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Mißtrauisch und wie furchtsam stieg Gavina die feuchte Schiffstreppe hinunter, als hätte sie Angst, sie könnte ins Meer fallen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, ihr Gesicht war düster und leichenblaß. Francesco ließ sie nicht aus dem Auge, nahm sie beinahe in die Arme um ihr in das Boot zu helfen und breitete sorgsam eine Decke über ihren Sitz. Seit ihrer Abreise hatte er sich unausgesetzt um Gavina bemüht wie um eine Kranke; sie klagte nicht und war geduldig und fügsam, aber aus ihrem Gesicht sprach tiefe Traurigkeit. Nur der Anblick des Meeres schien sie hin und wieder von ihrem steten Gedanken abzulenken und ein Gefühl der Bewunderung in ihr zu wecken, das indes von einer unbestimmten Furcht nicht frei war. Während das Boot sie vom Dampfer nach dem Lande hinüberführte, beugte sie sich über den Rand und bekreuzte sich mit dem Meerwasser.
»Der Weihkessel ist groß und Wasser ist genug darin«, scherzte Francesco. Doch auch sein Gesicht war grau und wie zusammengeschrumpft durch die böse Nacht auf dem Meere und die heimliche Sorge, die Gavina ihm bereitete.
Allmählich aber schien die frische Luft und die Nähe des Landes sie beide wieder zu beleben. Er knöpfte den Überzieher auf, dessen Kragen er bis jetzt in die Höhe geschlagen hatte, und sie betrachtete den melancholischen alten Turm auf dem Molo, der sich von einem dichten Nebelschleier abhob und unmittelbar aus dem aschgrauen Wasser des Hafens aufzuragen schien. Der Morgen war fast lau, aber ein leichter rosiger Dunst verhüllte den Himmel wie an einem Herbstmorgen. Zwischen den Masten der Schiffe hindurch erschien die ebenfalls in Dunst gehüllte Stadt wie hinter einem kahlen Gehölz; man vernahm verworrenes Geräusch, das Klirren von Eisen, den Schall der Nebelhörner, der wie das Geheul wilder Tiere klang; und während Gavina, inmitten einer phantastischen Schar von Seeleuten, den Fuß auf das Land setzte, ertönte ein furchtbares, laut widerhallendes Dröhnen. Sie erbebte. Die Männer nahmen die Mützen ab, und ein alter Seemann kniete nieder.
»Was ist das?« fragte Francesco.
»Eine Artilleriesalve«, erwiderte einer. »Man überführt die Leiche eines in Afrika gefallenen Offiziers.«
Und Gavina gedachte des andern Toten, der ihr doch keinen Augenblick aus dem Sinn kam. War es nicht, als verfolge sie das Schicksal und begrüße sie durch jene Totensalve beim Betreten des fremden Bodens? Als sage es ihr: ich bin hier und warte auf dich?
»Ist dir kalt?« fragte Francesco, indem er ihr in einen kleinen Wagen hineinhalf. »Du bist müde, nicht wahr? Und dem Mantel ist zu leicht.«
»Wir wollen einen andern kaufen«, erwiderte sie und bemühte sich, ihren Geist von dem quälenden Gedanken loszureißen.
Sie fuhren durch die Stadt, die ihr in dem Nebeldunst ganz schwarz und gelblich erschien; und dann war sie wieder in der Eisenbahn, sah noch einmal das Meer, dann die gewellte Campagna und ferne Berge in sonnengoldenem Duft, die sie an die heimatlichen Berge erinnerten. Ihre Augen irrten von einem Punkte zum andern – aber die an einem weitentlegenen Erdenfleck haftenden Gedanken folgten ihnen nicht.
Francesco, der seinen gewohnten Frohmut wiedergefunden hatte, legte den Arm um sie, trotz der Anwesenheit anderer Reisender, wärmte ihr die Hände und flüsterte ihr zärtliche Worte ins Ohr. Sie schien ihn gar nicht zu bemerken – und doch wünschte sie, die Reise möchte kein Ende nehmen, damit sie nicht allein bliebe: sie fürchtete sich vor dem, was sie erwartete; sie hatte das Gefühl, daß alles, Menschen und Dinge, in jener ihr neuen Welt ihr feindlich sei wie die Reifenden, die murrend zusammengerückt waren, als das junge Ehepaar in den Wagen gestiegen war.
Doch dieses Gefühl schwand, als sie sich in ihrem neuen Keim befand, obwohl ihr ein unbestimmtes Bangen verblieb, wie einem Kinde, das man allein zu Hause gelassen. Das Dienstmädchen, das Francesco vor seiner Abreise von Rom engagiert hatte, ließ durch die Türhüterin sagen, es sei an Bronchitis erkrankt, liege in der Poliklinik und bitte den Herrn Doktor, einmal nach ihr zu sehen. Francesco war ganz erschrocken darüber, aber Gavina, die in der Stille ihrer Wohnung unverhofft wieder Mut zu fassen schien, erklärte, sie könne die Arbeit sehr gut selbst tun.
Er nötigte sie, sich zunächst einmal niederzulegen, und ging selbst, um in dem nächsten Speisehause ihr Mittagessen zu bestellen. Aber sobald sie allein war, sprang sie wieder auf und besah sich von neuem die durch kleine Gasöfen erwärmte, hübsche Wohnung. Sie konnte nicht ruhen, obwohl ihr der Kopf schwer war und der Rücken schmerzte: sie war wie im Traum, aber gerade wie in einem schrecklichen Traum verspürte sie das Verlangen zu fliehen, einen Ort voller Gefahren zu verlassen. Wiederholt machte sie die Runde durch die vier Zimmer, aus denen die Wohnung bestand: das Speisezimmer mit dunkler Tapete und Nußbaummöbeln, ging auf einen Hof und machte ihr zwar einen einfachen und eleganten, doch melancholischen Eindruck; die Übrigen, miteinander verbundenen Zimmer sahen auf die Straße: aus dem Salon gelangte man in das Schlafzimmer, wie auch in das Arbeitszimmer Francescos. Hier verhielt sie sich am längsten und sah sich mit mißtrauischer, scheuer Neugierde um: der mit Wachstuch überzogene Tisch, die Apparate, die blanken Instrumente, die wie Kostbarkeiten in einem eleganten kleinen Glasschrank eingeschlossen waren, alles das kam ihr sonderbar und unheimlich vor. Der Jodoformgeruch, der über dem Zimmer lag, nahm ihr den Kopf ein, und sie kehrte in das Schlafzimmer zurück, öffnete das Fenster und blickte hinaus.
