Alphonse Daudet
Der Unsterbliche
Alphonse Daudet

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Elftes Kapitel.

Der Degenstich, der ihren Sohn um ein kleines zum stillen Mann gemacht hätte, bildete für die ehelichen Zwistigkeiten des Hauses Astier eine Ableitung. Bis ins Innerste erschüttert in seinem Vatergefühl, wurde Léonard weich und verzieh, und da Frau Astier während der drei Wochen ihres Dienstes am Krankenbett nur für Augenblicke in die Rue de Beaune kam, um Wäsche zu holen oder ihre Kleider zu wechseln, gab es keine Gelegenheit zu Anspielungen, versteckten oder offenen Vorwürfen, wie sie im Zusammenleben zweier Menschen so oft auch nach erteilter Vergebung, nach dem Friedensschluß, einen Streit wieder aufleben machen. Was dann nach Pauls Wiederherstellung und seiner schleunigen Abreise nach Mousseaux, wohin eine dringende Einladung der Herzogin ihn rief, vollends dazu beitrug, den Frieden des akademischen Haushalts vollständig wiederherzustellen, demselben wenigstens seine gewohnte Kalthaustemperatur zurückzugeben, war die Uebersiedlung ins Institut, in Amt und Wohnung des verstorbenen Loisillon, dessen Witwe zur Vorsteherin der Schule von Ecouen ernannt worden war und durch ihren unmittelbar darauf erfolgenden Abzug es dem neuen »Ständigen« ermöglichte, fast am Tag nach seiner Ernennung umzuziehen.

Die Einrichtung in diesen so lang beneideten, überwachten, ersehnten Räumen, auf die man gelauert hatte, deren geheimsten Winkel und sämtliche Vorzüge man genau kannte, kostete nicht viel Zeit. Wenn man mitansah, mit welcher Geschwindigkeit und Sicherheit jedes Stück Möbel von der Rue de Beaune an Ort und Stelle kam, so hatte man den Eindruck, daß es sich hier nicht um einen Einzug, sondern um die Heimkehr einer Einrichtung vom sommerlichen Landhaus handle, wobei jedes Stück sich ganz naturgemäß wieder zurechtfand, sich von selbst an die gewohnte Stelle, auf den von ihm in Fußboden oder Wand zurückgelassenen Abdruck verfügte. Verschönerungen wurden nicht vorgenommen, – höchstens eine gründlichere Reinigung des Zimmers, in dem Loisillon gestorben, eine neue Tapete in dem einstigen Salon Villemains, aus welchem Léonard sein Studierzimmer machte, um Licht und Stille aus dem Hof, auf den es ging, zu beziehen und um in einer sehr hohen und sehr hellen kleinen Kabine daneben seine Autographen unterzubringen, die er unter Fages Beistand mittels viermaliger Droschkenfahrt persönlich übersiedelte.

Und jeden Morgen war es ihm eine wahre Wonne, ein immer neues Entzücken, sein »Archiv« zu betrachten, das fast ebenso bequem war wie jenes im Auswärtigen Amt, wo er hocherhobenen Hauptes eintreten konnte und keine Hühnerstiegchen zu erklettern hatte wie zum Hängeboden der Rue de Beaune, an welche er nur mit Empörung und heftigem Widerwillen zurückdenken konnte, wie der Mensch überhaupt jedem Ort, an dem er gelitten hat, einen dauernden, unversöhnlichen Haß bewahrt. Man söhnt sich aus mit lebenden Wesen, die, Wandlungen unterworfen, uns in verschiedenem Lichte erscheinen, aber nicht mit leblosen Dingen in ihrer steinernen Unbeweglichkeit. In der Freude des Umzugs und des neuen Einrichtens konnte Astier-Réhu seinen Groll vergessen, das Vergehen seiner Frau, ja sogar seinen Aerger über Teyssèdre, der die Erlaubnis erhielt, nach wie vor am Mittwoch morgen seine glättende Thätigkeit zu entfalten, aber wenn er nur an den schwebenden Käfig dachte, in welchen man ihn einst allwöchentlich einen vollen Tag gesperrt hatte, so knirschte die vorspringende Kinnlade und ward der große Geschichtschreiber wieder zum Krokodilus.

