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Ein majestätischer Saaldiener, der eine Lampe trug, ging vorüber. Victor Eudeline hustete, um sich einen Ton zu geben, und bat, den Herrn Vorsteher gefälligst an ihn erinnern zu wollen. Der Mann machte, ohne sich umzudrehen, ein bejahendes Zeichen und verschwand im Dunkel einer Doppeltür.
Der Bittsteller wartete, auf einer mit Moleskin belegten Holzkiste sitzend, seit einer Stunde in dem langen Vorzimmer des Pariser Gymnasiums mit dem gebleichten Fußboden und den mit einer ungeheuern glasierten geologischen Karte bedeckten Wänden. Der Tag, ein Spätfrühlingstag, ging zur Neige, und durch die Vorzimmerfenster sah Eudeline, wie sich auf allen Stockwerken des Hofes hohe, rechteckige Gaslaternen der Reihe nach entzündeten. Dieser dunkelnde Hof überströmte für ihn von triumphierenden Erinnerungen. Hier hatten Raimund und Antonin, seine beiden Knaben, die Ersten der Klasse im Gymnasium Charlemagne, ihm drei Jahre hintereinander – auch noch im vorigen Sommer – die Freude bereitet, den so bescheidenen Namen Eudeline, den Namen eines durch Glück und Energie zum Meister vorgerückten Tischlergesellen, unter Zujauchzen und Fanfarenklang nennen zu hören. Oh, die Aufregung in diesem Hof, der mit Kindern und festlich gekleideten Eltern gefüllt war, in dem es von Hermelinpelzen und verbrämten Röcken wimmelte! Und sein Zug durch die Menge, zwischen den mit Kränzen und Erfolgen beladenen Söhnen, das ehrenvolle Gemurmel, das sich um sie und ihren armen, in einem funkelnagelneuen Überrock vor Stolz und Gesundheit strotzenden Papa mit dem rotgelben Bart erhob – den Papa Eudeline, Nachfolger von Guillaume Aillaume, einem der größten Fabrikanten des Faubourg du Temple! Und dann das Glück, gleich nach der Preisverteilung mit den Kindern in einen Wagen zu springen – in einen offenen Wagen, in dem das Gold der Bucheinbände und Kränze flimmerte –, durch ganz Paris zu fahren, sich auf allen Boulevards zu zeigen, indem sie zuerst ihren Freund Pierre Izoard im Palais Bourbon und von dort Fräulein Javel, die Hausbesitzerin, in ihrem Palais auf den Champs-Elysées besuchten!
»Der Herr Vorsteher läßt bitten.«
Bei diesem, in trotzigem Tone ergangenen Ruf fuhr Eudeline jäh aus seinem Traum und trat in die Schreibstube, in der ein alter, ganz in Grau gekleideter Herr, mit einer Samtmütze auf dem Ohr, einen Brief zu Ende schrieb.
»Herr Eudeline,« hob er mit zerstreuter Stimme an, ohne den vor ihm stehenden gutmütigen Riesen auch nur anzusehen, »ich hoffe, daß Sie erschienen sind, um nun endlich mit der Administration ins reine zu kommen.«
»Leider nein, Herr Vorsteher – ich komme im Gegenteil, um Sie zu bitten – dringend zu bitten –«
Der von diesem unerwarteten Empfang außer Fassung gebrachte arme Teufel stammelte, verschluckte sich, und seine Wangen wurden durch das aufsteigende Blut lila gefärbt.
»Verzeihen Sie,« murmelte er endlich, indem er einen allzu neuen, riesigen Zylinder, der ihm fast ebenso peinlich war wie das, was er zu sagen hatte, auf den Tisch niederlegte. »Sie kennen mich kaum, Herr Vorsteher, und auch das nur durch meine Kinder. Ich möchte, ehe ich Ihnen meine Bitte vortrage, erzählen, wer ich bin und wer meine Bürgen sind –«
Der Beamte wollte gegen eine zu lange Geschichte Verwahrung erheben, aber das Wort »Bürgen« ließ ihn auf der Hut sein. In dieser demagogischen Zeit haben manchmal ganz kleine Leute ganz hohe Beschützer. Er vernahm also mit Ergebung, daß Victor Eudeline, der alles nur durch sich selbst geworden war, in der Rue de l'Orillon, zwischen den Hobelspänen eines Tischlerladens, das Licht der Welt erblickte. Nach zwei oder drei Jahren Elementarschule kam er zu Guillaume Aillaume in die Lehre und blieb bei ihm. Der Chef hinterließ ihm, nachdem er ihm seine Tochter zur Frau gegeben hatte, auch sein Geschäft, das aber leider in der Hand Eudelines nicht so gedeihen wollte wie in der seinen.
»Und doch, das sehen Sie selbst, Herr Vorsteher, mache ich einen anständigen Eindruck und habe nichts an mir, was die Kundschaft abstoßen könnte. Ich schreie gern, ja, ich schreie, bin jähzornig, das Blut schießt mir gleich in den Kopf; aber Böses habe ich noch niemand getan, wer es auch immer sei . . . Nun wahrhaftig, eine Schwäche habe ich, die mir schaden mußte: ich liebe das Bauen gar zu sehr. Was ich schon für Werkstätten, Phalanstères,Gesamtgebäude für eine etwa zweitausend Seelen umfassende »Phalanx« im sozialen System Fouriers (1772 bis 1837). Arbeiterhäuser und so weiter ausgegeben habe –«
Die gereizte Gebärde, mit welcher der Vorsteher seine Troddelmütze zurechtrückte, ließ ihn innehalten; aber als jener ihm winkte, fortzufahren, sprach Victor Eudeline mit Feuer weiter.
»Trotz alledem würde ich mich aus der Patsche gezogen haben, da treffliche Freunde, sehr mächtige Persönlichkeiten mich unterstützten: Pierre Izoard, Unterchef der Kammerstenographen, ein sehr einflußreicher Mann, der mit einer liebenswürdigen, leider auf der Brust recht schwachen Nizzaerin verheiratet ist. Aber Herr Vorsteher müssen meinen Freund Izoard ja kennen . . . er war früher Universitätsprofessor, hat Anno zweiundfünfzig seine Demission gegeben –«
»Ich kenne ihn nicht,« entgegnete jener trocken.
»Meine hohe Gönnerin war auch meine Hausbesitzerin, Fräulein Javel –«
»Eine Verwandte des Deputierten?«
»Jawohl – des Unterstaatssekretärs im Ministerium des Innern –, sie war seine Tante. Ach, Herr Vorsteher, dieses edle Wesen war ebenso reich als großmütig. Als sie sah, welche Mühe ich mir gab, um meine Kinder zu erziehen und meinen Arbeitern etwas zu helfen, da gewann sie mich und meine Frau lieb. Die rückständigen Mietzinse zählten gar nicht mehr bei ihr. Unser Vertrag ging zu Ende – sie erneuerte ihn für fünfzehn Jahre, ohne uns um einen Sou zu steigern. Sogar meine unmäßige Baulust ermutigte sie, indem sie mir umsonst das Recht verlieh, in meinem Hof eine große Werkstätte zu bauen, die ich vermieten durfte und die mir beinahe meinen Zins eingetragen hätte. Als das Gebäude fertig und zum Vermieten angezeigt war, wäre ich bald aus der Patsche heraus gewesen: mit einemmal stirbt Fräulein Javel an einem Embolid – nein, so ist's nicht richtig – ich bitte um Entschuldigung, die fremden Worte sind nicht meine Stärke – und ich habe es nun mit ihrem Neffen und einzigen Erben, besser gesagt mit seinem Advokaten, Herrn Petit-Sagnier, Anwalt beim Appellgericht, zu tun, der mich wie einen Banditen, einen Ausbeuter alter Frauen behandelt und mich in aller Form benachrichtigt hat, daß bei dem ersten Zinsrückstand Herr Marc Javel wieder in den Besitz des Mietvertrages sowie des Gebäudes treten würde, das ich dem lieben Fräulein durch meine Schwindeleien erpreßt hätte.«
»Herr Petit-Sagnier vertrat das Interesse seines Klienten – ich vermag ihn deswegen nicht zu tadeln,« schnaubte der Oberadministrator, dessen Gesicht seit einem Augenblick einen härteren Ausdruck angenommen hatte.
Eudeline, der plötzlich sehr blaß wurde – es war die rötliche Blässe der Sanguiniker mit breiten Wangenflächen –, hielt an sich, um nicht zu schreien, sich nicht zu etwas Heftigem hinreißen zu lassen. Er preßte den Rand des Schreibtisches mit seinen haarigen, kurzen Fingern zusammen und fuhr sehr gelassen fort:
»Sie können sich wohl denken, Herr Vorsteher, daß ich mich anstrengte, den Zins nicht mehr im Rückstand zu lassen . . . Ich habe dafür die letzten Schmucksachen meiner Frau geopfert, die sie für unsre Kleine aufhob – ihre Brillanten, ihren Kaschmirschal – ich versetzte sogar –«
Das gräßliche Geständnis, das er diesem Manne machen wollte, erschreckte ihn, und er verbesserte sich:
»Ich entzog sogar meinen Kindern die Erziehung, auf die ich so stolz war, nachdem ich selbst keine erhalten hatte . . . Ach, Herr Vorsteher, ich, der als ganz kleiner Junge neidisch vor dem Gitter des Charlemagne stehen blieb, um die Kinder der Reichen zu betrachten, die hineingingen, um zu lernen, ich, der durch seine Unwissenheit so viel gelitten hat und dessen Stolz es war, sich sagen zu können: meine Jungen werden Gelehrte sein, meine Jungen werden Lateinisch können . . . Stellen Sie sich meine Verzweiflung vor, als es so weit kam, daß ich sie monatelang zu Hause halten mußte, um das Schulgeld für den Zins verwenden zu können! – Ich weinte, ich weinte mit der Mutter zusammen, wenn ich sie in Hausschuhen von einem Zimmer ins andre schlurfen sah – und insbesondere der Gedanke, daß so viele Opfer zu nichts dienten, daß man uns trotzdem versteigern würde – und so ist es gekommen – wir sollen versteigert werden –«
Schluchzen erstickte ihn. Eine Bewegung des Vorstehers gab ihm die Kraft, es tief in sich hineinzudrücken.
»Oh, seien Sie ruhig, Herr, ich komme nicht, um mir von Ihnen Geld auszuborgen, sondern bloß, um eine Gnade zu erbitten. Jetzt werden bald die Preisarbeiten gemacht werden: lassen Sie meine Kinder an den Prüfungstagen ins Gymnasium kommen. Beide sind überzeugt, daß ein jeder von ihnen in seiner Klasse bei Schulschluß einen Stipendienplatz bekommen wird. Entziehen Sie ihnen das nicht – entziehen Sie es vor allem nicht mir; denn das ist die einzige Freude, die ich noch habe.«
»Unmöglich, Herr, das geschieht nie – die jungen Leute können in die Klasse nur wieder eintreten, wenn Sie das rückständige Trimester bezahlen.«
Eudeline, mit beiden Händen an den Schreibtisch wie an seine Idee festgeklammert, drängte und flehte . . . Der ältere, wenigstens nur der ältere . . . der war in der dritten, in dem Jahr, wo der große Konkurs stattfand . . . wenn er zugleich mit seinen Kameraden . . .
Der Vorsteher erhob sich jäh.
»Die Administration erhebt dagegen Einspruch.«
Gleichzeitig legte er den Finger auf den Knopf einer neben ihm herabhängenden elektrischen Klingel. Ohne den Eintritt des Saaldieners abzuwarten, verbeugte sich Eudeline und ging.
Vorhin, als er die breite steinerne Treppe, auf der das Gas angezündet wurde, hinangestiegen war, hatte er noch eine Hoffnung, das Vertrauen zu den Herren vom Gymnasium, seine abgöttische Ehrfurcht vor denen, die Latein konnten, im Herzen getragen. Er erwartete keine wirkliche Hilfe, aber freundliche Worte, tröstliche Zitate aus den alten Schriftstellern; und wenn auch sein Stolz seit Monaten vor diesem Schritt zurückgeschreckt war, so hatte er ihn doch in der vollständigen Gewißheit auf Erfolg getan: der Gedanke, daß Raimund den Konkurs mitmachen und der Name Eudeline zum erstenmal unter der Halle der Sorbonne ertönen werde, schirmte ihn gegen all sein Unglück. Jetzt, nachdem diese Hoffnung zusammengebrochen, war alles zu Ende. Unter all den Katastrophen sah er nur diese einzige: woher das Geld für die zwei rückständigen Trimester nehmen?
Als er das Gitter des Gymnasiums Charlemagne durchschritt, fuhr ihm ein Name durch den Kopf – Izoard, der Beamte des Palais Bourbon, dem man nicht zu sagen gewagt hatte, daß die Kinder seit drei Monaten nicht mehr ins Gymnasium gingen . . . Aber wie viele Hindernisse erhoben sich alsogleich! Izoard, der seine Frau nach Nizza gebracht hatte, war vielleicht noch nicht zurückgekehrt, und dann – man war ihm schon so viel schuldig: die letzten vierzehntägigen Löhnungen, die zehntausend Franken für den Bau. – Nein, nein, er mußte etwas andres finden. Aber was? An welche Tür sollte er klopfen?
Plötzlich merkte er an dem kühlen, feinen Regen, der sein Haar, seine heißen Schläfen näßte, daß er seinen Hut noch immer in der Hand hielt. In was für einen Zustand war er durch den Besuch geraten! Ach, dieser alte Robert Macaire in der Hausmeistermütze ahnte nicht, daß sein Tisch, sein ungeheures Tintenfaß, sein ganzer Haufen von Pappschachteln und Papierzeug einen Augenblick nahe daran gewesen war, in die Luft zu fliegen, und er damit zusammen!
Eudeline fühlte, wie ihm von diesem verhaltenen Zorn die Hände noch schlaff, die Beine über den Knien wie abgesägt waren. Er schritt so schief über das spiegelnde und kotige Pflaster wie damals, als er sich zum einzigenmal in seinem Leben berauscht hatte. Das war bei dem Bankett der Handlungsreisenden gewesen, wo just Marc Javel den Vorsitz geführt hatte. Hatte der aber diesen Abend einen guten Atem, der Deputierte von Indre-et-Loire! Wie schwoll die weiße Weste und die Brustplatte des schönen, großen Mannes von den tönenden Perioden, die er ihnen mit tränenreicher Stimme und zuckenden Lidern über die gegenwärtigen Pflichten eines guten Franzosen, die weltliche und republikanische Nächstenliebe zum besten gab! Übrigens glaubte er vielleicht an diese Solidarität der Menschen, von der er mit solcher Beredsamkeit sprach, und war es nur sein Anwalt Petit-Sagnier, der ihn zu so grausamen Maßregeln wie die für Sonnabend festgesetzte Versteigerung aufhetzte.
›Wie, wenn ich zu Marc Javel ginge – zu ihm in die Wohnung, in die Rue de la Ville-l'Evêque? Wenn ich ihn um Gnade bäte – ihn, und nicht den Anwalt?‹ So dachte Eudeline, während er den Fabrikhof durchschritt. Die Arbeiter waren eben fortgegangen, alle Gebäude dunkel; nur vor der Kasse brannte noch eine wachsame Gasflamme. Er blieb am Fuße der Treppe, vor der Portiersloge, zögernd stehen.
»Etwas für Sie, Herr Eudeline,« sagte der Portier mit jener düsteren, gleichsam fernen Stimme eines Untergeordneten, der weiß, daß die Firma es nicht mehr lange machen wird. Eudeline ergriff die beiden dargereichten Papiere – einen Gerichtsbescheid, die Verständigung von der Versteigerung, und dann einen Brief, den er gleichgültig öffnete und, seinen Augen nicht trauend, in einem Zuge las . . . Eine Aufforderung, morgen um elf Uhr vor dem Untersuchungsrichter zu erscheinen . . . Da sollen doch tausend Donnerwetter dreinschlagen! Den hatte er vergessen. – Es war ihm, als stürze ihm das Treppenhaus über dem Kopf zusammen; er schwankte und sagte zweimal ganz laut – man hörte es bis in die Portiersloge: »Jetzt sterben – jetzt bleibt nichts übrig, als zu sterben!«
Er stieß die Tür des im Erdgeschoß gelegenen Kassenzimmers auf, entließ den Rechnungsführer, Herrn Alexis, und ging erst am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, in seine Wohnung hinauf. Die Nacht brachte er damit zu, zwei Briefe zu schreiben, die er zweifellos gar manches Mal von neuem begonnen hatte. Hier die Kopie eines dieser Briefe, besser gesagt Testamente:
»Mein lieber Freund Pierre, die Osterferien sind vorbei, und die Kammer tritt wieder zusammen. Ich nehme an, daß Sie Ihre Kranke mit Ihrer lieben Tochter in Nizza lassen mußten und daß diese Karte, meine Todesanzeige, Sie wieder im Palais Bourbon antreffen wird. Ja, meine Todesanzeige, Sie haben ganz richtig gelesen. Unvorhergesehene Umstände, die meine Kräfte übersteigen, zwingen mich, das Leben auf gewaltsame Art zu verlassen. Meine arme Frau wird Ihnen – wenn es ihr möglich ist – die Beweggründe erzählen, die mich zu dieser Tat der Verzweiflung trieben; ich wage es nicht, ich würde mich zu sehr schämen, Ihnen zu gestehen, daß Ihr Freund, ein echter Achtundvierziger, gegen die Ehre seines Namens gefehlt hat. Auf jeden Fall wollte ich nicht sterben, ohne Ihnen Lebewohl und Dank gesagt sowie Sie um Verzeihung gebeten zu haben. Oh, vor allem bitte ich Sie um Verzeihung wegen der zehntausend Franken, die Sie uns liehen, und die ich jetzt mitnehme. Wenn Herr Marc Javel, mein neuer Hauswirt, ein Ehrenmann ist, so wird er Ihnen das Geld für diesen Bau, den Sie bezahlten und dessen Mieterträgnis ihm gehören wird, zurückerstatten. Ich schreibe gleichzeitig auch an ihn und hoffe, daß er so gut sein wird, dies zur Kenntnis zu nehmen sowie Ihnen bei der Erlangung eines Staatsfreiplatzes für meine Jungen zu helfen – damit sie doch ihre Studien beenden können, großer Gott! Hauptsächlich wünsche ich das für den älteren, den Raimund, der mich ersetzen, der nach meinem Tode das Haupt, die Stütze der Familie werden muß. Alter Freund, ich bitte Sie – daß wenigstens dieser seine Studien beendet und niemals ins Geschäft kommt! – Der Handelsstand ist ärger als das Bagno. Täglich ist man dabei dem Ruin und der Schande ausgesetzt. Von meinen beiden Jungen soll wenigstens einer dem entgehen. Und nun, alter Kamerad, umarme ich Sie zum letztenmal, indem ich Ihrer Frau und Fräulein Geneviève für alle ihre Aufmerksamkeiten gegen meine Frau und die kleine Dina danke. Sie können sich denken, wie mir das Herz blutet, daß ich mich von allen meinen Kleinen losreißen muß; aber es muß sein – ihr Glück fordert diesen Preis.
Es lebe die demokratische und soziale Republik!
Victor Eudeline.«
*
Pierre Izoard war seit gestern abend in seine enge Wohnung im Abgeordnetenhause zurückgekehrt, die ihm durch die Abwesenheit seiner Frau und seiner Tochter ungeheuer groß und trostlos erschien. Er wollte sich eben vor dem offenen Fenster, das auf den mit großen Fliesen gepflasterten inneren Hof des Palastes ging und durch das das Klirren der Gläser und Teller der andern frühstückenden Beamten heraufdrang, ganz allein zu Tische setzen, als ein Bureaudiener ihm diesen Brief heraufbrachte. Ohne bis zur Unterschrift zu lesen, warf er die Serviette hin, steckte alles Geld zu sich, was er im Hause hatte, und der erste Fiaker, der durch die Rue de Bourgogne fuhr, trug den kleinen, kurzgeschorenen Mann mit den schwarzen Augenbrauen und dem langen, ergrauenden Bart zu der Höhe des Faubourg du Temple hinauf.
»Eudeline sich umbringen!« schrie er, zum Wagenschlag hinausgestikulierend, mit echt Marseiller Nachdruck und Akzent, in das Getöse des Pflasters. »Eudeline gegen die Ehre verstoßen! . . . Macareù, das müßte ich erst sehen, ehe ich es glaube . . .«
Längs der ganzen Vorstadt, deren aufsteigende Straßen von einer ausgehungerten, brausenden Menge wimmelten, zwischen den Obst-, Blumen-, Fisch- und Gemüsehändlern, deren Handkarren sich am Rande des Trottoirs hinzogen, inmitten des Geruches von heißem Brot und Gebäck, des Gedränges und Geschreies großer Mädchen mit Arbeitskitteln, der nacktbrüstigen Arbeiter, die unterm Arm ein rundes Brot, in der Hand ein öliges Papier trugen, bestärkte jede Umdrehung der Räder Pierre Izoard in seinen optimistischen Anschauungen. Überall, von den Türmen der Kirchen, in den Höfen der Fabriken, läutete es Mittag – Mittag, die selbstsüchtige Stunde des Hungers, des Lebens, die allen Augen auf der Straße die gleiche gierige und zerstreute Starrheit, den gefräßigen Blick des Hais auf seiner submarinen Jagd verleiht. – Sich umbringen? Warum nicht gar! Und das Mittagessen? . . . Trotzdem ward dem Marseiller kalt ums Herz, als er beim Aussteigen aus dem Wagen im Hintergrunde des mit Holzpfosten aller Längen und Arten angepfropften Eudelineschen Hofes den weißen Bewurf eines neuen Gebäudes und darauf den Anschlagzettel erblickte: »Großes Lokal zu vermieten«. Er hatte geglaubt, daß die Werkstätte vermietet sei. Infolge der Krankheit, der Reisen hatte man sich ja schon so lange nicht gesehen! Noch betroffener wurde er, als ein Lehrling, der barhäuptig und pfeifend durch den Hof ging, ihm mitteilte, daß der Chef gleich morgens weggegangen sei und daß man ihn nicht zurückkommen gesehen habe. Seine Hand zitterte, als er im ersten Stock klingelte.