Breit und menschenleer, von Sonnenschein überflutet, lag die Straße da; der Himmel war vom reinsten Dunkelblau, und hier und da schwebten Wölkchen, die wie weiße Flämmchen aussahen. Es war einer der schönsten Tage des römischen Winters. Ihr gegenüber, um die stillen, anscheinend unbewohnten Villen herum, sah Gavina Bäume, so grün wie die Bäume ihres Gartens im Frühling; zur Rechten, über Gartenmauern hinweg, bemerkte sie anderes Grün; und zur Linken, am Ende der Straße, meinte sie einen blumengeschmückten Gartenhügel zu erkennen.
Sie lehnte am Fenster, wie sie es daheim zu tun pflegte. Es kam ihr vor, als bliebe Francesco sehr lange aus, und sie fürchtete sich beinahe, sich in das Zimmer zurückzuziehen und mit sich selbst allein zu sein. Und mit einemmale ward es auf der Straße lebendig. Eine große, grau gekleidete Frau mit einer weißen Haube führte zwei reizende blonde Kinder an der Hand, die in ihren weißen Pelzmäntelchen aussahen wie zwei Hermeline; es kamen viele junge Mädchen in Strohhut und weißer Schürze daher, die kleine Wagen schoben, in denen die Kinder der Reichen wie in beweglichen Bettchen ruhten. Nie hatte Gavina so schöne Kinder gesehen! Da war ein Knabe tritt einem Anzug aus Samt, mit einer Reiherfeder auf seinem Filzhütchen; doch trotz dieses ritterlichen Aussehens stieß er sehr unhöflich die ihm begegnenden kleinen Mädchen an, bis eines kam, das sich als kluge kleine Frau an ihm rächte, indem es ihm die Zunge wies.
Weiter oben, von Via Boncompagni her, kamen Scharen von Arbeitern, eilige junge Geschäftsleute und zwei Herren, die einander so merkwürdig glichen, daß sie in ihrer gleichen Kleidung wie alte Zwillinge aussahen.
Es war Mittag. Das ungewohnte Straßenbild zerstreute Gavina trotz ihrer Müdigkeit und ihrer traurigen Gedanken. Auf einmal aber bemerkte sie einen großen, hageren Mann mit einer bordierten Mütze, einer Umhängetasche und die Hände voll Briefe. Tausend Erinnerungen drangen damit auf sie ein: sie meinte noch am Fenster ihres Mädchenstübchens zu stehen, auf einen Brief wartend, der über ihr Geschick entscheiden sollte. Mit einem Blick voller Sympathie und voller Haß folgte sie jenem Manne, der in die Portale der Häuser hineinging und eilends wieder herauskam, und es kam ihr der Wunsch hinunterzugehen und zu fragen, ob er einen Brief für sie habe. Was erwartete sie denn noch? Es war alles zu Ende – und doch empfand sie etwas wie die unsinnige Hoffnung derer, die, bei einem geliebten Wesen die Totenwache haltend, sich einbilden, es könne von einem Augenblick zum andern wieder aufleben.
Als Francesco zurückkehrte, sah er sofort, daß sie sich nicht ausgeruht hatte. Nach dem Essen machten sie nochmals zusammen die Runde durch ihre Wohnung; er hielt sie umfaßt und schaute zufrieden um sich, ihr Heim bewundernd.
»Wir haben alles Nötige und sogar einigen Luxus«, sagte er. »jener aber«, fügte er hinzu, als er die Tür seines Kabinetts wieder zuzog, »hier fehlt noch vieles!«
Nun aber bestand er darauf, daß sie sich niederlegte. Sie verfiel in einen tiefen Schlaf, und im Traum zankte sie mit Paska, die Zio Sorighe erlaubt hatte, sich im Besuchzimmer auf das Sofa zu legen: sie ging hin und schüttelte den Alten, aber der schlief so fest, daß es nicht möglich war, ihn aufzuwecken. »Nun wird er immer hier bleiben, immer!« schrie sie zornig. Und als sie unter dem peinvollen Eindruck dieses Traumes erwachte, war es ihr als sei sie plötzlich in Rom ohne eine Reife gemacht zu haben: sie war zu Hause eingeschlafen und erwachte in dem kleinen, freundlichen Zimmer mit den weißen Möbeln und einer gemalten Decke wie in der Kathedrale ihrer Heimatstadt. Ein Helles, hartes Licht fiel durch die Scheiben ein. Francesco war nicht im Zimmer. Und sie empfand ein Gefühl von Kälte und Trauer und dachte: was soll ich jetzt tun? Und was soll ich morgen tun? In einem Augenblick zog ihr ganzes vergangenes Leben an ihr vorüber, aber sie fühlte, daß das jetzt zu Ende war: was sie gestern betrübte, was gestern ihr Leben ausmachte, das war heute nur eine (Erinnerung. Es war als überlebe sie sich selbst.
Da glaubte sie das Warum von Priamos Selbstmord zu verstehen: er hatte sich das Leben genommen, weil er sie als eine Tote betrachtete.
Aber während sie sich diesem krankhaften Eindruck überließ, dachte sie doch an Francesco und fragte sich, ob es nicht an der Zeit sei, ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie meinte, jetzt ruhig und stark genug dafür zu sein und stand auf, um zu ihrem Gatten zu gehen. Sie fand ihn in seinem Kabinett, vor dem geöffneten Glasschrank stehend; er trug einen weißen Kittel, und sie empfand aufs neue ein Gefühl von Traurigkeit und Verlegenheit. Der Mann, den sie da vor dem kleinen Schranke sah, schöner und imponierender als ihr Francesco, war ihr ein Unbekannter. Er kehrte sich um, betrachtete sie mit einem ruhigen und ernsten Blick, den sie noch nicht an ihm kannte und sagte gelassen: »Wie, du bist schon aufgestanden? So komm!«
Sie trat zu ihm, und er zeigte ihr einige Instrumente und erklärte ihr, wozu sie dienten. Zart, fast liebevoll faßte er die Sachen an, betrachtete sie aufmerksam und deutete ihr an, sie seien noch nicht bezahlt und er wünsche sehnlichst Geld zu verdienen, viel Geld, um noch mehr zu kaufen.
Dann verschloß er den Schrank sorgsam und zog den Schlüssel ab: und sie begriff in diesem Augenblick, daß sie in seinem Leben etwas Untergeordnetes und seine Liebe für seinen Beruf stärker sei als die zu ihr.
