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»Ach hätte ich Flügel wie Tauben, so enteilte ich und nähme Wohnung dort in der Wüste« – so sagte ich im April 1899, als ich zum erstenmal die hohe Ehre hatte, im Königlichen Schlosse zu Berlin über Babylon zu sprechen. Nun ward meine Sehnsucht erfüllt, doch klingt das Psalmwort leise noch immer in der Seele fort. Denn es ist ein wunderbarer Zauber, das alte Babylonien lebendig vor dem geistigen Blicke, das jetzige mit dem leiblichen Auge zu schauen, in dem heutigen das einstige hundertfach wiederzuerkennen, ja die vergangenen Jahrtausende handgreiflich aus tausendjährigem Grabe zu neuem Leben zu erwecken.
Geboren und umschlossen von zwei der herrlichsten Ströme der Welt, glich das babylonische Alluvialland – an Grösse dem Königreiche Italien mit Ausschluss der Inseln entsprechend – einem Treibhause von beispielloser Vegetation. Ueberreich an Sesam und Obst aller Art, bildete das Land Eine unerschöpfliche Kornkammer und Einen Palmenwald zugleich bis hinab an das Gestade des Persischen Meeres. Um aber die Niederlassungen und Pflanzungen vor den alljährlichen Hochfluten des Euphrat und Tigris zu schützen, waren die Ansiedler vom ersten Anfang an zur Erbauung von Dämmen und Anlegung von Kanälen genötigt, und diese Kanäle oder Stromteiler (Abb. 2) teilten nicht allein das Hochwasser der beiden Ströme und führten das befruchtende Nass den von der Ueberschwemmung nicht berührten Landesteilen zu, sondern sie boten sich auch von selbst dar, um zum Ersatze der Landstrassen mittels mannigfacher Fahrzeuge Handel und Wandel zu fördern und den Verkehr von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zu vermitteln. Babylonien war das Holland des Altertums. Darum sehen wir schon in sehr alter Zeit ein vielmaschiges Netz grosser, kleiner und ganz kleiner Kanäle weithin über das Land sich breiten, und jeder hervorragende König war bestrebt, wie durch Pflege so durch Ausbau dieser Wasserstrassen seinen Namen bei der Nachwelt ruhmvoll und gesegnet zu erhalten. In der Tat verewigten die Namen neu angelegter Kanäle wie »Hammurabi ist der Segen des Volkes«, »Samsuiluna ist eine Quelle des Segens« das Andenken jener Monarchen in edelster Weise. Dichtbevölkerte, befestigte Städte, dazu Dörfer und Weiler ohne Zahl bedeckten das Land, während sorgfältig abgegrenzte Aehrenfelder und schattige Palmenhaine mit weitgedehnten Wiesenstrecken wechselten, auf denen grosse Herden von Rindern und Kleinvieh weideten und ruhten.
Vor allem war es Ein Landstrich, welcher, durch ein Labyrinth von Kanälen und Rinnen (Abb. 3) aus dem Einen Euphrat bewässert, durch wahrhaft paradiesische Schönheit entzückte, nämlich die Gegend nordwärts von Babylon, der »Wohnung des Lebens«, das Land etwa zwischen dem heutigen Bagdad und Hilleh. Es ist derjenige Teil Babyloniens, welchen Xenophon, Strabon, Ammian, Marcellin eingehend schildern, alle übereinstimmend in dem Lobpreis des durch Natur und Anbau gesegnetsten Landes, in der Bewunderung seines Reichtums an Bewässerung, Kanälen, Brücken, Weinbergen, Obstfeldern, Dattelwäldern, wie denn noch Zosimus in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. bestätigt, dass auch da, wo man keine Gebäude wahrnahm, Palmenhaine sich breiteten, von Weinreben umschlossen, deren hängende Trauben die Palmbaumkronen umkränzten. Auch der Talmud diskutiert ein jüdisch-babylonisches Sprichwort, lautend: »Diese Palmen Babels stammen vom ersten Menschen her« – so paradiesisch war noch in der Sassanidenzeit der Eindruck des Landes. Ja, noch in der Kalifenzeit standen in dem Netz der Zweigkanäle des Königskanals nördlich von Babylon 360 Dörfer, aus denen jährlich 15 Millionen Kilo Getreide und 225 000 Dirhem in Gold dem Staate als Revenuen zuflossen. In Wahrheit ein Gottesgarten, gepflanzt in dem babylonischen Tieflande oder Êdin.
So war es einst, wie ganz anders jetzt! Fürwahr, es lässt sich kein grösserer Gegensatz denken, als dieses Einst und Jetzt. Einst, wie Plinius sagt, fertilissimus ager totius orientis, »der fruchtbarste Acker des ganzen Orients«, ist das Land jetzt grösstenteils eine trostlose Wüste: hier eine Sandwüste (Abb. 4), dort, wo das Land schutzlos den Ueberschwemmungen der Ströme preisgegeben ist, eine Wasserwüste (Abb. 5), beziehungsweise ein Sumpf, überragt, vor allem im Süden des Landes, von riesigen Rohren. Die Kanäle sind zumeist versandet, ja selbst die beiden Hauptlebensadern durch irrationelle Wasserentziehung unterbunden, also dass der Euphrat während des Sommers auf weite Strecken einem armseligen Bächlein gleicht und die auf dem Tigris den Verkehr zwischen Bagdad und Bassorah notdürftig unterhaltenden englischen und türkischen Dampfer in den heissesten Monaten immer und immer wieder auf dem seichten Grunde auffahren. Sandstürme aus der Wüste, wie sie schon früher das Land heimsuchten, fegen jetzt doppelt ungezügelt über die Ebene (Abb. 6), die zumeist bestanden ist mit stachligen und harten Wüstenkräutern, der kümmerlichen Weide der Schafe und Ziegen der arabischen Wanderhirten. Selbst die Wolle dieser Tiere ist so minderwertig, dass sie von den abendländischen Märkten zurückgewiesen wird; auch die Därme sind infolge des allzu reichlichen Trinkens unbrauchbar. Das einst so reich bevölkerte Land ist jetzt entvölkert, und es ist ein harter Kampf, welchen die teils sesshaften teils nomadisierenden Araber um das tägliche Brot führen. Raub und Fehde sind an der Tagesordnung, Armut und Entbehrung sprechen aus Ernährung und Kleidung. Krankheiten aller Art, vor allem auch Augenkrankheiten, und in den südlichen Sumpfgegenden fast das ganze Jahr hindurch Fieber, und fast nirgends ein Arzt! Ein Gang durch Ortschaften wie Sûk esch-Schjuch, d. h. »Bazar der Beduinenschechs«, am rechten Ufer des untersten Euphratlaufes (siehe die Karte Abb. 3), lässt in der Seele unauslöschlich traurige Eindrücke zurück. Einst ein blühender Handelsplatz, bei welchem der Karawanenverkehr aus Zentralarabien einmündete, ist der Ort gegenwärtig alljährlich viele Monate lang rings von Wasser umschlossen, also dass die Karawanen nicht mehr herankönnen. Der Bazar ist im vollsten Verfall: kaum der vierte Laden dient noch ärmlichem Kleinhandel. Die Bewohner verlassen den Ort oder gehen an den Miasmen der Sümpfe zu Grunde. Noch nie habe ich Kinder gesehen, die solch ein Jammerbild darstellten, besonders auch deshalb, weil die kleinen Aermchen ohnmächtig sind, die massenhaften Fliegen dauernd abzuwehren, und deshalb die ohnehin kranken Augen, vor allem in den Augenwinkeln, dicht bedeckt sind mit diesen dreistesten aller Insekten.
Mit alledem trifft die osmanische Regierung und die dortige Bevölkerung keinerlei Vorwurf; denn der Verfall des Landes begann Jahrhunderte vor der osmanischen Herrschaft, die Türkei überkam nur solch ein trauriges Erbe. Im Gegenteil, wenn noch heutzutage Palmenhaine, ja im Süden des Landes dichte Palmenwälder die Ufer des Tigris und vor allem des Euphrat begleiten, hier und dort neue Palmenpflanzungen entstehen, die Reiskultur an vielen Orten blüht, wenn die Kanäle z. B. zwischen Nasrije und der Ruinenstätte von Ur Kasdim sich in überraschend tadellosem Zustande befinden, und fleissige Hände, vom frühen Morgen bis zum späten Abend mühsam das Wasser aus dem Kanale auf den Acker bringend, Melonen, Gurken und Zwiebeln anbauen, so beweist dies, dass, was in einem also von der Mitwelt vergessenen, vereinsamten Lande, in solchem entnervenden Klima, bei so spärlicher Bevölkerung, ohne alle technischen Hilfs- und Erleichterungsmittel geschehen kann, unter dem Schutze der türkischen Regierung geschieht. Aber wie nun einmal die Gegenwart ist, kann das Babylonien unsrer Tage, selbst die Städte wie Bagdad nicht ausgenommen, nur bezeichnet werden als ein Land verglimmenden Lebens. Noch zeigt das Land die Spuren seiner einstigen weltberückenden Schönheit: die musterhaft bewirtschafteten kaiserlichen Domänen bezeugen die unverwüstliche Fruchtbarkeit auch noch des jetzigen Bodens; in dem Garten eines reichen, unsrer Expedition befreundeten arabischen Grossgrundbesitzers in Hilleh, welchen wir manchmal besuchten, stehen Baumwolle und Feigenbäume, Weinreben, Melonen, Granatäpfel dicht bei einander in üppigster Fülle; ja, ein weggeworfener Dattelkern erwächst, so erzählt man, auch nur bei einiger Feuchtigkeit binnen 3 Jahren zu einer 15 Fuss hohen, fruchttragenden Palme. Trotz alledem gleicht das babylonische Land von heutzutage einem bleichen, abgehärmten Antlitz, über welches zwei Tränenströme fliessen.
