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Alle Pariser vom linken Ufer erinnern sich, vor etwa zehn Jahren in der unteren Rue de Seine einen engen Laden gesehen zu haben, dessen Schaufenster mit seinen bunten, im Halbkreis neben- und übereinander gereihten kleinen Glaskugeln der grauen Häuserreihe einen leuchtenden Ton aufsetzte. Wenn die Nacht kam, wurde es hell und flammte bis neun Uhr abends wie ein nächtlicher Regenbogen. Auf dem ebenfalls mit Lichtern durchsetzten Schilde stand:
Zur Wunderlampe
Mmes. Eudeline.
Patentierte elektrische Beleuchtungskörper.
Die Mehrzahl der Kompaniefirma war nicht ganz der Wahrheit entsprechend, denn kaum hatte Antonin Mutter und Schwester aus Cherbourg zurückberufen, um sie in der Rue de Seine einzurichten, so blieb Frau Eudeline dort allein, und Dina trat mit fünfzehnhundert Franken jährlich in das Post- und Telegraphenamt ein.
Ach der verlockende kleine Laden mit den hellen Spiegeln, dem glänzenden Parkett, den Etageren, auf denen sich winzige Lampen, »Leuchtkäfer« genannt, in Form und Farbe von Tulpen, Schwertlilien und Granaten hinzogen! Und hinter dem Ladentisch, mit einer schwarzen Haube auf den langen Schmachtlocken, wie sie die Damen in den schönen Tagen Lamartines und Ledru-Rollins trugen, die alte, stets in einen Leihbibliothekroman vertiefte Mama! Wie oft blieb ich auf dem Trottoir stehen, um voll Neid dieses strahlende, friedliche Heim anzusehen – damals, als ich noch davon träumte, mich mitten in Paris als Glückshändler niederzulassen. Ihr lest ganz richtig: als Glückshändler. Eine Zeitlang hatte ich die Idee, diesen wunderlichen Beruf einzuschlagen, meine Erfahrung vom Leben und Leiden in den Dienst einer Menge von Unglücklichen zu stellen, die nicht zu unterscheiden vermögen, was für gute Dinge es auch in dem am wenigsten begünstigten Leben gibt, was für Annehmlichleiten man aus ihm noch zu schöpfen vermag.Über diese eigenartige Idee, in der sich Daudets gemütvolles, menschenfreundliches Wesen so herrlich offenbart, spricht sein Sohn Léon ausführlich im III. Abschnitt seiner Erinnerungen, die in der Zeitschrift »Aus fremden Zungen« erschienen sind. Für den Verschleiß dieser kostbaren, seltenen Ware, die man Glück nennt, erschien mir der Laden der Mmes. Eudeline in bezug auf Stille, Milde, Sauberkeit und Heiterkeit als idealer Rahmen.
Wahrscheinlich hätte ich meine Ansicht geändert, wenn ich eines Aprilabends im Jahre 1887, in irgendeinem Winkel versteckt, der Heimkehr Fräulein Dinas beigewohnt hätte. Sie brachte aus dem Telegraphenamte in der Rue de Grenelle jenen Heißhunger mit, der in einem achtzehnjährigen Magen beim Nahen der Essensstunde zu nagen pflegt, und fand zu Hause nichts vor, nichts zum Essen, nicht einmal einen gedeckten Tisch. Ja, dem Glückshändler hätte an diesem Abend die nötige Ruhe zu seinen Ratschlägen gefehlt, denn ein ungewohnter Lärm ließ die große, den Laden von den hinteren Räumen trennende Glaswand erzittern.
Diese Räume bestanden aus einem Speisezimmer, das zum Teil von einem mit einer Wachsleinwand bedeckten runden Tische und von einer Holztreppe, einer wahren Jakobsleiter, eingenommen wurde, die zum Zimmer Raimunds hinaufführte. Unter dieser Treppe befand sich ein dunkles Kabinett mit einem Loch für die Ofenröhre; es diente als Küche und vervollständigte das Elend, die Blöße jener Rückseite der Auslage, die man Hinterladen nennt. Gegenüber, hinter einem hohen Wandschirm, stand das Bett, das Frau Eudeline mit ihrer Tochter teilte; es war am Kopfende von einer gipsernen Madonna, einem großen Rosenkranz, einem geweihten Buchszweiglein, einem ganzen Kramladen von frommen Bildern, von Exvotos überragt. In diese setzte das junge Mädchen das größte Vertrauen, ohne in ihnen die geringste Unterstützung gegen die tollen Zornanfälle zu finden, von denen sie sich oft hinreißen ließ. Dieser ganze Hintergrund ging auf einen mit verkrüppelten Linden bepflanzten Hof hinaus; ein geschützter Winkel desselben diente dem Rahmenhändler, dem im Erdgeschoß wohnenden Nachbar der Damen Eudeline, als Magazin. Dina kehrte bei ihrer Rückkehr aus dem Amt oft durch diesen Hof zurück; das war die Ursache ihrer heutigen schlechten Laune.
Als sie, ihren schwarzen Perkalbeutel unterm Arm, mit zierlich gebundenem Schleier, hocherhobenen Hauptes an dem Magazin vorüberging, bemerkte sie ihre Mutter, die in dem Zwielicht, das die Scheiben gelb färbte, nicht damit beschäftigt war, die »Gefängnisstunden der Frau Lafarge« oder die »Memoiren Alexander Andriannes«, ihre Lieblingsbücher, zu lesen, sondern die Weste eines mit Silberblumen bestreuten Kostüms Louis XV. stopfte.
Das Profil der in diese Arbeit vertieften alten Dame und die fieberhafte Hast ihrer alten, runzeligen Hände erweckten in ihr einen Ärger, der durch das Aussehen des fahlen Tisches und des kalten Ofens noch gereizter ward. Im Nu wurde der Wandschirm an die Mauer zurückgestoßen, und die Handschuhe, das Hütchen, der Schleier flogen zerstreut aufs Bett. Dann wurden Schubladen wütend geöffnet und geschlossen, der Feuerhaken donnerte auf dem kalten Eisen des Ofens, und man hätte zur Begleitung dieser rasenden Gestikulationen sehen müssen, wie dieses zarte Blondinengesicht mit den feinen Zügen, der kindlichen Haut sich zu Grimassen verzog, wie diese seidenen Augenbrauen sich zu zwei tiefen Falten über den hübschen, amethystfarbigen Augen zusammenzogen.
