Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In Island oder Ostpreußen, ich weiß es nicht mehr genau, denn es ist schon sehr lange her, wohnte einmal eine alte Königin. Sie war noch nicht so sehr alt, daß sie schon Runzeln gehabt hätte, aber sie war schon alt genug.
Sie saß ganz allein auf ihrem goldnen Thron und regierte. Sie hatte keinen König und keine Prinzen oder Prinzessinnen, die ihr hätten helfen können; und so mußte sie alles selber regieren.
Es ging sehr ordentlich in ihrem Lande zu, denn die Minister und Räte taten pünktlich ihre Pflicht. Die Königin war auch gerecht; sie schenkte den guten Leuten Orden oder ihr königliches Bildnis und schickte die bösen ins Gefängnis oder ließ sie köpfen. Sie besaß schöne Schiffe und prächtige Soldaten, und ihre Kirchen trugen die höchsten Türme der Welt.
Trotzdem war die alte Königin oft traurig, denn es hatte sie niemand richtig lieb. Sie wurde zuletzt ganz krank und konnte gar nicht mehr lachen.
Ihr Leibarzt, der sonst ein kluger Mann war, wußte ihr nicht zu helfen. Er bestellte Feuerwerk und bengalische Beleuchtung, um die Königin zu belustigen und ließ geputzte Menschen aufs Schloß kommen, die Musik machen und tanzen mußten. Aber die Königin sah ganz wo anders hin und fand alles langweilig. Auch das Essen schmeckte ihr nicht mehr, so große Mühe sich auch der dicke Koch damit gab. Ja, die arme Königin war recht zu bedauern.
Da kam eines Tages ein Mann im blauen Kittel aufs Schloß, der hatte auf der Schulter einen Vogel mit einem Silberfederschwänzchen, und der Vogel konnte sprechen. Der Mann sagte: »Guten Tag, Frau Königin, ich weiß, daß du krank und traurig bist; nimm diesen Vogel, vielleicht macht er dich wieder froh; ich reise durch meine Wälder, wenn ich wiederkomme, werde ich ihn fragen, ob er bei dir bleiben will; bleibt er, so wirst du gesund.« Nach diesen Worten ging der Mann im blauen Kittel und ließ seinen Vogel bei der alten Königin.
Der gefiel er außerordentlich! Er war blau wie der Himmel und wippte mit seinem Silberfederschwänzchen auf und ab, daß es nur so blitzte! Die Königin mochte gar nicht mehr von ihm gehn; sie streichelte ihn, kraute ihm das Köpfchen und fragte ihn, wie er hieße und ob er bei ihr bleiben wolle. Der Vogel besah sich die alte Königin von oben bis unten, schüttelte seine Federn und sang:
Frohgemut heiß ich, nach Häßlichem beiß ich, alte Weiber mit Trauergesicht lieb ich nicht! |
»Majestät,« sagte der Leibarzt, »das ist ein grober Vogel, den solltest du köpfen lassen;« aber die alte Königin hatte den blauen Vogel nur noch lieber und wurde immer trauriger. Sie ließ den schönsten Gartensaal für ihn einrichten und hielt eigens Diener, die ihm Futter bringen und das Bad bereiten mußten.
All ihre freie Zeit brachte sie bei ihm zu. Manchmal fragte sie ihn bescheiden, ob er sie nun lieb hätte und bei ihr bleiben würde; aber dann lachte sie der Vogel aus und wurde noch gröber als das erstemal. Die arme alte Königin grämte sich so, daß sie ganz mager wurde und in der Kirche sogar nicht mehr aufpassen konnte! Nicht einmal ein Vogel wollte sie lieb haben!
Eines Morgens stand sie wieder im Gartensaal und sah ihm zu, wie er lustig von einer Palme zur andern hüpfte, daß sein blaues Gefieder in der Sonne leuchtete. Die Königin schien er gar nicht zu bemerken. Da bekam sie wieder ihre große Traurigkeit. »Lieber Vogel Frohgemut,« rief sie, »willst du denn gar nichts von mir wissen? Sage, was ich tun soll.« Da wippte der Vogel mit dem Silberfederschwänzchen und sagte: »Dummes Weib. dummes Weib.« Als die Königin aber ein noch traurigeres Gesicht machte, flog er ihr auf die Schulter und sang ihr leise ins Ohr:
»Draußen, hinter Feld und Baum träumt die Erde ihren Traum, gehe hin, wecke sie, höre ihre Melodie!« |
Der alten Königin wurde ganz jung zumute, als sie das Liedchen hörte. Sie ließ sich ihren kleinen Purpurmantel bringen, der große mit dem Hermelin war viel zu lang, und ging mit dem Vogel, der wieder auf ihre Schulter flog, die Freitreppe hinunter in den Park. Der Leibarzt dienerte und wollte nach, aber sie befahl ihm zurückzugehen und dafür zu sorgen, daß sie allein bliebe.