Später gingen sie aus. Er fragte den Türhüter, ob Briefe für ihn da seien, und sie horchte angstvoll auf. Aber es war nichts da. Francesco erhielt nur weniges: einige medizinische Zeitschriften, eine Zeitung von der heimatlichen Insel und die einfachen Postkarten von seiner Mutter.
Nachdem sie eine stille Straße hinaufgegangen waren, kamen sie auf einen Platz, wo Wasser rauschten als ob ein Strom dort flösse; über den langen Straßenzeilen glühte der Himmel im Widerschein der untergehenden Sonne, und Tausende von Lichtern, die in dem feurigen Abendrot gelb und grünlich erschienen, leuchteten wie in der Luft schwebende Flämmchen.
Bewegt drückte Gavina Francescos Arm; sie gedachte der Sonnenuntergänge im Weinberg und der dämmerhellen Nächte. Die kalte Luft, die ihr ins Gesicht wehte, tat ihr wohl, und alles erschien ihr groß und geheimnisvoll. Es war als reichten die Dächer der großen, dunklen Säufer bis an den roten Himmel; alles war prächtig, und die kleinlichen Nöte ihres vergangenen Lebens schienen nunmehr weit hinter ihr zu liegen: in dieser großartigen Umgebung mußte sie sie notwendig vergessen.
»Ist das eine Kirche?« fragte sie verwirrt.
»Hier sind ihrer drei, S. Bernardo, S. Susanna und S. Maria della Vittoria«, erwiderte Francesco, sie mit der Hand andeutend.
»Wollen wir nicht eine davon ansehen?« drängte sie schüchtern.
Sie betraten die Kirche S. Bernardo. Gavina empfand etwas wie Bestürzung, als sie die fensterlose Rundkirche sah, mit dem aus dunklen Kreisen und schmalen hellgelben Streifen gebildeten Fußboden. Wo befand sie sich? In dem Helldunkel der einen Wand meinte sie einen dichten Wald und riesenhafte^ regungslose, doch lebendige Gestalten zu erkennen. Sie kniete nieder, und wieder war es ihr, trotz Francescos Gegenwart, als wäre sie allein, verirrt, fern von allen, ohne Ruhe und ohne Hoffnung. Seit zwei Tagen hatte sie nicht mehr gebetet und in jenem Augenblick begriff sie, daß sie nie wieder würde beten können wie zuvor. Zwischen ihr und Gott lag ein Dunkel, dem ähnlich, das jetzt die Kirche einhüllte.
Da sie allzulange zögerte, nahm Francesco ihren Arm und zog sie hinaus: er sagte nichts, aber er führte sie in ein elegantes Speisehaus, das noch leer war, aber warm und strahlend erleuchtet. Auf den Tischen standen hohe Topfpflanzen, der Mosaikboden funkelte. Man vernahm eine sanfte, ferne Musik, und jedesmal wenn die Tür aufging, traten Herren ein, allein oder mit eleganten Damen, und alle schienen glücklich.
Anfangs blickte Gavina vor sich hin, verlegen und ernst. Es schien als wolle sie den Kopf nicht wenden und alle Neugier überwinden; nach und nach versetzte die Wärme der Umgebung, das Essen, der Wein, die sanfte und doch erregende Musik sie in einen melancholischen Rausch. Wie gewisse sentimentale Trinker empfand sie das Behagen der Gegenwart und zwang sich dennoch, der traurigen Vergangenheit nicht zu vergessen.
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die gefalteten Hände, wie es ihre Art war, und ihre Augen schweiften hierhin und dorthin, über die Blumen, das Kristall, die elektrischen Lampen und ruhten endlich auf den Gesichtern der Frauen und mehr noch der Männer, die fast alle jung waren. Sie betrachtete sie mit Neugier und Furcht, als hätte sie noch nie lebendige Männer gesehen. Da, da waren sie: kräftige, lebensvolle mit begehrlichen Augen, die sich mit den ihren kreuzten und etwas Stechendes, Aggressives hatten wie die Augen wilder Tiere auf der Lauer; und andere, blasse, deren Augen tief in ihren Höhlen lagen und denen alles gleichgültig schien außer dem Teller, auf den sie traurig und gierig wie hungrige Tiere niederblickten. Sie dachte an Elia, ihren ehemaligen Nachbar, und hätte fast gelacht, als sie sich der Scheu erinnerte, die er ihr eingeflößt; vielleicht war ihr guter Nachbar im Vergleich zu den Männern, die jetzt in ihrer Nähe saßen, ein Heiliger. Auf einmal lachte sie wirklich.
»Francesco, erinnerst du dich noch an die Predigt des Onkels, damals im Weinberg? Wie er sagte, man dürfe sich nicht an solche Orte begeben, wo alles leuchte und glänze, um die Sünde zu verbergen? ...
»Nun, und du meinst hier sei ein solcher Ort der Sünde?«
»O gewiß, wenigstens der Sünder«, entgegnete sie, bemüht, heiter und unbefangen zu erscheinen. »Wenigstens für den Onkel..
»Denke nicht an ihn! Ach, weißt du, was wir tun wollen? Ein Glas Champagner auf seine Gesundheit trinken!«
Als sie Champagner tranken, sah man sich nach ihnen um. Francesco war vergnügt, und es mißfiel ihm nicht, die Aufmerksamkeit der Tischnachbarn auf sich zu ziehen und ein wenig den Verschwender zu spielen. Dann und wann erwachte der Poet in ihm.
Er stieß mit Gavina an und sagte: »Auf das Wohl des Onkels!«
Sie lachte, und einer der Herren blickte beharrlich nach ihr hin. Da schlug sie die Augen nieder, und ein Liedchen kam ihr in den Sinn, das sie von einem der liderlichen Freunde Zia Itrias hatte singen hören:
»In fondo al mio bicchiere,
in fondo, in fondo C'è un inferno di tristezza ...«
Auf dem Grunde des Bechers ist eine Hülle von Traurigkeit.
Und sie dachte: ich bin hier, bin glücklich, mir ist warm – und er liegt da wie ein Schatten auf dem Schnee ...
Sie stand auf und verlangte nach Hause; und wie auch Francesco auf dem Heimwege scherzte und ihre Hand drückte: sie lachte nicht mehr.