›Ihr Vater, ihr armer Vater,‹ dachte Frau Eudeline ganz laut, während sie in der Glastür stand und ihre Tochter traurig betrachtete. Sie erinnerte sie an jenen teuern, schrecklichen Gatten, dessen Heftigkeit und dessen Geschrei ihr nach mehr als zehn Jahren wie laute Blechmusik im Ohr klang, wie rote Flammen vor den Augen tanzte. Und doch war er so gut, so zärtlich gegen alle die Seinen! Gerade wie diese kleine Dina – wo ließ sich ein besseres, pflichttreueres Kind finden? Seit Herr Izoard sie im Telegraphenamte untergebracht hatte – der liebe Herr Izoard, die gute, zarte Geneviève, und mit solchen Freunden hatte man sich überwerfen können! –, gab es von allen ihren Vorgesetzten nichts als Lobsprüche. Sie wurde der ganzen Abteilung als Beispiel hingestellt, und in weniger als einem halben Jahre kam sie in den Pariser Dienst, trotzdem die Morseapparate so schwer zu handhaben sind. Wie konnte ein so vollkommenes, kluges und frommes Geschöpf in solche teuflische Zornanfälle geraten?
»Ja, ja, Mama, warum siehst du mich mit diesen traurigen Augen an?« schalt der hübsche kleine Dämon. »Warum versuchst du, mir diesen Theaterflitter zu verstecken, als ob ich nicht sähe, daß du im Begriffe bist, Knöpfe für deinen Herrn Sohn anzunähen? Und ich muß dich seit vierzehn Tagen bitten, meinen Beutel zu stopfen, diesen Beutel, in den ich mein Frühstück, meinen Reispuder hineintue, der dem Hause in ganz andrer Weise nützlich ist als diese Komische Opernweste!«
Die Mutter versuchte ein paar Worte einzuschieben:
»Aber, mein Kind, du weißt doch, daß Raimund –«
»In dem Kostüm beim Menuett im Auswärtigen Amt mittanzt –«
Dina verzog bei jedem Worte die Lippen, um ihm einen lächerlichen Nachdruck zu geben.
»Wir werden schon lange genug mit diesem Marquisen- und Schäferinnenmenuett zu Tode gelangweilt, das Herr Dorante von der National-Musikakademie eingerichtet und inszeniert hat. Soll ich es dir vorsingen? Nein, warte, ich werde es dir vortanzen – Trallalala –«
Sie führte, noch immer wütend und gereizt, trällernd den Pas aus und war dabei so komisch, daß sie plötzlich selbst zu lachen begann. Ihr Zorn fiel plötzlich zusammen.
»Begreife doch, ich sterbe vor Hunger, wenn ich aus dem Amte heimkomme,« sagte sie gänzlich besänftigt. »Früher fand ich einen gedeckten Tisch, eine Tasse Bouillon als Vorspeise vor, aber seit Raimund Präsident des ›V. d. P. St.‹ werden will und auf seinem Hängeboden Besuche empfängt, wird erst sehr spät Feuer gemacht, weil es riecht. – Ja, sowie nur unser Ältester alle seine Bequemlichkeit hat, wenn er seine Schokolade ins Bett bekommt und in den großen Ministerien Menuett tanzt, dann kann ich machen, was ich will!«
Der Schluß des Gewitters beruhigte Frau Eudeline wieder.
»Du tust, als wärest du nicht die erste gewesen, die sich über seine Erfolge freute; stelle dich doch nicht als die Boshafte hin.«
»Ich bin nicht boshaft, nur weniger blind als du und Antonin.«
Beim Öffnen des Büfetts hatte sie einen Überrest von Schmorfleisch in Saft, eine Glanzleistung der Mama, gefunden, begann nun zu essen und geriet in jenen Zustand der Befriedigung und Nachsicht, dem auch die Härtesten nicht zu widerstehen vermögen. Nun erst kam Raimund zum Vorschein. Zwei- oder dreimal hatte er während des Sturmes sein Zimmer halb geöffnet und bei neuen Ausbrüchen rasch wieder geschlossen. Als die Stimme Dinas endlich wieder ihren gewöhnlichen Tonfall annahm, erschien auf der Höhe der Treppe ein hübscher, gepuderter Marquis Louis XV. in Schnallenschuhen und einem bauschenden Jabot über einer grünen Atlashose. Es war Raimund Eudeline, vier Jahre älter als in jenem Herbst in Morangis. Er stieg langsam herab, indem er mit den Bandschleifen seiner Ärmel das hölzerne Geländer streifte.
»Ei, da ist ja das Schwesterchen,« sagte er, Überraschung heuchelnd.
»Laß doch, du hast mich gut gehört, ich habe Lärm genug gemacht.«
Sie drehte sich rasch zu ihrer Mutter um und fügte mit einem Ausdruck erkünstelter Bewunderung hinzu:
»Aber er ist hübsch, wunderhübsch, dein Sohn, dein Liebling!«
Um einen neuen Sturm zu vermeiden, fragte Raimund eilig, ob Herr Aubertin hergeschickt habe.
»Nein, es war niemand da,« antwortete die Mutter. »Aber du weißt, ich habe es dir zuvor gesagt, wenn jemand kommt, lasse ich ihn nicht zu dir hinauf. Du würdest dich von dem Anbot dieses Mannes verlocken lassen. Bedenke doch, du nach Indo-China!«
»Das wird nie geschehen!« rief Dina mit Überzeugung.
Raimund betrachtete beide mit jener zögernden Miene, die zu seinen etwas unsteten Augen, den unbestimmten Zügen seines Gesichts mit dem prächtigen, vom Puder aufgefrischten Teint so gut paßte.
»Ihr habt gut reden, meine Lieben, aber ich glaube, ich hatte unrecht, es abzulehnen. Geheimsekretär des Gouverneurs und Erzieher seiner Kinder, das ist für den Anfang nicht viel; aber ich bin überzeugt, wenn ich mich daran gemacht hätte, würde ich nach Verlauf einiger Monate eine wirkliche Stelle bekommen haben, während ich in Paris zu nichts komme. Mit diesem Jus, das kein Ende nimmt, selbst wenn ich Vorsitzender werde, kann ich euch noch immer nicht zu Hilfe kommen. Glaubt mir, es ist besser, wenn ich fortgehe.«
Frau Eudeline machte eine verzweifelte Gebärde.
»Was fällt dir ein? Dieses Annam ist ja nichts als ein großer Sumpf; wenn du einen Sonnenstich, einen Leberabszeß bekämest – was würde da aus uns andern?«
»Euch bleibt ja Antonin.«
»Schweig! Erstens hast du nicht das Recht, fortzugehen – erinnere dich an die Worte des Vaters, die Herr Izoard dir so oft wiederholt! Wie schade, daß er nicht da ist, um sie dir zu wiederholen, der teure Freund! ›Raimund wird das Oberhaupt des Hauses, die Stütze der Familie sein, er muß alle Pflichten auf sich nehmen.‹ Wandert ein Familienoberhaupt aus?«
»Aber wenn es kein andres Mittel gibt, das Brot fürs Haus zu verdienen? Ich bin überzeugt, daß Dina ebenso denkt wie ich,« fügte er hinzu, indem er sie von unten auf mit einem Zittern der Mundwinkel betrachtete.