Ist es aber irgendwie zu verstehen, daß diesen Teyssèdre die Ehre, im Institut Böden bohnern zu dürfen, genau ebenso kalt ließ, wie alles andre, daß die Hoheit dieser Räume keinerlei Wirkung auf sein Gemüt hatte, daß er fortfuhr, den Tisch herumzustoßen, Papierstreifen und zahllose Notizen und Berichte des »Ständigen« durcheinanderzuwerfen, mit der nämlichen herausfordernden, schweigenden Ueberlegenheit des Bürgers von Riom einem gewöhnlichen Sauvagnaten gegenüber! Ohne es einzugestehen, daß diese zermalmende Nichtachtung ihn beengte und in Verlegenheit setzte, machte Astier-Réhu von Zeit zu Zeit den Versuch, diesem Ungeheuer die Majestät des Ortes, an welchen, seine Bürste und sein gelbes Wachs ihre Wirkung thaten, klarzumachen. »Teyssèdre,« sagte er eines Tages, »dies war einst der Salon des großen Villemain, . . . Ich bitte Sie, den Raum darnach zu behandeln,« und um den stolzen Auvergner doch nicht zu sehr zu verletzen, war er feig genug, Corentine gleichzeitig zu sagen: »Geben Sie dem Mann ein Glas Wein.« . . . Die sehr verblüffte Dienerin vollzog den Befehl und der Bohner leerte das ihm gereichte Glas, den Schrupper in der Hand, die Augen vor Freude glitzernd, mit einem Zuge, wischte sich dann den Mund am Aermel ab, und das Glas, auf dem seine wulstigen Lippen einen breiten Streifen zurückgelassen, abstellend, sagte er: »Sehen Sie, Herr Astier, ein Glas frischen Wein – das ist doch eigentlich das einzige, was der Mensch im Leben Gutes hat.« . . . In seiner Stimme erklang ein solcher Herzenston tiefster, wahrster Ueberzeugung, sein Zungenschnalzen drückte ein so wonniges Wohlbehagen aus, daß der ständige Sekretär des Instituts, zu seinen Archiven zurückkehrend, ärgerlich die Thüre hinter sich zuschlug. Denn schließlich, war es denn der Mühe wert, sich die Beine abzulaufen, sich vom niedrigen Anfänger so hoch hinaufgeschwungen zu haben, auf den Gipfel litterarischen Ruhmes, Historiker des Hauses Orleans, Schlüsselbewahrer zum Allerheiligsten der Französischen Akademie zu sein, wenn ein bescheidenes Glas Wein hinreichte, einem Tölpel zu einem Glücksgefühl zu verhelfen, das dem allem mindestens gleichkam! Als er aber einen Augenblick später den Bohner lachend zu Corentine sagen hörte, daß er sich den Teufel drum kümmre, ob diese Stube einmal einem Herrn Villemain gehört habe, da zuckte Léonard Astier die Schultern; seine Aufwallung von Neid zerfiel angesichts einer solchen Unwissenheit und an ihre Stelle trat tiefes, wohlwollendes Mitleid.