Es begreift sich leicht, dass das Reisen in einem solchen Lande, wie schon das Reisen von der Mittelmeerküste zu Land oder zu Fluss nach Mosul und Bagdad, nicht dasjenige ist, was wir ein Vergnügen nennen. Starke Nerven, ein immer heiteres Gemüt, welches sich über keine der unablässigen Ueberraschungen und Widerwärtigkeiten ärgert, eine unbegrenzte Geduld, welche auf alles Rechnen nach Tagen und Stunden, geschweige denn nach Minuten verzichtet, ein in allen Organen widerstandsfähiger Körper bilden die Grundvoraussetzung für eine glückliche Reise in jenen Teilen der asiatischen Türkei.
Als ich nach elf Jahren zum ersten Male wieder den Pass von Beilan überschritt und vor dem Eintritt in die Ebene von Antiochia in Kirik Chan mein erstes Nachtquartier aufschlug, war ich noch derart von abendländischer Kultur beleckt, dass ich den Chandschi um ein Waschbecken bat, worauf mich dieser stolz, wie es nur der Orientale sein kann, durch die vier kahlen Wände meines Fremdenzimmers nach dem Fenster führte und mich auf den Bach vor seinem Hause verwies. Und wenn es nun gar erst in das Innere Mesopotamiens hineingeht und man, da die Temperatur das Zeltleben noch verbietet, gezwungen ist, in den Hütten der Kurden (Abb. 7) Nachtlager zu machen, dann erscheint einem alle Reinlichkeit und aller Komfort, den man erst 14 Tage vorher etwa im Hôtel Bristol zu Konstantinopel, ja noch vor wenigen Tagen in dem immer gast- und hilfsbereiten Hause Koch zu Aleppo genossen, wie ein Märchen aus uralten Zeiten. – Welch schöner Sonntagsmorgen, als am 27. April früh 5 Uhr die Sonne strahlend aufging über den beiden grossen Trümmerhügeln von Nineve! Aber wie rasch wichen alle Gedanken an die einstige Pracht der assyrischen Königspaläste, als ich mit meinem Floss hart vor der Schiffsbrücke von Mosul (Abb.8) landete, das benachbarte Café schon früh von Hunderten nichtstuender Araber besetzt, welche alle den Abutschapka, »den Vater des Hutes«, wie man mich nannte, begafften, und als ich mein Gepäck an das Ufer schaffen liess, die Landungsstelle bestehend in einem steil abfallenden Wege voll Staub und voll Löchern, überströmt von einem Bache von Blut eines droben geschlachteten Rindes, wie ja im Orient alle Tiere auf offener Strasse geschlachtet werden, und dicht dabei ein vor wenigen Tagen gefallenes Kamel, umkämpft von einer Meute hungriger Hunde. – In Bagdads schönstem Hause, dem Hause unsres deutschen Konsuls Richarz, für die Weiterreise neugestärkt, brach ich am Morgen des 7. Mai auf, um durch das einstige Paradies hindurch nach dem Ziel meiner Sehnsucht, Babylon, zu gelangen. Aber, wie es nun einmal im Orient ist, es lässt sich alles schön planen etwa für die erste halbe Stunde, aber dann kommt alles anders, als man gedacht. Zwischen Bagdad und Hilleh sowie Kerbela, dem Ziel von alljährlich vielen Tausenden schiitischer Pilger, ist jetzt ein Omnibusdienst eingerichtet, was einen grossen Fortschritt gegen frühere Zeiten bezeichnet, doch musste ich mir meines Gepäckes wegen einen eignen Wagen nehmen. Bald dehnte sich weithin eine Ueberschwemmung des Tigris, welche ebenso wie eine zweite mein »Phaeton« mit leichter Mühe durchfuhr. Aber bald folgte eine dritte Ueberschwemmung, und der Wagen geriet tiefer und tiefer ins Wasser. Zum Glück war eine sogenannte Kuffe, ein rundes, korbähnliches, aus Weiden geflochtenes und mit Asphalt überzogenes Fahrzeug zur Hand (Abb. 9), sodass ich meine Koffer dort hineinwerfen und dann selbst hineinspringen konnte. Schon sass ich wieder behaglich im Wagen – da war die Wüste vor uns abermals in eine weite Wasserfläche verwandelt, und als die vor mir fahrenden Omnibusse trotz ihrer hohen Räder so tief in das Wasser versanken, dass die Füsse der Passagiere im Wasser standen, so eröffnete sich für mich und mein Gefährt keine erfreuliche Aussicht. In der Tat dauerte es nicht lange, so fühlte ich die Sitze des Wagens unter mir schwimmen und wünschte mir die Fangarme eines Polypen, um Koffer und Taschen und Wagensitze beisammen zu behalten – immer tiefer versank der Wagen, ein vielstimmiges »Jalla, Jalla!« trieb die vier Maultiere zu äusserster Kraftanstrengung an, und wir gelangten auch schliesslich an das jenseitige Ufer – aber wie! Glücklicherweise erhob sich bald ein von 10 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags wütender Sandsturm, welcher Kutscher, Wagen und Pferde wie mich selbst mit einem undurchdringlich weissen Schleier umhüllte.
Das Klima ist in Babylonien während der Monate November und Dezember empfindlich kalt, von Januar bis März ist es angenehm, aber während der Zeit, da die Palmen Früchte ansetzen und dann allmählich jene gelben oder roten Büschel heranreifen, von welchen im September die Palmen strotzen, wächst die Hitze in immer steigendem Grade. Wir hatten in dem Dörfchen Kuwairisch auf der Ruinenstätte Babylons, welches unsrer Expedition als Standquartier dient, im Sommer 1902 eine Mittagstemperatur von durchschnittlich 50 Grad C. in der Sonne oder 42 Grad C. im Schatten, doch kamen auch Tage mit 60 Grad C. in der Sonne vor. Ja, auf dem Persischen Meer, über welches ich im September zurückkehrte, hatten wir bei absolut stagnierender Luft, wie mir der englische Kapitän in mein Notizbuch einschrieb, bis zu 50 Grad R. Hitze, das Heisseste, was auf Erden zu verzeichnen. Binnen zweier Jahre hatte der Kapitän auf seiner Fahrt durch den Persischen Golf zu dieser Jahreszeit zwei Schiffsoffiziere am Sonnenstich verloren. Aber merkwürdig, alle babylonische Hitze schien mir verhältnismässig leicht ertragbar, und insonderheit auf dem Rücken des Pferdes oder an Bord eines Kahnes war immer ein gewisser Luftzug zu verspüren. Aber wahrhaft unerträglich bleibt die Hitze von Bagdad. Ich erinnere mich noch einer glutheissen Nacht, während deren man unter Fieberphantasien nach Luft rang. Die wenigen in Bagdad lebenden Europäer, Konsule, Kapitäne, Schiffsoffiziere u. s. w., werden durchschnittlich 47 Jahre alt. Es starben von ihnen in den letzten neun Jahren 70 Prozent. Ehre und Dank unserm trefflichen Konsul Richarz, welcher, jahraus jahrein treu aushaltend auf seinem schweren und einsamen Posten, nicht allein kraft seines Berufes unsern Expeditionen unschätzbarste Dienste leistet, sondern auch persönlich für alle ihre Mitglieder in opferfreudigster Weise zu sorgen nimmer ermüdet!