»Da täuschest du dich gewaltig,« erwiderte die Kleine empört und wäre sehr überrascht gewesen, wenn ihr Bruder ihr wiederholt hätte, was er eine Minute zuvor aus seinem Zimmer gehört hatte.
Er begnügte sich, zu lächeln, nahm die schöne, mit winzigen Girlanden bestreute Weste Louis XV. aus den Händen der Mama entgegen und belohnte sie mit einem Kuß für ihre Mühe.
Wenn es Menschen gibt, die aus Kälte oder linkischer Schüchternheit nicht die Gabe, sich einzuschmeicheln, besitzen, so gibt es wieder andre, begünstigte wie Raimund, die sich von Natur gut darauf verstehen und etwas Bestechendes in ihrem Wesen haben.
»Ach, du Schmeichler,« murmelte Frau Eudeline ganz gerührt, als sein blonder Schnurrbart den Rand ihrer alten Schmachtlocken streifte.
Aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür nach einem heftigen Klingelzug, und beide Frauen hatten denselben Gedanken: da kommt jemand von Aubertin.
Dina zog Raimund sofort nach der Treppe, und Frau Eudeline stürzte in den Laden, um dem Feinde den Eintritt zu wehren.
Kaum trat sie ein, so blieb sie verblüfft stehen und rief mit ganz veränderter Stimme:
»Dina, Raimund, schnell, schnell –«
Dann stürzte sie vorwärts, und einige Minuten lang herrschte vor dem Ladentisch, auf dem neben den »Gefängnisstunden der Madame Lafarge« eine Brille lag, ein Wirrwarr von Umarmungen und Ausrufen. Frau Eudeline wanderte aus den Armen eines kleinen, alten Mannes mit einem kurzgeschorenen, aufrecht getragenen Kopfe und einem endlosen, schneeweißen fließenden Bart in die eines schönen jungen Mädchens mit einem freimütigen, guten Gesicht. Dann lief sie davon und rief in den Hintergrund:
»So kommt doch, Kinder, es ist ja Herr Izoard und Geneviève!«
Sie hatten einander seit bald zwei Jahren nicht gesehen, sich bemüht, einander nicht zu sehen, obwohl sie nur wenige Straßen voneinander entfernt lebten – die Eudelines in der Rue de Seine, die Izoards im Parlament. Und die Ursache des Bruches, die scheinbare Ursache? Ein politischer Streit zwischen Raimund und dem alten Stenographen, infolgedessen Geneviève auf ein paar Monate zu ihrer Freundin Sophie Castagnozoff gefahren war, die jetzt in England den ärztlichen Beruf ausübte; dann mußte sie, von einem wilden Spleen ergriffen, plötzlich nach Paris zurückkehren, und kurz nach dieser unvermuteten Rückkehr hatte sie, während sie mit ihrem Vater über die Eudelines sprach, plötzlich erklärt:
»Besuchen wir sie.«
»Das war eine kostbare Idee von dir, Tantchen!« rief Dina, indem sie hereintrat und Geneviève um den Hals fiel. Sie fand sie noch immer schön, nur Wangen und Augen waren ein wenig hohl. Sie sahen einander lächelnd an und hatten Lust, ein bißchen zu weinen, während der alte Herr seine Stimme anschwellen ließ, um den Starken zu spielen.
»Meine Tochter behauptet, daß alles Unrecht auf meiner Seite ist, und darum komme ich zuerst.«
Frau Eudeline wischte wie toll an ihren Brillengläsern.
»Ich muß sagen, ich habe von diesem Streit nie etwas verstanden.«
Izoard begann zu lachen.
»Ich auch nicht, wenigstens nicht viel.«
»Und gar erst ich,« fügte die kleine Dina hinzu. »Ich erinnere mich nur, es war an einem Sonntag im Laden, gerade beim Einzugsschmaus. Die Herren sprachen von Gambetta, von der Republik, und dann kam alles durcheinander. Weißt du vielleicht, Tantchen, warum wir böse wurden?«
Tantchen lächelte noch immer gezwungen, und der alte Izoard glaubte das Gefühl seiner Tochter auszusprechen, indem er sagte:
»Was liegt daran? Diese grundlosen Streitigkeiten sind die gefährlichsten, geradeso wie jene unbestimmten Krankheiten, deren Namen die Ärzte nicht kennen. Ich bin nur froh, daß mein liebes Töchterchen von London zurückgekommen ist, eigens um uns zu heilen. Ich habe so ganz allein in Paris eine traurige Zeit verbracht; den Rest gab mir die Menge von Gemeinheiten, die ich täglich in der Kammer vorfallen sah. Die Republik ertrinkt in Gold und Kot – aber reden wir nicht davon. Was habt denn ihr getrieben? Gehen die kleinen Lampen? Ist Toni noch immer bei seinem Elektriker? Und Raimund, wird er sein Jus bald beenden? Ist er zufrieden?«
»Oh, sehr zufrieden,« antwortete die Mutter eilfertig. »Sie werden ihn sehen; er ist oben, wird gleich herabkommen. Hast du es ihm gesagt, Didine?«
»Er braucht sich nicht stören zu lassen,« warf Geneviève mit gleichgültiger Miene ein.
»Stören!« rief Dina heftig. »Aber er freut sich ja geradeso wie wir über das Wiedersehen.«
Trotzdem rief das Zögern Raimunds eine gewisse Befangenheit hervor. Alle warteten, ohne etwas zu sprechen. Da bemerkte der alte Achtundvierziger den großen grünen Leihbibliotheksband auf dem Ladentische und machte eine Bewegung des Vergnügens.
»Liebe Freundin, ich sehe, daß Sie den Geschichten unsrer Zeit treu bleiben.«
»Nicht wahr, Herr Izoard? In diesen ›Gefängnisstunden‹ liegt doch viel wahre Poesie!«
»Und wie unverdient ist das Los dieser Frau!«
»Ach. Herr Izoard –«
»Ach, Frau Eudeline –«
Dina und Geneviève sahen einander lachend an; diese wohlbekannten Worte und Töne, dieser entmutigte Refrain aller Gespräche, die diese beiden Überlebenden einer fernen, sentimentalen Generation miteinander führten, belustigten sie, wie das Echo einer alten, neu aufgefundenen Romanze. Aber plötzlich öffnete sich die Glastüre im Hintergrunde weit, und es erschien ein junger, atlasfunkelnder Marquis, den Geneviève und ihr Vater im ersten Augenblick in dem Zwielicht nicht erkannten.
»Ei, das ist ja Raimund,« donnerte endlich Izoard mit ausgestreckten Armen. »Man verkleidet sich also, um alte Freunde zu empfangen?«
Frau Eudeline erzählte eilfertig, daß ihr Sohn an diesem Abend im Auswärtigen Amt beim Menuett mittanze; er werde auch im Kostüm, mit allen Mitwirkenden, im Ministerium speisen.