In der halb offenen, altmodischen, um drei Stufen erhöhten Tür zeigten sich die tränenverschmierten Wangen und das erschrockene, ängstliche Pierrotgesicht eines langaufgeschossenen blonden Jungen von vierzehn oder fünfzehn Jahren.
»Nun, Raimond, was gibt's?« fragte der Stenograph.
Ohne etwas zu antworten, rief ihn der Junge mit einer verzweifelten Gebärde herein, zog ihn in den Gang und stürzte ihm unter lautem Schluchzen um den Hals.
»Wo ist der Papa, Herr Izoard? . . . Sagen Sie uns, wo ist der Papa?«
Gleichzeitig fühlte Izoard Küsse und brennende Tränen auf seinen Händen: es war der andre Bruder, Toni, ein kleiner Rotkopf, der sich, wie aus der Erde gewachsen, an ihn anklammerte und ebenfalls fragte, wo der Papa sei! Aber er fragte es ganz leise, mit zusammengepreßten Zähnen, während seine Kinnbacken nervös krachten. Der Marseiller, von diesem so echten Schmerz ergriffen, wischte sich die Augen und suchte nach irgendeiner Antwort.
»Aber, meine lieben Kinder, ich weiß ja nicht, wo euer Vater ist . . . Ich komme eben aus dem Süden zurück . . . ich bin nur zufällig hergekommen . . .«
Als er dann in dem unordentlichen, armseligen Zimmer, in das sie getreten waren, zwischen den beiden Brüdern saß, gelang es ihm endlich, aus ihren stoßweise hervorgeschluchzten, klagenden Reden das Familiendrama herauszuschälen, an das er nun wohl glauben mußte.
Der Vater hatte die ganze Nacht in der Schreibstube zugebracht. Morgens wurden sie durch den Lärm einer furchtbaren Szene im Zimmer ihrer Eltern geweckt. Eudeline schrie, daß er sich in den Kanal »schmeißen« werde, daß ihm sonst nichts übrigbleibe. Daraufhin war er fortgelaufen, und die Mutter, die weinte und ihn mit gefalteten Händen beschwor, nicht zu sterben, hinterdrein. Seither saßen die Kleinen in banger Erwartung da und wußten von nichts.
Izoard suchte sie zu beruhigen. Sie kannten ja ihren Vater, der so hitzig, so heftig war, aber an den Seinen so zärtlich hing . . . Welche Katastrophen hätten nicht eintreten müssen, um ihn zu einem so wilden Entschluß zu treiben!
»Katastrophen, Herr Izoard?«
Der ältere Junge nahm beim Sprechen jene ältliche Miene an, welche die Frühreife des Unglücks den Kindern verleiht.
»Wir haben ja alle möglichen gehabt, seit Sie fort waren. Sehen Sie sich um – die Uhr samt den Vorhängen ist weg – es sind fast gar keine Möbel mehr da. Gott weiß, was nicht alles verkauft, versetzt wurde, um diesen schrecklichen Zins zu zahlen! Toni mußte die Sachen aufs Leihhaus tragen – ich wagte es nicht, und Papa und Mama waren zu bekannt. – Aber das ist noch nichts. Werden Sie es glauben, daß wir seit drei Monaten nicht mehr ins Gymnasium gehen?«
Die zwei Kleinen, die weder Westen noch Krawatten trugen und die Füße in Pantoffeln stecken hatten, besaßen in der Tat jenes verbummelte, unordentliche Aussehen, das allen Schul- und Kasernenfaulenzern gemein ist.
»Daß er uns aus dem Gymnasium nehmen mußte, kränkte ihn am meisten, noch mehr, als daß er unser Schwesterchen Dina zu ihrer Patin schicken mußte, die sie zu sich nach Cherbourg nahm . . . Ah, da ist die Mama!«
Sie ließen ihr nicht Zeit, sich niederzusetzen, den Schleier von ihrem fiebernden Munde, ihren blassen, ganz fleckigen Wangen zurückzuschieben.
»Was hast du mit dem Papa gemacht?« fragten beide zugleich.
»Nun, Kinder, euer Vater, euer Vater –«
Sie hatte sich aufs Lügen vorbereitet, um ihnen nicht sofort einen zu schweren Schlag zuzufügen; allein die unvorhergesehene Anwesenheit Izoards, dieses freundliche, mitleidige Gesicht nahm ihr allen Mut. Der Brief ihres Mannes war ihr bekannt, und sie wußte, daß nur ein Wort, nur ein einziges Wort, das sie miteinander wechseln würden, sie dahin bringen würde, aufzuschluchzen und alles zu sagen. Sie begnügte sich daher mit einem stummen »Guten Tag!« und fuhr, ihn gleichsam aus der Szene entfernend, fort:
»Ich habe euern Vater in ruhigerer Stimmung verlassen – ich hoffe, daß wir für heute nichts zu fürchten haben.«
Die arme Frau wendete den Kopf ab und bemühte sich, den mißtrauischen, spähenden Augen zu entschlüpfen.
»Aber warum hast du ihn allein gelassen, Mama?« fragte Raimund in argwöhnischem, fast strengem Ton.
Die Mutter senkte den Kopf.
»Um euch schneller zu beruhigen, meine geliebten Kinder,« antwortete sie ganz leise, ganz demütig, als sei ihr Gatte anwesend, oder als vertrete der ältere Sohn bereits seine Autorität.
Und um weiteren Fragen zu entgehen, fuhr sie, einen herzzerreißenden, alles bekennenden Blick auf Izoard richtend, fort:
»Ach, Herr Marc Javel ist recht grausam gegen uns.«
»Das kann ich mir gar nicht vorstellen!« donnerte der kleine Mann mit dem langen, fließenden Bart. »Javel, mit dem ich in der Kammer verkehre, ist ein Republikaner von der guten Art, wie wir zu sagen pflegen, ein Kind des Volkes, und im kleinen Handelsstand, dessen ganzes Elend er kennt, geboren. 1870, während der Belagerung, hörte ich ihn auf einer Volksversammlung über die Erneuerung fälliger Wechsel sprechen. Mit ein paar Worten über die Angst der Schuldner bei dem zu zahlenden Wechsel rührte er den ganzen Saal. Ein Mann, der so etwas sagt, wäre der schändlichste Heuchler. Übrigens, Frau Eudeline, habe ich einen Wagen vor der Tür stehen; die Kinder sollen einsteigen, wir fahren zum Unterstaatssekretär. Ich bin überzeugt, er weiß nichts davon, daß sie versteigert werden sollen, und bürge Ihnen jedenfalls, daß die Versteigerung nicht stattfinden wird.«
»Gott erhöre Sie, lieber Freund!« seufzte die Mutter.
Und ohne daß sie es wagte, die Kinder anzusehen, befahl sie ihnen, sich recht rasch anzuziehen.
Als sie fort waren, brach das Schluchzen, das sie erstickte, herzzerreißend los.
»Die armen Kinder!« murmelte sie, das Gesicht in die Hände vergrabend.
Izoard setzte sich auf den Rand des Diwans, auf dem sie zusammengebrochen war. Er wagte kaum, sie auszufragen. Wäre es möglich? Eudeline hätte seine Drohung ausgeführt?
Das Gesicht noch immer zwischen den Netzhandschuhen verbergend, nickte sie »ja«.
Er sah sie verblüfft an.
»Aber Sie waren nicht dabei? Sie hätten es ja nicht zugelassen – und dann, wer bringt sich denn wegen Geld um – he, ich bringe ihm ja Geld – nicht viel, aber doch etwas.«
Die unglückliche Frau schüttelte zu diesen feurigen, von lebhaften Gebärden unterbrochenen Worten bloß den Kopf.
»Ach, Herr Izoard, wenn Sie wüßten –«
Plötzlich erinnerte er sich an jenes Vergehen wider die Ehre, dessen der Brief Eudelines erwähnte. Um was handelte es sich eigentlich? Einem Freunde wie ihm konnte man doch alles sagen.
»Nun denn –«
Demütig und mit gesenkter Stirne, wie im Beichtstuhl, flüsterte sie ihm mit trauriger Stimme das herzzerreißende Geständnis zu, das der arme Eudeline ihr selbst abgelegt hatte, während sie längs des Kanals hinschritten. Ach, immer wieder der schreckliche Hauszins, immer wieder die Furcht vor Marc Javel! Waren, die in der Fabrik im Depot lagen, kurz vor dem Zinstermin versetzt und dann verkauft, weil das Geld zum Erneuern fehlte – die Klage, der Untersuchungsrichter, Abgabe an das Zuchtpolizeigericht, Gefängnis, Schande – für ihn, für die Kinder –
»Ach, lieber Freund, das hauptsächlich machte ihn toll – der Gedanke, daß unsre Kleinen sich ihres Namens schämen, daß brave Leute wie Sie nicht mehr wagen würden, sie zu empfangen. ›Wenn ich sterbe,‹ sagte er zu mir, ›wird man mich nicht verfolgen und der Name unsrer Kinder wird nicht durch eine Verurteilung beschmutzt werden.‹ Sie können sich denken, daß ich mich widersetzte, daß ich ihn bat, sich nicht umzubringen. Aber er sprach mit so überzeugender Kraft, er fand so gerechte Gründe, um mir zu beweisen, daß sein Tod die einzige Möglichkeit sei, alles zu retten – ihn vor dem Gefängnis und unsre Kleinen vor der Schande. Zuletzt wußte ich nicht mehr, was ich antworten sollte. Sie wissen ja, daß ich ihm, heftig und despotisch, wie er war, immer nachgegeben habe. Ich hätte schreien, mich an ihn anklammern müssen. Ich war wie vernichtet, verblödet. Plötzlich sagte er: ›Gib mir einen Kuß, Mutterchen, und geh weg, ohne dich umzudrehen.‹ Ich tat, wie er mich geheißen hatte – und jetzt bin ich da, ohne zu wissen, wie – Gott schütze dich, mein armer Mann!«
Die Kinder traten wieder ins Zimmer. Sie unterbrach sich und untersuchte mit zitternden Händen ihre Toilette, während Izoard entsetzt an diesen heldenmütigen Selbstmord dachte, den die unglückliche Helotin dort so naiv zugelassen hatte. ›Nun, wenn sein Tod wenigstens etwas nutzt,‹ dachte er bei sich, während er mit den Kindern in die Rue de la Ville-l'Evêque fuhr, wo der Unterstaatssekretär neben dem Ministerium des Innern einen alten Palast mit einem Garten bewohnte. Der Unterchef der Kammerstenographen macht die Sitzungsberichte für den Druck zurecht, indem er sie mit »Bravos auf der Rechten oder Linken – Lärm auf einigen Bänken – Langandauernder Beifall« und so weiter ausschmückt. Es ist also begreiflich, daß die Deputierten großes Interesse daran haben, sich gut mit ihm zu stellen. Der Marseiller war daher sicher, daß der Herr Unterstaatssekretär beim Empfang seiner Karte – selbst wenn er gerade beim Frühstück war – sich wohl hüten würde, ihn warten zu lassen oder auf einen andern Tag zu bestellen, wie er nicht ermangelt hätte, bei weit höheren Beamten zu tun. Kaum hatte man sie in ein Arbeitszimmer geführt, wie es die Kinder noch nie gesehen hatten – das des Vorstehers im Gymnasium sah dagegen wie ein Vorzimmer aus –, prunkvoll, hoch wie eine Kirche, mit langen, gemalten Fensterscheiben, dicken Teppichen, Leder- und alten Eichenholzstühlen, die in majestätischer Entfernung voneinander standen –, so verloren die ohnehin eingeschüchterten Knaben gänzlich die Fassung, als sie einen vornehmen Herrn mit ausgestreckten Händen auf sich zukommen sahen. Er besaß eine rosige Gesichtsfarbe, einen blonden, gepflegten Schnurrbart, weiche Bewegungen, trug Kleider aus dunkelm englischem Stoff und hatte die Frühstücksserviette als einen Fingerzeig über den Arm geworfen.
»Mein lieber Maître, was verschafft mir das Vergnügen dieses Besuches?«
Izoard zeigte auf die zwei Kinder.
»Herr Unterstaatssekretär, die Söhne Ihres Mieters Eudeline –«
Alsogleich erstarrte das Lächeln Marc Javels, seine Mundwinkel und Augenwinkel senkten sich, und matt, mit niedergeschlagenen Lidern, murmelte er ein paar erklärende Worte. Gerade heute vormittag habe er von diesem Herrn Eudeline einen sehr exaltierten Brief erhalten – einen von jenen Briefen, wie bekannte Leute deren so viele bekommen. Er habe ihn seinem mit der Regelung der Erbschaft betrauten Anwalt, Petit-Sagnier, zugesendet, und das sei die kleine Depesche, die der Anwalt als Antwort geschickt habe.
Der Unterstaatssekretär reichte dem Vater Izoard diskret das Telegramm, aber dieser sagte sehr rasch:
»Ach, leider brauchen wir vor diesen Kindern nichts zu verheimlichen,« und las laut:
»Ich glaube kein Wort von dem Selbstmord. Mit dem Neffen soll dasselbe Ausbeutungssystem fortgesetzt werden wie mit der Tante. Es bleibt bei der Versteigerung übermorgen Sonnabend.«
Die beiden Kinder hatten sich unwillkürlich in einen Winkel gedrückt; dieselbe Aufwallung von Wut und Empörung trieb sie jetzt vorwärts. Beide wollten zugleich sprechen; aber Toni, der kleine, der Rotkopf, konnte seinen Zorn nur durch Gebärden ausdrücken. Ein nervöser Krampf lieh die Worte zwischen den zusammengepreßten Zähnen, die sie zermalmten, nicht heraus. Der ältere, Raimund, war mit seiner mutierenden Stimme und dem langen, allzu rasch aufgeschossenen, schlotterigen Körper nicht viel beredter; da jedoch der in ihrer Gegenwart so ungerecht Beschimpfte einen Verteidiger brauchte, so wußte sich das Kind herauszuhelfen. Nein, der Vater war kein Betrüger. Wenn er gesagt hatte, daß er sich umbringen werde, so wollte er es sicherlich tun; und er brachte sich nur um, um den bösen Affen, die über ihn herfielen, zu entgehen – dem Herrn Petit-Sagnier und andern. Das sollte die Welt erfahren, er würde es überall erzählen, er würde es in die Zeitung schreiben – jawohl, jawohl –
»Der Vater ist tot, Herr Minister, man hat es ihnen noch nicht erzählt,« murmelte der Marseiller, den dieses verzweifelte Ungestüm beunruhigte; aber ein unbestimmtes, mitleidiges Lächeln auf den Lippen Marc Javels beruhigte ihn sofort, und fest überzeugt, daß der hohe Würdenträger ebenso bewegt sei wie er selbst, zerdrückte er nun ohne Scheu zwei große Tränen, die dieser Aufschrei des Kindes ihm ins Auge getrieben hatte. Ach, der arme alte Graubart! Als ob ein praktischer Mensch, ein Politiker, der solide englische Stoffe trug, sich über dieses kleine Familiendrama aus der Zeit Diderots aufregen könnte! Aber der Junge hatte von Journalisten gesprochen, und der Herr Unterstaatssekretär fürchtete diese Journalisten. Er stellte sich einen Pariser Leitartikel vor, der unter dem Titel »Die Erbschaft Javels« den freiwilligen Tod Victor Eudelines und den Besuch der Kinder in der Rue de la Ville-l'Evêque schildern würde. Das gäbe einen schönen Skandal. Jetzt galt es, den Schnitzer Petit-Sagniers rasch wieder gutzumachen. Glücklicherweise war der ebenso wohltätige wie geschwätzige Izoard von Marseille da. Er streckte ihm die weit offene, loyale Rechte entgegen und sagte:
»Mein lieber Maître« – Marc Javel gab diesen Titel allen jenen, denen er keinen andern geben konnte –, »mein lieber Maître, ich danke Ihnen, daß Sie mir die jungen Leute hergebracht und mir Gelegenheit gegeben haben, ein Unrecht wieder gutzumachen.«
Dann wendete er sich mit himmlischer Sanftmut zu dem verblüfften Raimund:
»Mein junger Freund, ich weiß nicht, ob euer Vater seinen verhängnisvollen Entschluß ausgeführt hat. Ich wage noch zu hoffen, daß dem nicht so ist. Auf jeden Fall sagen Sie Ihrer Frau Mutter in meinem Namen, daß, wenn die Männer des Gesetzes ihre eigne Sprache haben auch die Ehrenmänner eine besitzen. Weder übermorgen noch an den folgenden Samstagen wird bei euch eine Versteigerung stattfinden.«
»Ich habe es ja gewußt, daß ich meinen alten Marc Javel wiederfinden werde!« rief freudig der Stenograph und mußte sich zurückhalten, um dem Minister nicht um den Hals zu fallen.
In der Tat fand am drittnächsten Tage keine Versteigerung statt, wohl aber das Begräbnis Eudelines, den man nach ein paar Stunden aus dem Kanal gezogen hatte. Seine Frau hatte es durchgesetzt, daß er in St. Joseph de Belleville eingesegnet ward, und das Leichenbegängnis, dessen Kosten Izoard bestritt, war sehr anständig. Es waren sehr viel Leute anwesend, besonders Arbeiter und kleine Geschäftsleute, die großen Firmen grollten dem Nachfolger von Guillaume Aillaume wegen seiner menschenfreundlichen und soziologischen Ideen. Aber wieso konnte man ihr Fernbleiben bedauern, als man erfuhr, daß der Unterstaatssekretär des Innern bis zum Friedhof mitgekommen sei? Marc Javel hatte begriffen, daß er, um den schlechten Eindruck beim Publikum zu mildern, dem Begräbnis seines Opfers beiwohnen müsse; er war sogar so gescheit, seinen Anwalt, Petit-Sagnier, den Typus eines feisten, genußsüchtigen Advokaten, als Sündenbock mitzunehmen, und nur die allgemein unterrichteten Fabrikarbeiter empfingen denselben mit Murren und störrischen Mienen. Was Marc betraf, so begrüßte ihn, als man ihn schwarz behandschuht und höchst korrekt vor der abgelegenen Vorstadtkirche aus dem Ministerwagen steigen sah, ein Gefühl allgemeiner Sympathie. Pierre Izoard und die Kinder, die ihn im Peristyl erwarteten, da sie wußten, daß er in seiner Eigenschaft als Freimaurer und Logenmeister nie eine Kirche betrat, gingen ihm mit tränenden, geröteten Gesichtern zusammen entgegen, um ihm für sein Kommen zu danken.
»Fortitudo animi!« sagte der Stenograph ganz leise, indem er auf den kerzenstrahlenden Katafalk unter der Halle zeigte. Seine Rührung rief ihm die alten Stellen aus seiner Professorzeit wieder ins Gedächtnis.
Der Minister verstand kein Latein und verheimlichte das wie einen Aussatz; aber er begriff aufs Geratewohl, daß dieses Fortitudo auf den heroischen Tod dieses für seine Kinder gestorbenen Vaters anspielte, und da der älteste Sohn neben ihm stand, zog er ihn mit einer großartigen, gleichsam adoptierenden Gebärde an sich.
»Kinder,« sagte er mit seiner angenehmen, vollen Stimme, die weit vernehmbar war, »euer Vater war einer jener Republikaner von altem Schrot und Korn, denen die Regierung der Republik nichts versagen darf. Alles, was Victor Eudeline in seinem Briefe von jenseits des Grabes für Raimund Eudeline, den Sohn der Witwe, die Stütze der Familie, verlangt, wird geschehen. Dafür bürge ich in Gegenwart aller, die mich hören.«
Und es waren deren genug!
An diesem Tage tat Marc Javel den ersten, den entscheidenden Schritt auf der Bahn der großen Popularität, auf der wir ihn seither mit beispielloser Geschmeidigkeit und Schnelligkeit seine Schwenkungen ausführen sahen. Von diesem Tage an nahm auch Raimund von seiner neuen Stellung als Stütze der Familie Besitz. Er erriet deren Verantwortlichkeit und Dienstbarkeit aus einer Art von Mitleid, von Ehrfurcht, von der er sich, während er mit seinem Bruder hinter der Bahre einherschritt, plötzlich umgeben fühlte. Der Tod dieses trotz seiner Heftigkeit so nachsichtigen, so zärtlichen Vaters verursachte ihm zweifellos einen furchtbaren Schmerz; aber in seinen persönlichen Kummer mischte sich ein gewisser Stolz und selbst ein wenig Pose. Er weinte nicht gleich Antonin wie ein Kind, sondern schritt mit rundem Rücken wichtig und feierlich dahin.