Lange Ritte bei grosser Hitze und ungenügendem Wasser bilden eine weitere Unannehmlichkeit des Reisens in Babylonien. Denn das sind keine Ritte wie auf unsern Landstrassen und Feldern, sondern dort bildet man sich nach und nach zum Circusreiter aus. Binnen etwa acht Stunden sind, von unzähligen kleineren Gräben und Rinnen abgesehen, viele, viele Mal hohe Dämme einstiger Kanäle mit dem Pferd zu ersteigen, dann geht's hinab in das Bett, wobei, wenn es mit Wasser gefüllt ist, die Pferde die angenehme Gewohnheit haben, sich mitsamt dem Reiter ins Wasser zu legen; dann wieder den steilen Abhang hinauf, auf der Höhe der schmalen Kante etliche Minuten geradeaus, dann wieder hinab in Reisfelder mit ihren zahllosen Löchern, und endlich wieder in die weite flache Sandwüste, die ihrerseits wiederum streckenweise mit allerlei stachligen Kräutern und Sträuchern bestanden ist, bei deren Durchschreiten die in die Knöchel gestochenen Pferde bedenklich nervös werden. Als ich von Fara aus die amerikanische Grabungsstätte in Nuffar besuchte (6. bis 8. Juli), musste nach neunstündigem Ritt der in dem Dörfchen El-Hamze wohnende Schech Mhamed el-Bardschud besucht werden, aber der wohnte, wie die Assyrer sagen würden, wie ein Pelikan, zwischen Kanälen, sodass von den Pferden abgesessen werden musste. Dann aber galt es zwei Brücken zu passieren. Das war eine Kunst! Eine Kunst? wird man sagen. Nach angestrengtem Ritte über die Schlossbrücke in Berlin zu spazieren ist freilich keine Kunst. Aber hier war ein Kunststück zu leisten, wie es gewiss noch kein deutscher Professor geleistet, denn die beiden Brücken, welche über sehr tief eingeschnittene Kanäle führten, bestanden je in einem einzigen halbierten Palmstamm, der aber nicht so gelegt war, dass die flache Seite nach oben lag, vielmehr war die scharfe Kante, auf welcher sich die Araber mit ihren Zehen bequem einkrallen mögen, nach oben gerichtet, und auf dem jenseitigen Ufer drängte sich ein Haufe gaffender Araber, gross und klein, alle den unverhofften Fremdling erwartend el-hamd lillâh, Gott sei's gedankt, er liess dem Mutigen es gelingen. Und da wir einmal vom Reiten sprechen, so sei einer Dankbarkeitspflicht genügt, indem wir einer besonders rühmlichen Eigenschaft des arabischen Pferdes gedenken. Es kann ja drüben nur allzuleicht vorkommen, dass sich der Reiter vom Pferde trennt, wenn man sich z. B. in den Anblick eines besonders interessierenden Ruinenhügels verliert, während das ermüdete Pferd auf dem Sturzacker mit den beiden Vorderfüssen zusammenbricht. Aber merkwürdig, mag man selbst und das Pferd durch den Sturz in die ungemütlichste Lage gebracht sein, das arabische Pferd bleibt unter allen Umständen wie angewurzelt stehen: ein Schleifen des Reiters ist ausgeschlossen.
Indes auch zwei andre, obschon viel kleinere Tiere dürfen bei der Beschreibung einer Reise durch Babylonien nicht unerwähnt bleiben: die Fliegen und Mücken. Die Fliege ist und bleibt das unverschämteste aller Tiere, der geschworene Feind jeden reellen Schlafes zur Tageszeit. Ihre einzigste gute Eigenschaft ist, dass sie auf die Sekunde mit der untergehenden Sonne sich zur Ruhe begibt. Dann sieht man die Massen von Fliegen, welche vorher den Wohnraum erfüllten, ruhig an der Decke gelagert, und es lastet wie ein Bann nur der grausige Gedanke, dass am nächsten Morgen diese Armeekorps von neuem mobilisiert werden. Ist aber die Fliege schlafen gegangen, so steht die Mücke auf. Natürlich hatten wir uns aus Berlin sogenannte Moskitonetze mitgenommen, und diese reichten für Babylon, wo es nur etliche Fliegen abzuwehren galt, auch vollkommen aus. Als wir aber in die richtige Wüste nach Fara übersiedelten und unsre Netze zum ersten Male ausspannten, da lachten unsre arabischen Diener hell auf, indem sie sagten, dass da ja die Schwalben hindurchfliegen könnten. Und als uns die arabischen Frauen neue Moskitonetze gefertigt, waren diese so dicht, dass an ein Atemholen darunter kaum zu denken war. Ja, selbst dann, wenn wir sie gebrauchten, war gar bald ein Stich im Ohrläppchen zu fühlen, das unfehlbare Zeichen, dass die Wüstenmücke ihre Visitenkarte abgegeben hatte. Die braunen Mücken sind so klein, dass sie fast nur mit dem Mikroskop zu erkennen sind, und können sie nicht von oben her durch das Netz eindringen, so ermöglichen sie es von unten aus. Und dann bleibt dem Menschen nichts weiter übrig, als der Hoffnung auf Schlaf zu entsagen und hinaus in die Wüste zu gehen, wo vielleicht ein leiser Luftzug die Mücken verscheucht, um dann frühmorgens, wenn der Schlaf wie ein Gewappneter keinen Widerstand kennt, auf das Lager sich zu werfen und die Haut allmählich immun gegen Mückenstiche zu machen.
Was die Sicherheit betrifft, so haben wir Europäer, vor allem wenn wir europäische Kleidung tragen und nicht etwa ein Versehen mit unterläuft, im allgemeinen wenig zu fürchten. Im Uebrigen ist Babylonien verhältnismässig sicherer als Mesopotamien. Wenn wir bedenken, dass es die Türkei dort drüben mit Völkern wie Kurden und Arabern zu tun hat, deren selbst die Assyrer und Babylonier nicht Herr zu werden vermochten, Völkern, denen seit Jahrtausenden unbändigste Freiheitsliebe und unausrottbarer Hang zu Kampf und Raub angeboren ist, so müssen wir uns in der Beurteilung der dortigen Zustande der grössten Zurückhaltung befleissigen. Keine Regierung der Welt hat so zügellose, widerspenstige Kinder wie die türkische. Ks war ein unzweifelhaft von den besten Absichten eingegebener Plan des weitblickenden Sultans Abd-ul-Hamid, die Kurden, zum Teil auch die Araber Mesopotamiens dadurch an Zucht und Ordnung zu gewöhnen, dass er aus ihnen eine irreguläre Reiterei, die sogenannten Hamidies, formierte und über drei, beziehungsweise zwei dieser fünfzehn neu geschaffenen Hamidie-Regimenter die beiden Kurdenhäuptlinge Ibrahim und Mustafa setzte. Im Jahre 1892 wurde in Diarbekr unter entsprechenden Festlichkeiten, z. B. einem Galadiner nach kurdisch-arabischer Sitte (Abb. 10), die Ernennung der beiden Häuptlinge zu Paschas und die Fahnenweihe (Abb. 11) vollzogen. Aber wenn wir auf dem gegenüberstellenden Bilde (Abb. 12) Ibrahim-Pascha und Mustafa-Pascha so vor uns sehen, glaube ich, werden nur wenige rechtes Zutrauen zu diesen Physiognomien zu fassen vermögen, wie sich denn in der Tat die Neuschöpfung jener Hamidies mehr und mehr als ein zweischneidiges Schwert für die Türkei zu erweisen scheint.
Ich war am 17. April früh 5¼ Uhr aus dem Kurdendorf Karagören, eine Tagereise von Urfa, aufgebrochen hinaus in die blumenbesäte, tautriefende Steppe, die nach Nordwesten zu umrahmt war von den schneebedeckten, im ersten Frühlicht erglänzenden Bergketten des Taurus – ein göttlicher, friedlicher Morgen, so schien es. Da plötzlich zeigten sich am Horizonte drei berittene Hamidies – in Hast laden die mich begleitenden Zaptiës ihre Gewehre, ich und meine einheimischen Begleiter greifen ebenfalls zu den Waffen, während zwei der Zapties in gestrecktem Galopp auf die Hamidies losreiten. Aber schon tauchen unweit von uns, in eine Schützenlinie aufgelöst, jedoch die Front nicht auf uns zu gerichtet, neun elastische Männergestalten ans einer grasbewachsenen Erdmulde auf, in der Linken die gezückten blinkenden Dolche, um, bald laufend, bald wieder sich legend, ein benachbartes, noch friedlich daliegendes Dörfchen zu überfallen – jene Hamîdîes bildeten ihre Führer. Und am Abend des nächstfolgenden Tages, drei Stunden hinter Severek in der Richtung auf Diarbekr, kamen drei türkische Reiter auf mich zugesprengt, mich beschwörend, den Marsch nicht weiter fortzusetzen, sondern in dem Zelt ihres Unteroffiziers die Nacht zu verbringen. Der alte Unteroffizier nahm mich in seinem neben den Trümmern eines zerstörten Dorfes errichteten Zelte freundlich auf; erst vor kurzem war dieser aus elf Reitern bestehende türkische Militärposten dort errichtet worden, um die Karawanen gegen die Karagedsche-Kurden, beziehungsweise die Hamîdîes zu schützen. Am nächsten Morgen passierten wir die gefürchtete Wegstelle: ein in Turmhöhe tief eingeschnittenes enges Wadi, in welches ein steiler Weg hinabführte, um dann über eine schmale Brücke hinweg wieder ebenso steil emporzuführen – gewiss! eine Karawane, in dieser Schlucht von zwei Seiten räuberisch überfallen, war rettungslos dem Untergang geweiht. Das reguläre türkische Militär bezeichnet selbst die Hamîdîes als seine Feinde, und gar manchmal hört man in Diarbekr und Umgegend von den dortigen Bewohnern das traurige Wort: »Wir gehören niemand«.