»Potz Blitz!« rief der Marseiller, dessen dicke Brauen sich wie Streifen verzogen, »das ist Pech. Ich wollte euch alle in den ›Silbernen Turm‹ führen.«
Als er die Verlegenheit bemerkte, die Geneviève und Raimund voneinander entfernt hielt, rief er seiner Tochter in brummigem Tone zu:
»So gib ihm doch einen Kuß, wenn er sich auch als Marquis verkleidet und in den Ministerien diniert, so bleibt er doch unser kleiner Raimund.«
Glücklicherweise begann es im Laden dunkel zu werden, und bloß einige Sonnenflimmer blieben oben auf den Vitrinen liegen; nur Raimund hätte sehen können, wie blaß Geneviève war und wie sie zitterte, aber er achtete nicht darauf, denn er war mit jenem Ungestüm der Jugend, die alles im voraus genießt, bereits in dem Strom des Vergnügens, das ihn an diesem Abend erwartete. Ach, wie fern war der unschuldige, der erste Kuß unter der Laube von Morangis!
»Du ißt also bei den Valfons,« fuhr Vater Izoard fort, als errate er den geheimen Gedanken des jungen Mannes. »Da wirst du die schöne Marquès aus deinem Gymnasium wiederfinden. Sie war schon zu jener Zeit Ministerin, aber nicht am Quai d'Orsay. Ich habe sie in Bordeaux gekannt, vor zwanzig Jahren, als ich Professor der Rhetorik war. Der Gatte der Dame war zu jener Zeit, zu Ende des Kaiserreiches, der reichste Reeder von Bordeaux, ein portugiesischer Jude. Der alte Valfon, der berühmte Schauspieler, gab Vorstellungen im großen Theater, der Sohn leitete ein kleines Skandalblättchen, den ›Galoubet‹, war schon damals ein schrecklicher Spieler, und es hieß, daß er die Ersparnisse der Frau Marquès beim Kartenspiel verschlang. Zwanzig Jahre später führte er sie, nachdem er ihr zweiter Gatte geworden war, unter dem schmachvollen Namen einer Frau Valfon in das Auswärtige Amt. Das ist ein Gesindel!«
Er legte seine große Hand breit auf die Schulter Raimunds und fragte in vertraulichem Ton:
»Für wen hängst du dir diese Flitter an, für die Mutter oder für die Tochter?«
»Ich wußte nicht, daß die Valfons eine Tochter haben,« murmelte Geneviève mit veränderter Stimme.
»Eine Tochter aus erster Ehe, geradeso wie der Sohn Wilkie, der ehemalige Mitschüler Raimunds. Florence Marquès ist Braut, scheint es, mit dem Sohne des steinreichen Seidenhändlers und Senators von Lyon, Tony Jacquand.«
»Wie gut unterrichtet Herr Izoard ist,« sagte Raimund lachend.
»Wir sind ja Nachbarn, mein Junge. Das Parlament und das Auswärtige Amt liegen nebeneinander; man kann einander über den Efeu der Mauern beobachten. Übrigens kannst du dir doch denken, daß ich, nachdem ich mehr als fünfzehn Jahre Kammerstenograph bin, das ganze parlamentarische Personal kenne, insbesondere das sogenannte republikanische Personal, über das ich mir gar keine Illusionen mache. Na, seit wir uns nicht gesehen haben, habe ich schöne Dinge erfahren.«
Er ging mit zornigen Schritten im Laden auf und ab. Ja, ja, er kannte diese Deputierten, er konnte manchen Gesetzgeber anführen, der würdig war, das Strohbündel zu tragen, durch das das verkäufliche Feld oder Pferd bezeichnet wird. Die Kammer stand jetzt den Händlern offen. In den Wandelgängen, bis zu den Türen der Kommissionen sah man jene schnüffelnden Eberrüssel, jene beschlagenen Brillengläser, die die Blicke maskieren, jene Geschäftsagententaschen, wie man sie unter dem Peristyl der Börse, in den Kaffeehäusern um den Justizpalast herum bemerken kann. Die Quästoren aber ließen alles geschehen. Onkel Siméon, der mit der Polizei der Kammer betraute ehemalige Gendarmerieoberst, duldete alle diese Schändlichkeiten. Warum denn nicht? Sein Neffe, der ehemalige Verehrer Genevièves, der Mann mit dem Rennhundestall, machte frech den Makler der Deputierten und verdiente bei diesem schändlichen Geschäft große Summen. Ja, das ging schön zu! Und das Beispiel kam von oben. Dieser Valfon junior, der Minister des Auswärtigen – ganz Paris kannte seine Verhältnisse – vermochte bis auf wenige tausend Franken die Ziffer seiner Spielschuld und die Summe anzugeben, die ihm der Gatte seiner Stieftochter würde auszahlen müssen, wenn nicht die Heirat auseinandergehen sollte. Ja, ein netter Kerl, dieser Minister, bei dem der brave Junge da Menuett tanzen sollte!
»Lassen Sie ihn nur tanzen, Herr Izoard,« unterbrach ihn die kleine Dina, denn sie fürchtete ein Wiederauftauchen jener abscheulichen Politik, die sie bereits einmal miteinander überworfen hatte. »Sie werden schon sehen, wir werden uns viel besser unterhalten als er.«
Einen Arm unter den kräftigen Arm des guten alten Herrn schiebend, den andern um die Taille Tantchens legend, entwickelte sie ihren Plan für den Abend. Statt des Essens im »Silbernen Turm«, das für einen Tag aufgeschoben wurde, an dem alle beisammen sein würden, wollte sie bei Melano, dem kleinen Restaurateur in der Rue Mazarin, Raviolisuppe, Reis nach Mailänder Art, Stufato und Zambayons bestellen. Heute abend hatte sie gerade keinen Dienst, und sobald Antonin kam und der Laden geschlossen war, würde rückwärts der Tisch gedeckt werden. Das Schlauköpfchen! Bei dem bloßen Worte »Ravioli« leuchteten die Augen des alten Vaters, dieses feurigen Bewunderers Garibaldis, Manins und der italienischen Küche, unter den dichten Brauen auf!
»Abgemacht, Kleine. Geh das Essen bestellen.«
»Soll ich dich begleiten?« fragte Geneviève.
Die Kleine, die im Nebenzimmer eilfertig den Hut aufsetzte, drehte sich um und sagte leise, indem sie auf Raimund deutete, der ihnen gefolgt war:
»Nein, bleibe bei ihm und plaudert ein wenig, ehe er fortgeht.«
Geneviève antwortete nicht und schien nicht einmal zu verstehen.