Einige Tage vergingen. Das Wetter blieb klar und kalt, aber in der kleinen Wohnung des jungen Paares war es wie in einem Nestchen. Am Morgen ging Francesco in die Poliklinik, und Gavina blieb allein. Sie machte sich viel damit zu schaffen, das Schlafzimmer in Ordnung zu halten, wo sie die meiste Zeit zubrachte; aber trotz ihres ungeselligen Sinnes erschreckte sie die tiefe Einsamkeit. Andererseits fürchtete sie sich auch, allein auszugehen und verbrachte deshalb Stunden und Stunden am Fenster, und das Vorüberkommen des Postboten ward, wie in einer früheren Zeit, für sie das wichtigste Ereignis des Tages! Doch die Nachricht, die sie erwartete, kam nicht.
Eines Morgens, gegen elf, klingelte es an ihrer Eingangstür, und als sie durch das Guckloch blickte, sah sie einen Mann, dem sie schon irgendwo begegnet zu sein meinte. Er war so dunkel wie ein Mulatte, groß und steif, mit einem erdfahlen, bartlosen Gesicht und tiefschwarzen krausen Haaren. Sein starres, scharfgeschnittenes Gesicht würde geradezu finster ausgesehen haben ohne den wohlwollenden, lächelnden Ausdruck der großen grauen Augen. Trotz der Kälte trug er einen leichten Anzug, helle Beinkleider und ein blaues Jackett, und seine von Frost geröteten Finger waren mit Ringen beladen, die in das dicke Fleisch einschnitten. Er klingelte noch einmal, und Gavina entschloß sich zu öffnen. Er trat ein, schloß selbst die Tür, hängte seinen Hut an den Kleiderständer und ging ohne weiteres in das Eßzimmer.
»Kennen Sie mich nicht mehr, Signora Gavina?«
»Nein ... aber ... nehmen Sie Platz.«
Er setzte sich auf den kleinen Lehnsessel vor dem Nähtischchen in der Fensternische und stellte die Füße auf das Schaffell, das als Teppich diente.
»Ich habe Ihren Vater gekannt und war mehrmals in Ihrem Hause. Aber Sie waren, noch ein Kind. Sie hatten auch einen Bruder. Lebt er noch? Was tut er?«
Er sprach laut und ohne zu lächeln, als ob er ein wenig schwerhörig wäre.
»Er ist zu Hause bei der Mutter«, entgegnete Gavina kalt.
»Hat er nicht studiert?«
»Nein.«
»Ich kenne auch noch andere Leute in Ihrer Stadt. Ich lebe seit zwanzig Jahren in Rom und bin seit fünfzehn Jahren nicht mehr auf der Insel gewesen, aber ich habe noch viele Freunde dort. Vielleicht werde ich dieses Jahr wieder einmal hingehen, um Getreide zu kaufen. Auch hier habe ich viele Freunde, besonders Künstler. Kennen Sie diese hier?«
Und er zeigte ihr die Photographie einer schönen Künstlerin mit nackter Brust und den Hals mit Perlenschnüren umwickelt; in großer Schrift stand die Widmung darauf: »Dem teuersten Signor Zanche seine Freundin T. M.«
»Aber wo sind Sie denn zu Hause?« fragte Gavina, nachdem sie die Photographie bewundert hatte. Und sie erbebte, als er das Dorf Priamos nannte.
»Ich kenne auch einige Leute von dort«, sagte sie leise und ward sehr ernst. »Den Kanonikus Felix vor allem, der ja in unserer Stadt lebt ...«
»Sie haben ihm den Neffen ermordet.«
»Ermordet?« fragte sie, hob die Sande empor und riß die Augen auf.
»So sagt man wenigstens.«
»Aber woher wissen Sie das?«
Er suchte in seinen Taschen und zog ein Bündel Zeitungen hervor, die er auseinanderfaltete, um die Nachricht zu suchen, die Gavina interessierte.
»Hier! Ein Unglücksfall ... Nein, das ist es nicht. Aha, hier: Verbrechen oder Selbstmord? Die Korrespondenz ist aus Ihrer Stadt.«
Francesco muß das gelesen haben und er hat mir nichts davon gesagt, dachte Gavina. Er weiß also ... er muß alles wissen!
Dieser Gedanke erregte sie am meisten: sie nahm die Zeitung und sah zuerst nach dem Datum der Korrespondenz. Es war das ihres Hochzeitstages. Dann las sie:
»Verbrechen oder Selbstmord?
Heute abend verbreitete sich das Gerücht, vor dem Dorfkirchlein San Teodoro sei, halb im Schnee vergraben, die Leiche des in unserer Stadt wohlbekannten jungen Geistlichen Priamo Felix gefunden worden. Genaueres über diesen geheimnisvollen Tod konnten wir noch nicht in Erfahrung bringen. Der junge Geistliche ist durch eine Schußwaffe getötet worden, oder hat sich selbst erschossen. Die Verwandten des Unglücklichen, darunter der ehrwürdige Kanonikus Felix, den wir befragten, versichern, es müsse sich um ein Verbrechen handeln. Wir werden auf die Sache zurückkommen.«
»Es ist aus!« sagte Gavina laut und schüttelte den Kopf, als wolle sie die Tränen, die ihr die Augen trübten, in die Tiefe ihres Herzens zurückdrängen.
Während sie las, sah der Signor Zanche auf die Pendule. »Ihre Uhr geht sieben Minuten vor. Erlauben Sie, daß ich sie stelle? Kannten Sie den Priester Felix?«
Er stand auf und regulierte die Uhr.
Im Schnee hat man ihn gefunden! dachte Gavina, und es ward ihr klar, daß sie bis zu diesem Augenblick gehofft, Priamo lebe noch. Und doch hatte jene Vision sie nicht getäuscht! Und nun suchten die Verwandten des Unglücklichen pietätvoll wenigstens sein Andenken zu retten, indem sie die verabscheuungswürdige Wahrheit durch eine Lüge deckten, wie der Schnee die Leiche zu decken versucht hatte ...
Der Signor Zanche setzte sich wieder hin und ordnete seine Zeitungen; dann suchte er nochmals in seinen Taschen und zog ein Päckchen hervor, das er auf den Nähtisch legte.
»Wenn Sie die Zeitungen lesen wollen, lasse ich sie Ihnen hier. Kannten Sie den Priester Felix vielleicht? Glauben Sie, daß man ihn ermordet hat? Ich habe sagen hören, er wäre ein Liederjan gewesen ...«
»Ja, gewiß hat man ihn ermordet!« sagte Gavina bestimmt. Sogleich aber fügte sie hinzu: »Es ist ja auch möglich, daß ein Selbstmord vorliegt. Er war ein seltsamer Mensch ... Kann man jemand beschuldigen?« fragte sie und sah dem Mann starr ins Gesicht, der sie seinerseits neugierig betrachtete.