Für Frau Astier, der, im Institut erzogen, groß geworden, jeder Pflasterstein des Hofes, jede Stufe der ehrwürdigen und staubbedeckten Treppe B Kindheitserinnerungen wachrief, war dieser Einzug wie eine Heimkehr nach langer Abwesenheit, und weit mehr als ihr Gatte würdigte und genoß sie die materiellen Vorteile ihrer Stellung. Keinen Mietzins mehr zu bezahlen, Beleuchtung und Heizung frei, was besonders für die winterlichen Empfangstage eine ganz bedeutende Ersparnis war, dazu natürlich ein höherer Gehalt, eine vermehrte gesellschaftliche Bedeutung, einflußreiche Beziehungen und Verbindungen, die sie besonders für Paul zu benutzen und für die Jagd nach Aufträgen auszubeuten gedachte! Wenn Frau Loisillon dereinst die Reize und Vorzüge der Wohnung im Institut gerühmt, hatte sie nie ermangelt hinzuzusetzen: »Selbst regierende Fürstinnen habe ich hier empfangen!« »Ja, aber fragt mich nur nicht wo,« hatte die gute Adelaide, ihren langen Hals reckend, bissig bemerkt. Und allerdings kam es nicht selten vor, daß nach Schluß der langen und sehr ermüdenden Sitzungen eine hohe Dame, vielleicht eine königliche Hoheit auf Reisen, oder eine einflußreiche Weltdame, die dem Ministerium nahe stand, der Frau des Sekretärs einen kurzen, etwas eigennützigen Besuch abstattete. Frau Loisillon verdankte ihre Anstellung als Schulvorsteherin wesentlich der in dieser Richtung erwiesenen Gastfreundschaft, und ohne Zweifel würde auch Frau Astier sich nicht minder geschickt darin zeigen, aus diesem unscheinbaren Teil ihrer Wohnung Nutzen zu ziehen. Nur eins war es, was im Augenblick ihren Triumph störte, und das war der Bruch mit der Herzogin, welcher es ihr unmöglich machte, ihren Paul in Mousseaux zu treffen. Nun traf aber zu günstiger Stunde eine Einladung nach Clos-Jallanges ein, wo sie doch wenigstens in nachbarlicher Nähe mit ihrem Sohn war und die überdies die Hoffnung in ihr erweckte, die Beziehungen zur Herzogin, für welche sie wieder ganz zärtlich gestimmt war, seit sie ihrem Jungen Gutes erwies, von neuem anknüpfen zu können.

Léonard, den seine durch Loisillons lange Krankheit sehr im Rückstand befindlichen Amtsgeschäfte in Paris festhielten, ließ seine Frau gerne reisen und versprach ihr, von Zeit zu Zeit auf ein paar Stunden zu ihren gemeinsamen Freunden zu gehen, während er in Wirklichkeit fest entschlossen war, keinen Fuß aus dem Institut zu setzen. Ach wie wohl fühlte man sich nicht in demselben, wie hatte man Ruhe! Zwei Sitzungen in der Woche, zu welchen er nur über den Hof zu gehen brauchte, Sommersitzungen, vertrauliche, familiäre, wo nur ein halbes Dutzend Diätenschnapper unter dem heißen Glasdach schlummerten. Den übrigen Teil der Woche vollkommene, ungestörte Muße, die der arbeitsame Greis zu nützen wußte, indem er die Korrektur des endlich zum Abschluß gebrachten Galilei las, der zu Anfang des Winters erscheinen sollte, und eine zweite Ausgabe seiner Geschichte des Hauses Orleans vorbereitete, welche, mit neuen, bisher ungedruckten Dokumenten bereichert, nun noch einmal so wertvoll sein würde als die erste. Die Welt wird alt; die Geschichte – das Gedächtnis der Menschheit, das wie diese selbst allen Krankheiten, Schwächen, Lücken und Irrtümern unterworfen ist – muß sich mehr als je auf Texte, Originalschriftstücke stützen, sich auffrischen und, wenn sie nicht des Irrtums und der Faselei geziehen werden will, strenge Quellenforschung betreiben. Welche stolze Genugthuung denn auch für Astier-Réhu, welche Seligkeit, in diesen sengend heißen Augusttagen auf den wohlbekannten Blättern immer wieder diese wohlbegründete, auf Originaldokumenten beruhende Beweisführung zu lesen, ehe er sie dem Verleger Petit-Séquard wieder zustellte, mit dem Titelblatt, wo zum erstenmal unter seinem Namen der »Ständige Sekretär der Französischen Akademie« prangte, ein Titel, an den er sich noch nicht gewöhnt hatte und dessen Glanz ihn noch immer blendete wie der weiße, sonnenbeschienene Hof vor seinem Fenster. Er war ungeheuer groß, dieser zweite Hof des Instituts, still, majestätisch, kaum daß einmal ein Schwalben- oder Sperlingsgezwitscher sich darin vernehmen ließ; besonders feierlich wirkte eine Bronzebüste der Minerva und zehn vor der Mauer im Hintergrunde in wohlgemessenen Zwischenräumen aufgestellte monumentale Prellpfeiler. Den ganzen Raum beherrschte und überragte das Riesenkamin des benachbarten Münzgebäudes.