Diese düstere, weit über sein Alter hinausgehende Stimmung, diese stets übertriebene und etwas falsche Empfindsamkeit blieb ihm während der drei oder vier Jahre, die er als Freischüler im Gymnasium Louis-le-Grand zubrachte. Seine Geschichte, die im Gymnasium so ziemlich bekannt war, vor allem die Gunst des Ministers, dem er, wie man wußte, seine Freistelle verdankte, verschaffte ihm eine gewisse Berühmtheit. Die Schüler zeigten ihn im Sprechzimmer ihren Eltern und sagten:
»Sieh dir den großen Blonden dort aus der dritten B an; er ist erst fünfzehn Jahre alt und schon die Stütze der Familie.«
Und der Aufseher, den die Mütter ebenfalls befragten, flüsterte mit geheimnisvollem Ton:
»Der junge Mann hat hohe Protektion –«
Wie immer war diese Protektion mehr illusorisch als wirklich vorhanden. Ein paar Wochen nach dem Begräbnis Eudelines ließ sich der Unterstaatssekretär bei der Witwe melden; sie war auf diesen Besuch sehr stolz und empfing ihn und seinen Sachwalter, Petit-Sagnier, in jener Schreibstube zu ebener Erde, in welcher der Verzweifelte zwischen dem Kassengitter und zwei Reihen schwarzbraun gebundener Geschäftsbücher seine Todesnacht durchlebt hatte. Auch Pierre Izoard und der Rechnungsführer Alexis waren anwesend; es geschah auf das ausdrückliche Verlangen Marc Javels, mit dem Frau Eudeline angesichts der Unmöglichkeit, das Geschäft ihres Gatten fortzuführen, diesen Familienrat vereinbart hatte. Eine weiche, träumerische Natur hatte der mutterlosen Tochter Guillaume Aillaumes, deren Erziehung zuerst im Sacré-Coeur, dann in dem einsamen Schloß Morangis, wohin sich der Alte zurückgezogen hatte, von einer romantischen Erzieherin geleitet wurde, nicht erlaubt, jenen Zuschuß weiblicher Tätigkeit und Intelligenz in die Ehe zu bringen, der so viele Vermögen in der Pariser Geschäftswelt erklärt. Neigung für das Geschäft und Geschäftsinstinkt gingen ihr ab; die Heftigkeit ihres Gatten flößte ihr Abscheu und zitternde Angst davor ein. Dieser treffliche Mann, der sie anbetete, jagte sie mit seinem Geschrei in die Flucht, und nach achtzehn Jahren eines im allgemeinen ziemlich glücklichen Zusammenlebens war sie so verwirrt und beinahe so taub wie der Kanonier eines großkalibrigen Seegeschützes. Ein Detail besagt vielleicht mehr als alles andre: seit ihrer Hochzeit hatte sie die Geschäftsräume, in denen der Familienrat stattfand, keine zweimal betreten. Man begreift daher, daß die derart entwaffnete, mit ganz jungen Kindern zurückgebliebene unglückliche Frau vor einer Fortführung des Geschäftes zurückschreckte. Der über die Sauberkeit und Ordnung in seinen Büchern triumphierende Rechnungsführer schilderte ihr alle Gefahren, alle Verlegenheiten einer solchen Fortführung. Die Firma war gewiß sehr gesucht, aber bereits veraltet; große Unordnung herrschte, es gab verjährte Schuldscheine und Schulden, ganz abgesehen von den rückständigen Mietzinsen, den Schulden, die durch die einbringlichen Rechnungen gewiß nicht gedeckt werden würden. Wieso sollte sie sich da heraushelfen? Das Geschäft verkaufen? Aber da müßte es zuerst schuldenfrei sein; wer würde sonst ein abgenutztes Geschäft wollen, das so löcherig war »wie die Pfanne in Babet«? Herr Alexis, der auf seine berrichonner Redensart viel hielt, wiederholte sie mehrmals, während Herr Izoard und Frau Eudeline einander bestürzt betrachteten.
»Nun denn, ich habe einen Käufer,« sagte Petit-Sagnier auf ein Zeichen seines großen Klienten.
Er nannte die Gebrüder Nathan, kleine Möbelhändler in der Rue de Charonne, die das Geschäft samt Schulden und rückständigen Mietzinsen übernehmen würden.
»Und das Hofgebäude?« fragte Pierre Izoard lebhaft.
Der Anwalt breitete die Arme aus, als lasse er die Sache fallen. Von dem Gebäude, das übrigens in dem ohnehin zu kleinen Hof Luft, Licht und Platz wegnahm, hatten die Nathans nicht gesprochen; sie wären froh, es los zu werden. Frau Eudeline hielt mit Mühe ihre Tränen zurück. Wie, nicht einmal die Baukosten, die zehntausend Franken, die Pierre Izoard ihnen geliehen hatte, sollten zurückerstattet werden! Der dicke Advokat schob verächtlich die Lippe vor: die Idee mit diesem Bau war einer der zahlreichen Irrtümer des armen Herrn Eudeline gewesen.
»Liebe Freundin, denken Sie nicht mehr daran,« fiel der Stenograph ein. »Die Person, die Ihnen das Geld geborgt hat, braucht es nicht dringend zurück.«
»Diese Person ist wohl sehr reich?« fragte Marc Javel mit nachsichtigem Lächeln.
»In meinen Verhältnissen, Herr Minister,« antwortete der Marseiller strahlend.
»In diesem Fall, mein lieber Maître –«
Der Herr Unterstaatssekretär zog eine elegante seehundslederne Brieftasche aus seinem Jackett, entnahm ihr einen Scheck, den er am Rande des Schreibtisches mit der Feder des Herrn Alexis unterfertigte – wieder ein »danke, lieber Herr« –, und überreichte dem Stenographen einen Bon für fünftausend Franken, damit sein unvorsichtiger Freund nicht der ganzen Summe verlustig gehe.
Izoard errötete, widersetzte sich, dann aber sagte er nach einigem Nachdenken:
»Nun denn, ja – ich nehme es für Frau Eudeline an, die noch weniger reich ist als ich und mein Freund.«
Die arme Frau wußte nicht mehr, wie ihr war – diesem guten Herrn Javel verdankte man schon so viel! Vor ein paar Tagen die Freistelle Raimunds, dann einen Empfehlungsbrief an Esprit Cornat, das ehemalige Mitglied der Konstituante und gegenwärtigen Direktor einer großen Fabrik elektrischer Apparate, in der Pierre Izoard Antonin als Lehrling untergebracht hatte. Und jetzt obendrein diese fünftausend Franken!
»Gnädige Frau, ich bitte Sie –« murmelte Marc Javel sanft und väterlich wie das Evangelium.
Als der Wagen des Ministers im schnellsten Trab den kotigen Abhang der Vorstadt hinabfuhr, machte der Advokat Petit-Sagnier seinem Klienten über diese unnütze Großmut Vorwürfe.
»Zum Teufel, ich bringe die Sache großartig in Ordnung, befreie Sie von einem lächerlichen Mietvertrag, einem gefährlichen Mieter, beschenke Sie mit einem prächtigen Gebäude – und Sie verderben mir mit Ihren fünftausend Franken mein ganzes Meisterwerk!«
»Herr Petit-Sagnier,« sagte der hohe Würdenträger, indem er eine Havannazigarre, die ebenso geschniegelt und ebenso rotbraun wie sein Schnurrbart war, an die Nase führte, »ich liebe allzu gute Geschäfte nicht und mißtraue allem, was nichts kostet. Glauben Sie mir, das ist kein verlorenes Geschäft. Sie sind dazu da, um die Erbschaft der Tante zu schützen; ich aber habe über meine politische Laufbahn zu wachen –«
»Und Sie verstehen sich darauf!« rief der Advokat mit respektvoller Heiterkeit. Bisher hatte er seinen Klienten nur für einen Glückspilz gehalten.
Diese fünftausend Franken erlaubten – bis Raimund alt genug sein würde, um seine Stelle als Stütze der Familie wirksam auszufüllen – der Witwe, die sich zur Schwester ihres Mannes nach Cherbourg zurückgezogen hatte, dort etwas weniger beschränkt zu leben und dem Internisten von Louis-le-Grand und dem Lehrling Esprit Cornats einige Vergünstigungen zukommen zu lassen. Die Briefe, die sie an ihre Knaben, besonders an den mit ihrer aller Zukunft betrauten Ältesten schrieb, klagten über die Verbannung, zu der Mutter und Tochter sich auf lange Zeit hinaus verurteilt sahen; und auf die Unterschrift folgte unabänderlich ein und dasselbe Postskriptum: »Arbeite, mein Kind, arbeite und hilf uns so rasch als möglich von hier fort.« Der Arme arbeitete; aber infolge eines außerordentlichen Pechs konnte er, der früher im Gymnasium Charlemagne ohne jede Anstrengung alle Preise der Klasse davongetragen, jetzt, da seine Studien ein bestimmtes Ziel besaßen, zum Schluß des Jahres nicht einmal einen Preis erringen. Seine Lehrer, die seinem Fleiß vertrauten und Zeugen seiner Anstrengungen waren, schrieben dieses plötzliche Stocken der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses bei einem Wesen von so vollkommenem Ebenmaß der Ermüdung des Wachstums zu. Izoard erklärte es durch die Nervenerschütterung, die der tragische Tod des Vaters den beiden Kindern verursacht hatte.
»Sehen Sie doch Antonin, den jüngeren an,« sagte er eines Tages zu Marc Javel, als sie in einem der Couloirs der Kammer miteinander über diesen Gegenstand sprachen. »Seit Eudelines Selbstmord ist dem armen Kleinen gleichsam ein Stottern zurückgeblieben; er stammelt, sucht nach Worten. Wer weiß, ob sich diese Sprachschwierigkeit, dieses Stocken beim Reden bei dem älteren Bruder nicht auf die Spannkraft des Willens geworfen haben.«
»Sehr möglich, lieber Maître. Aber das ist ja gleich; schicken Sie ihn mir einmal an einem Sonntagvormittag ins Ministerium. Auf Wiedersehen und vergessen Sie nicht, mir den jungen Mann mitzubringen.«
Izoard vergaß es gewiß nicht, aber es fügte sich, daß der Freischüler von Louis-le-Grand während der Dauer seiner Studien im ganzen zweimal, und jedesmal kaum fünf Minuten, empfangen wurde, trotzdem er seinem Protektor im Ministerium des Innern, der Finanzen oder des Handels – den verschiedenen Posten, die Marc Javel der Reihe nach bekleidete – unzählige Besuche abstattete. Und jedesmal bekam er dieselbe Marktschreierei wie unter dem Tor von St. Joseph, dieselben Versprechungen zu hören, die im Namen der Republik Raimund Eudeline, dem ältesten Sohne der Witwe, der Stütze der Familie, gemacht wurden. »Vergessen Sie das nicht, junger Mann.«
Es wäre besser gewesen, wenn der junge Mann seine schweren und feierlichen Zukunftspflichten eine Zeitlang vergessen hätte; denn die Vorstellung, die er sich von seiner Aufgabe machte, die Furcht, daß er nicht die Kraft haben würde, sie auszufüllen, mußte ihn unbedingt lähmen und ihm alles Feuer, alle Freude seiner kurzen Jugendjahre rauben. Bei einer Matinee im Théâtre Français, wohin zwei Abteilungen von Louis-le-Grand geführt wurden, sah Raimund zum erstenmal den »Hamlet«. Er erfüllte ihn mit einer Verzweiflung, die wie immer etwas theatralisch und gezwungen war; aber die Ursache derselben gestand er nur einem Primaner namens Marquès, der bei der Rückkehr vom Theater neben ihm in der Reihe schritt.
»Weißt du, Marquès, warum mir dieser Prinz von Dänemark leid tut, warum ich über ihn weine, als wäre er einer von den Unsern? Weil er mir gleicht, weil er wie ich eine Aufgabe hat, die über seine Kräfte geht, an die er stündlich denkt, die ihm jedes Vergnügen verbietet. Auch er hat nicht das Recht, jung zu sein, zu lieben und geliebt zu werden. Er muß ein Held, ein Rächer sein, und er fühlt, daß er das nicht sein kann. Das bricht einem das Herz.«
Dieses Geständnis erzählte der Primaner abends seiner Mutter. Seither erwachte in dieser Dame – der Gattin eines Ministers, wenn ich bitten darf, welche die republikanische hohe Gesellschaft noch immer die »schöne Marquès« nannte – ein lebhaftes Interesse für diesen blonden Jungen, der eine so romantische Seele und eine so hübsche Haarfarbe besaß; aber diese heimliche Neugierde wurde erst später befriedigt. Damals wollte Raimund niemand sehen und nahm gar keine Einladung an. Seine Sonntage verbrachte er im Palais Bourbon bei Izoard, häufiger noch in Morangis, einem kleinen Dorfe in der Bannmeile von Paris, wo der Stenograph seit der Krankheit seiner Frau einen Teil des Jahres zu verleben pflegte. In diesem selben Morangis hatte auch der alte Fabrikant Guillaume Aillaume nach seinem Rücktritt von den Geschäften gewohnt, und durch den gemeinsamen Landaufenthalt war das Band zwischen den beiden Familien entstanden.
Vordem stiegen Izoard und Eudeline an jedem Samstagabend in der Station Antony aus, ließen Frau Eudeline und ihre Tochter mit dem Omnibus fahren und gingen zu Fuß einen jener von großen Ulmen, diesen altmodischen Bäumen, beschatteten Hohlwege entlang, welche die ungeheuere Ebene zwischen Belle-Epine und dem Turm von Montlhéry durchschneiden. Dieser einstündige Marsch zwischen zwei Hecken von Hagedorn und Pflaumenbäumen, Arm in Arm mit dem alten Stenographen, bot dem Vorstadtfabrikanten immer neue Wonnen. Izoard enthüllte ihm die Unterströmungen in der Kammer, die Geheimnisse der Couloirs und schrie mit seiner Donnerstimme: »Gambetta hat es mir erst heute am Büfett gesagt« – oder »Ich weiß durch Dufaure, daß das Gesetz nicht durchgehen wird . . .«, während Raimund und Antonin herumtollten, die Süßklee- und Runkelrübenfelder mit ihren Heften und Büchern besäten und ihre lärmende Fröhlichkeit mit dem Tirili der Lerche vermischten, die, von dem hellgelben Netz der untergehenden Sonne gleichsam gefangen, über den Kornfeldern aufstieg und wirbelte.
Am Eingang von Morangis, bei der Kreuzung dreier Wege, erhob sich inmitten eines grünen ebenen Platzes eine große italienische Pappel, die eine politische Vergangenheit hatte. Der alte Aillaume, der bereits Anno achtundvierzig in der Gegend Grundbesitzer war, erinnerte sich noch, wie sie, aller Zweige und der Rinde entblößt, in drei Farben bemalt, von dem Pfarrer jener Zeit »der Baum der Freiheit« getauft worden war. Unter dieser seither zur Natur und ins bürgerliche Leben zurückgekehrten Pappel harrte auf unsre Pariser am Samstagabend Geneviève Izoard, während sie den Klappstuhl der ganz in Tücher eingemummten Kranken mit Aufmerksamkeit betraute. Neben ihr befand sich der alte Guillaume Aillaume, ein von Labiche retuschiertes Voltairegesicht, die Tabaksdose stets in der Hand und zwischen zwei Fingern eine tüchtige Prise haltend. Er ging seinen angebeteten Enkelkindern entgegen. Eine Weile blieb man beisammen, um zu politisieren, ohne daß je eine Einigung erzielt werden konnte; denn es waren verschiedene Generationen beisammen, von denen jede ihre eigne Denk-, sogar Sprechweise hatte. Dann ließ die Abendkühle den großen Baum bis zum Wipfel erschauern, Geneviève gab, um ihre Mutter besorgt, das Signal zum Aufbruch, und man ging auseinander: die Kranke schritt zwischen dem Gatten und der Tochter langsam dem von ihnen bewohnten, aus einem Erdgeschoß mit einer Freitreppe bestehenden, sehr alten Jagdpavillon zu, dessen hohe Fenster mit den ganz kleinen Scheiben zehn Meilen weit auf Korn- und Rapsfelder blickten; auf der entgegengesetzten Straße ging der Großvater Aillaume mit seinen flinken, kleinen Schritten an der Spitze der Familie Eudeline nach der Richtung des Schlosses Morangis, dessen von zwei großen Tulpenbäumen flankierte Fassade ungeheuer und schwarz auftauchte. Die von der untergehenden Sonne geröteten Fenster verliehen ihm das Aussehen eines brennenden, wie durch einen Zauber stehengebliebenen Gebäudes.
Von Jahr zu Jahr sah der Freiheitsbaum, dessen Krone sich allmählich entblößte, den kleinen Freundeskreis vom Samstagabend sich lichten. Zuerst fehlte der alte Guillaume, dann Victor Eudeline, ein paar Monate später Frau Izoard, die ihre ewigen Klagen auf dem Friedhof von Nizza zur Ruhe getragen hatte, und schließlich Frau Eudeline und Dina, deren Verbannung in der Provinz noch lange dauern zu müssen schien. So war eines Abends zum Empfange des von Paris kommenden Stenographen beim Kreuzweg niemand mehr da als Geneviève in tiefer Trauer und ihre Freundin Casta. Diese kleine, dicke Person mit der Brille hieß mit ihrem wahren Namen Sophie Castagnozoff und war die Tochter eines großen Getreidehändlers in Odessa; gegen den Willen der Ihrigen nach Paris gekommen, um hier Medizin zu studieren, gab sie, um ihre Vorlesungen bezahlen zu können, Stunden in allen lebenden und toten Sprachen, in all den Kenntnissen, die ihr slawisches Gedächtnis und ihre ungeheure Intelligenz aufgestapelt hatten. Pierre Izoard der zufällig die geringschätzigen Theorien seines Freundes und Meisters J. B. Proudhon über das weibliche Gehirn nicht teilte, wollte, von der Freundin Casta unterstützt, seinem Töchterchen die vollständige klassische Ausbildung der Knaben geben. Allein die Krankheit der Mutter, die Reisen in den Süden hinderten Geneviève, die zwei Examina zu machen, wie ihr Vater es wünschte. Als sie allein, ganz bleich in ihren schwarzen Gewändern, mit allzu glänzenden Augen und pfefferroten Lippen aus dem Süden zurückkehrte, erschraken ihre Freunde; sie mußte auf dem Lande leben, jede Ermüdung vermeiden, und Sophie kam nur noch als Arzt der Freundin in das Häuschen zu Morangis, wo ihre Vorstellungen von idealer Gerechtigkeit und allgemeiner Befreiung ein Echo fanden. Trotzdem wußte Geneviève, obwohl sie mitten in ihren Studien unterbrochen worden war, genug, um dem jüngeren Raimund bei seinen Arbeiten zu helfen und ihm Nachhilfstunden in Latein und sogar in Mathematik zu geben. An diese Stunden dachte der Schüler die ganze Woche und träumte von den Sonntagnachmittagen, die er in einem Winkel des je nach der Jahreszeit hellen oder düsteren Speisezimmers von Morangis zu Füßen dieser entzückenden großen Schwester verbrachte, die von den Kindern »Tantchen« genannt wurde, auf deren Knien, die ihn durch die Röcke hindurch verbrannten, der aufgeschlagene Virgil lag.
Raimund näherte sich seinem achtzehnten Jahre und kam nach Prima in die Philosophieklasse. Unsre Gymnasiumsphilosophen erkennt man gewöhnlich an der sorgenvollen Miene, dem Kammerherrenernst, dem Stolz, mit dem sie die zwei in den Rücken eingestickten symbolischen und mystischen Schlüssel tragen, mittels deren Kant und Schopenhauer ihnen die ganze menschliche Seele und das ganze Leben öffnen. Lacht nicht: eine der Miseren unsers Landes besteht in der Wichtigkeit, die man bei uns seit dem siebziger Kriege der Philosophie, besonders der deutschen Philosophie, beilegt und die in unsern Gymnasien jene strahlenden »humanistischen« Fächer vertritt, die so lange das Stelldichein, gleichsam das geistige Zapfenlager der höheren Studien waren.
Raimund, durch die Pflichten und Rechte des ältesten Sohnes, dessen Verantwortlichkeit er übertrieb, ohnehin verdüstert, hatte durch dieses neue Studium in die allerschwärzeste Stimmung gestürzt werden müssen. Der Professor war fürchterlich, seine Doktrin verzweifelt; beim Verlassen der Klasse sprachen die Schüler nur von Selbstmord und Tod, von der Häßlichkeit des Lebens und dem Nichts. Trotzdem war dieses Philosophiejahr, das an einem ganz besonders unvergeßlichen Sonntag im Oktober 1883 anhob, das beste in der düsteren Jugend des Freischülers von Louis-le-Grand.
An diesem Morgen erwarteten Geneviève und ihre Freundin Casta, die bereits tags zuvor in Morangis eingetroffen waren, bei dem Kreuzweg unter dem Freiheitsbaum den Vater, den Raimund von der Station Antony abholen gegangen war. Die Studentin, mit dem Rücken gegen die vom Herbst halb entblätterte große Pappel auf dem gelb werdenden, kurzgeschorenen Grase sitzend, vergrub ihre breite Kalmückennase und ihre Brille in ein medizinisches Notizenheft, das sie nicht las, während Geneviève von einem Wege zum andern wanderte, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes die Steine wegschleuderte und allerlei Kreise und Linien, die ganze unbewußte Bilderschrift der zerstreuten Erwartung und Ungeduld, auf den Boden zeichnete.
Der Gegensatz zwischen den beiden Freundinnen war derselbe wie zwischen ihren Bewegungen. Die Russin war plump, kurzgewachsen, ohne ausgeprägte Merkmale des Alters und Geschlechts, hatte eine welke Haut und trug Kleider und Hüte aus den Läden des Studentenviertels. Die andre, wenig über die Zwanzig hinaus, war eine hohe, volle, elegante Erscheinung, und die Halbtrauerkleidung wurde durch einen weißen, mit Veilchen aufgeputzten Strohhut aufgehellt, der ein rosiges, glänzendes Gesicht, ein paar Augen von sammetartigem Grau, einen allzu roten und zu großen Mund von ausgeprägter Güte beschattete. Unter dem Eindruck der Sonntagsstille, jener Unbeweglichkeit aller Dinge, die in der Ebene so sinnfällig wirkt, wo jede Arbeit weit und breit deutlich wahrzunehmen ist, schwiegen sie schon eine lange Weile; plötzlich ertönte in ziemlicher Nähe ein Schuß, der aber von dem leichten Nebel des Spätherbstes gleichsam verstopft wurde.
»Sieh da,« sagte Casta, während es unter ihrer Brille spöttisch aufblitzte, »Herr Mauglas Sohn schießt Ihnen ein paar Drosseln.«
Der Sonnenschirm Genevièves fuhr noch immer zerstreut auf dem Boden herum.
»Sie sind gegen diesen jungen Mann ungerecht,« fuhr Casta fort. »Er scheint Sie anzubeten, er hat Talent, ist bescheiden; denn Sie haben lange Zeit keine Ahnung gehabt, daß der Sohn Ihrer Nachbarn, der alten Gemüsegärtner, die er mit so viel Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit umgibt, der Mauglas aus den ›Débats‹, der ›Revue‹, der gelehrte Musikkritiker und Verfasser der schönen Studien über die griechischen und syrischen Tänze auf Grund der Medaillen ist . . . Ich behaupte nicht, daß er schön oder auch nur elegant ist; aber um Ihretwillen strengt er sich an, gibt auf sich acht . . . und dann sieht er wie ein Mann aus. Der ist kein verkleidetes Weib.«
»So heiraten Sie ihn doch, meine Liebe!« rief Geneviève, indem sie sich trotzig umdrehte.