»Wenn er sich erschossen hat, so kann man doch nur ihn beschuldigen!«
Sie stand auf, sah nach der Uhr und sagte: »Mein Mann muß sogleich kommen. Erlauben Sie! ...«
Der Mann machte indes keine Anstalten aufzubrechen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, trat an das Fenster und weinte.
»Mein Gott, mein Gott!« flüsterte sie, während die Tränen auf ihre gefalteten Hände niederfielen, »warum hast du das gewollt? Warum hast du mich nicht erleuchtet? Warum, warum? Antworte mir!«
Aber sie fühlte, daß Gott sehr fern war von dieser sonnigen Straße, wo die Menschen, die das Leben liebten, ihre prächtigen Säufer errichtet hatten, kleine Tempel, in denen sie lebten und sich selbst anbeteten.
Als sie wieder in das Speisezimmer kam, sah sie, daß der Signor Zanche ruhig seine Zeitungen las, und ein dumpfer Unwille gegen ihn regte sich in ihr.
»Entschuldigen Sie, ich muß jetzt den Tisch decken«, sagte sie unhöflich. »Mein Mann muß sogleich kommen. Wir bekommen das Essen aus dem Speisehause, weil das Dienstmädchen krank ist.«
»Wenn Sie wollen, suche ich Ihnen ein anderes«, schlug er vor und stand auf Doch er ging erst, als Francesco kam, der, sobald er eingetreten war, sagte: »Weißt du, Gavina, Priamo Felix hat sich erschossen!«
»Ich weiß ... ich habe es in einer Zeitung gelesen, die dieser Herr ... der Herr Zanche ... du kennst ihn wohl ...«
»Bitte, setzen Sie sich. Ja, mir scheint, wir sind uns bei Zedia begegnet ... Ist Ihnen etwas gefällig?«
»Danke, ich muß gehen. Ich habe Signora Gavina lange genug aufgehalten. Wenn Sie aber etwas brauchen, so verfügen Sie über mich.«
»Ach, ich könnte hunderttausend Lire brauchen, verschaffen Sie mir die«, sagte Francesco lachend, während er den Besuch hinausgeleitete.
»Und warum nicht?«
»Du kennst ihn?« fragte Gavina dann. »Was tut er? Was wollte er hier?«
»Ich glaube, er ist Makler. Er ist ein uneigennütziger und dienstfertiger Mensch. Und er kennt alle Leute. Wenn du mitunter mit ihm ausgehen willst, dann wirst du sehen ...«
»Warum sollte ich wohl mit ihm ausgehen«, unterbrach ihn Gavina geringschätzig. »Weder mit ihm noch mit anderen Männern; ich kann ganz gut allein ausgehen, ich werde mich nicht verirren, und wenn auch ...«
Sie sprach in trotzigem Ton, aber sie dachte an ganz anderes, als an die Möglichkeit, sie könnte sich in den Straßen Roms verirren.
»Er wußte also von Priamos Tod und hat nichts davon gesagt! Erst als er den Signor Zanche sah und sich denken konnte, daß ich die Zeitung gelesen hatte. Er verbirgt mir sein Denken, er täuscht mich und weiß, daß ich ihn täusche«, dachte sie und fühlte eine tiefe Verstimmung gegen Francesco und gegen sich selbst. »Warum hat er nicht davon gesprochen?« fragte sie sich dann und sagte zögernd: »Es scheint, es handelt sich um ein Verbrechen ...«
Francesco hatte sich an den Tisch gesetzt und aß mit Appetit; er hatte es vermieden, weiter von der Sache zu reden, mußte aber doch daran gedacht haben, denn er entgegnete prompt: »Und das glaubst du? Ach, nein, es handelt sich nicht um ein Verbrechen. Die Verwandten und die Pfaffen möchten das wohl glauben machen – aber er hat sich das Leben genommen. Und das war der einzige Weg, der ihm geblieben war. Der mußte so enden!«
Der verächtliche Ton, mit dem Francesco das sagte, brachte sie vollends auf. Ihre Augen unter den gesenkten Lidern funkelten vor Zorn. »Warum?« fragte sie, »warum mußte der so enden? Hatte er vielleicht gestohlen oder gemordet? Aber selbst dann darf sich einer nicht das Leben nehmen! Du freilich läßt das gelten ...«
»Ach gewiß!« entgegnete er ruhig, vermied es jedoch, sie anzusehen. »Einer, der – sagen wir immerhin den Mut besitzt zu stehlen oder zu morden, hat auch den Mut, noch weiter zu gehen, selbst wenn er den Kerker vor sich sieht. Es gibt Menschen, die entschlossener als zuvor aus Verbrechen und Strafe hervorgehen; entschlossen, alle Hindernisse zu beseitigen, die ihnen verwehren, ihrer Natur und ihrer Neigung gemäß zu leben. Streiten wir nicht darüber, ob diese Menschen zu bewundern sind oder nicht. Ich meinerseits bewundere sie nicht – aber ebensowenig bewundere ich den unglücklichen Priamo. Was konnte er besseres tun, als sich das Leben nehmen, da er nicht den Mut hatte, die Kette zu zerreißen, die ihn fesselte? Er mußte sterben! Denn der Mensch kann nicht leben ohne Freiheit oder die Hoffnung auf Freiheit.«
»Und doch kommen so viele ohne sie aus«, sagte sie mit spöttischem Lächeln.