Drunten in Babylonien gilt das Faustrecht. Jede halbwegs bedeutendere Ortschaft besitzt einen grossen, von einer hohen Lehmmauer umschlossenen Raum, in dessen einer Ecke ein sogenannter meftûl oder Turm von etwa 50 Fuss Höhe sich erhebt, auf dem bei Tag und bei Nacht ein Wächter mit Gewehr Wache halt, um zur rechten Zeit einen Ueberfall seitens des nächst benachbarten Dorfes zu melden. Man fühlt sich anfangs sehr seltsam berührt, alle Eingeborenen, seien es Männer oder Jünglinge, dreifach bewaffnet zu sehen: mit Gewehr, meist Martini-Gewehr, mit gekrümmtem Handschar oder Dolchmesser im Gürtel, und ausserdem noch einer in eine dicke Asphaltkugel endenden Keule (miqvâr). Und besonders komisch wirkt es, ganz kleine, meist splitternackt herumlaufende Knaben in einem Lebensalter, in welchem sie bei uns noch das Lämmchen hinter sich dreinziehen, spielen zu sehen, wie sie mit den von ihren Vätern geliehenen Dolchmessern um einander herumhüpfen, nachahmend, wie eines dem andern am besten das Bäuchlein aufschlitzen könnte. Von Mein und Dein haben diese Wüstensöhne keinen Begriff. Auch wir selbst, die wir mit den dortigen Arabern auf friedlichem Fusse stehen, würden es kaum wagen, ohne Begleitung eines Zaptië; oder unbewaffnet uns fünf Minuten weit von dem Expeditionshause zu entfernen. Denn würden wir einmal unbewaffnet sein, so könnte es nur allzuleicht geschehen, dass ein fremder Araber seines Wegs kommt und sagt: Siehe, ich habe eine Flinte, du hast keine Flinte, gib mir alles was du hast! und nun sofort daran geht, uns auszuziehen vom Kopf bis zur Sohle. Es wäre dann der Fall eingetreten, für welchen der verstorbene berühmte englische Assyriologe George Smith den Rat erteilt hat, stets eine Nummer der Times bei sich zu führen, um wenigstens einigermassen anständig bekleidet zu den Seinen zurückzukehren. Wie die türkischen Zivilbeamten und Militärs es verstehen, meist nur mit einer Handvoll von Leuten diese ewig unruhigen Geister im Zaume zu halten, fordert die grösste Bewunderung heraus. Und in der Tat: wer mit jenen Männern auf ihren oft so weltentrückten Posten bekannt geworden ist und ihr Taktgefühl, ihre Klugheit, Unerschrockenheit und unbeugsame Tatkraft schätzen gelernt hat, wird anerkennen müssen, dass die Osmanen die allein unter allen jenen Volksstämmen zum Herrschen berufene Nation sind.
Alle Strapazen und Fährlichkeiten einer mesopotamischen Reise werden übrigens durch die Schönheiten der Natur reichlich aufgewogen. Ist es schon ein eigner Reiz, unter den Palmen bei Mondschein zu schlafen oder nachts durch die einsame, schweigende, geheimnisvolle Wüste zu reiten, über sich das goldene Sternenzelt, so ist vor allem Mesopotamien voll unvergleichlicher Naturreize. Vor allem im April, wenn die Winterregen vorbei sind und sich die ganze mesopotamische Steppe in den üppigsten Blumengarten verwandelt, kann sich das Auge nicht satt sehen an all der zauberhaften Tracht unzähliger gelber, weisser, roter und hellblauer Blumen, welche das weite, schier unbegrenzte Plateau mit allen seinen Halden und Tälern wie mit einem Teppich bedeckt, freilich nur auf ganz kurze Zeit, da unter den Strahlen der glühenden Sonne die Steppe sich rasch wieder in ihr fahles, melancholisches Trauergewand kleidet. Und ich bin überzeugt, dass, wenn erst jene Gegenden dem Verkehr näher gebracht sein werden, keine Reise grössere Anziehungskraft ausüben wird, als eine Tigrisfahrt auf dem Floss von Diarbekr (auf dem rechten Ufer des obersten Tigrislaufes) hinab nach Mosul. Die von einer schwarzen Basaltmauer mit ca. 90 runden oder viereckigen Türmen kreisförmig umschlossene Stadt Diarbekr ist nur im Westen von der Ebene aus zugänglich (Abb. 13), auf den übrigen Seiten fällt sie steil zum Tigris ab, über welchen wenig stromabwärts eine Brücke aus römischer und arabischer Zeit führt (Abb. 14).
Ein Floss oder Kellek wird noch immer so hergestellt, wie in altassyrischer Zeit. Mein eignes ruhte auf 160 aufgeblasenen Hammelhäuten (Abb. 15), über welche zwei, drei Querlagen von Brettern gelegt waren, und obendrauf stand ein Holzhäuschen, gross genug, um das Feldbett darin aufzuschlagen, und mit kleinen Fenstern sowie einer Tür aus Segeltuch ausgestattet. Der Tigris ist ein wahrhaft majestätischer Strom, der natürlich nur bei reichlichem Wasser, wie er es im April, höchstens noch Anfang Mai mit sich führt, befahren werden kann. Gleich einer in Serpentinen zu Tal führenden Alpenstrasse nimmt der pfeilschnelle Tigris mit stellenweise beträchtlichem Gefäll seinen Weg in zahllosen Krümmungen abwärts und trägt das Floss eilends, doch sanft hinab, auch über die zahlreichen Strudel und Stromschnellen, bei deren Passieren das Floss wie ein Kreisel zwei oder dreimal gedreht wird. Trotz der tagelangen Fahrt lässt die fortwährende Abwechslung der Scenerie keine Ermüdung aufkommen: bald erweitert sich der gewaltige Strom zu einem wirklichen See, an dessen Ufern man Pelikane und Störche erblickt, bald – sonderlich vom zweiten Tage der Fahrt ab – wird er eingezwängt in die wildromantischen Berge des Tûr Abdin rechts und des Bochtan links, und bahnt sich gewaltsam seinen Weg durch jäh abfallende groteske Felsen, welche stellenweise von kurdischen Felsenhöhlen siebartig durchlöchert erscheinen.
Ich hatte am 25. April, als eben der Morgen zu grauen begann, Dschezireh-ibn-Omar, den Wohnort des berüchtigten Mustafa-Pascha, erreicht und glücklich passiert. Das Kellek, welches tags zuvor, von Diarbekr kommend, einer Tigrisinsel unweit Dschezireh sich genaht, war überfallen worden, und es hatte einen Toten und zwei Schwerverwundete gegeben, während die übrigen Insassen rechtzeitig ins Wasser gesprungen waren und sich am Kellek festhielten, welches der reissende Strom rasch in Sicherheit brachte. Selbst das Kellek, welches zwei Tage nachher hohe und höchste türkische Offiziere nach Dschezireh brachte, blieb trotz seiner starken Bedeckung von einem Angriffe nicht verschont. Aber, wie gesagt, ich kam, obwohl ich in Dschezireh ½ Stunde zwecks Einkauf von Lebensmitteln anlegen liess, wohlbehalten davon und hatte mittags 12½ Ehr Feschabur hinter mir gelassen, als der Tigris in die Felsen Kurdistans eintrat. Schwarzes Gewölk bedeckte den Himmel, doch drohte, wie mir schien, keine Gefahr. Da plötzlich sehe ich, wie mein Kellekdschi verzweifelte Anstrengungen macht, das Floss nach einer schnell erspähten, etwas flacheren Stelle des linken Tigrisufers zu steuern. Die drei Soldaten, die meine Bedeckung bildeten, werfen ihre Gewehre auf das Ufer und tun dann selbst den Teilssprung auf das steinige Ufer; ein ungebetener Gast, der tags zuvor auf unser Kellek geschwommen war, erweist sich dankbar, indem er hastig grosse Steine zusammenträgt, um das Tau des Flosses festzuhalten; ich selbst begriff noch kaum, was da vorging, als innerhalb der engen Felsen ein Orkan mit wahrhaft elementarer Gewalt losbrach. In furchtbar beschleunigtem Laufe sausten die Fluten des Tigris talabwärts, jedes Floss unfehlbar in tausend Stücke zerreissend, welches sich noch in seiner Strömung befand, und dann ergoss sich von ¼5 bis ½6 Uhr ein Platzregen, wie ich einen solchen kaum für möglich gehalten. Ich selbst hatte die Türöffnung meines Bretterverschlags mit Koffern notdürftig verbarrikadiert und konnte mir dann lebendiger denn jemals zuvor ausmalen, wie es Noah in der Arche zu Mute gewesen. Aber als später der Sturm nachgelassen hatte und die fluten des Tigris sich einigermassen besänftigten, machte auch unser Floss sich wieder auf den Weg und gelangte bald hinaus in eine freiere Landschaft, wo sich ein unvergesslicher Anblick darbot. Links jenseits des Flusses hingen in die kahlen, grausigen Berge Kurdistans die schwarzen Gewitterwolken tief hinab, unter Donnergegroll unablässig Blitze gleich Feuerschlünden aus sich entsendend, während im Westen der Abendhimmel in das zarteste ätherische Blau getaucht war, weisse, vergoldete Wölkchen an ihm hinziehend, und unter ihm die in Milliarden von Regentropfen glitzernde Steppe voll roter, blauer und lila Blümchen – dort so recht ein Bild des Zorns, hier ein Bild der Gnade, ein Kontrast, niederzwingend zur Anbetung.