Die Studentin erhob ihr armes, mit Bändern und Federn herausgeputztes Eskimogesicht von dem Notizenheft und antwortete sanft, ohne den geringsten Groll:
»Ich möchte wohl, aber ihm würde das nicht passen . . . so wie ich aussehe . . . Aber hören Sie, Kleine . . .«
Sie rief sie mit einem liebevollen Wort heran und hielt die vor ihr Stehende bei den Händen fest.
»Ich muß Ihnen doch sagen, was mir schon so lange am Herzen liegt . . . Was treiben Sie? Wohin gehen Sie? Wohin führen Sie dieses Kind, das vier Jahre jünger ist als Sie, aus dem Sie nie einen Mann machen werden, mögen Sie versuchen, was Sie wollen. Ja, wenn es noch der kleine Bruder, der Toni wäre. Der ist noch nicht einmal sechzehn Jahre alt und ein Stotterer, ein halber Krüppel . . . aber welche Energie, welche Willenskraft besitzt er! . . . Der andre hingegen . . . Glauben Sie wirklich, daß er gearbeitet hat, während Sie ihn tagelang bei sich, dicht neben sich sitzen ließen und in dasselbe Buch mit ihm schauten? Trotzdem braucht er seine Arbeit, für sich wie für die andern – und Sie lenken ihn davon ab . . . Ich denke an all das, was man sich ausgedacht hat, um die augenscheinliche Abnahme der Auffassungskräfte des jungen Eudeline zu erklären . . . Um das zu entdecken, bedurfte es keiner Zauberei. Sie waren der Vorwand für die Lässigkeit dieses Lymphatikers, Sie waren sein Opium . . . Halten Sie inne, meine Liebe . . . Sie sind im Begriff, diesen Jungen unglücklich zu machen – vielleicht auch sich selbst. Eine große Schwester, das gibt's nicht; die Sinne sind eine furchtbare Falle, in die er fällt, in die Sie eines Tages selber fallen werden. Und was dann? Seine Frau können Sie nicht sein . . . etwas andres auch nicht, nicht wahr? . . . Ich sehe voraus, daß Ihr binnen kurzem alle beide unglücklich sein werdet.«
Errötend ließ Geneviève, ohne ihre Hände zurückzuziehen, ohne den Versuch zu einer Unterbrechung oder einem Leugnen zu machen, die Freundin zu Ende reden. Diese Vorwürfe – wie oft hatte sie sich sie nicht selbst gemacht!
»Wollen Sie einen Beweis, liebe Sophie?« Sie hatte ihr Gesicht mit dem treuherzigen, schönen Lächeln der Brille der Kurzsichtigen genähert, um ihr die Klarheit ihrer Gedanken ja recht gut zu zeigen, und sagte ganz leise, ganz dicht vor ihrem Ohr, als sei noch etwas andres in der Nähe als Stille und Einsamkeit:
»Ich werde heiraten, liebe Freundin . . .«
»Ah! Braves Mädchen!« rief die Studentin, feurig aufspringend. »Und wen?«
»Meinen alten Bewerber . . . den Quästurbeamten Siméon. Er will heute zum Frühstück herkommen und seinen Antrag wiederholen. Aber diesmal . . .«
Casta sah sie bestürzt an.
»Wie, wirklich, ist das Ernst? . . . Siméon? . . . Sie entscheiden sich für Siméon?«
Bei jeder dieser Fragen prägten sich die Bogen ihrer dicken Augenbrauen vor Erstaunen und Verblüffung stärker aus . . . Wie, dieser Schönling, methodisch wie ein Remontoirwerk, dieser Hase, der sich vor seinem eignen Schatten fürchtete, ein Mensch ohne Ideen, ohne Leidenschaft, der nie etwas gesagt oder gedacht hatte, was nicht viele andre vor ihm gesagt und gedacht hatten – den zog Geneviève Izoard dem stolzen Talent, dem unabhängigen Geiste eines Mauglas vor!
»Hören Sie, Kleine, Sie sind wohl blöde geworden? Sie finden ihn wohl nicht schick genug, nicht jung genug?«
»Nein, das ist es nicht . . . ich kenne Mauglas nicht gut genug . . . ich habe Angst vor ihm . . .«
»Hören Sie, Sie machen mir Angst . . . Ich kenne diesen Mann nur durch Sie und habe vor ihm stets frei über mich, über meine Freunde gesprochen. Erst gestern hörte er zu, wie ich erzählte, daß ich in meinem Zimmer . . .«
»Oh, seien Sie ruhig!« fiel Geneviève lebhaft ein. »Ich halte ihn für ehrlich; aber er hat, wenn er lacht, in den Mundwinkeln, in der Krümmung seiner Lippen etwas – ich weiß nicht was – etwas Verborgenes und Zynisches, das mich stört. Der Gedanke, daß dieser Mann an mich denkt, daß er die Erinnerung an mich, mein Bild in seinem Geiste fortträgt, ist mir unangenehm.«
»Und ich wäre darüber so glücklich!« murmelte die Russin und setzte seufzend hinzu:
»Wie sich im Leben alles schlecht fügt!«
An der Biegung des Weges ertönten sich nähernde Schritte und Stimmen. Die gelben Wangen der Studentin färbten sich unter ihren schreienden Hutbändern mit unschuldigem Purpur: sie hatte eben hinter Izoard und Raimund den glänzenden Lauf eines Jagdgewehres und eine auf einem Tirolerhut steckende Fasanhahnfeder erblickt.
»Hör mal zu, Töchterchen,« dröhnte die tiefe Stentorstimme des Marseillers, dessen immer länger und immer weißer werdenden Bart die helle Morgensonne bestrahlte, »hör mal zu und sag mir, was du darüber denkst. Mauglas, der uns unterwegs aufgelesen hat, behauptet, daß eine Generation von der andern so entfernt ist wie der Mars von der Erde oder sonst einem Planeten, und daß Jungen wie Raimund nicht verstehen, was man ihnen sagen will, wenn man ihnen vom 1852er Staatsstreich und von der feigen Verleugnung Badinguets spricht . . .«
»Nicht mehr, als sie die Leute meiner Generation verstehen, die ihnen Revanche und Krieg predigen.«
Jenes Lächeln, das Geneviève nicht liebte, ein Aufschürzen der dicken Lippen, die eine englische Pfeife, eine Jagdpfeife mit kurzem Röhrchen, zusammengepreßt hielten, begleiteten diese seltsame Behauptung. Der Sprechende, ein dicker Mann von fünfunddreißig bis vierzig Jahren, mit dem Kopf eines herumziehenden Schauspielers, in gelben Gamaschen mit funkelnden Knöpfen und einer zu neuen Samtjoppe, näherte sich den jungen Mädchen mit höfischem Gruß, indem er mit seiner goldbraunen Feder den Boden fegte. Die Studentin, die er gewöhnlich nicht durch Aufmerksamkeiten verwöhnte, war auf ihren Anteil an dieser wenngleich ironischen Reverenz so stolz, daß ihr armes, häßliches Gesicht sekundenlang beinahe hübsch wurde. Mauglas achtete natürlich nicht darauf, sondern fuhr, zu Geneviève gewendet, fort:
»Das ist geradeso, wie wenn ich in Gegenwart des Fräuleins Frau Lafarge der Arsenikvergiftung ihres Gatten beschuldigen würde. Welcher Ansicht Fräulein Geneviève auch über diese cause célèbre sein mag, so wird sie sie mir, denk' ich, ohne Fanatismus auseinandersetzen. Gestern abend hingegen, während des Essens, glaubte ich, daß meine liebe Mama das himmlische Feuer auf mein Haupt herabrufen würde, bloß weil ich die Unschuld dieser heiligen Frau in Zweifel gezogen hatte. Es gibt derart Worte, Daten, die Probiersteine sind, mittels deren die einer Periode angehörigen Menschen sich wiederfinden, sich erkennen – so der Name der Madame Lafarge, des alten Raspail, des Sedativwassers für meine Mutter und auch für Ihren Vater. Nicht wahr, Fräulein?«
Geneviève warf, ohne sich umzudrehen, ein zerstreutes »Ja« hin. Sie war bereits mit Raimund beschäftigt, der ihr während des Gehens, dicht an sie geschmiegt, erzählte, daß er heute früh einen trostlosen Brief aus Cherbourg erhalten habe. In diesem Briefe schrieb Frau Eudeline ganz verzweifelt und unter Tränen ihrem ältesten Sohn, daß sie bereits völlig die Hoffnung aufgegeben habe, ihr teures Paris je wiederzusehen und dort inmitten ihrer Kinder zu leben; und da sie ebenfalls eine Sentimentale, eine Zeitgenossin der Madame Lafarge, der Lelia, der Indiana war, flehte sie Raimund an, ihr ja recht rasch ein paar Blüten von einem der großen Tulpenbäume in Morangis zu schicken. Sie wollte die Erinnerung an diese schönen Orte ihrer Jugend, die sie nie mehr wiedersehen würde, in ihrer Nähe haben, einatmen und vor dem Sterben noch einmal lebendig machen.
Freilich legten trotz dieses düsteren Briefes ein paar beruhigende Zeilen Dinas Zeugnis für das vollkommene Wohlbefinden Frau Eudelines ab; aber dem armen Kinde mußten diese umschriebenen Vorwürfe, diese Zweifel der Mutter seit dem Morgen auf dem Herzen liegen, denn das »Tantchen« fühlte, wie die grobe Tuchjacke des Gymnasiasten neben ihrer Schulter sich leicht zitternd bewegte – ach, weder Kant noch Spinoza, nicht einmal Schopenhauer befreien ja unsre jungen Philosophen von ihren Schuluniformen! Und gerade diesen Tag hatte sie gewählt, um mit ihm über einen großen Kummer zu sprechen! Ach, der Nachbarssohn mochte, während sie alle miteinander im langsamen Plauderschritt durch die ungeheure, mit Baumgruppen und hohen Schobern durchsetzte Ebene wanderten, um sie herumspringen, die Wirkungen der Literatur und neuer Gamaschen versuchen – sie hörte nichts davon und dachte nur an eines: wie sollte sie ihm sagen, daß sie sich verheiraten werde? Welchen Augenblick sollte sie wählen, um es ihm zu sagen? Natürlich vor dem Frühstück. Raimund kannte den Quästurbeamten und seine Absichten; er brauchte ihn bloß ankommen zu sehen, um alles zu begreifen, und wenn er die Nachricht ohne Erklärung, ohne Vorbereitung erhielt, würde sie noch schmerzlicher für ihn sein. Allein was für ein Mittel gab es, um vor der Ankunft Siméons fünf Minuten mit ihm allein zu sein? . . . Plötzlich erinnerte sie die rechts mit den Tulpenbäumen der Fassade erscheinende, ferne und regelmäßige Masse des Schlosses Morangis an den Wunsch Frau Eudelines.
»Wie wäre es, wenn wir ihr gleich ein paar Blüten pflückten?« sagte sie ganz leise zu Raimund, und ohne seine Antwort abzuwarten, zog sie ihn mit sich fort, indem sie den andern zurief, weiterzugehen, da sie sich ein paar Minuten im Schloß aufhalten würden.
Geneviève Izoard war mit ihren zweiundzwanzig Jahren, obwohl von einer Studentin der Medizin und einem sehr fortschrittlich gesinnten Vater erzogen, noch immer ein echtes junges Mädchen von entzückender Reinheit und Unschuld. Dafür gab es mehrere Ursachen: erstens wollte zwar Vater Izoard – ein sehr kompliziertes Marseiller Fabrikat mit wasserdichten Abteilungen und Scheidewänden –, daß seine Tochter gebildet sei, aber er beabsichtigte nicht, aus ihr eine uniformierte, mit wissenschaftlichen Worten vollgestopfte Gymnasiastin zu machen, ebensowenig wie eine junge Weltdame, die auf alle Rennen und Premieren lauert, alles Rotwelsch spricht und die in Mode befindlichen Chansonnettensängerinnen nachahmt. Da er Geneviève ohne alle religiösen Formen erzogen hatte, wollte er, daß ihr Benehmen und ihre Sprache desto zurückhaltender seien; dabei war er ein echter Vater aus dem Süden: grimmig, intransigent, streng wie ein Haremswächter. Man erzählte sich einen Ausspruch Genevièves, den sie getan, als man sie einmal aus Versehen in ein etwas starkes Stück geführt hatte. »Weißt du,« hatte sie naiv zu ihrer Freundin Casta gesagt, »es hat mich hauptsächlich Papas wegen geniert!«
Diese Sophie Castagnozoff, die er sich zur Vervollständigung der Erziehung seines Töchterchens beigegeben hatte, obwohl sie die südländischen Ideen des alten Stenographen nicht teilte, hatte ihm zuerst durch die Strenge ihrer Sitten, ihre Sprechweise und ihr auf der medizinischen Schule berühmtes scheues Wesen gefallen. Wenn die Studenten, die Nachbarn Castas, ob nun im Kursus oder auf den botanischen Ausflügen, die arme Häßliche und ihre humanitären Vorlesungen loswerden oder einfach sich die Freude machen wollten, sie bis unter die Wurzeln ihres fahlblonden Haares erröten zu sehen, so brauchten sie nur mit ihren Gassenjungen- und Studentenausdrücken herumzuwerfen: gleich entfernte sie sich, ihre Fransen und Federn schüttelnd, mit der Schamhaftigkeit einer dicken Katze. Außer diesen zwei etwas eigenartigen erzieherischen Einflüssen hatte die Krankheit der Mutter Geneviève fast immer zu Hause gehalten; sie war nie in einem Damenkurs oder Pensionat gewesen, besaß keinen romantischen Geist, und es fehlte ihr das, was man gewöhnlich Phantasie nennt: das heißt, sie vertiefte sich in das, was sie tat, und verwendete darauf ihre ganze Aufmerksamkeit, ihre ganze Energie. Damit erklärt sich die vollständige Naivität, die diesem strahlenden Geschöpf bis zu zweiundzwanzig Jahren geblieben war; es erklärt auch, wieso der mütterliche Instinkt, der erste, der einzige, der in ihr erwacht war, sich verwandeln und fast unbewußt zur Liebe werden konnte. Als sie sich während der letzten Ferien davon Rechenschaft gab, erfüllte sie diese Entdeckung mit Verwirrung. Daß sie von diesem Schüler geliebt wurde, das war noch begreiflich; aber daß auch sie ihn liebte, in seiner Nähe ihr Herz unruhig werden fühlte, von seinem hübschen Gesichte mit den blonden Locken, von seinem Husarenschnurrbart, seinen bleichen, zarten Händen träumte, eifersüchtig wurde, wenn er andre Frauen anblickte oder wenn die Mutter seines Freundes Marquès ihn ins Sprechzimmer rufen ließ – daß sie solchen Schwächen unterliegen würde, hätte sie nie gedacht. Dieses Kind, das sie lesen gelehrt hatte, sie, das »Tantchen«! . . . Ein solches Gefühl war abscheulich, wenn es nicht lächerlich gewesen wäre. Sofort suchte sie sich davon loszumachen, überwachte sich, wie es die schlaueste Frau nicht besser hätte tun können, vermied die gefährlichen Berührungen, die zärtlichen Vertraulichkeiten . . . aber was waren das für Schmerzen, was für vergeudete, nutzlose Anstrengungen! Ihr ganzes Leben mußte umgebildet, mit allen Gewohnheiten mußte aufgeräumt werden! Und dazu der erschreckte Vater Izoard, der jeden Augenblick fragte: »Was hast du denn, Töchterchen?« Und dann die verblüfften, verzweifelten Augen des Jungen, die sich zu ihr aufschlugen und mit großen, angstvollen Tränen füllten – jenen Kindertränen, denen die Mütter nicht widerstehen können. Als sie nun eingesehen hatte, wie schwer das war, was sie versuchte, und daß sie nie zum Ziel gelangen würde, da hatte sie sich zu dieser heroischen Heirat entschlossen.
Nachdem ihr Entschluß gefaßt war, mußte sie ihn Raimund begreiflich und annehmbar machen; das würde schwer sein, denn obwohl er es nie zu sagen gewagt hatte, liebte er sie und war sich dessen bewußt. Mit sechzehn Jahren machte er Verse auf sie, Baudelairesche Verse, inbrünstige Hymnen im Latein der Dekadenz – Genovefae meae laudes –, in denen er die Reize seiner Freundin aufzählte, ihren Hagerosenteint, ihre hohe, geschmeidige Gestalt. Die wenigen Frauengestalten in seinen Lehrbüchern, die Fürstinnen und Kriegerinnen – ob es nun Elektra mit dem großen Schwesterherzen oder die Camilla Virgils war – erschienen ihm stets mit dem leuchtenden Lächeln, den klaren, grauen Augen des Tantchens. In der Klasse, im Hof, im Schlafsaal, auf dem Spaziergang, überall dachte er nur an die, deren Bildnis in einem hübschen Medaillon ihn nie verließ. Sein Freund Marquès war der einzige, der es kannte, und seine Mutter, die Ministersfrau, die sich für diese Jugendliebe sehr interessierte, bekam es ausnahmsweise zu sehen: selbstverständlich umgab Eudeline das schöne Gesicht mit den großen, offenen Augen, die von verwirrender Klarheit und solcher Durchsichtigkeit waren, daß sie ihre Neigung bis auf den Grund sehen ließen, mit allerlei romantischen Abenteuern und versteckte es hinter einem falschen Namen. Womit hätte er zu verstehen geben können, daß diese Gefühle geteilt würden? Wie konnte er zu diesem Engel sagen: »Ich liebe Sie!« ohne daß er Gefahr liefe, den Winkel des Paradieses, den er schon besaß, das halbe Glück, mit dem sich so viele andre begnügt hätten, zu verlieren? Marquès, der verderbte junge Mensch, der die Frauen kannte wie sonst keiner im Gymnasium, schlug ihm, als er ihn zu Rate zog, zwei Arten von Liebeserklärungen vor: entweder eines Abends, wenn sie allein wären, durch eine stürmische Umarmung und Mund auf Mund – oder auf schlauere Weise, durch geschickte, lockere Gespräche, Bücher und Bilder. Zum Glück fuhr der durch seine ehrliche, besser gesagt schüchterne Natur zurückgehaltene Raimund, so sehr er auch der frühreifen Erfahrung seines Freundes vertraute, fort, Geneviève in aller Stille zu lieben, zu ihren Füßen zu sitzen, sich an sie zu drücken, zu schmiegen, während sein Buch aufgeschlagen auf ihren Knien lag. An diesem Oktobermorgen jedoch fühlte er, während er mit schäumendem Blute und schwellenden Adern in dem herrlichen Licht dahinschritt, wie gleichsam ein Sturm von Kraft, ein plötzliches Schwellen von Jugend und Mannbarkeit sich in ihm regte. »Heute, heute werde ich ihr sagen, daß ich sie liebe,« wiederholte er sich auf dem ganzen Wege, während Geneviève sich mit aller Macht vorbereitete, ihm und sich selbst einzureden, daß sie ihn nicht liebe.
»Das Schloß ist noch immer nicht bewohnt?« fragte Raimund, als sie vor dem monumentalen Gitter anlangten. Ein Täfelchen war daran befestigt, und Wind und Regen unterhielten sich damit, die Aufschrift: »Zu verkaufen oder zu vermieten« täglich ein bißchen mehr zu verwischen.
»Dieses arme Schloß hat wirklich kein Glück,« sagte Geneviève, indem sie während des Sprechens an der Tür die Glockenkette suchte, die irgendein Landstreicher in seiner Wut, daß er hier niemand fand, abgerissen haben mochte. »Nach dem Tode deines Großvaters wurde es an Engländer verkauft, die darin eine Raupenkultur einrichteten, um den Seidenbau im großen zu betreiben. Es gelang nicht. Als sie fortzogen, wurde das Täfelchen angebracht und hat sich seither nicht gerührt . . .«
Im Hintergrunde des Hofes, im Rahmen eines der hohen Fenster im Erdgeschoß, die die alte steinerne Freitreppe beherrschten, erschien eine Förstermütze, und eine Kommandostimme rief:
»Gitter aufstoßen – ist nicht geschlossen.«
Geneviève gehorchte.
»Das ist der Vater Lombard, ein ehemaliger Gardist von Fontainebleau,« sagte sie zu Raimund. »Er ist da, um das Schloß zu zeigen, und zerstreut sich, indem er aus den verschiedenen Hölzern, die er im Park findet, Stöcke, Heugabeln und Rechen erzeugt. Du weißt ja, daß der Großvater Aillaume eine Leidenschaft für exotische Bäume hatte . . . Aber was ist dir, Raimundchen? Wie du zitterst!«
Das Knirschen des Gitters beim Aufgehen, dazu das Geschrei eines auf der Mauer in der Sonne sitzenden Pfaues und der Klang einer nahen Kirchenglocke, die zum Hochamt läutete, erschütterten Raimund bis in sein tiefstes Wesen. Er durchlebte wieder ähnliche Sonntage in seiner ersten Kindheit, ähnliche helle Morgen voll goldigen Lichtes. Er kam mit seinem Vater von der Jagd zurück und durchschritt an seiner Hand den ganz mit knirschendem, feinem Kies belegten Hof, der heute von Gras überwuchert, mit abgestorbenen Blättern bestreut war. Im Vorbeigehen warf er die schwere Jagdtasche, deren Leder ihm den Rücken verbrannte, auf den Küchentisch. Ach Gott, wie viele Erinnerungen, welch ein Wirbel! Sein Kopf drehte sich, das Herz schien ihm die ganze Brust auszufüllen, und bei jedem Schritt, bei dem geringsten Gegenstand, den er erkannte, vor der Hütte Wotans, der alten dänischen Dogge des Großvaters – oh, wie hatte ihm der Name Wotan während seiner ganzen Kindheit zu denken gegeben! . . . vor der Schramme, die die Mittagsglocke in der Mauer zurückgelassen hatte, überall fühlte er die Tränen aufsteigen.