»Das heißt nur, daß sie es selbst nicht gewahr werden ... Oder, daß sie auf einen zukünftigen Tag der Freiheit hoffen! Er aber konnte diese Illusion nicht hegen. Er war intelligent genug, zu begreifen, daß für ihn nur der Tod Befreiung bedeutete ...«
»Wer weiß das? Wer kann das wissen ...«
»Ach, ich kannte ihn! Das heißt, ich habe ihn einmal gekannt ... Und dann habe ich auch letzthin seine Briefe an Michela gelesen. Man begriff sofort, daß er ein Entgleister, ein Besiegter war. Er schrieb an sie wie an ein hochgebildetes Wesen, das imstande sei, ihn zu verstehen, oder eher noch, als wären die Briefe an eine ganz andere Person gerichtet.«
»Und die hat sie dich lesen lassen? Schämt sie sich denn gar nicht?« fuhr Gavina auf. Ein Zittern überkam sie. Sie preßte die Knie und die Zähne zusammen, um sich im Zaum zu halten und schlug die Augen nieder, wie die Kinder die Augen schließen, um der Aufmerksamkeit dessen zu entgehen, der sie beobachtet. »Er weiß«, dachte sie, »er hat begriffen, für wen diese Briefe geschrieben waren ...«
Francesco betrachtete sie verstohlen. Und während er sein Brot brach, sagte er spöttisch: »Nun, Michela zeigte noch ganz andere Anzeichen ihrer Beziehungen zu Priamo.«
»Und warum hast du mir nie etwas von diesen Briefen gesagt?«
»Ich wußte nicht, daß sie dich interessierten.«
»Das ist nicht wahr! Du wußtest ...«
»Ach, ja, ihr wäret Freundinnen ...«
»Freundinnen! O nein«,sagte sie verächtlich. »Aber es ist auch gar nichts daran gelegen. Am ihretwillen hat er sich gewiß nicht das Leben genommen.«
»Das wohl! Sie war sein Opfer; vielleicht hat ihr Unglück ihn definitiv in den Abgrund getrieben. Übrigens, auch wenn er den Mut gehabt hätte, seine Haut abzuwerfen und sich mit Michela zu verbinden, so hätte es mit ihm doch ein schlechtes Ende genommen.«
»Also! Warum sagst du dann, er ... er ...« Sie war so gereizt, daß sie ihre Frage nicht zu vollenden vermochte.
»Das Abel war schon alt! Wer kann denn alles wissen? Vielleicht ist jemand verantwortlich für seinen Tod. Bei jedem Selbstmord, wie fast bei jedem Verbrechen, ist irgendeiner da, den mehr Verantwortung trifft, als den Selbstmörder oder den Verbrecher selbst. Wenn diese Opfer – denn meist sind sie selbst Opfer – nicht an sich schädlich wären und ihre Unterdrückung daher notwendig, dann würde die Gesellschaft sich vielleicht entschließen, das Gesetz der Verantwortlichkeit besser zu regeln, und zwar sofort. Und dahin wird es auch kommen, wenn die Gesellschaft erst weniger egoistisch sein und aus gewissenhafteren Individuen bestehen wird.«
»Aber wenn doch nach eurer Ansicht überhaupt niemand verantwortlich ist?« rief sie aus. Und sie schlug die Augen auf, in denen ein spöttisches Lächeln funkelte, das mit dem düstern Ausdruck ihres Gesichts kontrastierte.
Francesco runzelte die Stirn und würde nachdenklich, fast traurig. »Niemand ist verantwortlich«, entgegnete er, »aber wir alle sollen es verstehen. Es ist unser Endzweck, allen begreiflich zu machen, daß gerade die Unverantwortlichkeit uns dahin bringen soll, vorsichtig, klug und umsichtig zu handeln. Die Blinden fallen weniger häufig als die Menschen mit gesunden Augen. Ich will dir einmal zu lesen geben ...«
»Nichts da!« unterbrach sie ihn rauh, »ich glaube keine Silbe von dem, was ihr lest oder schreibt. Ich bin kein Kind mehr. Ich habe gesehen, wie es in der Wirklichkeit zugeht. Alles übrige ist falsch!«
»Du? Was hast du denn gesehen?«
»Daß man oft glaubt, das Gute und Rechte zu tun und statt dessen das Böse tut ... Wer von uns hat das nicht erfahren?«
» Ihr!« sagte er, und dieses bloße Wort brachte sie vollends außer sich.
»Ah, wir?« entgegnete sie und sah ihn mit drohendem Blick von unten auf an. »Und ihr, ihr tut wohl nur das Gute? Mit euren Büchern vielleicht? Und wenn ihr nahe daran seid, die Welt zugrunde zu richten!«
Er lächelte und ward wieder ganz vergnügt; es schien ihm Spaß zu machen, sie zu reizen. »Ach, dann bauen wir sie eben wieder auf! Und dann machen wir sie so schön und stark, daß sie nicht mehr zusammenbricht.«
»Und inzwischen?«
»Was, inzwischen?«
»Inzwischen helft ihr den Verbrechern, indem ihr sie in Schutz nehmt.«
»Aber die Verbrecher habt ihr geschaffen! Ja, ihr, und wenn es sein muß ...«
Er hielt inne; sie sah ihm starr ins Gesicht, mit herausforderndem Blick, und er wurde wieder ernst. »Du wirst schon sehen! Du wirst sehen, was jetzt geschieht! Um den Ruf des Toten und die Ehre der Kirche zu retten, werden die Pfaffen und die Verwandten irgend einen andern opfern. Es gibt ja Leute, die lügen ... bis zum Verbrechen!«
Sie schwieg, anscheinend der Sache überdrüssig, und auch er ließ sie fallen. Aber ihr Zorn barg eine unbestimmte Furcht. Sie hätte aufstehen und den Brief des Toten herbeiholen mögen – aber Stolz und Mißtrauen hielten sie davon zurück. Wenn Francesco mit seiner letzten Äußerung auch auf sie anspielte: um so schlimmer für ihn selbst! Hatte er doch vor der Heirat behauptet, sie zu kennen. Sie schuldete ihm mithin keine Erklärung, sie hatte keine Verpflichtung, sich vor ihm zu demütigen und ihm ihre Lüge zu bekennen. Sie hätte ihm freilich sagen können, daß sie bis zu diesem Augenblick geschwiegen habe, sei aus Liebe zu ihm wie aus Schamgefühl geschehen – aber er würde es nicht geglaubt haben, er glaubte ihr nicht mehr; er würde höchst wahrscheinlich gesagt haben: nur aus Schwachheit nehme sie im Augenblick der Gefahr ihre Zuflucht zu ihm. Sie war wie von einem dichten Nebel umgeben und alle Unsicherheit, alle Angst dessen, der seinen Weg verloren hat, kamen über sie.
Den ganzen übrigen Tag hatte sie keinen anderen Gedanken als: »Und wenn man nun wirklich jemanden anklagt?«
Wohl war sie sich bewußt, was sie alsdann zu tun hätte, aber ihr Gewissen wurde darum nicht ruhiger. Immer wieder dachte sie an den Kanonikus Bellia, aber mit Unwillen, fast mit Haß. »Er muß die Sache in Ordnung bringen!« sagte sie sich. Francescos Worte erregten sie gegen ihren Willen; sie wagte es sich selbst nicht einzugestehen, aber ihr ehemaliger Beichtvater erschien ihr wie ein Mitschuldiger, und der bloße Gedanke, ihm seinen Teil an der Verantwortlichkeit vorzuhalten und ihn zu nötigen, ein neues Verbrechen zu verhindern, verlieh ihr einen herben Trost.