Als die beiden jungen Leute in dem Hinterladen allein blieben, näherten sie sich instinktiv dem Fenster, als flöße ihnen das Dunkel Furcht ein. Schweigend, die Stirn an die Scheiben gedrückt, sahen sie zu, wie der Abend den Hof überflutete, das Pflaster lilafarben wurde, während unter dem Magazin die vergoldeten Rahmen funkelten, gleich den Strahlen der untergehenden Sonne, die noch auf dem First des Daches und in den hohen Zweigen der Linden lag.
»Gib mir deine Hand, Geneviève.«
Ohne auf die dringende Bitte Raimunds zu antworten, ohne ihn anzusehen, streckte sie ihre Hand aus, die er rasch ergriff.
»Wie kalt sie ist, wie sie zittert,« sagte er. »Ist es also wirklich wahr, du fürchtest dich vor mir?«
»Nein, gewiß nicht,« antwortete sie sehr bewegt.
»Doch, du fürchtest dich vor mir, du denkst noch immer an jene schreckliche Szene oben in meinem Zimmer. Wie roh, wie unwürdig war ich! Und du beklagtest dich zu niemand, armes Tantchen! Ich bitte dich, vergiß diesen bösen Moment – was mir passiert ist, wird nie wieder passieren. Du kannst für mich nichts andres sein als eine Freundin, eine Schwester.«
Um die Mundwinkel des jungen Mädchens zitterte ein trauriges Lächeln.
»Du glaubst mir nicht, Geneviève! Oh, ich sehe, du glaubst mir nicht. Höre also zu.«
Und Raimund flüsterte ihr – weniger, um sie zu überzeugen, als in dem Bedürfnis junger Leute, allen, besonders einer hübschen, lange begehrten Frau, ihr Glück zu erzählen, seine Liebeserfolge in der Welt, der großen Welt, in der er heute abend tanzen sollte – ins Ohr. Jetzt kannte er die Leidenschaft, die wahre Leidenschaft; er wußte, wie wenig sie jener Jugendraserei glich, die ihn eines Tages so weit hingerissen hatte, daß er das Tantchen erschreckte und den Grund dazu gab, daß sie lange Monate sich erzürnt von ihm entfernt hielt. Oh, wie böse war sie gewesen!
Während er sprach, wurde die Hand Genevièves, die er in der seinen hielt, kalt und schwer, bis sie ihm zuletzt durch ihr eignes Gewicht entsank; aber er bemerkte es nicht, ebensowenig wie er in dem zunehmenden Dunkel den ironisch schmerzlichen Ausdruck auf diesem entzückenden Gesichte sah, das im Bereich seines Mundes sich so unnützerweise zu ihm hinneigte. Er schilderte eingehend die geringste Episode seines Romans, die ersten Worte, die er eines Abends in der Opernloge des Ministers, in die Marquès ihn geführt hatte, mit seiner Weltdame wechselte, die größere oder geringere Kühnheit, mit der er ihr seinen Arm gereicht, einen Blumenstrauß angeboten hatte . . .
»Hör mal, Tantchen, du bist ja eine Frau,« schloß er. »Glaubst du, daß sie mich wirklich liebt?«
Wie alle seines Alters ängstigte ihn die Furcht, daß man ihn nicht ernsthaft nehme, vor allem aber die Schwierigkeit, jene schöne Dame, die ihm bereits ein paarmal den Wunsch ausgedrückt hatte, ihn in seiner Wohnung, bei seinem Arbeitstisch zu sehen, bei sich zu empfangen.
In der Rue de Seine, in seiner armseligen Bude, in der Nähe von Mutter und Schwester war es unmöglich, irgend jemand zu empfangen, insbesondere aber eine Frau, eine Weltdame. Ach, dieses abscheuliche Elend im Familienkreis! Guter Gott, wann würde er ihm endlich entschlüpfen können! Wenn man bedachte, daß er mit zweiundzwanzig Jahren, nachdem er sich so geplagt, ganze Liter Tinte geschluckt hatte, nicht einmal genug verdiente, um sich ein Zimmer in der Stadt zu bezahlen! Denn ein Zimmer mußte er haben – Tantchen war eine Frau und mußte das begreifen – und auch Teppiche, ein Klavier – Frau Marquès war ja eine große Musikerin, die in allen Pariser Salons wegen ihrer wunderbaren Altstimme berühmt war.
Lange schon füllte die Nacht, die wie Asche herabrieselte, den kleinen Hof, in dem nicht mehr ein Lichtpünktchen zurückgeblieben war. Plötzlich fuhr eine weiße Flamme über die Glaswand: Frau Eudeline hatte die elektrische Leitung im Laden geöffnet, und zwar so unvermutet, daß Geneviève keine Zeit hatte, die Tränen abzuwischen, die ihre Wangen versengten.
Raimund sah mit Überraschung dieses verzweifelte Gesicht, ebenso wie es sie selbst überraschte, als sie ihn in diesem schillernden Kostüm wiedersah, an das sie sich nicht mehr erinnerte.
Der Herr Marquis zog mit einer etwas pöbelhaft-eleganten Gebärde, die er wohl oft wiederholt haben mochte, einen ungeheuern, emaillierten, goldenen Chronometer, das einzige Erbstück seines Vaters, aus seiner Atlashose und fragte:
»Wieviel Uhr ist es? Ich werde mich verspäten.«
»So geh!« versetzte Geneviève ärgerlich.
Ein Wagen rollte in den Hof. Es war der Fiaker, den Dina für den älteren Bruder brachte, denn sein atlasglänzendes Kostüm würde alle Läden der Nachbarschaft in Aufruhr gebracht haben.
Während er hinaufging, um seinen goldbordierten Dreispitz und seinen langen Stock zu holen, flüsterte die Kleine dem Tantchen ins Ohr:
»Es ist sehr unrecht von dir, daß du weinst; er wird keine finden, die so hübsch ist wie du.«
Gleichzeitig rief sie die beiden alten Freunde an, die in ihren Erinnerungen schürten:
»Herr Izoard, Frau Eudeline, Monseigneur geht an Bord, wollen wir ihn begleiten?«
Es war eine traurige Abfahrt – dieser elende Hof, das Blitzen der silbernen Schnallen auf dem Trittbrett eines gewöhnlichen Fiakers, die Spitzenmanschette, die zum Wagenschlag hinaus Abschiedsküßchen sandte . . .
»Es nimmt sich so aus, als führten wir ›Die Berline des Emigranten‹ auf,« sagte Vater Izoard, der über dieses unselige Menuett wütend war.