Zum erstenmal in ihrem langen Leben ging die Königin allein.
Da sah die Welt ganz neu und anders aus! Die Sonnenstrahlen waren lebendig! Wie Blitzgeister tanzten sie in den Blättern und auf dem Rasen. »Wer tanzt mit mir, wer spielt mit mir,« summte es der Königin durch den Kopf. Das war ein Lied, das sie als kleines Kind von der Amme gelernt hatte, und unwillkürlich sang sie es leise vor sich hin:
Wer tanzt mit mir? Wer spielt mit mir? Ich bin so sehr allein. Kam da der gelbe Sonnenstrahl: »Ich tanze Tippel – huschemal, willst du meine Tänzerin sein?« Wer tanzt mit mir? Wer spielt mit mir? Der Sonnenstrahl ist zu fein. Kam da der wilde Pustewind, »heidi, ich spiele Wegefind, laufe doch, fang' mich ein! . . .« Wer tanzt mit mir? Wer spielt mit mir? Der Wind macht mein Krönchen entzwei! Kam da ein brauner Junge an, macht 'nen Diener wie'n Edelmann: »Prinzeß, ich bin so frei!« |
»Bravo, bravo, schön,« sagte da der blaue Vogel, schüttelte sein Gefieder und flog hoch in die Luft. Die Königin sah ihm nach und sah, wie er immer weitere leuchtende Kreise zog, bis er vor lauter Helligkeit nicht mehr zu sehn war. Nun ist er weg, dachte sie, aber sie konnte nicht traurig sein, es war zu schön um sie herum, und alles sah sie warm und traulich an.
Neben ihr wuchs eine wilde Kirsche. Sie merkte den süßen Mandelgeruch und legte ihre Backe an den jungen Stamm. Du bist reich und gut, mußte sie denken und guckte den Bienen nach, die den Baum besuchten. Weiter ging sie zu einem Goldregen. Sie sah deutlich, wie die gelben Köpfchen sich anstrengten, um aus der grünen Kammer an die Sonne zu kommen. Am liebsten hätte sie ihnen geholfen; weil sie das aber nicht konnte, streichelte sie die Blüten, eine nach der andern, soviele sie langen konnte! Dann öffnete sie das Parkgitter und war mitten im Walde.
Da standen die alten Kiefern und nickten mit den Kronen wie gute alte Tanten. Die Königin nickte ihnen auch zu und ging weiter ein gut Stück in den Wald hinein. Als sie müde war, setzte sie sich auf einen abgeholzten Stamm und hörte auf das Summen der Insekten und das Hämmern des Spechtes. Sie sah zu, wie eine kleine Meise sich mit einem langen Strohhalm abmühte. »Ja, Schwesterchen, es ist schwer, sich ein Nestchen zu bauen, nicht wahr?« sagte sie zu dem Vögelchen, das sie mit den kleinen klugen Augen neugierig ansah.
Neben ihr machte ein Grashüpfer seine possierlichen Sprünge. Er putzte sich so drollig mit den dünnen Vorderfüßen sein Mäulchen, daß sie laut lachen mußte! Ja, die alte Königin mußte laut lachen und war darüber so vergnügt, daß sie gewiß ins Tanzen gekommen wäre, wenn sie nicht von all dem Sitzen auf dem Thron schon steife Beine gehabt hätte! Sie machte sich ein Sträußchen von Waldblumen, schürzte ihre seidne Schleppe hoch auf und ging viel schneller als vorher weiter in den Wald hinein.
Sie mußte grad an den blauen Vogel und an sein seltsames Liedchen denken, als sie Stimmen hörte. Das waren gewiß Kinder, denn es klang herzlich und hell. Zuerst wollte die Königin umkehren, es war so schön allein im Walde gewesen; aber alte Damen sind neugierig, auch wenn sie Königinnen sind, und so ging sie weiter.