Im übrigen verlief der Tag ruhig. Francesco kam nicht wieder auf das böse Ereignis zurück und war, wie gewöhnlich, liebevoll, ja zärtlich gegen Gavina.
Am folgenden Morgen ging sie allein aus und schlug den Weg außerhalb der Mauern ein. Ihr Ärger war vergangen, aber es lag schwer auf ihr wie die Ahnung kommenden Unheils. Es war ein trüber, kalter Tag: der mit fahlgrauen Wolken bedeckte Himmel gemahnte an eine sumpfige Ebene. Sie schritt unter den kahlen Bäumen einer Allee dahin; ein Kutscher, der unbeweglich auf dem Bock seines Wagens saß, war blau vor Kälte wie die Leiche eines Erfrorenen. Sie kam zu einer trübseligen kleinen Kirche, ging hinein und kniete neben einer Säule nieder. Das Innere der Kirche war dunkel, nur hier und da fiel ein wenig Licht ein und lag über den vergoldeten Gesimsen wie blasse Mondstrahlen. Eine rote Lampe glühte im Hintergrund wie ein Leuchtfeuer im Nebel. Gavina war so elend zu Mute, als wäre sie in einem großen Grabe, und wieder fühlte sie, daß sie nicht beten konnte. Ihr religiöses Gefühl war wie gelähmt; es war noch vorhanden, aber erfroren, erstarrt.
Einige Augenblicke verharrte sie regungslos, kalt, und meinte zu vergehen. Allmählich aber kam wieder Leben in sie, und mit Aufbietung ihrer Willenskraft gelang es ihr, ihren stumpfgewordenen Glauben wachzurütteln, und seltsame, sinnlose Gebete, wie sie in früheren Zeiten ihre Lippen besteckt hatten, stiegen aus der Tiefe ihres Herzens auf. Sie bat Gott, er möge sie sterben lassen, ihr Leid schicken, sie strafen in dem, was ihr auf der Welt am teuersten sei, und um sich noch mehr zu quälen, gedachte sie dessen, der um ihretwillen gestorben war. Er lag da auf dem Schnee, in den Bergen, durch den Tod gereinigt; es war ihr als sähe sie ihn, und sie beugte ihr Gesicht auf den Steinboden nieder, wie um ihr Opfer noch näher zu sehen.
Dann stand sie auf, lehnte sich an die Säule und weinte. Ein unendliches Mitleid ergriff sie; aber dieses Gefühl war ihr so neu, daß es, statt ihr Trost zu verleihen, ihre Verzweiflung erhöhte.
Bei ihrer Heimkehr fand sie den Signor Zanche am Eingang des Hauses, und obwohl sie ihn nicht aufforderte hinaufzukommen, folgte er ihr und fragte ganz vertraulich, wo sie gewesen sei.
»In der Kirche. Und gleich muß ich wieder ausgehen«, sagte sie kalt, während sie eilig die Treppen erstieg. Unbewegt ging er ihr nach und erreichte sie vor ihrer Tür, die sie nicht zu öffnen vermochte.
»Geben Sie ihn mir. Sehen Sie, Sie müssen die Tür ein wenig anziehen und den Schlüssel ganz leicht im Schlosse drehen: da ist sie schon offen. Es scheint, man hat den Priester wirklich ermordet ...«
»Haben Sie Zeitungen?« fragte sie beklommen.
»Da sind sie. jener, hier, zweite Seite, dritte Spalte. ›Verbrechen oder Selbstmord‹.«
Die Zeitungen in der Hand, eilte sie in ihr Schlafzimmer, während der Signor Zanche ruhig wieder von dem Speisezimmer Besitz nahm.
Die Korrespondenz nahm zwei Spalten der Zeitung ein, beschrieb Priamos Leichenbegängnis und erwähnte die Autopsie, deren Ergebnis geheimgehalten werde.
*
»Ich kann Ihnen aber doch einige Einzelheiten von Bedeutung mitteilen. In der Brieftasche des Ermordeten fehlte ein Fünfziglireschein. Die Waffe, deren der Mörder – oder der Tote – sich bediente, ist eine Pistole, die dem Küster von San Teodoro gehört, einem wunderlichen Alten, der einst ein bekannter Stegreifdichter war. Es scheint, daß es sich um Raubmord handelt. An dem Morgen, als das Verbrechen geschah, verließ der Küster seinen Posten, und man sagt, er habe an demselben Tage den aus der Brieftasche des Ermordeten verschwundenen Fünfziglireschein gewechselt. Andere freilich meinen, wenn der Alte hätte stehlen wollen, so hätte die Kirche doch Gegenstände von größerem Wert enthalten. Auf jeden Fall aber ist der Küster seitdem verschwunden und wird von den Karabinieri gesucht. Das kann ich Ihnen als gewiß mitteilen.«
*
Er ist verschwunden? Warum? fragte sich Gavina. Und sie empfand eine gewisse Erleichterung in dem Gedanken, daß die ungerechte Anklage Zio Sorighe traf und nicht einen andern. Vielleicht regte sich auf dem Grunde ihrer verdüsterten Seele ein Gefühl von Groll und Verachtung gegen den Alten, von dem sie immer eine sehr geringe Meinung gehabt hatte. Nach der ersten Erregung jedoch begriff sie, was sie zu tun hatte, und zögerte nicht länger. Sie nahm den Brief Priamos, schlug ihn in ein Briefblatt ein und schrieb darauf: »Diesen Brief brachte Zio Sorighe am 8. Januar an G.« Dann steckte sie das Ganze in einen Umschlag, den sie an den Kanonikus Bellia adressierte, und ging in das Speisezimmer, um Signor Zanche seine Zeitungen wiederzugeben.
Er sah sie an, als erwarte er eine vertrauliche Mitteilung von ihr. Doch sie wendete den Brief, den sie in der Hand trug, hin und her, betrachtete ihn von allen Seiten und klapperte mit den Zähnen vor Aufregung.
»Ich muß noch einmal ausgehen ... aber es ist so kalt! ... Ich muß einen eingeschriebenen Brief aufgeben ... Ist ein Postamt in der Nähe?«
»Gleich hier, Via Bottcompagni. Wenn Sie wollen, besorge ich ihn ...«
»Nein, danke, ich gehe selbst.«
Er stand auf und folgte ihr, doch bevor er das Zimmer verließ, legte er ein kleines Päckchen auf den Nähtisch.