Eine assyrisch – babylonische Reise ist aber endlich in ungewöhnlichem Masse lehrreich, ganz besonders für den Assyriologen. Denn auf Schritt und Tritt, in Gesamteindrücken wie in Einzelbeobachtungen erinnert die Gegenwart an die längst entschwundenen Jahrhunderte, mit denen es die Keilschriftforschung zu tun hat. Die Völkerverhältnisse sind noch genau dieselben wie in alter Zeit: wie heutzutage so damals das nämliche Neben- und Durcheinander der sesshaften Bewohner und der herdenreichen nomadisierenden Wüstenstämme. Und da das Klima und die sonstigen Lebensbedingungen sich nicht wesentlich verändert haben, so gestatten zum Beispiel die Wohnverhältnisse von heute ziemlich sichere Rückschlüsse auf die Vergangenheit. Und in wieviel Einzelheiten bietet das heutige Euphrat- und Tigrisland Analogien für das Altertum!
Als ich am 30. April unter glühender Hitze die Ruinenstätte Nimrûd (Abb. 16), unter welcher die sogenannte ninevitische Südstadt Kelach begraben liegt, besucht und durchforscht hatte und ziemlich ermüdet zu meinem Floss zurückkehrte, fand ich den Tigris wie das Floss über und über bedeckt mit Heuschrecken, welche uns dann zwei und einen halben Tag nicht mehr verliessen. Obschon wir die vom Propheten Joel so anschaulich geschilderten, gleich einem Pferd springenden und durch jede Ritze wie ein Dieb eindringenden Tiere zu Tausenden in die Fluten des Tigris schaufelten, so schien sich ihre Zahl doch nicht zu vermindern. Ich selbst war durch dieses Reiseabenteuer sehr erfreut. Denn da der König Sanherib in dem Bericht über seinen achten Feldzug erzählt, dass die Feinde gegen ihn heranmarschiert seien so zahlreich »wie ein Frühlingsheuschreckenschwarm«, so durfte ich hoffen, diese Stelle meinen Studenten von jetzt ab ungleich lebendiger erklären und anschaulicher machen zu können denn vordem. – In der Palmenkultur ist alles, zum Beispiel die künstliche Befruchtung der weiblichen Palme durch männliche Blütenrispen, genau so geblieben wie in uralter Zeit. – Die Schöpfwerke (Abb. 17) entsprechen genau noch den altbabylonischen: ein Esel, Stier oder Pferd geht eine Abschrägung hinauf, wodurch sich der zum Schöpfen dienende Schlauch in das Wasser hinabsenkt, dann dreht das Zugtier um und geht den Abhang hinunter, wodurch der gefüllte Schlauch emporgezogen wird und sich von selbst in die Rinne ergiesst. So quietscht und knarrt es noch heute flussauf und flussab wie in den ältesten Zeiten, ja sogar die altbabylonische Benennung der vom Fluss bis an den Dschird geführten Rinne, nämlich rât, hat sich bis heute im Munde der Einwohner erhalten.
– Auch die Geräte der Ackersleute, der Töpfer und Goldschmiede haben sich während der Jahrtausende um nichts geändert: primitivere Werkzeuge als jene, welche die von mir am 23. Juli in Nasrije besuchten Töpfer und Goldarbeiter benutzten, konnten auch die ältesten Babylonier nicht haben. – Kein Araber weiss, wie alt er ist, was für die dortigen, mit Nasenringen geschmückten Schönen sehr angenehm ist. Als ich einen jungen Araber fragte, wie alt er sei, schüttelte er mit dem Kopf. Dann hob er seinen Daumen auf und sagte: In dem Jahre wurden die Palmen dort gepflanzt; in dem Jahre (den Zeigefinger emporhebend) kam Musju Butrus, das ist Mr. Peters über das Meer; in dem Jahre (den dritten Finger erhebend) war der und der Wali-Pascha in Bagdad – und in dem Jahre (den vierten Finger zeigend) kam ich. Da Professor Peters im Jahre 1889 die Ausgrabungen in Nippur begann, so konnte verhältnismässig leicht nachgerechnet werden, dass der junge Mann 13 Jahre alt war. Aber genau so, nach hervorragenden Ereignissen, benannten die alten Babylonier, etwa zur Zeit Hammurabis, die Jahre: Jahr, da die Stadt Isin erobert wurde; Jahr, da der Thron des Gottes Marduk in Esagila gegründet ward, u. s. w. – Die ärztliche Kunst hat seit babylonischer Zeit innerhalb der eingeborenen Bevölkerung keine Fortschritte gemacht. Hat ein Araber Kopfweh, so dient ihm als Migränestift ein glühend gemachter Hundeknochen, mit dem er sich auf die Stirn brennt; genau so werden Leibschmerzen behandelt. – Zur Heilung oder Hintanhaltung von Augenkrankheiten verschlucken die Araber sieben Granatblüten – noch immer lebt die Heiligkeit der Siebenzahl fort. Und als wir (am 19. Juli) am Euphratufer bei dem Dörfchen el-Chidr unweit von Warka unsre Zelte aufgeschlagen hatten, sahen wir bei dunkelnder Nacht ein brennendes Licht auf dem Strom schwimmen und erhielten auf unsere Frage, was das zu bedeuten habe, die Antwort: jedes Dorf, an welchem dieses Licht vorbeikommt, bleibt in diesem Jahre vom Fieber verschont. Es ist die Macht des Feuergottes, welcher auch nach altbabylonischem Glauben alle bösen Mächte bannt.
Aber das Lehrreichste bleibt doch, die grossen Zeugen der Vergangenheit selbst zu befragen und den Trümmerhügeln, welche die babylonische Ebene weit und breit decken, die Kunst- und Schriftdenkmäler früherer hoher Kulturepochen zu entreissen.
»Ce serait« – so schrieben Perrot und Chipiez in ihrer Histoire de l'Art dans l'Antiquité, II, 1884 (p. 470) – »ce serait une noble entreprise que de sonder à fond les trois ou quatre grandes ruines qui se dressent sur le site de Babylone et d'explorer soigneusement tout le terrain qui les avoisine. Cette recherche serait longue et coûteuse, mais elle ferait certainement honneur au gouvernement qui en supporterait les frais... En attendant que sonne l'heure de ce grand effort, il nous paraîtrait oiseux de nous engager dans les discussions auxquelles a donné lieu la topographie de Babylone«... Diese Worte klingen wie eine Prophezeiung auf das grosse Werk, welches jetzt die Deutsche Orient-Gesellschaft drüben in Babylon verrichtet. Dieses ihr Werk besteht darin, die Topographie Babylons aufzuhellen, eine neue Wissenschaft, nämlich die babylonische Archäologie, festgründen und ausgestalten zu helfen, und über die Geschichte der Alten Welt, die älteste Menschheitsgeschichte neues Licht zu verbreiten.
Wir halten es jetzt für kaum mehr begreiflich, dass wir uns von Herodot Jahrhunderte hindurch einreden liessen, Babylon habe einen Umfang von 90 km gehabt, das heisst: es habe einen Raum bedeckt, auf welchem London und Paris nebeneinander Platz hätten, und sei rings umschlossen gewesen von einer Mauer von der Dicke der Front eines 10-12fenstrigen Hauses und einer Höhe, die dem Turme der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche zu Berlin entsprechen würde. Aber wir mussten es um so sicherer glauben, als Jules Oppert von der französischen Expedition (1851-1854) einen Plan Babylons (Abb. 18) heimgebracht hatte, welcher durch allerlei kleine, drüben vorgefundene und vermeintlich Tore und Türme bezeichnende Hügel die Angaben Herodots durchweg bestätigte.
Wir wissen jetzt endgültig, was längst vermutet worden war, dass auch Oppert durch Herodot sich hat täuschen lassen. Denn die erhaltenen Ueberreste Babylons bezeugen handgreiflich, dass der Umfang der babylonischen Hauptstadt nur 15 km betrug, Babylon also so gross war wie etwa München oder Dresden – eine für eine orientalische Stadt immerhin sehr bedeutende Grösse, zumal wenn wir bedenken, dass an die eigentliche Stadt sich noch Vorstädte mit ausgedehnten Pflanzungen anschlossen. Dank den deutschen Grabungen kennen wir die Topographie Babylons bereits ziemlich genau. Von den auf Abb. 19 durch lateinische Initialen hervorgehobenen Ortslagen bezeichnet der Hügel Kasr (A) die Königspaläste Nabopolassars und seines Sohnes Nebukadnezars, der Hügel Amran ibn-Ali (B) die des grossen babylonischen Nationalheiligtums, des Palastes Himmels und der Erde, des Marduk-Tempels Esagila. Diese Gebäude waren ursprünglich die einzigsten, die durch gewaltige Mauern befestigt waren.
Die Wohnungen des Volkes, welche sich zu Füssen der Palast- und Tempelstadt breiteten, wurden erst später durch eine Mauer geschützt; zunächst eine innere, von welcher besonders der von Nord nach Süd, östlich von dem Hügelkomplex Homeira sich hinziehende Mauerzug (C) deutlich erkennbar ist, und als die Stadt mehr und mehr sich vergrösserte, noch durch eine äussere (D), welche zunächst den Trümmerhügel Babil (E), wahrscheinlich ebenfalls die Stätte eines Nebukadnezar-Palastes, im Norden und Osten mit umschloss und dann auf ihrer ganzen von Nordwest nach Südost (ca. 3½ km) und von Südost nach Südwest (3 km) verlaufenden Ausdehnung leicht genug verfolgbar ist. Und betrachten wir den Hügel Kasr im Speziellen an der Hand unsrer Grabungen, so birgt er (Abb. 20) in seinem südlichen Teile die Paläste Nabopolassars und den älteren Palast Nebukadnezars. Während der erstere (a) noch der Ausgrabung harrt, ist von dem letzteren (b) eine grosse Reihe von Gemächern blossgelegt, unter ihnen der mächtige 18 : 52 m grosse Thronsaal (c), in dessen Südwand noch die Thronnische erkennbar ist, während an seiner dem Hofe zugewendeten Nordfassade farbenprächtige, Kapitelle und Rankenfriese darstellende Ornamente aus bemalten und glasierten Ziegeln in Bruchstückengefunden wurden.