Gegen vier Uhr nachmittags, wenn der behelmte Schatten der Büste der Minerva länger zu werden anfing, ertönte der nervöse, harte Tritt des alten Jean Réhu auf den Steinfliesen. Er wohnte über den Astiers und machte jeden Tag regelmäßig seinen langen Spaziergang, wobei zu seinem Schutz, aber in ziemlicher Entfernung, ein Diener mitging, dessen Arm zu nehmen er sich hartnäckig weigerte. Während sich seine Taubheit und Unzugänglichkeit mehr und mehr steigerten, nahmen seine Geistesfähigkeiten unter dem Einfluß dieses ausnahmsweise heißen Sommers sichtlich ab, besonders das Gedächtnis, welchem auch die als Merkzeichen in die Rockklappen gesteckten Stecknadeln nicht mehr aufzuhelfen im stande waren: bei all seinen Erzählungen verlor er den Faden, irrte pfadlos in seinen Erinnerungen umher wie der alte Livingstone in den Sümpfen Mittelafrikas, tastend, unsicher, strauchelnd, bis ihm jemand zu Hilfe kam, und da ihn dies demütigte, beschämte und verstimmte, so sprach er überhaupt mit gar niemand mehr, sondern hielt im Gehen Selbstgespräche, wobei er dann plötzlich stehen blieb, mit dem Kopfe nickte und das unvermeidliche: »Ich habe das erlebt, ich!« vor sich hinmurmelte, so oft eine Geschichte oder Anekdote zu Ende war. Im übrigen war er noch immer stramm und bolzgerade, fand genau wie zur Zeit des Direktoriums den größten Spaß an kleinen Mystifikationen und vergnügte sich damit, die Schar von allzu lebensfreudigen Maulaffen, welche sich täglich in Briefen mit der Frage an ihn wandte, welchen hygienischen Mitteln er seine unerschütterliche Gesundheit und die lange Lebensdauer verdanke, bald zum Verzicht auf Wein, bald zu dem auf Fleisch zu verdammen und ihnen die verschiedentlichste und drolligste Diät vorzuschreiben. Und während er dem einen Gemüse, dem andern Milch oder Apfelwein verordnete, andre wieder auf Schnecken und Eierschalen verwies, versagte er sich selbst gar nichts, trank tüchtig und ohne alle Zuthat von Wasser bei den Mahlzeiten, auf welche stets eine kleine Siesta folgte und des Abends eine tüchtige Zimmerpromenade, deren Dröhnen Léonard Astier über sich vernahm.

Seit der Ernennung des akademischen Sekretärs waren zwei Monate verflossen, der August und September, zwei volle Monate eines beglückenden, fruchtbaren inneren und äußeren Friedens, eine Ruhepause des Ehrgeizes, wie er in seinem ganzen Leben keine ähnliche verschmeckt und genossen hatte. Frau Astier war noch immer in Clos-Jallanges, sprach aber nun von baldiger Rückkehr, schon ließen die ersten Nebel den Himmel von Paris etwas bleiern erscheinen, einzelne Akademiker waren von der Reise heimgekehrt, die Sitzungen nahmen einen weniger vertraulichen Charakter an, und Léonard Astier hatte in seinen Arbeitsstunden im ehemaligen Salon Villemain nicht mehr nötig, zum Schutze gegen die sengende Sonnenglut der Hofseite die Rouleaux herunterzulassen. Er saß eines Nachmittags an seinem Tisch, im Begriff, dem guten Freydet erfreuliche Kunde über seine Aussichten in Bezug auf die Kandidatur mitzuteilen, als die altmodische, schwächliche Thürklingel mit so großer Heftigkeit gezogen wurde, daß sie mit all der ihr gebliebenen Kraft durchs Haus ertönte. Corentine war eben ausgegangen, der Gelehrte öffnete also selbst und war höchlich betroffen, sich dem Baron Huchenard und dem Paläographen Bos gegenüber zu sehen. Hohläugig und aufgeregt drängte sich letzterer sofort ins Arbeitszimmer des Meisters und brach, die Arme zum Himmel erhebend und hinter dem roten Bart hervorschnaubend, mit gesträubtem Haupthaar, in die Worte aus: »Die Stücke sind gefälscht. . . . Ich habe den Beweis . . . den Beweis!«