»Es tut mir zu weh, Tantchen,« sagte er zu dem jungen Mädchen, das seine Bewegung ebenfalls ganz erschütterte. »Nehmen wir unsre Blumen und gehen wir wieder.«
Sie zürnte sich selbst, weil sie ihn hierhergeführt hatte, und wäre gern wieder fortgegangen. Aber die zwei Tulpenbäume vor der Fassade, die der Sturm der letzten Nacht der Hälfte ihrer Blätter beraubt hatte, waren schon längst abgeblüht. Der Wächter Lombard, der sich genähert und ehrerbietig die Mütze gelüftet hatte, als er erfuhr, daß er einen der ehemaligen Besitzer des Schlosses vor sich habe, erinnerte sich glücklicherweise, daß ein kleiner Strauch am Rande des Teiches noch ein paar Blüten trage.
»Wenn Herr Eudeline hingehen will, so kann er durchs Erdgeschoß gehen. Das Vestibül ist zufällig offen. Ich benutze die letzten schönen Tage, um den großen Salon zu lüften und die noch übriggelassenen Vorhänge auszuklopfen . . . mit diesem Spazierstöckchen eigner Erzeugung,« fügte der Wächter stolz hinzu, indem er ein nach oben zu keilförmig geschnitztes Nußbaumholzstäbchen vorwies.
Durch die vier einander gegenüberliegenden Fenster des Salons, deren Läden nach beiden Seiten weit offen standen, erblickte Raimund den Teich, der inmitten der herbstlichen Pracht wie einer jener hohen, zwischen den grüngoldenen Tapeten des Salons eingelassenen Spiegel in der Sonne funkelte. Würde er, umschlungen von den tausend Erinnerungen, die wie kletternde, zusammenpressende, erstickende Schlingpflanzen aus dem Boden des Hauses seiner Kindheit aufstiegen, den Mut haben, bis dorthin zu gehen?
»Entschieden regt dich das zu sehr auf . . . wir werden ein andermal wiederkommen,« murmelte Geneviève mitleidig.
Das Kind raffte sich zusammen, wollte den Mann spielen.
»Nein, es muß sein . . . ich will es . . . ein andermal wäre es zu spät . . .«
Er nahm sie bei der Hand, und sie traten zusammen ins Haus.
Oh, dieser hallende, fliesenbelegte Flur mit seinem blaßrosa Stuck, wo an den Rechen noch alte Strohhüte hingen – er schritt bloß durch, aber welche Bewegung ergriff ihn, als er diesen Geruch von Obst und Schimmel wiederfand! Meinte er nicht bei der Biegung der großen Treppe, an deren Geländer sich noch immer der von Antonius Armbrust durchschossene Kristallknopf befand, den Rücken des Großvaters Aillaume zu sehen, wie er verstohlen, gleich einer langen, mageren Katze hinaufschlich? Durch die halboffenen Türen rechts und links traten Schatten hervor und schienen ihm aus der Ferne zu rufen, im Halbdunkel der verlassenen Räume Zeichen zu machen. Er sah, wie Hände sich ihm entgegenstreckten; er hörte lang verstummte Freundesstimmen flüstern, an der Ecke der Korridore Kleider rauschen, erkannte das Ticken alter, stillstehender Uhren – und diese Eindrücke, die Geneviève durch einen Rückschlag mitempfand, waren so lebhaft, daß sie, als sie die großen Gebäude durchschritten hatten und draußen angelangt waren, lange Zeit wortlos nebeneinander hergingen.
Im Park sprang die Einsamkeit und Vernachlässigung nicht wie im Innern des Hauses durch die Wüstheit und Leere des Raumes in die Augen, sondern durch das Gegenteil, das Überhandnehmen der Natur, die alles bedeckt, was wir vernachlässigen; die Alleen waren von Gras, die Wiesen von Schmarotzermoosen überwachsen, und unter dem Jochbogen des halbentblätterten Hagenbuchensaums überwucherten rauschende Zweige. Dort sangen und sprangen, von der Spätherbstsonne getäuscht, ganze Scharen von Staren, Amseln, Drosseln und Rotkehlchen, die, auf der Auswanderung begriffen, hier kurze Rast hielten. Der ganze, in einen Wald verwandelte ungeheure Park tat sich in grünen Pfaden – die Förster nennen sie tote Wege – vor ihnen auf; ein weißer Hase sprang rückwärts darüber hin, eine Natter ringelte sich vorüber, und ein Sonnenstrahl, ein vom Winde bewegter Schatten auf den bemoosten Steinbänken verschaffte ihnen das Trugbild befreundeter Phantome, die sich bei ihrem Vorübergehen erhoben.
›Jetzt sind wir bei der Insel – ich muß mit ihm über diese Heirat reden,‹ dachte Geneviève; aber als sie sah, wie bewegt, wie schwach Raimund war, verlor sie alle Kraft. Er, von Erinnerungen berauscht, der Stunde ganz vergessend, lebte nur in der Vergangenheit. Wenn der Großvater Aillaume, eine Prise zwischen den mageren Fingern, mit seiner dänischen Dogge Wotan auf den Fersen an der Ecke einer Allee erschienen wäre, würde ihm das ganz natürlich erschienen sein. Beim Überschreiten des Brückchens über dem schwarzen, tiefen Teich, der die mit seltenen Bäumen bepflanzten Wiesen wie mit einem schmalen Kanal umgab, blieb er stehen und stützte sich unbeweglich auf das Geländer. Das junge Mädchen, das vorausgegangen war, kehrte unruhig um.
»Was machst du da?«
Er hob das hübsche, etwas bleich gewordene Gesicht.
»Nichts . . . Ich betrachtete das Licht in dem spiegelnden Wasser . . .«
Und dann, mit veränderter, furchtsamer Stimme:
»Wie ich meinem Vater ähnle, nicht wahr, Tantchen?«
Diese Erinnerung an seinen Vater und den schrecklichen Selbstmord, der solchen Eindruck auf ihn gemacht hatte, war es, was sie immer fürchtete. Sie zürnte sich noch mehr, weil sie ihn diesen Erinnerungen ausgesetzt hatte.
»Deinem Vater? . . . Nein, das finde ich nicht. Er war groß und blond wie du, aber das ist alles; du gleichst mehr deiner Mutter . . .«
»Ja, vielleicht in der Natur . . . Ich bin auch schwach, willenlos . . . und das ist furchtbar, wenn man eine schwere Aufgabe zu erfüllen hat . . . Leider mache ich mir keine Illusionen wie meine arme Mutter; ich bin nicht romantisch.«
»Das ist unsre Generation überhaupt nicht!« rief Geneviève lachend; und um ihn von seinen schwarzen Gedanken abzulenken, zeigte sie ihm die magische Herbstdekoration ringsum, die gleich großen Monstranzen vergoldeten, schräg gepflanzten Bäume, die Spinnsträucher, Wacholder, Tulpenbäume in dem von dem nächtlichen Sturme niedergedrückten, von der Morgensonne wieder aufgerichteten Unkrautfeld, den braunen Fleck, den das Rohr inmitten der roten Spinnäpfel und gefallenen Blätter bildete.
»Sieh her, mein Junge . . . Mama Eudelines Bukett!«
Im Grase kniend, drehte sie sich zu ihm um, indem sie die letzte, vom Sturm abgerissene Blüte schwenkte, und die Bewegung ihrer geschmeidigen Taille in dem schwarzen Wollenkleid, die Anmut der Gebärde und das hübsche, lachende Gesicht unter dem von Stroh und Sonnenstrahlen geflochtenen Hütchen machten allen Gespenstern und Phantomen Raimunds ein Ende. Er kniete, plötzlich zum Leben wie zur Liebe zurückgerufen, neben der Freundin nieder, und den Kopf an ihre Schulter gelegt, betrachtete er heuchlerisch die grünlichbraune Baumblüte, die fast die Farbe eines Blattes besaß.
»Die arme Mama! Was kann ihr dieser zerdrückte, entfärbte Blumenkelch bedeuten? . . . Außer, daß sie darin ein Bild ihres traurigen Loses findet, dem das meinige ohne Zweifel gleichen wird.«
Er drückte sich fester an den weißen Hals und schauerte zusammen.
»Ach, Tantchen, das Leben macht mir Angst. Was würde aus mir, wenn ich dich nicht hätte, um mich zu stützen, zu beruhigen? Du wirst mich nie verlassen, nicht wahr?«
›Der Augenblick ist da,‹ dachte sie. ›Wenn ich es ihm jetzt nicht sage – wann werde ich es wagen?‹
Und noch immer kniend, ohne sich zu rühren, ohne sich umzudrehen, sagte sie:
»Nein, mein Schatz, ich werde dich nicht verlassen, geschehe, was da will – und wenn ich heirate, was zweifellos bald sein wird, werde ich doch immer deine Schwester und deine Freundin bleiben.«
Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da fühlte sie, wie er von ihrer Schulter herabglitt, und als sie sich umdrehte, sah sie ihn mit erloschenen Augen, mit weißen Lippen, die Mütze neben sich, auf dem Rasen liegen.
»Raimund, was ist dir, Raimundchen?«
Jetzt war sie es, die ihn, über seine tiefe Blässe erschreckend, in die Arme, an ihre Brust zog.
»Nichts – eine Schwäche, ein Schwindel. Ich fühlte, daß der Boden unter mir wich, daß die Bäume in die Luft flogen – und all das wegen eines Wortes, das ich zu hören glaubte, das du aber gewiß nicht ausgesprochen hast . . . Hör mal, Tantchen, es ist nicht wahr? Du willst nicht heiraten?«
Sie hatte nie verstanden zu lügen und senkte den Kopf. Nun brach er in Schluchzen und Klagen aus. Heiraten? Wen denn? . . . Siméon? . . . Also ohne Liebe? . . . Sie hatte ihn ja nie leiden mögen . . . Nein, das würde sie nicht tun . . . o Gott! . . .
Er weinte, den Kopf in Genevièves Schoß vergrabend, und bedeckte ihre Hände mit feuchten, brennenden Küssen, während sie ihn zu beruhigen, zu überreden suchte.
»Es muß sein, Raimundchen . . . der Vater will es. Du begreifst, ich bin nicht mehr jung . . . Und dann . . . du wirst eines Tages auch heiraten, und das wird dich nicht hindern, mein Freund zu bleiben.«
Er schüttelte den Kopf.
»Kann ich denn je heiraten? Sowie ich nur einen Beruf in den Händen habe, muß ich ein ganzes Haus ernähren . . . ich bin die Stütze der Familie . . . Und dann, existiert für mich eine andre Frau als Geneviève? Wäre es mir möglich, eine andre zu heiraten? . . . Ich liebe dich, und du, du liebst mich nicht wirklich, du weißt nicht, was Liebe ist. Du hältst mich wegen meiner Mütze und meiner Uniform für ein Kind; aber ich bin achtzehn Jahre alt, und in unserm Hof, im Gymnasium höre ich meine Altersgenossen von ihren Geliebten reden. Ich, ich habe nie eine Geliebte haben wollen, weil ich nur an dich dachte, weil deine Liebe mich vor allen Parodien der Liebe bewahrte . . . Aber was soll aus mir werden, wenn du mich verläßt? Mein Leben ist so düster, so traurig. Ach, du böses, böses Tantchen . . .«
Er schwieg und bedeckte die hübschen Hände, die sich ihm überließen, noch immer mit Küssen und Tränen. Auch sie schwieg, von einem grausamen Kampf bewegt; sie fühlte, daß Ort und Stunde feierlich waren. Allein um sie, die doch so Wahrheitsvolle, zu besiegen, mußte die Lüge hinzukommen, mußte der Schönredner, der in ihm schon steckte, sich in eiteln Worten erschöpfen.
»Wenn du heiratest, so ist es ganz einfach,« sagte er, sich plötzlich aufrichtend. »Mein Vater hat mir den Weg gezeigt, den man einschlagen muß, um das Leben und seine Häßlichkeit loszuwerden. Aber ich werde nicht warten, bis ich so alt sein werde!«
»Raimund, schweig!« schrie sie entsetzt auf.
»Vorhin, während ich mich über die Brücke beugte, habe ich daran gedacht,« fuhr er sehr ruhig fort. »Mein Vater erschien mir auf dem Grunde des Wassers, so wie man ihn aus dem Kanal gezogen hatte . . . Er winkte mir, ihm nachzukommen . . . es würde mir viel, viel besser gehen . . . Schön, ich werde sehen . . .«
Zwei- oder dreimal wiederholte er dieses »Ich werde sehen« mit einem bösen Lächeln, einem Ton sanfter Drohung, die sie mit Schrecken erfüllten. In Wirklichkeit hatte ihm vorhin sein Spiegelbild auf dem Grunde des Wassers eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem unglücklichen Vater gezeigt. ›Wie hatte er nur den Mut, sich umzubringen? Ich könnte es nicht . . . Vor allem leben, leben!‹ hatte er sich während des kurzen Sinnens gesagt, das das arme Mädchen so erschreckt hatte. Sie war jetzt viel zu aufrichtig, um diese ihren persönlichen Befürchtungen so entsprechenden Drohungen in Zweifel zu ziehen. Oh, diese finsteren Erblichkeitsgesetze, mit denen die Wissenschaft unser ohnehin so düsteres Leben noch mehr verdunkelt hat!
»Ein Nervenkranker wie sein Vater . . . wenn er nur nicht ebenso endet!«
Wie oft hatte sie sich empört, wenn ihre Freundin Casta, die junge Gelehrte, bei den Anstrengungen und Hoffnungen des Jungen diese unerbittliche Diagnose stellte! Wie, wenn man ihr jetzt am Tage nach der Hochzeit das ertrunkene Kind bringen würde, mit bläulichen Lippen wie vorhin, mit für immer erloschenen Augen – und das wegen eines Siméon, den sie nicht liebte, nicht lieben konnte! – Und plötzlich, während er noch sein grausames, lügnerisches »Ich werde sehen« wiederholte, verschloß sie ihm mit der Hand den Mund.
»Genug, rege dich nicht mehr auf, und vor allem sprich nicht so schreckliche Dinge. Es ist abgemacht, ich werde auch diesmal nicht heiraten. Ich weiß nicht, was der Vater sagen, wie er sich bei Siméon herausziehen wird; aber das ist ihre Sache. Ein großes Unglück, wenn ich überhaupt nicht heirate, wenn ich immer das Tantchen bleibe! . . . Laß deine Augen sehen, sag mir, daß du zufrieden bist.«
Sie war dicht neben ihm, mütterlich und leidenschaftlich, und ihr Mund schwoll von Güte, von Zärtlichkeit. Er fühlte, daß er sie in seiner Hand hatte, daß sie für immer sein, sein Närrchen, sein ewiges Närrchen sei, und in einer Aufwallung von Freude und Stolz riß er sie in seine Arme, drückte sie mit Entzücken an sich.
»Also wirklich, wirklich, du wirst nicht heiraten, du wirst nie heiraten? Oh, du bist gut, ich liebe dich. Sag mir, daß du mich auch liebst.«
»Raimund!«
Ihre Münder begegneten einander und vereinigten sich. Es war das erstemal.
Einige Augenblicke köstlicher Stille und Befangenheit folgten. Während sie so einander gegenüber, dicht nebeneinander in dem von der Sonne mit Funken bestreuten Unkraut saßen, über dem lange weiße Fäden hin und her schwankten, fühlten sie, wie etwas Neues und Unerwartetes sich zwischen sie schlich. Er ist nicht mehr ihr »Junge«, sie ist nicht mehr sein »Tantchen«. Sie sind allein. Das Wasser in den Gräben glänzt unbeweglich. Der ganze Park singt und bebt. Ach, wenn der verderbte junge Mensch sie sehen könnte! Wie würde er über ihre getrennten, brennenden Lippen, über ihre Hände lachen, die sie voll von unnützen Liebkosungen herabsinken lassen!
Die Stille wurde durch eine Stimme unterbrochen, die unter dem Hain, wo ein ganzes Vogelhaus aufgeregt piepte und flatterte, ihre beiden Namen rief.
»Das ist Casta . . . sie sucht uns. Der Vater muß unsertwegen in Unruhe sein,« sagte das junge Mädchen mit leiser Stimme, und beide erhoben sich rasch und errötend. Warum erröteten sie, da sie doch nichts begangen hatten?
Geneviève irrte sich. Vater Izoard, weit entfernt, die geringste Unruhe zu empfinden, wollte die Abwesenheit seiner Tochter benutzen, um sich mit dem Bewerber über die Mitgift zu verständigen. Diese ernsten Fragen vor einem jungen Mädchen zu erörtern, ist immer peinlich.
Der alte Stenograph stand in der Tür des altertümlichen, schiefergedeckten Jagdhauses. Es war eine gewölbte, mit einem Türklopfer versehene Tür, überragt von einem Steinwappen, mit zu drei Viertel verwischten Jagdattributen. Kaum sah er den wie an den schönsten Sommertagen mit Parisern beladenen Omnibus auf der Straße von Antony daherkommen, so drückte er sich den breitkrempigen, seit zwei Jahren mit einem Trauerflor umgebenen Pflanzerhut aufs Ohr und stieg majestätisch die drei Treppenstufen herab, um seinem künftigen Schwiegersohne entgegenzugehen. Der Omnibus hielt vor der Tür der Mauglas, die nebenan ein etwas moderneres Häuschen bewohnten. Der junge Mauglas und sein Vater, ein alter Bauer, knorrig wie eine Weinrebe, mit einer Haut von der Farbe einer Ackerfurche, übernahmen von dem Kondukteur mit unendlicher Vorsicht allerlei Körbe und Henkelkörbchen, die die Marke der berühmtesten Lieferanten der Pariser Feinschmecker trugen, und übergaben sie den langen, gelben, knöchernen und harten Händen der Mutter Mauglas, die hinter ihren halbgeschlossenen Fensterläden mit Kochen beschäftigt war. Der alte Achtundvierziger stand inmitten der Straße und sah neidisch dem Vorgang zu.
»Sind das Fresser! . . . Und so geht's jeden Sonntag. Der Sohn lädt sich Freunde zu diesen Familienschmausereien ein . . . Da ist wieder eine ganze Bande.«
Ein paar junge Leute mit Brillen und Monokeln, in Zylindern und Überziehern, die wie Gerichtsdiener oder Landärzte aussahen, aber intelligente und müde Gesichter besaßen, sprangen vom Wagen und traten, von diesem sprühenden Licht und Sauerstoff erfaßt, springend und wilde Schreie ausstoßend, in das Mauglassche Haus ein. Der zuletzt Abgestiegene, ein etwas sorgfältiger gekleideter junger Mann in einem grünen Anzug und perlgrauen Handschuhen, löste sich mit zurückhaltendem Gruße von der Gruppe ab. Das war Herr Siméon, der Quästurbeamte.
Der junge Mann, der Neffe eines Obersten im Ruhestande, Deputierten und Kammerquästors, tat mit seinen hohen Verbindungen groß, trug den Kopf hoch, zwirbelte den Schnurrbart und das Zwickelbärtchen, besaß eine mannigfaltige Auswahl von Krawatten und Stöcken und klappte in Gegenwart von Damen seine Lider geckenhaft auf und zu.
»Na, Siméon, hab' ich es Ihnen nicht gesagt, daß sie schon nachgeben würde, daß Sie nur Geduld zu haben brauchten . . . Jetzt sind wir so weit!«
Der alte Stenograph stieß ein mit Weinlaub umranktes und mit einer Klingel versehenes Gattertürchen am Wegende auf und führte Siméon in den großen Weingarten, den er, nur durch ein Spalierwändchen getrennt, mit den Mauglas teilte. Rechts und im Hintergrund war keine Nachbarschaft vorhanden, und die Einfriedigung bildete mit der unübersehbaren Ebene ein dichtes Gesträuch von Pflaumen- und Hagedornbüschen. Ein wunderbar gehaltener Kiesweg, der mit Obstbäumen und, damit die Augen der Kranken in der schlechten Jahreszeit sich an etwas Grün erfreuen konnten, auch mit einigen immergrünen Bäumen begrenzt war, durchzog den Garten in seiner ganzen Länge. In der Mitte ward er von einem Rundell durchschnitten, in dem sich ein Strohdach mit einem Holzfuß erhob, der einer kreisrunden Bank als Lehne diente. Dort setzten sich die beiden Männer nieder, um vor der Ankunft Genevièves unbehindert miteinander zu sprechen. Aus dem Nachbargarten hörte man lautes Gelächter, und in der Ferne läutete die Kirchturmglocke von Morangis.
»Mein lieber Siméon, ich habe Ihnen gesagt, daß meine Tochter ein persönliches Vermögen im Betrage von fünfzigtausend Franken besaß, das die Großmama in Nizza dem lieben Kinde hinterließ. Nun muß ich Ihnen erzählen, wieso dieses kleine Vermögen eine Bresche erhalten hat.«
Vater Izoard hustete ein paarmal, um seinem künftigen Schwiegersohne Zeit zu lassen, zu sagen: »Was geht das mich an?« oder »Mein lieber Schwiegervater, ich stehe über derlei Dingen.« Aber Siméon bewahrte das vollständigste Schweigen, und der Vater mußte fortfahren.
»Als meine Frau krank wurde und wir uns hier einmieteten, gefiel ihr dieses Stück Garten, dieses Häuschen so gut, daß das Mieten ihr nicht genügte; sie wollte es kaufen, und der Gedanke, daß ihr Glück mit dem Mietvertrag zu Ende gehen könne, ließ sie nicht mehr schlafen. ›Kaufe das Haus,‹ sagte die Kleine. Leider verfügte ich nur über fünfzehntausend Franken, und fünfundzwanzigtausend wurden verlangt. Geneviève erlegte das Fehlende, was Sie nicht wundern wird.«
Im Gegenteil, der junge Mann schien sehr überrascht zu sein.