Dagegen war der nördliche Teil des Hügels Kasr (d) hauptsächlich von dem auf einer Terrasse aus Ziegelbruchwerk ( pitik agurri) errichteten zweiten Palast Nebukadnezars eingenommen; Abb. 21 zeigt Teile dieses pitik agurri und auf ihm aufstehend die gewaltigen Fundamentmauern, auf welchen einst der die Stadt hoch überragende Königspalast stolz zum Himmel emporstrebte. Es ist äusserst dankenswert, dass die babylonischen königlichen Hauherren den Grundriss ihrer Palastgemächer schon in den untersten Fundamentmauern mit allen Wanddurchbrechungen anlegen liessen, sodass, wenn auch der eigentliche sichtbare Palast zerstört ist, dennoch aus den erhaltenen Grundmauern der Grundriss des Palastes selbst rekonstruiert werden kann.
Wir kennen weiter die Prozessionsstrasse des Gottes Marduk (e), von der die berühmten emaillierten Ziegelreliefdarstellungen des »Löwen von Babylon« (Abb. 22) herstammen; der viel und vergeblich gesuchte Tempel E-mach (f) ist jetzt gefunden; und im letztvergangenen Jahre (1902) galten unsre Ausgrabungsarbeiten vor allem dem durch den Buchstaben g gekennzeichneten Platze. So (Abb. 23) sah diese Stelle aus im Beginn unsrer Grabungen: der Ueberrest einer Wand von glasierten Ziegeln ragte aus der Erde empor, und darunter wurde der obere Teil eines reliefierten Stiers sichtbar.
Und fast gleichzeitig ward ein mächtiger Steinblock (Abb. 24) gefunden, dessen Inschrift zwar zum Teil zerstört war, immerhin aber noch klar die Worte Istartor erkennen liess, sodass jene Stelle als die Stätte des berühmten grossen Tors von Babylon, genannt Tor der Göttin Istar, bezeugt war.
Und nun ging es tiefer und tiefer bis hinab auf das Grundwasser: die aus dem Erdinnern emporsteigenden Pfeiler allesamt von oben bis unten bedeckt mit einfach reliefierten Stieren und Drachen, ebenso die Türme rechts und links vom Toreingang (Abb. 25 u. 26), bis endlich das ganze grosse Prachttor von Babylon, durch welches die Prozessionsstrasse hindurchlief, mit seinem Hauptdurchgang, seinen Innengemächern und Nebenbauten von Nord bis Süd blosslag – die erste entdeckte grosse babylonische Toranlage (Abb. 27).
Zugleich erhielt der Löwe von Babylon durch die in den obersten Schichten zu Tausenden gesammelten farbig glasierten Reliefziegelbrocken zwei Kameraden, den Stier (Abb. 28) und den Drachen von Habel (Abb. 29) – alles wertvollste Denkmäler eines spezifisch babylonischen, wahrscheinlich auf Nebukadnezars eigenste Initiative zurückzuführenden Kunstzweiges, welcher in solch staunenswerter Vollkommenheit seiner Ausführung auch von den Künstlern der Achämenidenzeit nicht wieder erreicht wurde.
Schon das bisher Erzählte dürfte gezeigt haben, dass unsre Expedition unter ihrem ausgezeichneten Leiter Koldewey bestrebt ist, die babylonische Archäologie auf immer festere Grundlagen zu stellen. Während es früher vorkommen konnte, dass ein Tempel mit einem Palaste, das Postament einer Götterstatue mit einem Altar verwechselt wurde, haben wir jetzt bis ins Einzelnste genaue Tempelpläne, wie z. B. diesen hier vom Tempel E-mach, dem Tempel der Göttin der Geburt, Nin-mach (Abb. 30). Wir treten durch das Nordtor des aus ungebrannten Ziegeln gebauten und mit einfachem Kalkabputz versehenen Tempels in den grossen Tempelhof ein, aus welchem ein von turmartigen Vorsprüngen geschmückter Eingang in die eigentlichen Tempelräume führt, zunächst in ein grosses Gemach (a) und dann in das Allerheiligste des Tempels (b), kenntlich an der dem Türeingang gegenüber befindlichen Wandnische, in welcher einst auf einem Postament sich das Bild der Göttin erhob.
Bei einem andern Tempel Babylons wurde hinter den drei Götterzellen ein Gang entdeckt (vergl. das apokryphische Buch vom Bel zu Babel), welcher den heimlichen Zugang zu allen drei Zellen ermöglichte, während bei dem grossen Nebo-Tempel Ezida zu Borsippa, ausser einer Fülle von Tempelräumen und grossen und kleinen Höfen, rings um den Tempel her die zahlreichen Wohnungen der Priester und Priesterinnen aufgefunden wurden. Ja, auf dieser hier im Bilde (Abb. 31) vorgeführten Ruinenstätte Babyloniens ist unserm Expeditionsmitgliede Andrae ein ganz eigenartiger Fund gelungen.
Unsere Archäologen drüben haben die interessante Beobachtung gemacht, dass bei einem bestimmten Feuchtigkeitsgrad sich die aus Lehmziegeln bestehenden Gebäudemauern auf der glattgewehten Oberfläche durch hellere oder dunklere Schattierung abheben, und auf jenem Ruinenhügel lagen die Verhältnisse so günstig, dass der unter ihm begrabene Tempel wie ein leise getuschter Grundriss in Naturgrösse auf dem glatten Boden sichtbar wurde und, wie Andrae mitteilt, nur gemessen zu werden brauchte. Und so haben die Röntgenstrahlen des Scharfblicks dieses Archäologen einen Tempel an das Licht gebracht, der noch unter der Erde begraben liegt (Abb. 32).
Wir sehen den gewaltigen Hof (a), von dem man durch einen Torbau zu dem Heiligtum gelangte, sehen die Zella (b) mit ihrer Nische und die beiden Türen der Nischenwand, ferner einen kleineren Hügel (c), welcher vielleicht den einstigen Brandopferaltar darstellte, und viele andre Tempelgemächer.
– Und gleich der Architektur in ihren verschiedenen Zweigen und Hunderten von Einzelfragen empfangen viele andre Gebiete der babylonischen Archäologie – ich erinnere nur an die mannigfache, aber immer höchst primitive Bestattungsweise in Terrakottasarkophagen – durch unsre Grabungen willkommenes Licht.
Von Babylon aus machten wir einen Abstecher nach Fara, drei starke Tagereisen südlich von Babylon, eine Ruinenstätte ältester babylonischer Zeit. Wir hatten zuerst Zelte aufgeschlagen (Abb. 33) nordwärts von dem auszugrabenden Hügel, während unsre Arbeiter sich sogenannte Zrefen erbauten (Abb. 34), d. h. Hütten, bestehend aus mehreren paarweise gegeneinander gebogenen und fest verbundenen Schilfrohrbündeln, über welche Schilfmatten gebreitet werden, während die eine offene Seite mit Erde oder Wüstensträuchern ausgefüllt wird.
Wir selbst bezogen schon bald eine von Koldewey erbaute Burg, eine sogenannte Kal'a (Abb. 35), einen von einer Mauer mit vorspringenden Türmen und Einem Tore (Abb. 36) umschlossenen Raum, innerhalb dessen wir ein jeder seine eigne Wohnhütte hatten, neben einem gemeinsamen Speise- und Empfangsraum (Abb. 37). Von unsern arabischen Arbeitern drüben in Fara wie in Babylon mögen die Abb. 38 und 39 einen Begriff geben: die zur Mittagspause gelagerten Arbeiter malen sich gewiss aus, wie sie ihren Arbeitslohn später einmal anwenden werden, und träumen bereits von dem Kauf einer Flinte und einer neuen Frau.
Da alle in Fara gemachten Funde der ältesten babylonischen Zeit, also mindestens dem dritten Jahrtausend v. Chr. angehören, so eignet einem jeden von ihnen besondere Bedeutung, wie zum Beispiel dieser überwölbte Kanal (Abb. 40) für die Geschichte der Baukunst immerhin ein gewisses Interesse beansprucht.
In dem Schutt eines abgebrannten Hauses aber wurden 235 gut erhaltene gebrannte Tontafeln gefunden, und wir dürfen angesichts ihrer sehr altertümlichen Schriftzeichen hoffen, dass eines der anziehendsten Probleme der babylonischen Archäologie, mit welchem sich die Keilschriftforschung gegenwärtig mit Vorliebe beschäftigt, erhebliche Förderung finden werde – ich meine das Problem der Entstehung der Keilschriftzeichen.