Astier-Réhu, der im ersten Augenblick gar nicht begriff, wovon die Rede, sah den Baron an, welcher seinerseits in Betrachtung des Thürgesimses versenkt schien; als er dann aber aus dem Gebrüll und Gestöhne des Paläographen heraushörte, daß man die Echtheit der drei von Frau Astier an Bos verkauften und von diesem an Baron Huchenard übergegangenen Briefe Karl V. in Abrede zog, lächelte er sehr von oben herab und erbot sich, seine drei Autographen, deren Integrität in seinen Augen durch nichts, durchaus nichts anzufechten war, zurückzukaufen.

»Erlauben Sie mir, Herr Sekretär des Instituts, Ihre Aufmerksamkeit auf, . . .« Der Baron Huchenard knöpfte, während er so sprach, seinen lehmfarbigen Ueberrock auf, zog ein großes Kouvert aus der Tasche und entnahm demselben die drei Pergamente, die, zur Unkenntlichkeit verwandelt, mit Pottasche behandelt, von ihrer vergilbten, räucherigen Farbe in ein glänzendes Weiß übergegangen waren, und deren jedes in der Mitte der Seite, vollkommen leserlich und klar, unter der Unterschrift Karl V., den Stempel trug:

B. B. Angoulème 1836.

»Der Chemiker Delpech, unser berühmter Kollege von der Akademie der Wissenschaften . . .« aber diese Auseinandersetzungen drangen nur wie ein dumpfes Surren ans Ohr des armen Léonard, der plötzlich verblaßt war, blutlos bis in die Fingerspitzen der groben, behaarten Hände, in welchen die drei Handschriften zitternd hin und her flogen.

»Die zwanzigtausend Franken werden heute abend in Ihren Händen sein, Herr Bos,« stotterte er endlich mit entfärbten Lippen.

»Zweiundzwanzigtausend hat mir der Herr Baron bezahlt,« berichtigte dieser kläglich.

»Zweiundzwanzigtausend, also!« sprach Astier-Réhu und hatte die Kraft, den Herren das Geleite an die Vorthür zu geben. Im Halbdunkel des Vorplatzes jedoch hielt er seinen Kollegen von der Akademie der Inschriften zurück und bat ihn mit sehr demütiger, jämmerlicher Stimme, der Ehre des Instituts zuliebe über den Fall Schweigen zu bewahren.

»Mit Freuden, mein lieber Meister, nur habe ich dabei eine kleine Bedingung . . .«

»Sprechen Sie; sprechen Sie . . .«

»Sie werden morgen den Brief, mit meiner Bewerbung um Loisillons freigewordenen Fauteuil erhalten . . .« Ein kräftiger Händedruck war die Antwort des ständigen Sekretärs und enthielt dessen feste Zusage, samt seinen Freunden für den Baron einzutreten.

Wieder allein, saß der Unglückliche völlig gebrochen vor dem mit Korrekturbogen beladenen Tische, wo die drei gefälschten Briefe von Rabelais offen lagen. Stumpfsinnig starrte er darauf hin und las mechanisch: »Meister Rabelais, der Ihr seyd feinen und klugen Geistes . . .« Die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen, wirbelten in einem Strom von Tinte umher, die sich in große Flecken von schwefelsaurem Eisen zersetzte, und diese flüssige Masse sah er steigen, höher und höher anschwellen und seine ganze Sammlung, seine zwölftausend Handschriften verschlingen, seine Autographen, die alle, ach! ein und derselben Quelle entstammten. . . . Wenn diese drei gefälscht waren . . . war es dann nicht auch sein Galilei . . . sein Haus Orleans . . . sein Brief Katharina II., den er dem Großherzog überreicht, sein Brief von Rotrou, den er öffentlich der Akademie als Ehrengabe dargebracht! . . . Dann . . . dann. . . . Mit furchtbarer Willensanstrengung raffte er sich auf. Zu Fage! Er mußte auf der Stelle mit Fage sprechen! . . .

