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An diesem Morgen war ausnahmsweise kein großes Dejeuner in dem Hause Nr. 12 am Vendômeplatze gewesen. Auch hätte man um ein Uhr die wohlgenährte Person des Herrn Barreau am Eingange zur Vorhalle in ihrer ganzen Majestät sich breit machen sehen können, inmitten von vier oder fünf Küchenjungen mit ihren weißen Mützen und etwa ebenso vielen Stallburschen in schottischen Kappen, eine imposante Gruppe, die dem luxuriösen Hause das Ansehen eines Hotels gab, dessen Dienerschaft einen freien Moment, wo keine Gäste ankommen, wahrnimmt, um etwas Luft zu schöpfen. Was diese Aehnlichkeit vollständig machte, war eine Droschke, die vor dem Thore hielt, und ein Kutscher, der im Begriffe stand, einen altertümlichen ledernen Koffer vom Verdeck des Wagens herabzuholen, während eine ältliche hagere Frau, den Kopf in ein gelbes Tuch verhüllt und einen grünen Shawl um die Schultern, leichtfüßig auf das Trottoir sprang und mit einem Korbe unterm Arme nach der Hausnummer blickend sich der Bedientensippe mit der Anfrage näherte, ob hier wohl Herr Bernard Jansoulet wohne.
»Ja allerdings,« antwortete man ihr, . . . »Aber er ist nicht zu Hause.«
»Das macht nichts,« erwiderte die Alte.
Sie wandte sich darauf wieder zu dem Kutscher, ließ den Koffer in die Vorhalle setzen, bezahlte die Fahrt und steckte dann sofort ihre Börse mit einer Handbewegung in die Tasche, die genugsam das Mißtrauen der Provinzlerin gegenüber den Gefahren der Hauptstadt kennzeichnete.
Seit Jansoulet Abgeordneter in Korsika geworden war, hatten die Bedienten so viele ausländische und fremdartige Gestalten bei ihm ihr Absteigequartier nehmen sehen, daß sie über diese Frau mit dem sonnverbrannten Teint und den wie Kohlen glühenden Augen nicht übermäßig erstaunten, dieselbe vielmehr für eine echte, direkt aus ihrer Heimat angelangte Korsikanerin hielten, die sich von den andern Insulanern nur durch ihr sicheres Auftreten und ihre ruhigeren Manieren unterschied.
»Wie, der Herr ist nicht zu Hause? . . .« sagte sie mit einer Betonung, die mehr für eine Anrede an Leute vom Lande, als an eine unverschämte Bedientenclique eines großen Pariser Hauses paßte.
»Nein, der Herr ist nicht zu Hause.«
»Und die Kinder?«
»Die haben Stunde. . . . Die können Sie auch nicht sehen.«
»Und die Frau vom Hause?«
»Die schläft. . . . Man darf sie nicht vor drei Uhr stören.«
Daß man so lange im Bette liegen bleiben könne, schien die gute Frau in Erstaunen zu setzen; aber der sichere Instinkt, der, in Ermangelung der Erziehung, die bevorzugten Naturen leitet, verhinderte sie, vor der Dienerschaft irgend eine Bemerkung fallen zu lassen, und sie sprach deshalb den Wunsch aus, Paul von Géry zu sehen.
»Der ist auf Reisen. . . .«
»Und Jean Baptiste Bompain, wo ist der?«
»In der Sitzung, mit dem Herrn. . . .« Sie runzelte die Stirn und sagte: »Nun, dann schaffen Sie immerhin meinen Koffer hinauf,«
Und sie fügte dann, mit einem kleinen malitiösen Lächeln, mit einem gewissen Stolze, durch den sie sich für die unverschämten Blicke, die auf sie geheftet waren, entschädigte, hinzu: »Ich bin die Mutter,«
Die Küchenjungen und Stallburschen machten nunmehr ehrerbietig Platz und Herr Barreau sagte, seine Mütze ziehend: »Ich dachte mir gleich, daß ich Madame schon irgendwo gesehen haben müsse.«
»Das habe ich mir auch gedacht, mein Junge,« erwiderte die alte Frau Jansoulet, der die Erinnerung an die verunglückten Festlichkeiten für den Bey einen Stich ins Herz gab. Mein Junge! . . . und das zu Herrn Barreau, zu einem Manne von seiner Würde. . . Das allein genügte, um sie in den Augen der um sie versammelten Leute sehr hoch zu stellen.
Ach, die Großthuerei und der Glanz imponierten der mutigen alten Frau wenig. Sie gehörte nicht zu den Müttern aus der komischen Oper, die über jeden glänzenden Flitterstaat außer sich geraten. Als sie hinter ihrem Koffer die große Treppe hinanstieg, da verhinderten sie weder die Blumenetageren, die auf allen Treppenabsätzen standen, noch die von Bronzefiguren getragenen Kandelaber, zu bemerken, daß auf dem Geländer der Staub fingerdick lag, und daß der Treppenläufer an einigen Stellen Löcher hatte. Man führte sie in die Zimmer der zweiten Etage, welche für die Levantinerin und die Kinder bestimmt waren, und dort, in einem Zimmer, welches zur Aufbewahrung von Wäsche diente und das, da man deutlich Kinderstimmen vernahm, dem Schulzimmer unmittelbar benachbart sein mußte, erwartete sie ganz allein, mit ihrem Korbe auf dem Schoße, die Rückkunft ihres Bernard, vielleicht auch das Erwachen ihrer Schwiegertochter oder die große Freude, ihre Enkel zu umarmen.