Die Assyriologen dürfen sich in Wahrheit rühmen, dass sie trotz der anfänglichen Missgunst, Anfeindung, Zweifelsucht der angrenzenden Forschungsgebiete ihre Hände nicht in den Schoss gelegt haben, sondern in verhältnismässig kurzer Zeit und trotz der verhältnismässig geringen Zahl der Mitarbeiter über viele ausnehmend schwere Hindernisse Herren geworden sind. Gerade vor 100 Jahren (September 1802) war es dem Scharfsinn des jungen hannoveranischen Gymnasiallehrers Georg Friedrich Grotefend gelungen, in die bis dahin so ganz unbekannten Keilschriftzeichen, wie sie z. B. die erste Zeile der Abb. 41 zeigt, Licht zu bringen, indem er, unter Verwertung der Beobachtungen andrer Gelehrten, dass der schräge Keil ein Worttrenner sein und eine besonders häufig wiederkehrende Zeichengruppe König bedeuten müsse, die beiden kleinen Inschriften G und B so geschickt kombinierte, dass er in der Zeichengruppe b den Namen des Gründers einer Achämenidendynastie erblickte, weil auf c nicht die »Königs«gruppe folgt, dagegen im »König a« den Sohn des »Königs b« vermutete, und daraufhin, so wie es Abb. 42 zeigt, b als Namen des Königs Darius, a als Namen des Königs Xerxes entzifferte – eine wahrhaft geniale Tat, welche seitdem ihre Besiegelung erfahren hat durch eine jetzt im Medaillenkabinett der Bibliothèque Nationale zu Paris bewahrte Alabastervase, auf welcher in Keilschrift der Name stand, den Grotefend als Xerxes, und in Hieroglyphenschrift der Name, den Champollion ebenfalls als Xerxes gedeutet hatte! Und seitdem seit etwas über 50 Jahren die Keilschriftstudien in grösserem Massstab aufgenommen wurden, ist es gelungen, die persische, die babylonisch-assyrische, die altsusische sowie die armenische Keilschrift zu entziffern und die ununterbrochen immer mächtiger anschwellende Keilschriftliteratur Babyloniens und Assyriens mittels strenger philologischer Methode nach Grammatik und Wortschatz und Inhalt zu erschliessen.
Ja, wir dürfen jetzt schon die Entwicklung der Keilschriftzeichen durch die langen Jahrhunderte hindurch rückwärts bis in jene fernste Zeit des sumerischen Altertums zurückverfolgen, da man noch linear und überdies vertikal, nicht horizontal schrieb.
Warum – so lautet das Rätsel, welches uns Abb. 43 aufgibt – bezeichneten die Assyrer mit diesen Schriftzeichen den Himmel, gehen, Hand, Getreide u. s. w.? Und Abb. 44 bringt für diese Zeichen (und könnte es noch für viele andre tun) die Lösung des Rätsels. Denn indem wir bis zu den ältest erreichbaren Formen vordringen und dabei beobachten, wie man möglichst bemüht war, krumme Linien in gerade umzusetzen, erkennen wir noch die ursprünglichen Bilder, mit welchen die Schrifterfinder Gegenstände und Begriffe malten. Wir sehen den achtstrahligen Stern, den Fuss, die Hand mit den vier Fingern und dem gebogenen Daumen, die Kornähre, die über dem Horizont aufsteigende Sonne, den Fisch (der sich genau so noch heutzutage auf den Euphratschiffen abgemalt findet), den schwimmenden Vogel, die rohen Umrisse eines Kopfes. Und da es sich als unmöglich erwies, einen grossen Gegenstand von dem entsprechenden kleineren auch in der Schrift durch Nachbildung zu unterscheiden, kam man auf den Gedanken, den Begriff gross durch vier Parallelstriche zum Ausdruck zu bringen. Wir finden diese Striche nicht allein in dem Adjektiv »gross«, sondern in vielen andern Schriftzeichen: während z. B. der einfache Fuss »gehen, stehen, Standort« bezeichnet, dient er, mit vier Linien »beschwert«, dazu, um einen grossen Standort, das Postament eines Thrones, das Fundament eines Hauses oder einer Stadt graphisch wiederzugeben.
Ein Aufenthalt drüben in Babylonien erweist sich, scheint mir, selbst für diese subtilen Fragen der ältesten Keilschriftformen lehrreich. Auf Abb. 45 sehen wir in 1 a das übliche assyrische Zeichen für Tongefäss, die daneben an vorletzter Stelle gegebene Zeichenform führt aber mit innerer Notwendigkeit auf die an letzter Stelle gegebene, d. h. auf das Bild eines Tonkruges, wie solche in Fara in grosser Menge gefunden wurden. Und da wir in 1 b das ziemlich genau entsprechende Zeichen auf einem andern aufstehend sehen und das Ganze u.a. das »Gestell« bedeutet, so scheint mir kein Zweifel möglich, dass wir hier das Bild eines Holzgestells vor uns haben, wie sie noch heute drüben im Gebrauch sind, um als Untersatz für einen oben einzufügenden, unten spitz zulaufenden Tonkrug zu dienen. Und das Zeichen 2 b für »tragen«, welches sich als Kombination des Zeichens für »Kopf« und auf ihm des Zeichens für eine grosse Schale, ein grosses Becken, u. dergl. darstellt, zwischen beiden die unter einem rechten Winkel sich treffenden zwei Linien, welche die Balance bezeichnen, erinnert an eines der alltäglichsten Bilder des Orients: die zum Flusse gehenden und die schweren Wassergefässe auf dem Kopf tragenden kurdischen und arabischen Frauen. Das Zeichen 3, dessen ältest erreichbare Form an dritter Stelle gezeigt ist, bedeutet ganz allgemein schaffen, machen, bilden, schneiden (z. B. Steine)« – sollte ich mich täuschen, wenn ich hierin das Bild jener primitivsten Feuersteinwerkzeuge erblicke, deren Bruchteile zu Hunderten auf dem Hügel Fara und sonst umherliegen und deren eine Seite ein scharfes Messer, deren andere eine gezackte Säge bildet?
Wir beide sind gut Freund. – so sagt man drüben und legt dabei die beiden Zeigefinger parallel aneinander, wogegen das Kreuzen dieser beiden Finger, wobei die oberen Fingerglieder zumeist eingebogen werden, die Feindschaft symbolisiert. Sollte diese heutzutage gemeinübliche Fingersprache nicht schon aus ältester Zeit datieren und in den Zeichen 4 für »Genosse, Freund« und 5 »Feind« wiederzuerkennen sein? Und wenn wir von Fara aus allabendlich von dem Horizonte der Wüste in schärfsten Umrissen das Schlussbild unsrer Abb. 45, die von einem Turm (meftûl) überragte Mauer, sich abheben sahen, so trat mir immer und immer wieder das Schriftzeichen 6 vor die Seele, welches von uralters her eine geschützte Niederlassung bezeichnet.
Aber noch wichtiger als all dies ist doch die Aufhellung der alten und ältesten Menschheitsgeschichte mittels der drüben in babylonischer Erde ausgegrabenen Schriftdenkmäler. Hier steht unsrer Expedition noch ein weites Feld bevor. Denn auf dem eigentlichen Stadtgebiet von Babylon haben wir bislang nur erst vier Gräben gezogen, welche doch bereits Hunderte von Tontafeln ans Licht gebracht haben, und noch ein weites, weites Areal ist unberührt. Und wer weiss erst, was der mächtige Trümmerhügel Amran ibn-Ali für Schätze unter sich birgt? Nur müssen wir uns bei Esagila auf grosse Geduld einrichten, da die Ruinen dieses Marduktempels 23 m tief unter der Oberfläche des Hügels begraben liegen, also eine Schütthöhe hinweggeräumt werden muss, welche etwa sechs Etagen eines gewöhnlichen Hauses entspricht. Und doch, welche Fülle von Licht ist bereits diesen in Babylon gefundenen Schriftdenkmälern entströmt!
Wurde doch dort vor einigen Jahren auf dem in Abb. 46 gezeigten Tonfässchen (baril) die sogenannte Proklamation des Königs Cyrus an die Babylonier gefunden, welche uns im Verein mit den Annalen der Belspriesterschaft lehrt, dass alles, was Herodot über die Einnahme Babylons durch Cyrus zu berichten weiss: wie der Perserkönig den Euphrat habe ableiten lassen und seine Krieger durch das trockengelegte Bett des Stromes und durch die eisernen Pförtchen an seinem Ufer in das Innere der Stadt eingedrungen seien, – dass all dies von A bis Z freie Erfindung ist. Wir wissen jetzt, dass das persische Heer »ohne Kampf und Schlacht« in Babylon einzog, indem die Stadt durch Verrat übergeben wurde. Die Babylonier fraternisierten mit den persischen Truppen, und als kurze Zeit darauf Cyrus selbst feierlich einzog, breiteten ihm die Bewohner der Stadt Palmenzweige auf den Weg. Ja, sogar was Herodot über die zweite Eroberung Babylons durch Darius Hystaspis erzählt, müssen wir, so leid es uns tut, endgültig in das Gebiet der Sage verweisen. Von der ganzen fesselnden Erzählung, wie Darius 20 Monate hindurch vergeblich vor den Mauern Babylons lag, ohne die Stadt einnehmen zu können, wie sich dann einer seiner Grossen, Zopyrus mit Namen, Nase und Ohren abschnitt und schliesslich durch eine List die Stadt für seinen König eroberte, bestätigt sich nichts. Denn nachdem schon früher gefundene Denkmäler uns genötigt hatten, die Dauer der Belagerung auf sechs Monate herabzusetzen, beweist jetzt ein von unsrer Expedition im vorigen Jahre gefundenes Tontäfelchen, welches von Mehllieferungen handelt, durch die in ihm enthaltenen Zeitangaben, wie unser gelehrter Assyriologe Dr. Weissbach rasch erkannte, dass die Belagerung höchstens wenige Tage gedauert haben kann.