Seine Beziehungen zu dem Buchbinder waren schon einige Jahre alt und schrieben sich von dem Tage her, an dem der kleine Mann im Archiv der Auswärtigen Angelegenheiten erschienen war, um die Ansicht des hochgelahrten und berühmten Herrn Direktors zu vernehmen in bezug auf einen Brief, den Maria von Medicis zu gunsten von Galilei an den Papst Urban geschrieben. Es traf sich, daß Petit-Séquard, der unter dem Gesamttitel »Unterhaltungen für das Schuljahr« eine Serie von kurzen Geschichtsbildern herausgab, darunter einen Galilei von Astier-Réhu, Mitglied der Akademie, angekündigt hatte, und als der Archivar nun, gestützt auf langjährige Erfahrung und große Sachkenntnis, die Echtheit des Schriftstücks erkannt und bestätigt hatte und vernahm, daß Fage auch die Antwort des Papstes Urban, ein Dankschreiben Galileis an die Königin und noch andre darauf bezügliche Schriftstücke in Händen hatte, stieg ihm plötzlich der Gedanke auf, an Stelle dieser litterarischen Kleinigkeit einen richtigen Band Geschichte über den Gegenstand zu schreiben. Zu gleicher Zeit empfand er jedoch als ehrlicher Mann einige Skrupel über die Herkunft dieser Dokumente, und den Buckligen fest ins Auge fassend und das lange, farblose Gesicht mit den zwinkernden, geröteten Augenlidern so eingehend studierend, als ob dieser selbst ein wichtiges Autograph wäre, fragte er mit einem strenge klingenden Knacken der Kinnlade: »Sind diese Handschriften Ihr Eigentum, Herr Fage?«

»O nein, verehrter Meister. . . .« Er, der bescheidene Buchbinder, machte nur den Vermittler für eine Persönlichkeit, die . . . für ein altes Fräulein aus vornehmer Familie, das durch traurige Verhältnisse gezwungen war, sich Stück für Stück einer sehr reichen Sammlung, die schon zur Zeit Ludwig XVI. in ihrem Haus angelegt worden war, zu entäußern. Er hatte sich dem Auftrag auch nicht einmal unterziehen wollen, wenigstens nicht ohne die Ansicht eines Gelehrten darüber gehört zu haben, des berühmtesten und gründlichsten von allen. Jetzt, nachdem er dieselbe vernommen, gedachte er, sich an wohlhabende Sammler zu wenden, zum Beispiel an den Baron Huchenard. . . . »Wozu das? Ganz überflüssig!« fiel ihm Astier-Réhu ins Wort. »Bringen Sie mir alles auf Galilei bezügliche, was Sie in Händen haben. Ich finde schon eine Verwendung dafür.« Dann waren Leute gekommen und hatten sich an den kleinen Tischen niedergelassen, das gewohnte Publikum des Archivs, Forscher und Spürer, schweigsame, fahle Gesichter wie die von Erdarbeitern der Katakomben, die nach Schimmel, eingeschlossener Luft, Moder rochen. »Da oben . . . in mein Arbeitszimmer . . . nicht hierher . . .« hatte der Archivar dem Zwerg noch ins Ohr geflüstert, der fein behandschuht, pomadisiert, mit wohlfrisiertem Scheitel und jener hoffärtigen Selbstzufriedenheit, die bei derartigen Gebrechen häufig vorkommt, den Saal verließ.