»Kurze Zeit darauf,« fuhr der Stenograph fort, »brauchte Victor Eudeline, der Vater der beiden Kinder, die Sie kennen, Geld zum Bauen. Das Vermieten seines uneinträglichen Hofes war eine Lebensfrage für ihn. ›Wieviel braucht er?‹ fragte meine Kleine. – ›Zehntausend Franken.‹ – ›Da sind sie.‹ Die Mutter und ich machten alle möglichen vernünftigen Einwände. ›Nimm dich in acht, in unsrer Zeit nutzt es nichts, wenn ein Mädchen schön ist; ohne Geld wird nicht geheiratet.‹ – ›Siméon wird mich heiraten, er liebt mich,‹ lachte das Kind. Ja, sie kannte Sie gut, mein lieber Junge. Auf jeden Fall sind dadurch wieder zehntausend Franken weggekommen. Bei den Eudelines hat niemand je eine Ahnung, daß das Geld von der Kleinen kommt; sie dachte, daß die Kinder sie weniger liebhaben, daß die Rolle der Wohltäterin sie befangen machen würde. Einfälle, lieber Freund, aber hübsche Einfälle, nicht wahr?«
Ein langes Schweigen folgte, nur dann und wann unterbrochen von Vogelschreien, von den fernen Glocken, die im Sonnenlicht ein helles und sanftes Lied läuteten. Oh, wie tief und blau der weite Himmel war! Ein heller Morgen für eine glückliche Verlobung!
»Wenn ich also richtig rechne, so beträgt die Mitgift Fräulein Genevièves nur mehr dreißigtausend Franken?«
Der Quästurbeamte, der diese Worte mit pfeifender Stimme gesprochen hatte, wartete die Antwort nicht ab.
»Das ist schade,« sagte er nachdenklich und begann mit gesenkter Stirne, die Hände mit dem goldgelben Stock, der gegen seine Beine schlug, auf dem Rücken haltend, mit kleinen Schritten rings um die Bank zu gehen.
Er bemühte sich, seine mißliche Lage zu erklären. Er brauchte fünfzigtausend Franken und nicht dreißigtausend; sie waren unerläßlich als Anteil an einem großen Geschäfte, einem Rennhundestall, den er mit dem ersten Pikör der Meute von Dampierre einrichten wollte. Das Gesellschaftskapital bestand aus vier Anteilen zu je fünfzigtausend Franken, und man wartete nur noch auf seinen Anteil, wartete schon ziemlich lange.
»Sie können sich wohl denken, daß es mir nicht an Gelegenheiten gefehlt hat,« sagte der Beamte, mit seinen albernen Äuglein blinzelnd. »Mein Onkel, der Quästor, wollte mir zwei- oder dreimal eine sehr schöne Mitgift verschaffen . . . aber trotz der geringeren Morgengabe lockte mich Fräulein Geneviève weit mehr . . . Trotzdem muß ich meine Verpflichtungen einhalten und darf den Nutzen einer mir gehörenden Idee nicht andern überlassen; denn ich bin auf die Idee gekommen, Hunde rennen zu lassen, und es wäre mir so lieb gewesen, wenn Ihre Fräulein Tochter daraus Nutzen gezogen hätte.«
»Pah, Sie wissen ja, wie sie ist,« sagte Vater Izoard, der sich noch nicht vorstellen konnte, wo Siméon hinaus wollte. »Die Kleine schlägt ihrem Vater nach, sie hat nie gewußt, was Geld ist . . . Liebet einander . . . bekommt schöne Kinder, und der Kuckuck soll mich holen, wenn ich noch etwas andres von euch verlange.«
Der Quästurbeamte hielt in seinem lebhaften Rundgang inne, und beide perlgraubehandschuhte Hände auf den Stockknopf stützend, erklärte er aufs gelassenste von der Welt, daß es ihm, da eine seiner Schwächen in der Furcht vor dem Bankrottmachen bestand, unmöglich sei, ohne mindestens fünfzigtausend Franken in die Ehe zu treten.
»Herr, meine Tochter besitzt nicht so viel,« erwiderte der Alte ganz blaß.
Er sah jetzt diesen Siméon in seiner ganzen Pracht vor sich.
»Dann, mein lieber Herr Izoard . . . trotz meines lebhaften Schmerzes . . . bin ich genötigt . . .«
Er zog den Hut, neigte seinen ganz kleinen, runden, gleich dem Garten Izoards von einer geraden, wunderbar sorgsam gerechten Allee durchzogenen Schädel in der Sonne und ging dann mit steifen, blitzschnellen Schritten dem Gattertürchen zu, das »dingding« machte, als es sich auf die Landstraße hinaus öffnete.
»Siméon – und das Essen?« rief der alte Herr.
In Morangis gibt es nur wenige Gasthäuser; man mußte bis nach Antony gehen, vielleicht auf den Zug warten . . . Daran hatte Siméon nicht gedacht. Er blieb, die Hand auf die Tür gelegt, zögernd stehen; aber der Gedanke, Geneviève unter die Augen zu treten . . . Er machte eine Gebärde à la Manlius und machte sich dann sehr flink aus dem Staube, als trage einer seiner Rennhunde ihn dahin.
Der Stenograph, von dieser unvorhergesehenen rauhen Enttäuschung zerschmettert, blieb unbeweglich unter der Laube sitzen, indem er maschinenmäßig in seinen weißen Bart murmelte: »Seht mal an, seht mal an!«
So fanden ihn Raimund und Geneviève, als sie mit Sophie Castagnozoff zurückkehrten. Alle drei hatten ein sonderbares Aussehen. Geneviève zitterte, eine ängstliche Röte färbte ihre Haut, und sie fragte sich, welchen Vorwand sie dem Vater und Siméon für den endgültigen Korb angeben könnte. Raimund, in dem es von dem ersten Kuß ganz tönte und arbeitete, fühlte noch die geschmeidigen, warmen Arme und diese jungen, schalenförmigen Brüste, die sich an sein Herz drückten. Wider Willen strahlte aus seinen Blicken dem jungen Mädchen eine Dankbarkeit entgegen, die beide verschönte.
›Was haben sie nur?‹ dachte die Studentin beim Kommen, und während des ganzen Weges fragte sie die Freundin immer wieder:
»Gewiß.«
»Aber er sieht mir gar nicht so verzweifelt aus.«
›Ich weiß nicht warum,‹ besagte die ausweichende Gebärde Genevièves. Sie war ausschließlich mit ihrem Korb, mit dem beschäftigt, was sie dem unglücklichen Bewerber antworten sollte.
»Siméon ist eben fortgegangen,« dröhnte der tiefe Tenor des guten alten Herrn, als er seine Tochter auf der Treppe erscheinen sah.
»Wie, fortgegangen?«
Alle möglichen bestürzten Gedanken kreuzten sich.
»Und zwar, um nie mehr wiederzukommen, hoff' ich! Himmelkreuzdonnerwetterschockschwerenot!« brüllte der Marseiller, der nicht genug Flüche, nicht genug Schimpfworte finden konnte, um seine Empörung auszudrücken. »Rate mal, Töchterchen,« er streckte die Arme so stürmisch aus, daß er sich beinahe die Schultern verrenkt hätte, »rate mal, warum Siméon nichts mehr von dir wissen will? . . . Denn das läßt sich nicht leugnen, jetzt will er nicht mehr . . . Und der Grund davon? . . . Weil von deiner Mitgift zwanzigtausend Franken fehlen. Ein netter Vogel, wie?«
Seine Tochter fiel ihm um den Hals.
»Armer Vater! Nun, wir werden uns rasch trösten!«
Ihre Augen funkelten unter dem leichten Schleier geheuchelter Schwermut, mit der sie ihr Freude zu maskieren suchte.
»Es wird nicht schwer sein, ihn zu ersetzen,« meinte die Russin, deren Augen unruhig von Raimund zum Tantchen wanderten. »Ohne weit zu suchen, glaube ich, daß der junge Mauglas . . .«
Der alte Stenograph fuhr in die Höhe. Er war auf seine Tochter sehr eifersüchtig; aber blind wie alle Eifersüchtigen hatte er die Aufmerksamkeiten und Annäherungen des Nachbars nicht bemerkt.
»Der junge Mauglas?« wiederholte er in seinem schönsten Baß.
Wie zur Antwort stimmte im Nachbargarten ein gesprungener Bariton, vom Klimpern einer Gitarre unterstützt, an:
»Zum Essen, kommt, zum Essen!
's gibt Schinken – daß ihr's wißt!«
Ein Chor falschklingender Stimmen setzte in Begleitung von Trommeln und Kasserollen fort:
»Er schmeckt ganz miserabel,
Wenn er nicht warm mehr ist.«
Geneviève ergriff den Arm des Vaters.
»Siehst du, das ist der Gemütszustand meines Anbeters . . . Liebe Freunde, befolgen wir das Beispiel und den Rat, die er uns gibt, und gehen wir essen.«
In dem Speisezimmer des mehr als hundertjährigen Jagdhauses, wo so viele Trinklieder und das laute Gelächter der Generalpächter, Armeelieferanten, Pairs und Senatoren der Restauration und des Kaisertums die hohen Fenster mit den ganz kleinen, grünen Scheiben hatten erzittern lassen – in diesem Saal, der sich an Sonntagnachmittagen für das Tantchen und seinen Schüler in ein Studierzimmer verwandelte, hatte Raimund viele süße Augenblicke, nie aber einen Tag verbracht wie den heutigen. Die unendliche, strahlende Ebene mit ihrem lila Nebelhintergrund, die er während des Frühstücks von seinem Platz aus sah, breitete sich wie ein neues, herrliches Land, eine von der Liebe eben entdeckte Terra incognita vor ihm aus. Er saß Geneviève gegenüber, und jedesmal, wenn ihre Augen sich trafen, hatte er Lust, ihr zuzurufen: »Komm, laß uns davonfliegen!« Bei dem Gedanken, daß sie sich ihm für immer versprochen habe, bei dem unaufhörlich wiederkehrenden Wohlgeschmack des ersten Liebeskusses entstand in seinem ganzen Wesen ein Andrang von Kraft und Freude. Jetzt erschreckte ihn das Leben nicht mehr.
Die unvorhergesehene Ankunft Antonins und die guten Nachrichten, die er brachte, versetzten die Tischgesellschaft vollends in heitere Stimmung. Man bedenke: der Chef führte diesen Jungen mit nach England, als Aufseher in eine an den Ufern der Themse gelegene Fabrik, welche die elektrische Beleuchtung einer großen Lehranstalt zu besorgen hatte. Wohnung, Beheizung, die Behandlung eines Ingenieurs und dabei noch keine siebzehn Jahre alt! Wie wird sich die Mama freuen! Das arme Kind stotterte vor Freude; die Aufregung verstärkte seine nervöse Befangenheit beim Sprechen und vervielfältigte die verschiedenen Ticks, Einschiebsel, die bedeutungslosen und überflüssigen Worte wie: »Schließlich . . . nicht wahr? . . . die . . . das . . . Dingsda,« mit denen er, um sich Zeit zum Finden der rebellischen Ausdrücke zu geben, seine Sätze bis ins Unendliche ausschmückte.
»Behalten Sie Ihre Wohnung auf der Place des Vosges?« fragte die Studentin. Sie hatte ihren Liebling neben sich Platz nehmen lassen, um ihm Kaffee einzuschenken.
»Gewiß, Fräulein . . . Erstens ist sie nicht teuer, und da ich oft nach Paris kommen werde . . . Schließlich, nicht wahr? . . . der . . . das Dingsda . . . sie steht Ihnen zur Verfügung.«
Die Russin nahm den Vorschlag mit Begeisterung an. Eben jetzt hielt sie seit einigen Tagen einen Landsmann, den berühmten Revolutionär Lupniak, in ihrer Wohnung versteckt. Seine Anwesenheit in Paris hatte auch die des Petersburger Polizeipräfekten mit seinen schlauesten Gehilfen zur Folge. Da würde dieses Asyl auf der Place des Vosges, das ganz in Ordnung und vom Pantheon, dem Stadtviertel St. Marcel, wo alle Flüchtlinge wohnten, so weit entfernt war, ausgezeichnet passen.
»Wann reisen Sie nach London, Toni?«
»Wir sollten uns morgen einschiffen, aber mein Arbeitsbuch ist nicht ganz in Ordnung. Man macht in Calais wegen des . . . der . . . Dingsda . . . wegen der Papiere viele Umstände.«
»Ja, ich weiß . . . eben Lupniaks und einiger andern wegen. Wenn Sie daher morgen fahren . . . Aber wir langweilen die andern; nehmen Sie Ihre Tasse und gehen wir in den Garten.«
Sie setzten sich ganz im Hintergrunde in den kurzen Schatten der Hecke auf eine Bank nieder.
Antonin, ein Jahr jünger als sein Bruder, sah viel älter aus. Er war stämmig, hatte härtere Hände, Metallarbeiterhände, und besaß in seiner Haltung, seiner nichtsdestoweniger stets sehr netten Kleidung die Merkmale einer tieferstehenden Gesellschaftsklasse. Das wollige, dunkelrote Haar – oh, es war kein Venezianerrot, durchaus nicht! – und wimperlose Augen, eine mit feuerroten Flecken bespritzte Gesichtshaut ließen dies noch stärker hervortreten. Diese nicht von der Geburt herrührende Inferiorität, zu der das schlimme Los ihn verdammte, ertrug er ohne Zorn und Klage; man konnte sich nichts Rührenderes vorstellen als seine Bewunderung für den großen Bruder, den ein ungerechtes Erstgeburtsrecht mit allen Überlegenheiten der Erziehung verfeinerte. Raimund liebte seinen jüngeren Bruder zärtlich, aber von oben herab, und alle im Hause schienen sich, wenn sie mit ihm sprachen, ein wenig herabzuneigen. Ein guter Tropf, dessen bloßer Name, wenn man an ihn dachte, zum Lächeln brachte.
»Es ist mir unangenehm, daß Toni in alle diese politischen Geschichten hineingezogen wird,« sagte der ältere Bruder, indem er die Bank im Hintergrunde betrachtete.
Izoard beruhigte ihn. Antonin war ein vernünftiger Junge, den man nicht beschwatzen konnte; außerdem verreiste er auf lange Zeit.
»Nein, da macht mir eher die Casta angst . . .«
Der alte Mann stützte den Ellbogen auf das offene Fenster und träumte laut vor sich hin.
»Diese Landsleute, mit denen sie verkehrt, sind keine Revolutionäre, sondern wilde Tiere . . . Ich, ich habe große Revolutionäre gekannt . . . ich rühme mich, in meiner Jugend selbst einer gewesen zu sein . . . Aber wir hatten trotzdem ein Herz im Leibe, wir waren keine Wölfe. Dieser Lupniak mit dem Fleischfresserkopf, den sie uns eines Abends vorführte, und der sich vor uns rühmte, daß er das Schloß eines Generals, eines Gouverneurs in Kleinrußland, in Brand gesteckt und ihn, seine Frau, seine drei kleinen Kinder lebendig verbrannt habe, das ist ein Wilder! . . . Und wenn ich an unsre menschenfreundliche, mitleidige Casta denke, die kein Insekt sterben sehen könnte! Welche Beziehungen bestehen zwischen ihr und diesen Kannibalen! Ganz abgesehen davon, daß die meisten von der Polizei ihres Landes gekauft, Angeber oder Provokateure sind! Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen . . . Das arme Kind will mir nicht glauben, bis ihr eines Tages ein solches Abenteuer widerfahren wird wie mir Anno achtundvierzig im Klub Barbès . . . Das wäre noch das geringste, was ihr widerfahren könnte . . . An jenem Abend führte der große Bürger den Vorsitz, und Beisitzer waren der Chef Antonins, Esprit Cornat . . . Aber ich habe dir diese Geschichte wohl schon oft erzählt, Töchterchen?«
Das Töchterchen lächelte artig.
»Ich glaube ja, Vater.«
»Dann werde ich sie deiner Freundin auftischen,« sagte der Marseiller gelassen. »Ihr wird sie nützlicher sein als dir.«
Geneviève erhob sich, um ihm in den Garten zu folgen; denn der Gedanke, mit Raimund unter vier Augen zu bleiben, beunruhigte sie. Allein plötzlich erschien im Hintergrunde, hinter der Hecke der Einfriedigung die dicke englische Pfeife und der Cavourhut des jungen Mauglas. Der Mann flößte ihr entschieden Angst ein. Ohne daß er sich je erklärt hatte, fühlte sie, daß er ihretwegen um das Haus strich, und das bloße Nahen seines Schrittes ängstigte sie. Die Befangenheit, die Raimund ihr verursachen konnte, war eine ganz anders geartete; sie zog es daher vor, bei ihm zu bleiben, und wie an andern Sonntagen ließen sich Tantchen und ihre Schüler vor dem Fenster nieder, um den ganzen Nachmittag zusammen zu arbeiten.
*
»Schnell, schnell, Herr Izoard, seien Sie mein Zeuge!« rief Mauglas junior in spöttischem Ton, und sein Oberleib, sein vom Essen erhitztes Gesicht erschienen über der Hecke, indem er dem alten Herrn mit seiner Pfeife Zeichen machte.
»Ich habe Sophie Castagnozoff hier auf Ihrer Gartenbank in flagranti bei der Abwendigmachung eines Minderjährigen erwischt, und zwar unter folgenden Umständen: Ich habe eben einen meiner Gäste zum Omnibus begleitet und kehre auf dem kleinen Wege zurück, als ein Geräusch von Küssen, ein Platzregen, ein Hagelwetter von Küssen von jenseits der Hecke an mein Ohr schlägt. Ich trete näher, und was sehe ich –?«
»Oh, Herr Mauglas!«
Die arme Sophie wurde ganz aufgeregt und protestierte mit so komischer Bestürzung, daß Herr Izoard vor Lachen seine Geschichte vergaß.
»Sehen Sie denn nicht, daß er sich über Sie lustig macht, Castanchen? Übrigens, was wäre das für ein Unglück, wenn die Mädchen jetzt den Jungen nachlaufen würden, seitdem sich diese nicht mehr mit ihnen beschäftigen und den Talern nachjagen? Oh, lieber Nachbar, wie recht hatten Sie, als Sie heute früh von dem Abstand sprachen, der zwischen einer Generation und der andern besteht! Was für einen Beweis dafür habe ich eben vorhin erhalten!«
»Siméon, nicht wahr?« sagte der Journalist, während sein Mund von einem bösen Lachen verzerrt ward.
»Ei,« fuhr er dann fort, als er das Erstaunen des alten Mannes sah, »Sie sprachen in der Laube laut genug, so daß ich nicht erst zu horchen brauchte, um so mehr, als ich wußte, was er hier wollte; er hatte sich dessen vor dem ganzen Omnibus gerühmt.«
»Mein lieber Nachbar,« – Izoard betonte das Wort nicht ohne Bosheit – »auf jeden Fall, mein lieber Nachbar, habe ich heute erfahren, daß zwischen den Leuten meines Alters und denen von dreißig bis fünfundvierzig Jahren kein Abstand, sondern ein Abgrund liegt, besonders wenn es sich um Gefühle handelt.«
Mauglas war derselben Meinung.
»Was Sie da sagen, lieber Herr Izoard, ist unbedingt richtig, in kleinen Dingen sowohl wie in großen! Sie rauchen nicht. Die Leute Ihrer Zeit rauchen nicht, ich aber – sehen Sie meine Pfeife an, eine wahre Lokomotivenröhre. Die Jungen dagegen, die Generation Antonins und seines Bruders, die rollen sich kaum eine Zigarette, trinken nicht, lachen nicht, singen nie etwas andres als Wagner, der doch wirklich nicht bequem zu singen ist. Ach, der Mann, der um seine Zeitgenossen zu bezeichnen, zuerst den Ausdruck: ›die Leute, die in meinem Boote sitzen‹ gebrauchte, hat wohl das richtige Bild gefunden! Wenn man im selben Boote sitzt, fährt man nach derselben Richtung, läuft man dieselbe Gefahr! Deckpassagier oder Passagier erster Klasse, man hat dieselbe Fahne, denselben Lotsen, denselben Kompaß, liest dieselben Bücher, die Bücher an Bord, läßt sich von derselben Musik einwiegen. Das gemeinsame Vergnügen oder die gemeinsame Gefahr schaffen Solidarität. Wenn ein Passagier stirbt, krampfen sich alle Herzen zusammen, ohne daß man ihn gekannt hat, während von dem nachfolgenden oder voranfahrenden Boote nur unbestimmte Echos herüberdringen oder im Nebel Visionen von Wracken sichtbar werden. Ei, da erinnere ich mich an eine alte Romanze von Masini, die all das, was ich da sage, in einem schwermütigen Refrain enthält.«
Er nahm die Pfeife aus dem Munde und ruchste, die Beine auseinandergespreizt, die Arme rund gebogen:
»La musique d'un temps, un bateau qui s'en va . . .
Ah! ah!«
Dann grüßte er und verschwand hinter den Hagedornbüschen.
»Ein drolliger Mensch,« murmelte Vater Izoard, indem er der heiseren Romanze des sich entfernenden Sängers lauschte.
Antonin, der nichts gesprochen hatte, sondern wie ein Igel kugelförmig auf seiner Bank zusammengerollt saß, steckte den Kopf zwischen den Schultern hervor und erklärte, daß seiner Ansicht nach Mauglas ein Nachbar sei, der zu – nun, nicht wahr? der – die – Dingsda –
»Das ist gerade das, was ich sagen wollte,« bestätigte Sophie Castagnozoff.
*
An diesem Abend empfanden Raimund und Antonin, nachdem ihre Freunde von Morangis sie wie gewöhnlich beim Freiheitsrundell verlassen hatten, eine unendliche Freude, als sie sich allein befanden und fest aneinander geschmiegt, auf Wegen, die sie seit ihrer Kindheit kannten, der Station Antony zustrebten. Eine milde Nacht umhüllte mit einem flockigen Nebel die ungeheure Ebene, auf der hohe Schober dunkle, runde Flecke bildeten. Sie glichen jenen Kubahs, jenen heiligen Gräbern, die abends auf der algerischen Ebene auftauchen. In der Ferne, vor ihnen, nahm ein riesiger rötlicher Schein, der Feueratem von Paris, den ganzen Horizont ein. Oh, mit welchem Stolz schritt Antonin am Arme des großen Bruders einher, mit welchem gerührten Respekt hörte er seine Beichte, das Geständnis seiner Liebe zu Geneviève und ihrer getauschten Schwüre an!