Als Raimund jedoch fort war, dauerte die Traurigkeit nicht lange. Der Tisch mußte gedeckt, der Ofen und die große blaue Lampe angezündet werden – beim Erfinder der »Leuchtkäfer« wurde nur Petroleum gebrannt –, dann erschienen die Ravioli, die, in der schmalen Küche in ihrem Wasserbett schmorend, das ganze Haus mit ihrem pfefferigen, angenehmen Geruch durchdufteten. Als dann der jüngere Bruder kam, um, wie jeden Abend, Mamas Laden zu schließen, verlieh der Anblick dieses blendenden Tischtuches, dieses von so gutgelaunten, eßlustigen Menschen umgebenen Tisches, vor allem die unerwartete Anwesenheit Vater Izoards und Genevièves den wimperlosen, immer ein wenig starren Augen des braven Jungen einen so verblüfften Ausdruck, daß alle in Lachen ausbrachen.
In den vier Jahren hatte sich der Unterschied zwischen den beiden Brüdern noch mehr verschärft. Antonin war in Haltung und Sprache der richtige Werkmeister, dessen Züge manchmal ein Schatten von Unruhe und Verantwortlichkeit trübte; er glich kaum dem Kammerherrn des jungen Edelmannes, den man eben zum Wagen begleitet hatte. Dabei war er noch immer derselbe gute Kerl, und das Reden fiel ihm noch ebenso schwer.
»Verflixter Trödler, wirst du mit deinen Läden und Balken nicht bald fertig sein?« schalt der Baß des Marseillers lustig, wahrend Toni den Laden schloß. »Wenn ich noch einmal in die Terrine fahre, findest du auch nicht mehr den Schwanz eines Ravioli vor.«
In der Tat, der Junge war an diesem Abend von unglaublicher Langsamkeit und Ungeschicklichkeit. Er schlug die Fensterladen geräuschvoll zu und klapperte mit den Schlössern. Bei Tisch wurde es noch ärger. Er zitterte so sehr, daß er vor Furcht, das Tischtuch zu bespritzen, das Glas oder den Löffel kaum an den Mund führte. Und was für Anstrengung kostete ihn das Antworten, wenn man ihn ansprach!
Tantchen wurde unruhig.
»Was hat denn unser Toni? Ist er krank?«
Frau Eudeline widersprach empört. Toni krank! Das hatte sich ja noch nie ereignet. Er glaubte, die Behauptung der Mutter bekräftigen zu müssen.
»Aber, Tantchen, das kommt ja nie vor – es ist nur die Überraschung, euch – nach so langer Zeit – schließlich, nicht wahr? – der – die – Dingsda –«
Das war alles, was er sagen konnte; die Aufregung versiegelte ihm während des ganzen Abends den Mund. Als Vater Izoard wissen wollte, was es Neues in der Fabrik gebe, ob der Chef zufrieden sei, mußte Dina an Stelle ihres Bruders antworten, und sie tat dies so ausgiebig, so feurig, wie der schüchterne Antonin es nie vermocht hätte.
»Ob der Chef zufrieden ist? Aber Toni bezieht ja schon längst außer seinem Gehalt Tantiemen aus dem Pariser Hause und hat ein eignes kleines Laboratorium für seine Versuche, für seine Experimente. Wenn er dort ist, wagt niemand, ihn zu stören, nicht einmal Herr Cornat selber. Aus diesem Laboratorium sind ja schon eine Menge Erfindungen hervorgegangen und immer auf ganz unerwartete Weise, immer wie durch ein Wunder. Sie lieben ja die Wunder nicht, Herr Izoard, aber wenn ich Ihnen erzählen würde, wie er die ›Leuchtkäfer‹ gefunden hat, diese kleine Wunderlampe, der wir es verdanken, daß wir alle beisammen sind! Stellen Sie sich vor, eines Tages fand er in einer Abfallkiste einen Haufen alter, trockener Kräuter und machte sich den Spaß, sie auszuglühen – ich hatte gerade an jenem Morgen ein ›Gedenke mein, Maria‹ gesagt –«
»Du glaubst also noch immer an diese Faxen, kleine Götzenanbeterin?« unterbrach sie der alte Bonze vom Jahre achtundvierzig.
»Mehr als je, denn immer nach einem Gebet –«
Der gute Mann wandte sich ungeduldig zu der Mutter.
»Die kleinen Lampen gehen also?«
»Sehr gut, lieber Freund, ich bedaure sogar, daß ich Dina nicht zu Hause behalten habe; ich werde mir jemand nehmen müssen. Das ist kein großes Unglück, aber etwas andres beunruhigt mich. Zur Erzeugung dieser Karbondrähte« – mit welchem Stolz sie diese technischen Ausdrücke aussprach! – »ist die Anwesenheit Antonins in der Fabrik unerläßlich; aber in kurzem wird er Soldat werden müssen. Herr Esprit war neulich bei mir und sprach mit mir über das, was man tun könnte –«
»Aber bei Raimund ist es ja –« rief die Kleine unbesonnen.
Die Mutter zuckte die Achseln.
»So begreife doch, Kind, bei Raimund gab es Erleichterungen, auf die sein Bruder nicht Anspruch machen kann! Raimund ist der älteste Sohn einer Witwe und die Stütze der Familie.«
Nach der Ehrerbietung, mit der sie das »die Stütze der Familie« betonte, nach dem andächtigen Schließen der Lider hätte man meinen können, daß es sich um irgendein hohes Amt handle. Dina erlaubte sich einen Widerspruch: auch Antonin unterstützte die Familie, und zwar viel wirksamer als sein Bruder; das würde man bemerken, wenn er nicht mehr da sein würde.
Die Mutter und der kleine Rotkopf gerieten gleichzeitig in Hitze.
»O Dina!«
Izoard, der in seinen Mailänder Reis vertieft war, hob den Kopf.
»Wo hält denn Raimund eigentlich? Mir scheint, er trödelt ein bißchen.«
»Sagen Sie das nicht, Herr Izoard,« rief die Mama erzürnt. »Wenn Raimund vielleicht Zeit verloren hat, so geschah es nur unsertwegen. Um eine ernste, feste Stellung zu erhalten, wollte er in die Ecole Normale treten, wodurch er einige Klassen doppelt machen und bis zu zwanzig Jahren im Gymnasium bleiben mußte. Man hat ihn in der Ecole Normale abgewiesen; aber das ist nicht seine Schuld, sondern die eines Prüfenden, dessen philosophische Ideen nicht mit den seinen übereinstimmten. Das haben alle Leute gesagt. Er wollte sich nochmals melden, aber da bewies ihm sein Freund Marquès, daß es viel besser wäre, wenn er Jus studierte, um dann in das Auswärtige Amt einzutreten; er verbürgte ihm eine gute Stelle und eine ganz andre Zukunft wie in der Ecole Normale. Er begann also über Hals und Kopf Jus zu studieren, und in ein paar Monaten wird er fertig. Aber zuvor – ich sage das unter uns – glaube ich, werden wir ihn als Vorsitzenden des ›V. d. P. St.‹ sehen.«
Die dichten Augenbrauen des Stenographen richteten sich wie ein Fragezeichen empor.