Es war wirklich ein Schatz, diese Sammlung von Mesnil-Case – unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit hatte Albin Fage seinem Abnehmer den Namen des alten Fräuleins anvertraut – ein unerschöpflicher Schatz an Blättern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, verschiedenartige, wunderbare Schriftstücke, die häufig ein ganz neues Licht auf die Vergangenheit warfen, oft mit einem Wort, einem Datum alles bisher Angenommene über Menschen und Dinge umstießen. So schweres Geld sie auch kosten mochten, Léonard Astier ließ sich keins dieser Dokumente entgehen, die fast immer mit seinen begonnenen oder geplanten Arbeiten in Beziehung standen. Und kein Schatten eines Zweifels bei den Erzählungen des kleinen Mannes, seinen Beschreibungen der Stöße von Handschriften, die noch unter Staub und Spinnweben auf den Speichern von Ménilmontant lagen! Und wenn auch infolge irgend einer giftigen Bemerkung von seiten des Königs der Autographomanen ein leiser Verdacht sein Vertrauen erschütterte, wie hätte derselbe standhalten sollen angesichts des kaltblütigen Buchbinders, der über die Arbeit gebeugt an seinem Tische saß oder im Frieden des grünen Kreuzganges seinen Salat begoß, vor allem aber gegenüber der höchst einleuchtenden und natürlichen Erklärung, die er für Lücken, Risse und Verwischtes damit zu geben wußte, daß die Mesnil-Casesche Sammlung zur Zeit der Revolution nach England geflüchtet worden sei. Beruhigt, bestärkt und getröstet schritt dann Astier-Réhu mit elastischen Schritten über den Hof zurück, nicht ohne jedesmal eine neue Erwerbung in seiner Rocktasche mit nach Hause zu bringen, für welche er, je nach der Bedeutung der Handschrift, einen Check über fünfhundert, tausend, ja zweitausend Franken ausgestellt hatte.

Was er sich auch zur Beruhigung seines Gewissens vorsagen mochte, im Grund genommen hatte an dieser Verschwendung, von der seine Umgebung noch nichts ahnte, der Sammler größeren Anteil als der Geschichtschreiber. So düster und lichtlos der Hängeboden, auf dem in der Regel ein solcher Handel abgeschlossen wurde, auch war, so hätte ein aufmerksamer Beobachter sich doch darüber nicht täuschen können. Diese gemachte Gleichgültigkeit im Ton, diese trockenen Lippen, die halblaut: »So lassen Sie einmal sehen,« flüsterten, das gierige Zittern und Zucken der Finger, das alles verriet die überhandnehmende Leidenschaft, bald die fixe Idee, das gefräßige, alle Kräfte und Säfte zum Zweck seiner ungeheuerlichen Entwickelung an sich ziehende Geschwür. Astier wurde zum Harpagon, wie er im Buche steht, unerbittlich hart gegen die Seinigen wie gegen sich selbst, über jede Ausgabe Wehe schreiend, sich nur die Pferdebahn als Fahrgelegenheit gestattend, und dabei tröpfelten im Verlauf von zwei Jahren hundertsechzigtausend Franken erspartes Geld insgeheim in die Tasche des Buckligen, und um seiner Frau, dem Dienstmädchen und selbst Teyssèdre gegenüber das häufige Aus- und Eingehen des kleinen Mannes zu erklären, gab ihm der Akademiker Manuskripte, Akten und so weiter zu heften, die er dann mit fortnahm und wieder brachte. Unter sich bedienten sie sich einer gewissen Geheimsprache. Albin Fage schrieb auf einer Postkarte: »Ich habe Ihnen neue Pressungen zu zeigen: Ein Band aus dem sechzehnten Jahrhundert, gut erhalten, selten.« Léonard Astier zögerte noch: »Danke, ich brauche nichts . . . warten wir noch. . . .« Neue Meldung: »Bitte, sich keinen Zwang aufzuerlegen, verehrter Meister. . . . Ich werde mich anderswohin wenden . . .« Worauf dann unfehlbar die Antwort des Akademikers eintraf: »Morgen früh . . . zeitig. Bringen Sie mir das Bewußte.« Und das war das Elend und die traurige Seite seiner Sammlerfreuden; man mußte kaufen, immer kaufen, oder Gefahr laufen, daß dieser wunderbare Schatz in die Hände von Bos, Huchenard oder andrer Liebhaber überging. Zuweilen, wenn er daran dachte, daß sein Geld eines schönen Morgens einfach zu Ende sein werde, erfaßte ihn eine dumpfe Wut, und er stellte dann den Krüppel, dessen selbstzufriedenes, kühles, unveränderliches Gesicht ihn fast wahnsinnig machte, zur Rede: »Ueber hundertsechzigtausend Franken in zwei Jahren! . . . Und Sie behaupten, daß sie immer noch mehr braucht. . . . Ja, was für ein Leben führt denn Ihr adeliges Fräulein?« In solchen Augenblicken wünschte er der alten Dame von Herzen den Tod, ja er wünschte die Vernichtung dieses Buchbinders, einen Krieg, die Kommune, ja einen ungeheuren sozialen Umsturz, der die Schätze von Mesnil-Case samt den Schatzgräbern verschlänge.

