Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vor etwa zwei Jahren wurde ich einmal von Studenten gebeten, eine Spezialvorlesung über »Parteien und Parteiregierung« zu halten. Ich kam diesem Wunsche in einigen Stunden nach und fand dabei, daß der Gegenstand sich eigne, zu einer vollständigen Vorlesung für ein Semester erweitert zu werden. Diese Vorlesung habe ich im Sommer 1913 gehalten, und indem ich sie begann, machte ich mir klar, daß, was ich vorzutragen gedachte, auch geeignet sein möchte, in den Druck gegeben zu werden. Ich ließ also die Vorlesung nachstenographieren und lege sie nunmehr vor, nachdem ich sie hier und da überarbeitet, ergänzt und auch den Titel geändert habe. Es sind die Ideen und Tendenzen, die ich seit 29 Jahren in den »Preußischen Jahrbüchern« vertrete, psychologisch analysiert und breiter fundamentiert durch die Ergebnisse meiner historischen Werke und Studien; auch manche Berichtigung hergebrachter Anschauungen, über die meine Untersuchungen noch nicht veröffentlicht sind, ist eingeflochten.
Wie man auch theoretisch über das Verhältnis des Historikers zum Politiker urteile, bei mir hängen beide jedenfalls in der Weise zusammen, daß meine politische Stellungnahme durchaus beherrscht ist durch meine Auffassung als Historiker und nicht umgekehrt. Ganz gewiß ist es nicht das Wesen und der Zweck der Geschichte, aus ihr Lehren zu ziehen für das praktische Handeln. Das Wesen der echten Geschichtsschreibung ist die reine Betrachtung. Es gibt keine Gesetze der Geschichte, und man kann keine Verhaltungsregeln aus ihr ableiten. Das schließt aber nicht aus, daß eine klare Einsicht in den Ursprung und das Werden der Zustände, in denen wir leben, ein unschätzbares Hilfsmittel ist, die Gegenwart zu verstehen, und das bessere Verständnis der Gegenwart, wenn es auch noch keine Prophetengabe für die Zukunft verleiht, schärft doch den politischen Blick. Nicht minder werden wir das von der Einsicht in das Werden und Vergehen anderer Völker erwarten dürfen. Wenn es wahr ist, daß Politik Voraussehen verlangt, so hat schon hierdurch die echte Geschichtskenntnis ihren hohen Wert für die Politik, wenn schon ihr eigentlicher Zweck darin nicht liegt. Das Voraussehen in der Politik erleichtert des weiteren ihre praktische Aufgabe, die Zielsetzung, der dann endlich der Wille zur Tat in der praktischen Staatskunst das volle Leben verleihen muß. Nationale Gesinnung verlangen wir heute von jedem, aber auch wenn die Gesinnung sich paart mit der Willenskraft, kann sie den nationalen Staat doch nur dann gedeihlich führen, wenn sie die wohl überlegende und durchgebildete Einsicht an der Spitze hat.
In diesem Sinne sind Wissenschaft und Politik in den »Preußischen Jahrbüchern« von je verbunden gewesen, und was dort nach den Forderungen des Tages gegeben wird, habe ich nun hier, freilich nur in der flüssigen Form einer Vorlesung, versucht systematisch zu entwickeln. Die »Preußischen Jahrbücher« haben sich oft dem Strom der öffentlichen Meinung entgegengestemmt, zuweilen auch bei guten Freunden Widerspruch erregt. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß diese zusammenhängende Darstellung manchen Widerspruch, der mehr auf Mißverständnis als auf sachlichem Gegensatz beruht, überwinden, auch manchen wirklichen Gegner stutzig machen und schließlich diesen meinen Anschauungen neue Anhänger gewinnen wird.
Unsere Regierung rühmt sich über den Parteien zu stehen. Auch die Wissenschaft steht über den Parteien. Die menschliche Unzulänglichkeit wird es selten zulassen, daß dieser hohe Standpunkt tatsächlich erreicht und innegehalten wird. Aber schon daß er erstrebt wird, gibt eine große Überlegenheit über jeden Parteistandpunkt. Der praktische Staatsmann sieht zunächst, wie er sich mit den Parteien auseinandersetze. Aber auch was die Wissenschaft sagt, ist besonders in Deutschland immer sehr beachtet worden, und es möchte ratsam sein, daß man das auch fürderhin wohl in Obacht nehme.
Berlin-Grunewald,
den 11. November 1913.