»Als Vorsitzenden des ›V. d. P. St.‹?«
»Ja, des ›Vereines der Pariser Studenten‹, er ist schon Komiteemitglied und hat alle Aussicht, bei den Wahlen im nächsten Monat durchzudringen.«
»Was kann ihm diese Stelle einbringen?«
Frau Eudeline antwortete nicht ohne Stolz, daß er keine Bezahlung bekommen werde, und Dina fügte lachend hinzu:
»Ja, so geht es immer mit den Stellen, die man Raimund anbietet: großartig, aber nicht bezahlt.«
Antonin wollte widersprechen, aber da er keine Worte fand, erwiderte die Mutter statt seiner. Erstens hatte ein Vorsitzender des »V. d. P. St.« große Vorteile; er wurde bei den Ministern im Elysée empfangen, mußte Frankreich im Auslande mit Bannern und großen, kreuzweise verschlungenen Bändern vertreten. Marquès, der Freund Raimunds, der im vorigen Jahre Vorsitzender des »V. d. P. St.« gewesen war, hatte den Besuch eines Großherzogs empfangen. Übrigens wurden ihrem Jungen nicht nur derartige Stellen angeboten.
Erst gestern war Herr Aubertin dagewesen und hatte den Vorschlag gemacht . . .«
Izoard fuhr auf seinem Sessel empor.
»Aubertin? Ist das der, den sie mit Gewalt zum Gouverneur von Indo-China gemacht haben? Wieder so ein Lump. Er will also Raimund als Sekretär mitnehmen?«
»Sie können sich denken, daß ich nicht eingewilligt habe,« sagte Frau Eudeline. »Raimund hat nicht das Recht, uns zu verlassen. Aber das ist doch ein Beweis, daß, wenn er wollte . . . Ja, wenn er eine anständige Wohnung hätte, statt dieser Dachstube« – sie deutete auf die in die Höhe führende Treppe –, »wenn er in einem wirklichen Zimmer Leute bei sich empfangen könnte –«
»Er wird eines bekommen, Mama.«
Alle drehten sich nach Antonin um, der endlich ins Reden kam und nicht mehr innehielt, wie jene alten verstaubten Uhren, die nach langem Krachen und falschen Ansätzen zu schlagen beginnen und nun nicht mehr aufhören.
Ja, eine nette Wohnung im dritten Stock, eine ganz neue Einrichtung, prachtvolle Teppiche und Vorhänge. Aber das konnte erst in ein paar Tagen fertig sein, also bis dahin Silentium!
»Gib mir einen Kuß, du bist zu lieb –«
Und während Mama Eudeline ihm entzückt ihre Schmachtlocken hinhielt, fragte sie weiter:
»Wie hast du das angestellt? Du hast also Ersparnisse?«
»Wie immer,« sagte der kleine Rotkopf mit einem triumphierenden Lachen. »Die beste Anlageweise dafür aber – schließlich, nicht wahr? – wenn ich Raimund die – die – die Werkzeuge verschaffe, die er braucht!«
Der Stenograph wandte sich zu der alten Freundin.
»Das Kind spricht ganz gut, wenn es sich Mühe gibt, aber das, was es ausführt, ist noch mehr wert, als das, was es sagt. Glauben Sie mir, die Sache mit dem Militärdienst ist die allerwichtigste von allen; den Jungen da können Sie nicht entbehren. Jetzt wäre der Moment, Marc Javel aufzusuchen; er ist zufälligerweise im Augenblick nicht Minister, aber er wird es bald wieder werden. Haben Sie ihn schon lange nicht gesehen?«
»Oh, sehr lange. Ich weiß, das ist unrecht von mir, die Kleine hat es mir oft gesagt; aber ich fürchte mich vor diesen Staatsmännern. Die Ministerien, in denen man sie aufsuchen muß, sind so voll von Bedienten, Angestellten, die Plafonds sind so hoch und so vergoldet, daß man schon Angst bekommt, ehe man hineinkommt. Und gar Marc Javel! Wenn ich ihm gegenüberstehe, komme ich mir ganz dumm und stumm vor. Selbst seine Höflichkeit, die Art, wie er mit einem umgeht, einem auf die Hände klopft, die Phrasen, mit denen er einen verwirrt – kurz, er gibt einem nie etwas, und man könnte glauben, daß er einen mit Wohltaten überhäuft. Wenn man seine schönen, papiernen Phrasen öffnet, so sind sie nichts als leere Haarwickel.«
Aber Vater Izoard ließ nicht nach.
»In der Tat, liebe Freundin, ich fange an zu glauben, daß Marc Javel wie so viele andre Republikaner unsrer Zeit nur ein geschickter Schauspieler, ein wunderbarer Bauchredner ist, der seine Wähler mit Gebärden und Phrasen 'reinfallen läßt. Aber es macht nichts, er ist noch besser als dieser Grimassenschneider von Valfon. Außerdem ist er eine heilige Schuld gegen Sie, gegen Ihre Kinder eingegangen, die er einlösen muß. Er muß zahlen.«
Der Name Marc Javels und all das Düstere, das er heraufbeschwor, ließ wie aus einem Luftsack einen eisigen Strom über die Tischgesellschaft fallen. Die Mahlzeit ging zu Ende, als ein Wagen vor der Tür hielt und Schläge auf die Fensterläden, die laut rufende Stimme Raimunds alle vom Tische aufspringen ließen.
»Das nenne ich ein Abenteuer!« rief der junge Mann, indem er barhäuptig, mit verschobener Haarschleife ins Zimmer stürzte. Der Überrock, den er um die Schultern geworfen hatte, war von dem kurzen Weg über das Trottoir ganz durchnäßt und mit krachendem Reif bedeckt.
Die Mutter erschrak.
»Schneit es denn, daß du ganz weiß bist? Es war doch vorhin so schön.«
»Diese Frühlinge von heutzutage sind ebenso kalt wie der Winter, nur viel launenhafter,« brummte der alte Achtundvierziger.
Endlich erklärte Raimund, was vorgefallen war. Man hatte soeben im Ministerium erfahren, daß Fräulein Helene Molin de L'Huis, eine der Schäferinnen des Menuetts, sich beim Herabsteigen der Treppe ihres elterlichen Palastes den Fuß verstaucht habe. Frau de L'Huis hoffte zuerst, daß eine Behandlung durch Petersen, den schwedischen Masseur, es ihrer Tochter doch ermöglichen würde, zu tanzen, aber man hatte dann die Hoffnung auf sofortige Besserung aufgeben müssen, und in letzter Stunde teilte Frau Molin de L'Huis in einer verzweifelten Depesche mit, daß Fräulein Helene acht Tage an die Chaiselongue gebannt sein würde. Sie schickte gleichzeitig das Kostüm und das Zubehör für den Fall, daß man für die junge Schäferin einen Ersatz finden könnte.
»Ihr habt also jemand gefunden?« fragte Dina naiv.