Nun, der Umsturz schien jetzt nahe zu sein, freilich nicht so, wie er ihn sich gedacht, denn das Schicksal hat das, um was wir bitten, auch nicht immer zur Hand; aber eine plötzliche und unheilvolle Entwickelung der Sache stand ihm bevor, bei der sein Werk, sein Name, sein Vermögen, sein Ruhm, alles was er war und hatte, zu Grunde gehen konnte. Und als man ihn heute mit Riesenschritten, leichenblaß, laut vor sich hin sprechend der Cour des Comptes zueilen sah, ohne daß er einen der Grüße erwiderte, die er sonst durch einen Blick bis ins Innerste des Ladens herausgefordert, hervorgerufen hatte, da erkannten die kleinen Buchhändler und Antiquitätenhändler der Quais ihren Astier-Réhu kaum wieder. Er sah nichts, niemand. In seiner Einbildung hielt er den Buckligen an der Kehle gefaßt, schüttelte ihn an der schönen, mit einer Nadel geschmückten Krawatte tüchtig hin und her, ihm die durch Delpechs Untersuchung entehrten »Karl V.« unter die Nase haltend. »So lassen Sie doch hören … sprechen Sie … was haben Sie denn diesmal für eine Ausrede?«

In der Rue de Lille angelangt, stieß er die aus unregelmäßigen Brettern schlecht zusammengefügte Thür der Umzäunung, welche die ganze Ruine umgibt, auf, schritt die Freitreppe hinauf und klingelte am Gitter, klingelte noch einmal und fühlte sich dabei plötzlich betroffen von dem unheimlichen Anblick, den das seiner Blumen und grünen Ranken beraubte Gebäude bot, das nun als düstere, dem Zusammenfall nahe Ruine mit gähnenden Spalten zum Himmel starrte, mit gekrümmtem Eisenwerk und entblätterten Lianen als gleich unschönen Schmuck. Ueber den frostigen Hof ertönte das Geklapper von Holzschuhen. Die dicke Portiersfrau erschien, den Besen in der Hand, und sagte, ohne das Gitterthor zu öffnen: »Sie wollen zu dem Buchbinder … haben ihn nicht mehr im Haus.« Fort der Vater Fage, ausgezogen, ohne seine Adresse zu hinterlassen; ja sie war sogar eben dran, die Wohnung für seinen Nachfolger an der Cour des Comptes zu säubern, denn er hatte seine Entlassung genommen.

Anstandshalber stammelte Astier-Réhu noch ein paar unzusammenhängende Worte, aber seine Stimme wurde übertönt von dem heiseren, wilden, von den Gewölben widerklingenden Gekrächze einer ganzen Wolke von schwarzen Vögeln, die sich im Hofe niedersenkte. »So, so! … Die Krähen vom Palast Padovani,« sagte die Frau mit einem respektvollen Hinüberdeuten nach den grauen Platanen, die über das vor ihnen liegende Dach herüberblickten … »kommen dies Jahr vor der Herzogin … da kriegen wir einen frühen Winter.« Das Herz voll Entsetzen ging er von dannen.


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