Fast unmittelbar nach der entscheidenden Schlacht bei Zazannu rückte auch das Heer des Darius in Babylon ein. So entpuppt sich Herodot, der Vater der Geschichte, als ein erstes Opfer orientalischen Fabulierens. Wir waren ja schon längst an seiner Glaubwürdigkeit irre geworden. Denn wer hätte ihm glauben wollen, dass es babylonische Sitte gewesen sei, die Kranken auf den Marktplatz zu bringen, und dass es streng verboten gewesen sei, an einem Kranken vorbei zu gehen, ohne ihn wenigstens zu fragen, was ihm fehle? So töricht haben die Babylonier ihre Kranken gewiss nicht gefoltert. – Fürwahr: »ex Oriente lux!« bewährt seine Wahrheit auf allen Gebieten, auch für die Würdigung der Geschichtsschreibung Herodots.
So sei denn das gewaltige Werk, welches die Deutsche Orient-Gesellschaft drüben auf der Ruinenstätte Babylons vollführt, allen Freunden von Kunst und Wissenschaft von neuem ans Herz gelegt! Die huldvollste Unterstützung aber, welche Seine Majestät der Sultan allen deutschen archäologischen Unternehmungen und allen deutschen Forschungsreisenden auf dem Boden seines weiten Reiches andauernd zu gewähren geruht und welcher die deutsche Wissenschaft allzeit dankbarst eingedenk bleiben wird, sie bleibe auch der Deutschen Orient-Gesellschaft in alle Zukunft gnädigst erhalten!
Schon jetzt, da die Assyriologie erst anfängt, die im babylonischen Boden begrabenen Schätze zu heben, verdanken wir ihr eine Unsumme neuer Erkenntnisse auf den verschiedensten Gebieten. Wird sich das Abendland der »Wiege der Kultur« dankbar erweisen?
Nach mehr als 3000jährigem Bestande ist Babel und die babylonische Kultur dem Untergange verfallen, wie dies das Los alles Irdischen ist. Babel ist eine Trümmerstätte geworden, und Schakale wohnen in seinen Ruinen. Aber noch wölbt sich Gottes blauer Himmel über Babel und waltet ar-Rahmân ar-Rahîm, »der Allbarmherzige, der Gnädige«, auch über dem babylonischen Lande, er wird den glimmenden Docht gewiss nicht für ewig verlöschen.
Nein, wenn ich am Sonntagmorgen, da unsre Arbeiten ruhen und auch unsre arabischen Arbeiter mit uns feiern, meinen Blick schweifen liess von den Trümmerhügeln Babylons nach dem Silberbande des Euphrat (Abb. 47) und den seine Ufer umsäumenden Palmen (Abb. 48), wenn auf grünender Steppe Schafe und Ziegen weideten und in der Ferne eine Karawane ihrem nahen Ziele, dem Städtchen Hilleh, froh zustrebte, dann zog es wie Frühlingshoffen durch meine Seele, dass auch für das Land des einstigen Paradieses der Gott der Liebe und des Friedens eine neue Aera heraufführen werde. Und dann richtete sich mein geistiger Blick nordwestwärts, nach den mesopotamischen Städten Urfa und Diarbekr, wo mutige deutsche und schweizer Männer und noch mutigere Frauen sich haben bereit finden lassen, die Segnungen der abendländischen ärztlichen Kunst auch den Türken, Arabern, Armeniern und Kurden zu vermitteln und mit Werken christlicher Nächstenliebe viel Trost und Freude zu bereiten und Vertrauen und Gegenliebe zu erwecken. Wir sehen hier (Abb. 49) in dem Vorhofe der Klinik von Urfa, wie die zum Teil recht wild aussehenden Gestalten sich drängen, von ihren Angehörigen oft weit hergebracht, um die Hilfe des deutschen Arztes Dr. Christ in Anspruch zu nehmen, sehen in Abb. 50 die ärztliche Behandlung der Kranken unter Assistenz von Pflegerinnen, in Abb. 51 einen Araber, dem der rechte Arm durch einen Schwerthieb verwundet worden und jetzt nach der Heilung durch Elektrisieren wieder völlig brauchbar gemacht wird.
Auch noch ein andres Sonntagsbild trat vor meine Seele. Schon als wir einst eine Stunde vor Urfa nach mehrtägiger Tour durch die menschenarme Steppe, durch felsige Halden und einsame Täler die erste Telegraphenstange wieder erblickten, ward das Herz – es klingt vielleicht seltsam und ist doch so wahr – in eine eigenartig freudige Stimmung versetzt: man fühlte sich wie durch Zauberschlag plötzlich der Welt und damit den Seinen wieder so nahe. Aber als es dann über den verfallenen steinigen Friedhof von Urfa in die an Felsenhöhen angebaute Stadt selbst hineinging, allüberall so ernst dreinblickende Menschen, gleich als läge die Erinnerung an das letzte Massacre noch wie ein Schreckgespenst über der unglücklichen Stadt, und als ich durch einen dunklen Toreingang eintrat in den weiten Hof einer früheren Karawanserai – da, welch beseligender Anblick (Abb. 52)! fröhliches Lachen und Spielen und munterer Reigentanz einer grossen Schar von sauber gekleideten Knaben und Mädchen, armenischer Waisenkinder, welche die Deutsche Orient-Mission unter ihre Obhut genommen und fortdauernd liebevoll und opferfreudig unter ihrer Obhut behält. Nach den immer von neuem ernst stimmenden Eindrücken der vorhergegangenen Reise erfüllte der Aufenthalt in unserm deutschen Waisenhause in Urfa die Seele mit unaussprechlicher Freude und – Hoffnung für das ganze Land.
Und noch einmal blicken wir von Babylonien aus nordwestwärts, wohin Hoch und Niedrig, Offiziere wie Kaufleute sehnsüchtigst ausschauen, woher das ganze Land von Bagdad bis Basra den Segen der Kultur erhofft, der sogar Ländern wie Afrika und Sibirien zu teil ward – die Bahn, welche, in unzertrennbarer Verbindung mit der Regulierung der Ströme und Kanäle, Bahn brechen wird einer neuen Zeit, einer schöneren Zukunft für Städte und Dörfer, für alle Bewohner des babylonischen Landes, dieses Kleinods des türkischen Reiches.
Als ich vor elf Jahren eines Abends zum ersten Mal in Aja Sofia stand, sagte ich, überwältigt von den gewaltigen Dimensionen dieses wundervollen Gotteshauses, überwältigt von den Erinnerungen dieser weltgeschichtlichen Stätte, zu dem Imam, mit dem ich mich unterhielt: Morgen komme ich wieder! Da hob er seinen Finger auf – ich werde den Moment nie vergessen – und sagte mit ernster Miene zu mir: Inscha Allah, so Gott will«. Und als ich mich jetzt in Bagdad von dem Wali verabschiedete, sprach er: einst war dies Land ein Paradies, jetzt ist es ein Fegefeuer, aber es wird dereinst wieder ein Paradies werden, inscha Allah! Was könnten wir Besseres tun, als uns mit ihm vereinen in dem heissen Gebetswunsch, dass Gott solches wolle, bald wolle, inscha Allah!
Der vorstehend veröffentlichte Vortrag wurde am 17. April 1903 in der Singakademie zu Berlin im Beisein Seiner Majestät des Kaisers und Königs und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin vor der Deutschen Orient-Gesellschaft gehalten.
Hauptdaten meiner babylonischen Reise 1902: Abreise von Berlin 18. März. Audienz bei Seiner Majestät dem Sultan 21. März. Ankunft in Alexandrette 6. April, in Aleppo 8., in Urfa 14., in Diarbekr 20., in Mosul 27. April. In Kal'at Schirgat 1. Mai. In Bagdad 4.–6. Mai, in Babylon 7. Mai bis 13. Juni. Aufbruch nach Fara 14. Juni, in Fara 19. Juni bis 13. Juli. Nach Südbabylonien am Abend des 13. Juli. In Ur Kasdim 24. Juli. Zurück in Bagdad 2. August. In Akarkuf 6., in Abu Habba 7., in Birs (Borsippa) 9. August. Abfahrt von Bassora nach Bombay 23. August, in Maskat 30. August, in Bombay 5. September. Abfahrt von Bombay 6., in Aden 12., in Port Said 16./17. September. Landung in Marseille am 21. September.
Der Bilderschmuck dieses Vortrags ist zum Teil den photographischen Aufnahmen der Herren Dr. Koldewey und Andrae zu verdanken.