»Wir lieben uns, aber ach, wir werden einander nie angehören,« sagte der ältere Bruder, der immer, selbst im Ausdruck seiner wahrsten Gefühle, theatralisch und deklamatorisch war.
»Aber warum, Raimund?«
Die Stimme Antonins zitterte. Dieses Zittern rührte ebenso von Glück wie von Traurigkeit her; denn im Grunde seines Herzens, ganz auf dem Grunde, dort, wo es dunkel ist, wohin man nicht hinunterzusteigen wagt, leuchtete das Bild des Tantchens, und trotzdem er seinen Bruder dieser großen Freude würdiger fand, hatte er vielleicht manchmal gedacht, daß er selbst –
»Warum solltet ihr nicht heiraten, sobald du es kannst?«
»Du weißt doch ganz gut, daß ich es nie können werde. Ich bin ja die Stütze der Familie. Das Opfer ist schwer, aber ich bereite mich schon so lange darauf vor.«
Er sprach mit vollkommener Aufrichtigkeit, mit derartiger Überzeugung, daß bei dem Gedanken an all das, was die Seinen ihn kosteten, Tränen seine Wangen überschwemmten. Aber Antonin dachte nicht so. Wozu gab er sich all die Mühe, wozu verbannte er sich in den Nebel von London, wenn nicht, um die Aufgabe des älteren Bruders zu erleichtern? Er ergriff im Dunkel seine Hand, drückte sie und hielt sie in der seinen fest.
»Wir werden uns beide opfern, Raimund; höre mir einmal ein wenig zu, was ich zu tun gedenke.«
Die Nacht ringsum schwieg; in der Ferne, in einer hohlen Weide heulte ein Uhu. Stammelnd erzählte der kleine Bruder seine Pläne, indem er seine Sätze, wenn ihm die Worte fehlten, mit allerlei Schnitzeln ausstopfte.
Zuerst wollte er die Schulden des Vaters, die fünftausend Franken zahlen, die man Freund Izoard schuldig war. Seit seinem Eintritt bei Esprit Cornat hatte er bereits die Hälfte dieses Geldes beiseite gelegt – um den Preis welcher Entbehrungen, das sagte der arme Kleine nicht; aber er hoffte, daß die Hälfte der Schuld nach einem einjährigen Aufenthalt bei den Englishmen getilgt werden würde. Dann wollte er die Mama und Dina kommen lassen; er träumte schon davon, ihnen einen sehr feinen Laden einzurichten, in dem sie mit irgendeinem Patent, irgendeiner von ihm erfundenen elektrischen Spielerei Geld verdienen würden. An Ideen fehlte es ihm nicht, Gott sei Dank!
Der ältere Bruder machte sich plötzlich von ihm los und blieb inmitten des Weges stehen. Wenige Schritte entfernt blinzelte die Laterne eines Wirtshauses durch den Herbstnebel, dann sah man die fernen Lichter der ersten Häuser von Antony.
»Und ich – was wird bei all dem aus mir?« fragte er mit bitter verzogenem Munde.
Zum erstenmal stach ihn ein fast unmerklicher Schmerz, den er immer an derselben Stelle, aber immer schärfer empfinden sollte.
»Was aus dir wird?« wiederholte Antonin verständnislos.
»Nun ja, wenn meine Studien zu Ende sind, wenn ich aus dem Gymnasium austrete, dann muß ich ja die Sorge für das Haus, für Dina, für Mama auf mich nehmen –«
»Aber das wird ja nicht möglich sein, du mußt doch dein Jus machen, oder die Ecole Normale, oder Medizin studieren, was helfen dir sonst alle deine Studien?«
»Kindskopf!«
Der ältere Bruder im Käppi und Uniformrock nahm den jüngeren bei den Schultern und drückte ihn väterlich an sich.
»Kindskopf, als ob – als ob das Studium der Medizin oder die Ecole Normale für mich in Frage kommen könnte, als ob ich ihnen nicht auch das mit allem übrigen geopfert hätte!«
»Aber durchaus nicht!« schrie der kleine Toni in einer leidenschaftlichen Aufwallung. »Ich nehme die Sorge für das Haus auf mich, solange du nicht die – das – Dingsda – etwas in den Händen hast.«
»Genug, du kränkst mich,« antwortete der ältere Bruder hochmütig.
»O verzeih, ich wollte nicht,« stammelte der jüngere. Dann fragte er leiser, fast weinend: »Aber schließlich, wie willst du das machen?«
Sie langten jetzt vor der Station an, und mit einer Gebärde, die den kleinen Platz, die schräg gepflanzten, dunkeln Bäume, alle Lichter des Bahnhofes umfaßte, antwortete der ältere Bruder:
»Das ist meine Sache!«
Antonin war, als er ihn so ruhig sah, überzeugt, daß Marc Javel sich damit beschäftigt hatte, ihm beim Austritt aus dem Gymnasium eine gute Stelle zu finden. Alle diese braven Leute glaubten wie am ersten Tage an die Protektion des Ministers; der kleine Toni noch fester als die andern, weil er viel naiver war.
›Gut, ich werde ihn im Waggon zum Reden bringen,‹ dachte er bei sich. Aber kaum hatte er sich neben seinem Bruder niedergelassen, so stürzte jemand herein und setzte sich ihnen gegenüber auf den letzten leeren Platz in dem schlecht erleuchteten Coupé nieder. Der ganze, mit Menschen überfüllte Zug kreischte, an den äußeren Türen der Klinken klammerten sich ganze Traubenbündel von Passagieren an – es war eben ein Vorortzug am Sonntagabend. Als sie aus dem Bahnhofe hinausfuhren, überströmte weißes Licht die vorüberfahrenden Waggons.
»Guten Abend, Jungens!« rief eine bekannte Stimme, und der ältere Eudeline antwortete:
»Guten Abend, Herr Mauglas.«
In Gegenwart seines Bruders versuchte er gegen den Schriftsteller den Stolzen zu spielen; aber im Grunde fürchtete er ihn, wußte, daß er spöttisch und boshaft war, schämte sich vor ihm seiner achtzehn Jahre und seiner Gymnasiastenuniform, insbesondere wenn das Tantchen zugegen war. An diesem Abend war Mauglas zerstreut und hatte ausnahmsweise keine böse Zunge; zu der offenen Tür hinausgelehnt, schaute er gierig hinaus, indem er mit seinen kleinen, bohrenden, verschwollenen Augen das Dunkel und den Nebel zu durchdringen suchte.
»Erinnert ihr euch noch an den Krieg?« fragte er plötzlich, indem er die Worte hervorstieß, ohne sich umzudrehen. »Wo wart ihr während der Belagerung? Übrigens, wart ihr damals schon auf der Welt?«
»Das will ich meinen!« sagte Raimund, indem er sich in die Höhe richtete. »Ich erinnere mich noch an die geringsten Einzelheiten unsers damaligen Lebens, an die verschlossene, in eine Ambulanz verwandelte Fabrik, an das Bataillon des Stadtviertels, in dem mein Vater Hauptmann und der Rechnungsführer Alexis Feldwebel war – wie es die Rue du Faubourg hinaufkam, den Generalmarsch schlug und ›Par la voix du canon d'alarme‹ sang, an Tantchen, die uns ihren Ball zuschleuderte, indem sie mich und Toni einexerzierte, uns bei dem Ruf: ›Achtung, die Bombe!‹ flach auf den Boden zu werfen! Und die Verzweiflung Mamas und der Köchin, die Pferdefleischragouts, der Schokoladereis, das abscheuliche Belagerungsbrot und eine gewisse Pastete aus Grunzochsen- und Elefantenfleisch, dem ganzen Tiergarten. Erinnerst du dich, Toni, wie du davon so krank wurdest?«
Antonin zog sich in eine Ecke zurück, ohne zu antworten.
»Das Brüderchen scheint bei den Erinnerungen nicht sehr warm zu werden,« brummte Mauglas in seine Pfeife.
Der Kleine biß die Zähne aufeinander und antwortete heftig, mit einem nervösen Krachen der Kinnbacken, das seine Anstrengung beim Sprechen verriet:
»Der Krieg ist dumm und häßlich – der – die – nicht wahr – Ich liebe den Krieg nicht!«
Der dicke Mann zuckte die Achseln.
»Armes Wurm, du weißt nicht, was gut ist!«
Und spähend, halblaut, ganz für sich nannte er die Namen der berühmten Orte, an denen man sich geschlagen hatte, in der Reihenfolge, in der ihre gespensterhaften Silhouetten sich in der Nacht abzeichneten. Es waren Gärtnerdörfer, Molkereien, Pachthöfe, Fabriken, Warenbahnhöfe, die einst Schanzen, Barrikaden, Vorposten gewesen waren.
»L'Hay, Chevilly, die Wasserleitung von Arcueil, die Hautes-Bruyères. Ach, die schönen, begeisterten Nächte, die ich da zubrachte, während vom Fort Montrouge die großen Blitze herüberschossen und die Kugeln von den bayrischen Wällen – schrumm, schrumm! vibrierten!
»Sie lieben also den Krieg nicht, junger Mann? Ja, das sind die Ideen Ihrer Zeit. Aber Sie speziell haben sie von Casta, diesem russischen Mediziner im Unterrock – ich bete sie übrigens an – und ihrem Freunde Tolstoi, diesem alten Narren, der den Krieg anspeit, so wie er auf die Liebe speit, weil er nichts mehr hat als Speichel und Zahnfleisch. Solange er noch einen Zahn im Munde hatte, einen von jenen auseinanderstehenden, spitzigen Raubtierzähnen, wie sie sie da drüben haben, da biß er selbst tüchtig zu. Warum will er also jetzt die andern daran hindern? Warum will er die einstigen Leidenschaften verleugnen? Nun, ich erkläre euch –«
Er dämpfte die Stimme, denn er bemerkte, daß die Leute im Wagen zuhörten. Aber seine geflüsterten Worte drangen dadurch noch besser in die notgedrungen aufmerksam zuhorchenden jungen Ohren.
»Ja, Kinder, seit achtunddreißig Jahren, seit ich mich durch mein trauriges Leben schlage, waren die einzigen guten Stunden, die ich je hatte, in dem Biwak hinter diesem Schutt und diesen Mühlsteinen. Vier Wintermonate lang, während jenes harten, pommerschen Winters, den sie uns samt ihrem hefelosen Brot und ihren Erbswürsten in ihren Leinen-Freßsäcken mitbrachten, hat die Plänklertruppe, zu der ich gehörte, nicht ein einziges Mal in einer Scheuer genächtigt. Kein Tag verging, wo nicht Blei oder Kartätschen verschossen wurden, kein Stein ist da, wo nicht ich oder die Kameraden ein bißchen aus der Nase geblutet haben. Und diese Menschenjagden des Nachts in den Champignonfeldern, mit der Strickleiter, der Axt und dem Dolch wie in den Theaterstücken . . . Nein, sehen Sie, lieber Raimund,« er wandte sich zu dem älteren Bruder, da er fühlte, daß der jüngere ihm entschlüpfte, »eure Philosophen haben gut reden – es gibt nun einmal nichts Besseres als die Gefahr, um das Dasein, um das Leben, das kleine Dasein und das flache Leben zu vergrößern. Dieser ganze vorstädtische Winkel erschien mir groß wie die Welt, als ich glaubte, daß ich meine Haut dort lassen müsse. Aber ich habe sie nicht dort gelassen. Ja, das Schicksal! Ach, lieber mit zwanzig Jahren sterben, mit einer Kugel in der Stirn, als in Schmutz und Kot enden!«
In seiner Kehle schien etwas zu zerreißen; er streckte den Kopf zur Tür hinaus und rührte sich bis zur Ankunft nicht mehr.
»Muß ich dich bis in die Bude begleiten?« fragte Toni seinen Bruder, als sie auf dem Sceauxbahnhofe im Gedränge die Treppe hinabstiegen.
Mauglas, der neben ihnen ging, fuhr zusammen und fragte:
»Die Bude?«Argot für »Polizei«
Raimund begann zu lachen. So nannten sie unter sich das Gymnasium Louis-le-Grand. Das Reglement verlangte, daß jeder Zögling, der Ausgang hatte, am Abend durch ein Familienmitglied oder einen Freund bis zur Tür zurückgeleitet werde.
»Antonin braucht sich nicht zu bemühen,« sagte Mauglas lebhaft. »Er wohnt auf der Place des Vosges, am andern Ende von Paris, und ich in Luxembourg, dicht an Ihrem Gymnasium. Wenn Ihnen also meine Gesellschaft nicht mißfällt –«
Toni wollte widersprechen, aber die Rede kam bei ihm so schwer in Gang, daß der ältere Bruder, der stolz darauf war, sich den Studienaufsehern im Louis-le-Grand am Arme eines berühmten Mannes zu zeigen, Mauglas' Anerbieten annahm, seinem Bruder um den Hals fiel und glückliche Reise wünschte, ehe jener auch nur die Hälfte seines Satzes hervorgebracht hatte.
Während der arme Junge in seine kleine Wohnung im Marais-Viertel, in das düstere, verlassene Paris zurückkehrt, während er mit jener leichten Beredsamkeit, die Schüchterne und Stotterer, sobald sie sich selbst überlassen sind, wiederfinden, ganz laute Zwiegespräche mit sich hält, während er vor den Neubauten, den mit Plakaten bedeckten Zäunen, den Silhouetten der Wache haltenden Polizisten und der auf den Bänken eingeschlafenen Trunkenbolde all die schönen Pläne für seinen Londoner Aufenthalt, all die Träume von Glück und Erfindungen entwickelt, die er keine Zeit hatte, seinem Bruder zu erzählen, gehen der ältere Eudeline und sein Begleiter den »Boul' Mich'«Boulevard St. Michel. entlang. Er wimmelt und flammt wie an einem Sommersonntag – in der Tat, dieser Oktoberabend ist ein wahrer Sommerabend – und als sie an einem der großen Kaffeehäuser vorübergehen, die die Hälfte des Trottoirs einnehmen, flüstert sich die ganze lesende Jugend den Namen Mauglas von Tisch zu Tisch zu, so daß der Uniformrock des Gymnasiasten sich wölbt und hebt. Er ist glücklich, er schwatzt, während der bekannte Mann, den er stolz an seinem Arme zeigt, seine dicken Lippen mit jenem versteckten, jenem stummen Lachen verzieht, das Geneviève nicht liebt. Die Eitelkeit der jungen Leute ist so amüsant, sie beißt so sicher an den Köder an!
»Sie, Raimundchen, sehen klarer als Ihre ganze Umgebung. Das Unglück hat Sie gereift, verfeinert. Dazu kommt die Reflexion, das Studium – darum habe ich mich lieber an Sie gewendet als an Herrn Izoard oder an Ihren Bruder.«
»Ich danke Ihnen, Herr Mauglas.«
»Was wollen Sie, die brave Sophie interessiert mich – ich sehe, sie lebt in einer schlechten Umgebung, verkehrt mit Fanatikern, und wenn sie nicht in Morangis bei unsern Freunden ist, geht sie nur mit Verrückten um. Ich habe das Gefühl, daß sie sich in irgendein unangenehmes Abenteuer einlassen wird. So ist der Mensch, den sie bei sich verbirgt –«
»Lupniak?«
»Jawohl, Lupniak. Ich frage Sie, ist das vernünftig? – überläßt ihr Zimmer diesem Lupniak, einem notorischen Mörder, den alle Polizeibehörden von Europa einander signalisiert haben, und der nur noch in London ein Asyl findet! Sind Sie auch sicher, daß es Lupniak ist?«
Ob er dessen sicher war! Vater Izoard hatte ja erst heute mit ihm und Geneviève voll Entsetzen darüber gesprochen. Mauglas seufzte verzweifelt, dann fragte er sich selbst, ob sie nicht auch andre bei sich beherberge. Sollte Raimund nicht den Namen eines gewissen Papoff gehört haben?
»Der, der in der Wohnung in der Rue du Pantheon eine geheime Druckerei eingerichtet hat?«
»Ganz richtig; das ist der.«
»Was für ein Gedächtnis Sie haben!«
Ein paar Schritte werden schweigend zurückgelegt, dann bleiben sie inmitten der Straße stehen.
»Vereinigen wir unsre Kräfte, mein Kind, dann werden wir sie selbst wider ihren Willen retten,« sagt der Schriftsteller. »Ich habe einen Abscheu vor der Politik, aber das Blatt, bei dem ich bin – es war das Blatt Gambettas –, hat mich zu den Spitzen der Republik in Beziehung gebracht . . . Der Minister des Innern, der Polizeipräfekt, der Chef der Sicherheitspolizei – ich kenne alle. Unsre Freundin kann also in Frankreich ruhig sein. Aber der Petersburger Polizeipräfekt befindet sich, mit allen Vollmachten versehen, in Paris. Stellen Sie sich nun vor, daß Casta in dem ausgeworfenen Wurfnetz eingefangen werden könnte! Ich muß also von jeder neuen Beziehung, die sie eingehen kann, unterrichtet werden. Auch einer gewissen russischen, sehr geheimnisvollen Bibliothek, in der sie seit einiger Zeit viel verkehrt, traue ich nicht recht.«
»Die Bibliothek in der Rue Pascal?«
»Ganz richtig, in der Rue Pascal. Was für einen großartigen Denunzianten Sie abgeben würden!« sagt Mauglas, und eine so lebhafte Flamme zuckt durch seine Augen, daß Raimund durch den Gegenschlag zusammenfährt, als hätte eine Feuerwaffe ganz dicht neben ihm aufgeblitzt.
Wie oft wird er später an diese düstere Flamme denken, wie oft wird er voll Zorn in seine Kissen beißen, wenn er sich im Dunkel des Schlafsaales daran erinnern wird; aber in diesem Augenblick geht er ganz in seiner Eitelkeit, in der berauschenden Freude auf, mit der er sieht, wie alle mit ihm heimkehrenden Schüler seiner Klasse vor seinem Begleiter ehrerbietig den Hut ziehen.
»Vor allem muß unsre Freundin erfahren, daß es in all den Nestern im Viertel Saint-Marcel, selbst in der Bibliothek in der Rue Pascal, selbst in der Milchhalle der Quatorze-Marmites unter den Revolutionären verschiedene Mitglieder der russischen Polizei gibt. Ich rechne darauf, daß Sie sie warnen werden, mein lieber Raimund.«
»Verlassen Sie sich auf mich, Herr Mauglas.«
Der Name Mauglas, den er vor dem an der Tür des Gymnasiums stehenden Aufseher eigens betont, verschafft dem jungen Eudeline eine triumphierende Rückkehr. Mauglas, Marc Javel – der Kerl hat Verbindungen – das ist einer, den man überall kennen, im Leben wiederfinden wird.
Während des ganzen nächsten Tages fühlte sich Raimund von dem strahlenden Laub des Parkes von Morangis und der Wärme der ersten Umarmung umgeben. Um sein Gefühl zu verlängern und gleichzeitig die beängstigende Erinnerung zu lindern, versuchte er, sie festzuhalten; aber die dekadentesten Verse, die subtilste Prosa drückten nichts von dem aus, was er empfunden hatte. Er behielt die Haut des Reptils, ihren trockenen, staubigen Abdruck zwischen den Fingern zurück, während die glänzende, geschmeidige Eidechse ihm entschlüpfte, unter das duftende Gras floh und in der Sonne wollüstig ihre Ringe aufrollte. Zum erstenmal begriff er vollständig den Vers Verlaines, jenes Verlaine, der seit einigen Monaten der Hofdichter der Großen geworden war:
»Und der Rest ist Literatur.«
Um wie viel leichter läßt sich wiedergeben, was nichts als Literatur ist!
An diesem Montag, während der Erholungsstunde, um vier Uhr, erhielt er im Sprechzimmer einen Besuch, der ihn so erschütterte, daß er die Literatur und selbst die Liebe vergaß.
Ein weißlicher Oktoberabend erhellte trübe den langen Empfangssaal im Erdgeschoß mit dem düsteren Schulanstrich. In unbestimmten Formen standen die Gruppen der Eltern und Schüler umher, um halblaut zu plaudern, während längs der Mauer die mit dem Ehrenpreis gekrönten Schüler, nach der Jahreszahl aufgereiht, auf sie herabsahen. Als Raimund die zwei Stufen am Eingang hinabgestiegen war, erblickte er einen hochgewachsenen Mann, der, gegen das Licht gewendet, vor einem Fenster stand, und da er den Chef Antonins, das ehemalige Mitglied der Konstituante, zu erkennen glaubte, ging er, voll Unruhe, seinen Bruder nicht zu sehen, sehr rasch auf ihn zu. Aber er bemerkte seinen Irrtum. Esprit Cornat besaß wohl dieses graue, bürstenförmige Haar, diesen kurzen Oberleib, diese langen Beine, aber in der Nähe verliehen der ungestaltene Mund, die übertrieben hervortretenden Backenknochen und Kiefer unter dem fahlen, ungepflegten Bart dem Manne eine wilde Herbheit, die in nichts an den heiligen Vincent de Paul der Kammer vom Jahre 1848 erinnerte.
Er sprach leise, sehr korrekt, mit sanfter Stimme und fremdem Akzent.
»Raimund Eudeline, denke ich? Ich bin Lupniak.
– Achtung, man sieht uns an, halten Sie an sich. Teilen Sie Sophie Castagnozoff so rasch als möglich mit, daß sie nicht mehr in die Rue du Pantheon zurückkehren darf – die Polizei ist benachrichtigt. Sagen Sie ihr, daß ich seit gestern abend in Sicherheit bin, dort, wohin sie mich gehen hieß, wo sie mich abends aufsuchen soll, wenn sie nicht morgen in Morangis abgefaßt werden will.«
Der Gymnasiast fühlte, wie sein Gesicht erbleichte, seine Beine zusammenknickten.
»Was ist denn geschehen?«
»Irgend jemand hat gepetzt.«
In der sanften slawischen Modulation klang dieses Rotwelsch roh und wunderlich.
