mutter ist. Ich wünsche Ihnen hierüber und über den Grund meines Aufenthaltes in England eine Erklärung zu geben.«
»Halt!« sagte der Doktor von Beauvais.
»Es drängt mich dazu, denn ich möchte Ihr Vertrauen besser verdienen und kein Geheimnis vor Ihnen haben.«
»Halt!«
Der Doktor hielt für einen Moment die Hände vor seine Ohren und legte sie dann auf Darnays Lippen.
»Sagen Sie mir's, wenn ich Sie darum frage, nicht jetzt. Wenn Ihre Bewerbung zu etwas führt und Lucie Sie liebt, so sollen Sie an Ihrem Hochzeitsmorgen mir darüber Mitteilung machen. Versprechen Sie dies?«
»Recht gern.«
»Geben Sie mir Ihre Hand. Sie muß demnächst nach Haus kommen, und es ist besser, daß sie uns heute abend nicht beisammen sieht. Gehen Sie. Gott behüte Sie!«
Es war schon dunkel, als Charles Darnay sich entfernte; und es war eine Stunde später und noch dunkler, als Lucie nach Hause kam. Sie eilte allein in das Zimmer, denn Miß Proß war nach ihrer Kammer hinaufgegangen, und wunderte sich nicht wenig, ihres Vaters Lesestuhl leer zu finden.
»Vater!« rief sie ihm. »Lieber Vater!«
Keine Antwort; aber sie hörte ein dumpfes Hämmern aus der Schlafkammer. Sie eilte rasch durch das dazwischen liegende Gemach und sah zu der Tür hinein, kam aber entsetzt wieder zurückgelaufen und rief vor sich hin:
»Was soll ich tun! Was soll ich tun!«
Die Ungewißheit währte jedoch nur einen Augenblick. Sie kehrte zurück, klopfte an die Tür und rief ihm leise zu. Auf den Ton ihrer Stimme ließ das Gehämmer nach; er kam sogleich zu ihr heraus, und sie gingen geraume Zeit miteinander auf und ab.
Selbige Nacht kam sie noch aus ihrem Bett wieder herunter, um nach ihm zu sehen. Er schlief tief. Sein Schuhmacherhandwerkszeug und die alte unbeendigte Arbeit lag da wie gewöhnlich.
*