Als Francesco nach Hause kam, war sie schon zurück und deckte den Tisch. Sie war blaß, aber ruhig und entschlossen, ihm sogar den Besuch Signor Zanches zu verheimlichen. Aber er sah das Päckchen und öffnete es wie ein neugieriges Kind. Es waren Datteln darin, goldbraun und klar wie große Perlen.
An dem selben Tage traf ein von Luca im Namen der Mutter geschriebener Brief ein; unter anderen kleinen Nachrichten teilte er auch Zio Sorighes Verschwinden mit. »Es scheint, daß er, bevor er damals wieder aus der Stadt ging, einige Einkäufe gemacht und dabei einen Fünfziglireschein gewechselt hat, der Priamo gehörte. Wir halten ihn aber doch für unschuldig und meinen, daß er sich nur um nicht verhaftet zu werden verborgen hält, bis seine Unschuld bekannt ist.«
»Meine Mutter läßt dich grüßen«, sagte Gavina zu Francesco, ohne ihm den Brief zu lesen zu geben. Sie wartete, ob er irgend eine Frage an sie richten würde, und war bereit, ihm mit einer Lüge zu antworten. Doch er schwieg.
Es vergingen einige Tage. Francesco stand morgens sehr früh auf und ging in die Augenklinik, an der er Assistent war; nachmittags machte er, wenn das Wetter schlecht war, in seinem Arbeitszimmer Experimente, und dann war es, als ob er sie vollständig vergessen hätte, der Liebkosungen müde, die er in der Stunde der Mittagsruhe an sie verschwendete. Das Wetter war jetzt kalt und windig geworden, Es hing, wie Wasserschleier in der Luft, und von Zeit zu Zeit prasselte der Regen nieder. Dann war es, als ob die ganze Welt in Weinen ausbräche, in das sich klagende, grollende, drohende Stimmen mischten. Und allein an ihrem Fenster zusammengeschmiegt, kam Gavina sich vor, als habe sie Teil an diesem allgemeinen Jammer, und unwillkürlich, ja trotz der wenig fröhlichen Erinnerungen ihres vergangenen Lebens, überwältigte sie das Heimweh. Nachts, im Traum, war sie immer zu Hause oder in der Kirche, ging mit Paska zum Brunnen hinunter, rief Michela an und zankte sich mit ihr wegen Francesco. Und unfehlbar erschien die Gestalt Zio Sorighes in ihren Träumen und verursachte ihr Unruhe und Gewissensbisse.
Fast jeden Morgen kam nun der Signor Zanche und brachte ihr die Zeitungen von der Insel und Paketchen mit Süßigkeiten oder Obst. Einmal sogar ein paar frische Eier. Er nahm es nicht übel, wenn sie ihn allein ließ oder auf seine Fragen keine Antwort gab; er las ruhig seine Zeitungen und dann ging er wieder und wiederholte sein gewohntes Anerbieten: »Wenn Sie etwas brauchen, so verfügen Sie über mich!«
Seine Anwesenheit war ihr lästig – aber wenn er nicht kam, wurde sie nur um so unruhiger. Es war ihr, als hätte er verstanden, was in ihr vorging, und käme um sie schweigend zu trösten, oder ihr seine Hilfe anzubieten. Sie verschmähte diesen Trost und diese Hilfe, doch die Gegenwart dieses müßigen und uneigennützigen, langweiligen und nützlichen Menschen ward ihr zum Bedürfnis, weil sie sich davor fürchtete, mit ihren Einbildungen und Sorgen allein zu sein.
Dem heimatlichen Brauche gemäß, ging Francesco nach dem Mittagessen zu Bett und schlief eine Stunde. Von ihm aufgefordert, ja mitgezogen, von dem trüben Regenwetter bedrückt und ermüdet durch ihre traurigen Gedanken, folgte Gavina seinem Beispiel. Sie schliefen beide, und wenn sie aufwachten, nahm er sie in seine Arme und bedeckte sie mit Küssen. Und er war alsdann ein anderer: er scherzte nicht mehr, er war auch nicht mehr der kalte, ruhige junge Mann, den sie in seinem Arbeitszimmer gesehen: er ward dann traurig und in seinen Augen lag, auch in den Augenblicken leidenschaftlicher Hingabe, ein tiefschmerzlicher Ausdruck. Sie suchte nach der Erklärung dieses Rätsels. Es kam ihr vor, als spräche er zu ihr wie zu einer andern. Sie war schön, so in den Kissen, mit gelöstem Haar und geröteten Wangen, kindliche Verlegenheit im Blick. Er gab ihr die süßesten Namen, preßte sie an sich, daß es ihr fast weh tat, aber er lächelte nicht, er schien traurig.
Ihr kam der Gedanke, er zweifle an ihr und litte unter ihrer physischen Unempfindlichkeit und ihrem Kummer. Endlich aber mußte sie sich überzeugen, daß das, was ihn schmerzte, das Bewußtsein war, daß sie ihn nicht liebte, und daß seine Zärtlichkeiten sie deshalb kalt ließen. Und trotz des Stolzes, der sie von ihm fernhielt, schuf sie sich eine neue Sorge: ihn nicht glücklich zu machen.
»Genug, genug!« dachte sie. »Ich habe immer Böses getan, immer nur Leid bereitet: jetzt ist es genug!« Und sie glaubte eine Pflicht zu erfüllen, indem sie seine Liebkosungen, seine Küsse zu erwidern begann; und wenn er sah, daß sie sich belebte, so war es als fühle er das Entzücken, das Staunen eines Künstlers, in dessen eigener Schöpfung der Pulsschlag lebendigen Lebens erwache.
»Du liebst mich also!« sagte er eines Tages. »Ja, liebe mich, liebe mich, laß uns eins werden!«
Sie errötete. Sie ward gewahr, daß sie wirklich anfing ihn zu lieben. Die Liebe war es und nicht die Pflicht, die sie lehrte, seine Liebkosungen zu erwidern! Es war ihr, als ströme von seinen Lippen völliges Vergessen alles anderen in ihre Seele, als nähme er durch fernen Kuß sie ganz in sich auf. Für einen Augenblick waren sie wirklich eins, endlich I Sie erbebte bis ins Innerste, es war ihr, als zerbräche sie, mit ihm zusammen. Wohl sah sie, bevor sie wieder zur Besinnung kam, in seinen Augen noch einen leidvollen Ausdruck und erkannte, daß auch er ein Weh empfunden hatte. Und so erfuhr sie, daß das, was man sie als die größte Sünde anzusehen gelehrt hatte, die höchste Lust, in Wahrheit der höchste Schmerz war.