»Hatte keine Zeit, zu erfahren wer – fest steht, daß der General alles weiß, daß unsre Zusammenkunftsorte verändert werden müssen, daß man niemand trauen darf.«
Er dachte eine Minute lang nach, während tiefe, allmählich entstehende Runzeln sein Gesicht durchfurchten, dann sagte er rasch:
»Ein Glück, daß ich an Sie gedacht habe. Werden Sie ein Mittel finden, Sophie noch heute zu benachrichtigen?«
»In der Kammer ist heute Sitzung; Pierre Izoard wird sofort benachrichtigt werden und noch heute abend in Morangis sein.«
»Ausgezeichnet. Guten Abend.«
Die lauten Atemzüge eines Löwen, eine ungeheure, haarige Pfote, die die Hand Raimunds packte – dann sah der Knabe, wie die lange Gestalt des Revolutionärs sich unter der Tür des Sprechzimmers krümmte, ins Dunkel hinaussprang und verschwand.
Welche Angst stand er bis zum Sonntag aus! Wenn wirklich er es gewesen war, der »gepetzt« hatte! Dieser Gedanke verließ ihn nicht mehr. Aber dann mußte ja Mauglas, der einzige, zu dem er gesprochen hatte . . . War das anzunehmen? Nein. Allein in diesen politischen Kreisen, in denen der Kritiker verkehrte, bedurfte es nur eines unvorsichtigen Wortes, einer Auskunft, die ohne jede Absicht zu schaden gegeben wurde, und die Nachricht verbreitete sich, drang bis zum Chef der russischen Polizei. Raimund erinnerte sich, wie dumm geschwätzig er gewesen war. Mit der unerbittlichen Klarheit eines ernüchterten Trunkenboldes, eines Fieberkranken nach dem Anfall, entsann er sich seiner geringsten Worte, sah er sich stolz wie ein junger Hahn neben dem bekannten Manne einherschreiten. Warum machen alle Jünglinge seines Alters diese Eitelkeitskrise durch, dieses Bedürfnis, eine nicht exstierende Persönlichkeit zu spielen, die sich häutet, die alles verletzt, weil ihr die Hälfte ihrer Federn fehlt? Wenn dieses Delirium wenigstens nur lächerlich ist – aber wie viel Schlimmes mochte er in diesem Falle verursacht haben – –!
Diese und noch andre, ebenso traurige Betrachtungen machte Raimund Eudeline am nächsten Sonntag in dem Omnibus, der ihn in einem feinen, kalten Vormittagsregen von der Station nach Morangis führte. Er war ohne Nachrichten von seinen Freunden und hatte auch noch keinen Brief von Antonin erhalten, der doch seit mehreren Tagen fort war. Dieser graue Nebel, diese Raben, die wie ein schwarzer Zirkumflex über den feuchten Horizont flogen, kein Mensch am Bahnhof, der ihn erwartete – welch ein Gegensatz zum letzten Sonntag! Vollends verdüstert aber wurde er, als er das Haus der Familie Mauglas schweigsam daliegen und alle Schalterläden fest verschlossen sah. »Sie sind verreist,« sagte der Kondukteur, der auch nicht mehr wußte. Als er vor dem Pavillon abgestiegen war und den alten Türklopfer herabfallen ließ, widerhallte das Klopfen seines Herzens ebenso laut. Ein Pförtchen, das nie geöffnet wurde, knirschte, der Baß des Marseillers brummte: »Wer da?« und Raimund mußte sich zu erkennen geben, ehe er in das Innere des Hauses treten durfte.
Im Speisesaal erblickte er zu seiner großen Beunruhigung und zu seiner großen Überraschung vor allem Geneviève. Sie saß vor einem der hohen Fenster, an demselben Platz und in demselben Lehnstuhl, in dem sie ihm ihre Sonntagsstunden gab, aber auf dem Rohrschemel zu den Füßen des jungen Mädchens – wer saß dort? – Antonin, sein Bruder Toni, im Sonntagsstaat eines Arbeiters.
»Du bist also nicht in London?«
Mehr zu sagen hatte er nicht die Kraft; er glaubte es wenigstens. Allein es gibt noch etwas andres als die Worte, die von unsern Lippen kommen, es gibt auch das, was die geringsten Falten des Gesichtes ausdrücken – das Blut unter der Haut, das Zittern unsrer Nerven, unser ganzes Gefühlswesen und das, was dieses Wesen umhüllt, jenes unsichtbare Gewebe, das Netz des Ballone. Mit all dem hatte Raimund seinem Bruder unwillkürlich zugerufen: »Was tust du da, warum nimmst du meine Stelle ein? Wenn du wüßtest, wie es mir das Herz zerriß, als ich euch beide da sitzen sah!«
Und in derselben Sprache, mit denselben beredten und stummen Stimmen gaben beide, Antonin und Geneviève, ihm Antwort. Sie beruhigten ihn, die eine mit ihrem schönen Lächeln, dessen reine Linie nicht zu lügen vermochte, der andre mit seinen treuen Hundeaugen, seinen armen, wimperlosen Augen, die das zum Fenster hereinfallende Licht, die Weiße des ungeheuern Horizontes blendete. Das dauerte einen flüchtigen Augenblick; dann erkundigte sich Raimund nach der Freundin. Der jüngere Bruder nahm eine triumphierende Miene an.
»Casta? – die ist in London – ganz ruhig.«
»Aber sie ist knapp davongekommen,« sagte Vater Izoard, der in den Saal zurückkehrte, nachdem er eine Sicherheitskette mit einem furchtbaren, lärmenden Apparat vor der Haustür aufgehängt hatte. Er beugte sich zu Raimund herab und flüsterte ihm ins Ohr:
»Weißt du, sie haben sie hier bei mir gesucht.«
»Wir können ja darüber sprechen, Papa!« rief Geneviève lachend. »Wir sind doch allein im Hause.«
Toni hob den Vorhang in die Höhe, um das einsam und frostig daliegende Gärtchen der Familie Mauglas zu zeigen.
»Nicht einmal Nachbarn sind mehr da.«
»Das ist wahr – was ist aus den Mauglas geworden?« fragte Raimund erschauernd.
»Das ist ein Geheimnis. Seit acht Tagen schwimmen wir im Geheimnisvollen,« deklamierte der Marseiller, indem er einen im Hause bereiteten, berühmten Pflaumenbranntwein, den er seinen »Eigenbau Izoard« nannte, auf den Tisch setzte. Raimund war auf der Herfahrt auf dem Omnibus naß geworden, und während man ihn mit einem Gläschen dieses unvergleichlichen »Eigenbau« wieder trocknete, sollte der Kleine sein Abenteuer erzählen.
Also Toni war, als er am Sonntagabend Raimund und Mauglas verlassen hatte und in seine Wohnung auf der Place des Vosges zurückkehrte, unruhig, in echt unbehaglicher Stimmung gewesen. Die russischen Polizeigeschichten, von denen man den ganzen Nachmittag gesprochen hatte, der geheime Auftrag, welchen Casta ihm für diesen Lupniak gab, den sie in dem Zimmer in der Rue du Panthéon versteckte, die Mahnung, daß jener so rasch als möglich auskneifen und sich in Tonis Wohnung einsperren solle – alle diese Einzelheiten, vermischt mit persönlichen Sorgen, erregten in dem Schädel des braven Jungen eine heftige Aufregung; es war ein Geräusch, das dem Getrappel der Ratten in den Giebeln des großen, steil abschüssigen Daches glich, auf das die Luken seiner zwei Zimmer hinausgingen. Als sein Koffer für die morgige Abreise gepackt war, konnte er sich nicht entschließen, zu Bett zu gehen, um so mehr, als seine Nachbarin, ein großes schönes Mädchen, eine Meßgewandstickerin, mit der er manchmal von einem Fenster zum andern plauderte, ihren Geliebten, einen Jäger zu Fuß, bei sich hatte, der sich sehr laut aufführte. Während Antonin nun an diesen geräuschvollen Krieger dachte, der sicherlich bis zwei Uhr morgens hierbleiben würde, sagte er sich, daß er keine bessere Gelegenheit finden könnte, Lupniak hierherzubringen. Das Öffnen der Haustür, die ungewohnten Stimmen und Tritte auf der Treppe – das alles würde sich durch die Anwesenheit des Soldaten erklären. Also vorwärts!
Als er kurz vor Mitternacht in der Rue du Panthéon anlangte, rief die Wirtin Castas, die Antonin seit langer Zeit kannte, da er mit Geneviève Izoard öfter hier gewesen war:
»Ei, Herr Eudeline, wie spät kommen Sie! Aber das Fräulein Sophie ist nicht zu Hause; sie ist noch auf dem Lande.«
»Das weiß ich, denn sie hat mir aufgetragen, ihr einige medizinische Bücher zu bringen, die sie braucht.«
»Aber ich habe keinen Schlüssel – sie hat ihn Ihnen gegeben? Nun, Sie haben Glück; diese Kosaken sind immer so mißtrauisch.«
Toni kostete es sehr viel Mühe, sie am Mitkommen zu verhindern, und man kann sich denken, welcher Schlauheit es bedurfte, um jenen unbekannten Mieter die Treppe herab und an der Hausmeisterswohnung vorbeizubringen. Glücklicherweise war Lupniak, was Kaltblütigkeit und Kombinationen betraf, ganz wunderbar. Er verließ das Zimmer der Studentin mit einer Bücherkiste auf dem Rücken, als ein improvisierter Dienstmann, den Toni gerade zur rechten Zeit auf der Treppe getroffen hatte, um die allzuschwere Kiste von ihm zum Wagen tragen zu lassen. Und am nächsten Tage, als der junge Eudeline von einer Besorgung zurückkehrte, sagten die Hausmeistersleute auf der Place des Vosges zu ihm:
»Ihr Chef, Herr Esprit Cornat, ist oben; wir sahen ihn hinaufgehen.«
Der Kleine antwortete nichts, trotz seines Erstaunens, das sich noch steigerte, als er in seinem Zimmer statt des großen »Muschik« mit dem ungepflegten Haar und Bart, den er in der Nacht hierhergebracht hatte, das bartlose Gesicht und die goldene Brille seines Chefs vorfand. Lupniak hatte sich den Spaß gemacht, dessen Kopf nach einem an der Wand hängenden Porträt zu kopieren. Mit Hilfe dieser Verkleidung konnte der Russe fortgehen, um in dem Stadtviertel Saint-Marcel, das Klein-Rußland genannt wird, Erkundigungen einzuziehen. Dort erfuhr er, daß die französische Polizei seit heute früh – welch ein Glück, daß er in der Nacht ausgekniffen war! – in der Rue du Panthéon, in der Rue Pascal, in den Quatorze-Marmites gewesen war, die bekanntesten Emigranten verhaftet und in der Wohnung Sophie Castagnozoffs, die selbst von einem Augenblick zum andern erwartet wurde, eine Mausefalle aufgestellt hatte.
Nun wollte er vor allem seine Freundin warnen, und da kam ihm ganz natürlich der Gedanke an Raimund und sein Gymnasium; ebenso natürlich verfiel er später, als Sophie Castagnozoff in der Wohnung auf der Place des Vosges erschienen war, auf die Idee, sie als Elektrotechniker zu verkleiden, der mit seinem Direktor eine Fabrik bei London einrichten wollte. Antonin lieh Sophie seine Kleider und seine Papiere; der Chef, dem das Abenteuer mitgeteilt wurde, stellte Lupniak seine Wählerkarte und seine antike Medaille als Mitglied der Konstituante zur Verfügung. Am Dienstagabend, während der Kleine sich in Morangis einsperrte und Esprit Cornat der größeren Sicherheit wegen schnell nach Lyon fuhr, um einige Geschäfte zu erledigen, reisten Lupniak und Sophie nach London ab. Sie kamen dort ohne Unfall an, wie ein Brief, der am Morgen mit den rettenden Karten und Papieren eingetroffen war, feststellte.
»Ach, Raimund, wenn du wüßtest –«
Toni lief im Speisezimmer auf und ab, indem er die Worte seiner Erzählung, die sich ziemlich in die Länge zog, durch verschiedene »der . . . Dingsda . . .« und eine leidenschaftliche Mimik ersetzte.
»Wenn du wüßtest, was für Kinder, was für naive Leute diese Revolutionäre sind; das lacht wie ein unschuldiges kleines Mädchen . . . und dabei morden und brennen sie – nicht wahr, schließlich – der – die – Dingsda – es ist nicht zu verstehen! Seit Sonntagabend, seit Lupniak und ich Casta unter den Arkaden der Place des Vosges erwarteten, und dieser Teufel, gelenkig wie ein Clown, wie ein chinesischer Schatten von einer Säule zur andern schlüpfte und sich damit unterhielt, den unter der Galerie Wache haltenden Sergeanten toll zu machen, bis zu unsrer Trennung am nächsten Abend gab es zwischen uns dreien nichts als Gelächter. Ich mußte jeden Augenblick sagen: ›So schweigt doch!‹ Die Häuser auf der alten Place Royale sind so friedlich, und alles hallt darin wider! Und die Meßgewandstickerin, meine Nachbarin, die am liebsten mein Schlüsselloch mit den Augen aufgehakt, ein Loch in die Mauer gebohrt haben würde! Allein Lupniak war viel zu schlau, als daß man uns hätte fangen können. Nur seine Zigarette ist gefährlich. Schon in der Rue du Panthéon wäre er durch sie beinahe 'reingefallen, und meine Nachbarin erzählt überall, seit sie die Stimme Sophiens gehört und den Tabaksrauch gerochen hat, daß ich Frauen von schlechter Aufführung bei mir empfange –«
Er sah so wenig danach aus, daß alle zu lachen anfingen.
Plötzlich kam bei Meister Izoard wieder die geheimnisvolle Stimme, der im Kreise umherschweifende, stöbernde Blick des alten Karbonaro zum Vorschein. Er brachte Raimund das kleine Gläschen, das er geringschätzig auf dem Tische vergessen hatte, und flüsterte ihm zu:
»Ja, mein Junge, was sie dir aber nicht sagen, ist, daß Sophie Castagnozoff in ihrem Brief behauptet, die russische Polizei unterhielte in Paris ein paar sehr geschickte Angeber, unter denen – rate mal –«
Raimund nahm das ihm dargereichte Gläschen mit zitternder Hand entgegen und fragte mit erstickter Stimme:
»Wer?«
Der Name wurde so leise ausgesprochen, daß der gegen die Scheiben klatschende Regen ihn übertönte, aber alle kannten diesen Namen.
»Du bist so wie ich, Raimundchen – es kommt dir unwahrscheinlich vor; aber begreifst du, daß diese beiden« – er deutete auf seine Tochter und Toni – »überzeugt sind, daß es wahr ist?«
»Er hat mir immer Angst eingeflößt,« murmelte Geneviève.
Toni wollte etwas hinzufügen, aber Vater Izoard ließ ihm keine Zeit dazu.
»Ein so hervorragender Schriftsteller, der gerade in der Nummer vom Fünfzehnten eine wunderbare Studie über den ›Bienentanz bei den Adonisfesten‹ in der ›Revue‹ veröffentlichte, ein solcher Künstler sollte sich zu einem solchen Handwerk herablassen! Was für einen Beweis gibt es außer der Behauptung unsrer Freundin? Die Abreise der alten Mauglas! Diese Abreise beweist gar nichts.«
»Verzeih,« antwortete Geneviève ruhig, »er wußte, daß Casta auf seine Denunziation hin verhaftet werden würde, da wäre es ihm peinlich gewesen, sich uns gegenüber zu befinden. Bedenke doch, sie ist am Montagabend fortgereist, Dienstag früh kam die Polizei.«
»Sophie ist vielleicht unvorsichtig gewesen,« meinte Raimund, der sich entzückt und erleichtert fühlte, weil er einer andern die Verantwortlichkeit für seine Ungeschicklichkeit zuschieben konnte.
Izoard protestierte.
»Fällt ihr nicht ein! Bedenke doch, weder du noch Geneviève, nicht einmal der Vater Izoard, einer von den Alten, einer, der zwei Jahre unter Louis Philipp auf dem Mont Saint-Michel gesessen hat, besaß ihr Vertrauen. Nur dem Kleinen hat sie alles erzählt, und sie hatte nicht unrecht, denn er hat sich besser aus der Patsche gezogen, als es einer von uns andern imstande gewesen wäre.«
Die letzten Worte fielen in ein tiefes Stillschweigen. Es dauerte gerade lange genug, um das Hurrageschrei der Raben und das Rieseln des Regens zu hören, der sich auf zehn Meilen in der Runde für den ganzen Tag festgesetzt hatte.
»Wenn ich euch alles sagen soll, was ich denke,« hob Raimund an – er hatte sich etwas beruhigt und fand das hochmütige, väterliche Lächeln einer Stütze der Familie wieder –, »ich finde, daß es von Casta ein wenig übereilt war, sich zu verbannen, selbst zu verurteilen. Wir wissen doch, daß sie keine Verschwörerin war. Nehmen wir an, man hätte sie verhaftet, so wäre ich zu Marc Javel gegangen.«
Dieser entschlossene Ton, das Feuer, das die lange Gestalt in der Gymnasiastenuniform belebte – alle waren gepackt und sahen ihn voll Bewunderung an, die ebenso dem Minister wie ihm selbst galt. Er bemerkte die Wirkung und verdoppelte sie.
»Ja, zu Marc Javel; ich habe sofort an ihn gedacht, als Lupniak zu mir ins Louis-le-Grand kam und ich hörte, daß unsre Freundin in Gefahr sei; ich hatte große Lust, in die Kammer zu laufen, aber das Gymnasium, das Reglement – und wie kann ich in meiner Schüleruniform eine Mannestat ausführen!«
»Bravo!« rief der Stenograph. Er glaubte im Palais Bourbon zu sein und hätte im »Officiel« sicherlich »langandauernder Beifall« eingetragen.
Der Redner triumphierte, aber nicht ohne Groll. Niemand wußte von seiner Dummheit, und sie war wieder gutgemacht; allein ein heftiger Ärger gegen seinen Bruder blieb zurück, gegen diesen Jungen, den die Russin ihm als Vertrauten vorgezogen, der den ganzen Abend den Machiavell vor ihm gespielt hatte. Das Betrübliche war, daß Sophie Castagnozoff bei ihrer Wahl zwischen den beiden Brüdern recht behalten hatte. Durch die Schuld des älteren war alles verloren – der jüngere hatte alles gerettet, und zwar geschah dies bei der ersten ernsten Verwicklung, durch die beide mit dem Leben in Berührung gerieten.
Es war, als hätte der Kleine hinter dieser eiteln Stirn lesen können.
»Du hast recht, Raimund,« sagte er zärtlich und vertrauensvoll zu dem Bruder. »Ich habe mich im guten Glauben zu sehr übereilt, und Tantchen ist jetzt durch meine Schuld ihrer besten Freundin beraubt. Nun, schließlich – nicht wahr – der – die – du brauchst nur mit Herrn Javel zu sprechen und läßt sie dann bald von London zurückkommen –«
Eine Gebärde seines Bruders unterbrach ihn. Diese so demütigen und aufrichtigen Entschuldigungen genügten seinem Stolze nicht. Vor allem um Genevièves willen grollte er Antonin, wegen seines Ruhmes, wegen des Platzes, den er seit acht Tagen in dem Hause einnahm; vor Geneviève wollte er ihn demütigen, auf die ihm gebührende Stelle wieder zurückweisen. So legte er ihm denn mit jener gönnerhaften Autorität, die er unter dem Druck einer berühmten Minister-Hand selbst empfunden hatte, die Hand auf die Schulter und sagte:
»Willst du mich anhören, Kind? Auch du wirst einige Zeit in England leben; verzichte also während deines Aufenthaltes in England auf den Verkehr mit diesen Lupniaks, Papoffs, all diesen Helden des Nationalismus, des Internationalismus, selbst auf den mit unsrer lieben Casta. Alle diese Leute sind für dich zu gelehrt; sie werden dich von der Werkstätte abwenden, indem sie dir den Kopf mit politischen Utopien anstopfen, die du nicht verstehen wirst. Das Studium der Philosophie ist etwas viel Schwereres als dein Handwerk. Sie werden schließlich das aus dir machen, was am unnützesten und gefährlichsten ist, einen Mischling, ein lächerliches, zwiefaches Wesen, einen schlecht geweißten Neger –«
Raimund fühlte, wie der Rücken des Kleinen, der mit gesenktem Kopfe zuhörte, unter dem faltigen Tuch des Sonntagsgewandes erschauerte. Sein Herz krampfte sich sofort zusammen, denn abgesehen von seiner unbefriedigten Eitelkeit war er ja nicht schlecht, und dann: wie konnte man in dieser zärtlichen Umgebung, in dieser gleich einem Treibhaus warmen und strahlenden Wohnung der braven Leute hart bleiben?
»Du darfst mir nicht böse sein, Toni, ich will dich nicht kränken, aber der Vater ist nicht mehr da, ich bin der Ältere, und da muß ich . . . Sag, bist du mir nicht böse?«
Der Kleine hob den Kopf.
»Dir böse – dir? Aber der – die –« Er stammelte eine Minute lang, dann ergriff er, am Ende seiner Kräfte angelangt, die schlanke, zarte Hand seines Bruders mit seinen bereits rauhen Händen und drückte, ganz gerührt, fest seine Lippen darauf. Sie schwollen von Worten, die keinen Ausweg fanden. Diesmal triumphierte Raimund. Allein dennoch blieb ein Hintergedanke in ihm zurück, und er betrachtete den Alten und seine Tochter, indem er sich fragte, ob auch sie von seiner Überlegenheit überzeugt seien.
»Princeps juventutis, auf dein Wohl!« rief ihm Vater Izoard zu, indem er sein Gläschen emporhob. Die Rührung ließ ihn wie immer sein Professorenlatein hervorholen.
Und Geneviève, woran dachte Geneviève? Bewunderte sie ihn, wie ihr Vater es tat? Oder erinnerte sie sich an die weisen Ratschläge ihrer Freundin Casta, während sie, beide Arme auf die Lehne ihres Fauteuils gestützt, das Gesicht dem Fenster zugewendet, den ungeheuern, weißen Horizont zu betrachten schien, der so geheimnisvoll und stumm war wie das Auge eines Blinden?