Richtig! Zwischen hohen Kiefernstämmen spielten etwa zwanzig Dorfkinder. Sie waren meist barfuß und arm gekleidet, hatten aber warme, frische Gesichter. Ein dicker kleiner Junge kam auf die Königin zu und sagte: »Willst du mitspielen? Wir spielen Häschen in der Grube, du hast so 'nen feinen Mantel um, das kann die Grube sein.« Der Königin war so, als wäre das ihr Söhnchen und sie ging mit. Die Kinder jubelten und nahmen ihr den Purpurmantel ab. Sie breiteten ihn auf die Erde, das sah ganz herrlich aus, setzten die Königin mitten darauf, machten einen Kreis und sangen:
Häschen in der Grube saß und schlief, kam der heilge Kuckdikuck, und bracht' ihm einen Brief. Häschen bist du müde? Oder bist du krank? Steck doch deine Läufer raus, ob du noch hüpfen kannst. Und was stand geschrieben in Kuckdikuckens Brief? :,: Dem Kutscher, der nicht fahren kann, geht der Wagen schief. :,: |
Die beiden letzten Zeilen sangen die Kinder sehr schnell und tanzten wie toll um die alte Königin herum. Ihr wurde ganz schwindlig, aber sie lachte, daß ihr die Tränen kamen und sang die Wiederholung mit:
Dem Kutscher, der nicht fahren kann, geht der Wagen schief. |
Als das Spiel aus war, sagten die Kinder, sie wäre eine lustige Frau, wie sie denn hieße. Die Kinder kannten ihre Königin bloß von Bildern her, wo sie ihr Königingesicht machte, und das sieht ganz anders aus, als wenn man mit Kindern spielt. Die Königin lachte und sagte: »Ich bin eine Fee und will den Ärmsten von euch was schenken.« Die Kinder waren verlegen, sie wußten nicht, wer der Ärmste sei. Endlich sagte eines: »Fritz und Lene sind die Ärmsten, die haben keinen Vater und keine Mutter.« Ja, das wären wohl die Ärmsten, meinten die andern auch. »Nun, so wünscht nur los,« sagte die alte Königin und band sich ihren Purpurmantel wieder um; sie dachte gewiß, die Kinder würden sie dann eher für eine Fee halten. Der kleine Fritz, derselbe Junge, der die Königin zum Mitspielen eingeladen hatte, sagte gleich: »Ich möchte ein lebendiges Pferd haben.« »Sollst du,« sagte die Königin, »und du, Lenchen?« Das kleine Mädchen sah ihr forschend ins Gesicht: »Wenn du eine Fee bist, könntest du mir eine Mutter schenken, fast alle Kinder haben eine Mutter.«
Da wurde der alten Königin wunderlich zu Sinn; sie nahm das kleine Mädchen an die rechte und den Jungen an die linke Hand, nickte den andern Kindern noch freundlich zu und ging mit den beiden ins Schloß zurück.
Der dicke Koch sperrte seinen großen Mund noch größer auf, als sie mit den Kindern über den Schloßhof kam, und der Leibarzt machte vor Verlegenheit eine Verbeugung über die andere. Da sie aber Königin war, durfte ihr niemand dreinreden, und so blieben die Kinder im Schloß.
Auch ihre alte Großmutter wurde hingeholt und wackelte vor lauter Seligkeit immer von einem Bein aufs andre. Am besten aber hatte es die Königin, die wurde beinah wieder jung vor aller Freude. Die Kinder mußten bei ihr lernen und spielen; fast hätte sie das Regieren vergessen vor lauter Eifer! Ihr erster Gedanke des Morgens waren die Kinder und abends erzählte sie ihnen von dem lieben Gott und den Sternen und noch von vielen andern schönen Dingen. Am liebsten aber ging sie mit ihnen in den Wald; da wußten die Kinder die schönsten Plätzchen und brachten Mutter Königin frische Erdbeeren, die viel besser schmeckten, als die man bei Tisch bekam.
An den blauen Vogel hatte sie die ganze Zeit nicht mehr gedacht. Da hörte sie eines Tages fröhliches Lachen aus dem Gartensaal. Sie ging hinein, da tanzten Fritz und Lene um den blauen Vogel, der unbemerkt durch das Fenster gekommen war und nun fröhlich auf seiner kleinen Schaukel saß, als wäre er nicht weggewesen. Die Kinder aber lachten, weil er immerlos schrie: »Dem Kutscher, der nicht fahren kann, geht der Wagen schief.« Der kleine Schelm mußte wohl im Walde zugehört haben. Der Königin blitzten die Augen vor Freude, als sie den lieben blauen Vogel wiedersah, und nun lachten sie alle drei, daß die alten vergoldeten Stühle und die Bilder mit den steifen Königen mitwackelten.
Plötzlich hielten sie an. Die Tür war aufgegangen, der Mann im blauen Kittel stand im Saal. »Willst du mit, Frohgemut?« fragte er. Der blaue Vogel wippte mit dem Silberfederschwänzchen, flog der Königin auf die Schulter und sang:
Die Welt ist gescheidt, sie wechselt ihr Kleid und schüttelt die Zeit! Ich grüße den Herrn, Wo Kinder lachen, da bin ich gern. |
Da nickte der Mann im blauen Kittel der Königin zu und ging.
Der blaue Vogel aber blieb, und manchmal half er der Königin regieren.