»Ja,« antwortete der Bruder, »dich selbst, Kleine.«
»Du scherzest.«
»Es war nicht mein Gedanke. Frau Valfon, die wußte, daß du das Menuett besser tanzest als ich, da du es so oft mit mir einübtest, sagte zu mir: ›Lieber Freund, steigen Sie rasch in einen Wagen und holen Sie Ihre Schwester.‹ Das große Glück ist, daß du gerade so klein bist, wie Fräulein Helene; da ist die Coiffüre, das Kostüm, ziehe dich rasch an.«
Dina zog krampfhaft ihre feinen Augenbrauen in die Höhe und fragte Frau Eudeline der Form wegen:
»Was meinst du, Mama?«
Die Mutter glaubte ebenfalls der Form halber – wegen der Anwesenheit der Freunde – Einwand erheben zu müssen:
»Und dein Amt morgen früh? Wenn du so lange aufbleibst –«
Die Kleine wäre beinahe in Zorn geraten.
Ihr Amt, ei, jawohl! Wenn sie manchmal bis drei, vier Uhr morgens im Amt blieb, um Regierungsdepeschen, Berichte, Reden »abzuklopfen«, so war das gewiß viel ermüdender und lange nicht so lustig. Nein, das Ärgerliche war nur, daß sie ihre Freunde verlassen sollte, statt mit ihnen zusammen den Abend zu verbringen.
»Willst du wohl schweigen, kleiner Affe,« sagte Geneviève heiter; die Rückkehr Raimunds schien sie aus einem lethargischen Schlafe aufzurütteln. »Wo ist das Kostüm? Her damit, daß Mama Eudeline und ich aus der kleinen Telegraphistin eine entzückende Schäferin machen!«
Mit dreimaligem Hinundherlaufen, mit unendlicher Vorsicht wurde alles – Kostüm, Schuhe, Zubehör – in den Hintergrund getragen und auf dem Bette ausgebreitet, auf dem nun ein blendendes Farbengemisch entstand. Dann wurden die Herren gebeten, im Laden zu bleiben, während der Wandschirm wie ein Vorhang vor der Glaswand ausgebreitet wurde und die Damen unter Gelächter, Hinundherlaufen und Rufen durch die halboffene Tür blitzschnell die Kleine ankleideten.
»Raimund, dein Haarpuder!«
»Toni, schnell zum Friseur!«
»Er wird geschlossen haben.«
»Laß dir aufmachen; wir haben keine rote Schminke mehr.«
Aber wenn die Damen sich fünf Minuten ruhig verhielten, so wurde man im Laden lebhaft und ungeduldig.
»Vorwärts, vorwärts, beeilen wir uns. In Saint-Sulpice schlägt es zehn Uhr.«
Entschieden, zum Zwecke meiner Niederlassung als Glückshändler hätte das Geschäft »Zur Wunderlampe« an diesem Abend nicht entsprochen, wenn man annimmt, daß das Wort Glück auch Ruhe und Stille bedeutet.
Endlich tat sich der Wandschirm ehrerbietig auseinander, und man sah eine in helle, mit Blumensträußchen bedeckte Stoffe gekleidete Pompadourschäferin in kurzem Rock und viereckig ausgeschnittenem Leibchen mit winzigen Schritten hervortreten. In der Hand trug sie einen Hirtenstab mit flatternden Bändern und hoch oben auf den gepuderten schweren Zöpfen ein kleines Blumenhütchen, das jenem Strauß glich, welchen man auf dem First eines neuen, eben fertiggewordenen Hauses aufhißt. Das Wunderbare war der blendende Teint, der idealweiße Hals, der aus diesem indiskreten Ausschnitt auftauchte, die perlmutterweiße Haut, auf der, von einer unmerklichen Perlenschnur gehalten, zwei ganz kleine, goldene Reliquien funkelten.
»Sie wollte keinen andern Schmuck,« sagte Frau Eudeline in vorwurfsvollem Tone. Sie war auf die paar altertümlichen Kleinodien, die sie aus so vielen Schiffbrüchen gerettet und in der Tiefe einer Schublade aufbewahrt hatte, sehr stolz. Aber für Dina waren diese zwei kleinen Madonnenbilder – Unsre liebe Frau von Fourvières und Unsre liebe Frau des-Victoires – zwei Glücksanhängsel, die sie nie verließen.
»Arme Kleine, sie ist doch recht provinzlerisch,« rief der alte Achtundvierziger, indem er mit einem geringschätzigen Lächeln die Zustimmung der Tochter suchte, die er in einem antiklerikalen, antibigotten Deismus erzogen hatte.
Dina lachte herzlich.
»Nein, Herr Izoard, Sie sind zurück – Sie stammen aus dem Jahre 1812.«
Geneviève aber spazierte mit der Lampe um die kleine Puppe, die sie eben angekleidet hatte, und sagte bloß:
»Auf jeden Fall ist sie sehr hübsch.«
Die blauen Augen der Kleinen funkelten vor Vergnügen.
»Ach, Tantchen!« Sie fiel ihr um den Hals und flüsterte ganz leise, ohne zu fürchten, daß sie ihre Schönpflästerchen und ihre Schminke verderben würde: »Du kannst ruhig sein; ich werde ihn gegen die schönen Damen verteidigen.«
Auch diesmal stellte sich Geneviève, als höre sie nicht.
»Sind wir endlich fertig?« rief Raimund in ärgerlichem Ton.
Aber Frau Eudeline verlangte noch einen Augenblick Aufschub, gerade nur so viel Zeit, um sich ein paar Takte des Menuetts vortanzen zu lassen; sie wollte sich versichern, ob Dina es gut könne, in Wirklichkeit aber ihren doppelten mütterlichen Stolz befriedigen.
In der Tat, es half nichts, daß Raimund sagte, daß seine Schwester zu klein für ihn sei, daß ein Marquis nicht zu einer Schäferin passe, daß das Menuett »Schäferinnen und Marquisen« heiße, daß die zwei Quadrillen ganz verschieden seien – man konnte nirgends etwas Entzückenderes sehen, als dieses Paar hübscher, bebänderter Phantome, wie sie aus dem Halbdunkel hervortauchten und nach der Mozartschen Melodie, die sie mit geschlossenem Munde trällerten, mit vereinigten und erhobenen Händen, mit verschlungenen Fingern, gleitend, sich drehend nach und nach zwei Personen aus Lancret oder Fragonard mit ihrer pompösen, frivolen Haltung ins volle Licht führten. Dann kam die Reverenz, die halbe Schwenkung, und Bänder, Haarschleifen, Hirtenstab wichen in das Dunkel des Hinterladens und des Hofes zurück, um zu verblassen und endlich mit dem Wagen zu verschwinden, der das kleine, auf so zauberhafte Art aus ihrem traurigen Heim entführte Aschenbrödel durch die stillen Straßen dahintrug.