Nichts konnte ihr besser eine Vorstellung von der Unordnung geben, die in einem Haushalte herrscht, welcher der Dienerschaft überlassen ist, und in welchem die Aufsicht und die vorsorgliche Thätigkeit der Hausfrau fehlt, als das, was sie rings um sich herum wahrnahm. In großen offenstehenden Schränken war das Leinenzeug durcheinander in unregelmäßigen Haufen, die umstürzen wollten, aufgestapelt, Battisttücher und sächsisches Tischzeug waren ganz zerknüllt und hastig hineingestopft; die Schlösser schlossen nicht, weil irgend eine Stickerei sich dazwischen geklemmt hatte, die zu entfernen niemand sich die Mühe gab. Dennoch gingen genug Dienerinnen in dieser Leinwandkammer aus und ein, Negerinnen mit ihren gelben Kopftüchern, die in der Eile aus den Schränken eine Serviette, eine Schürze herausrissen, trampelten über diese herumgestreuten häuslichen Schätze hinweg, schleiften mit ihren Plattfüßen Spitzenrüschen von einem Schlepprock herum, die eine Kammerjungfer abgetrennt und liegen gelassen, während sie den Fingerhut dahin, die Schere dorthin geworfen hatte, wie eine Arbeit, die man jeden Augenblick wieder aufnehmen will.
Die Mutter des Millionärs Jansoulet, welche immer noch eine halbbäuerliche Handwerkerfrau geblieben war, fühlte sich hier in ihrem Respekt, in ihrer Zärtlichkeit, dem liebevollen Entzücken, das ein von unten bis oben gefüllter Leinenschrank einer Provinzlerin einflößt, schmerzlich berührt, ein Leinenschrank, der so manche Erinnerung an die Vergangenheit und ihre Armut enthält, dessen Inhalt man allmählich vermehrt und verfeinert, der die erste Sorge des wachsenden Wohlstandes, das erste Zeichen der Behäbigkeit eines Hauses zu sein pflegt. Sie gehörte zu denen, die noch vom Morgen bis zum Abend am Spinnrocken sitzen, und wenn sich die Hausfrau in ihr empörte, so hätte die Spinnerin blutige Thränen über diese Entweihung weinen mögen. Schließlich vermochte sie nicht mehr an sich zu halten, sie erhob sich, gab ihre beobachtende und zuwartende Stellung auf und machte sich eifrig daran, die prachtvolle Wäsche sorgsam aufzusammeln, zu glätten und in gleichmäßige Stöße zu schichten, wie sie dies auf ihren Rasenplätzen in St. Romans bei den großen Waschfesten zu thun gewohnt war, bei denen zwanzig Arbeiterinnen beschäftigt waren, wo die Körbe von schneeweißer Wäsche überflossen und das zum Trocknen aufgehängte Zeug auf den Leinen im Morgenwinde flatterte. Sie war mit einem solchen Feuereifer bei dieser Arbeit, daß sie ihre Reise nach Paris, ja fast den Ort, wo sie sich befand, darüber vergaß, als ein wohlbeleibter, vierschrötiger und bärtiger Mann, in Lackstiefeln und einem Samtjackett, das einen Stiernacken umschloß, in das Wäschezimmer trat.
»Ei! . . . Cabassu. . . .«
»Was, Sie sind hier, Frau Françoise. . . . Das nenne ich eine Ueberraschung,« sagte der Masseur, indem er seine großen Augen aufriß.
»Freilich, mein wackerer Cabassu, ich bin's. Eben komme ich an. . . . Und wie du siehst, habe ich mich schon an die Arbeit gemacht! Es that mir in der Seele weh, diese Wirtschaft hier zu sehen.«
»Dann sind Sie wohl eigens wegen der Kammersitzung gekommen?«
»Welche Kammersitzung?«
»Nun, die große Sitzung des gesetzgebenden Körpers, . . . Heute soll ja. . . .«
»Nein, wahrhaftig nicht. Was geht denn das mich an! Ich würde von solchen Sachen doch nichts verstehen. . . . Nein, ich bin nur gekommen, weil ich das dringende Verlangen fühlte, meine kleinen Jansoulets zu sehen, und weil ich anfing, unruhig zu werden. Ich habe nun schon so oft geschrieben, ohne Antwort erhalten zu haben. Ich fürchtete deshalb, daß etwa eins der Kinder krank sei, daß Bernards Geschäfte schlecht gingen und was ich sonst noch für trübe Gedanken hatte. Ich hatte mit einem Worte die schwärzesten Vorahnungen, und deshalb habe ich mich auf die Reise gemacht! . . . Es geht ihnen allen aber gut, wie ich höre, nicht wahr? . . .«
»Ja, allerdings, Frau Françoise. . . . Sie befinden sich alle, Gott sei Dank, wohl.«
»Und Bernard? . . . Wie geht es mit seinen Geschäften? . . . Geht es nach Wunsch? . . .«
»Ach, Sie wissen wohl, jeder hat sein Päckchen im Leben zu tragen , . . aber alles in allem hat er, glaube ich, keine Ursache, unzufrieden zu sein. . . . Doch da fällt mir ein, Sie müssen ja Hunger haben. . . . Ich werde Ihnen gleich etwas auftragen lassen.«
Cabassu, der sich hier viel mehr zu Hause und viel gemütlicher fühlte, als die alte Mutter, wollte klingeln, sie hielt ihn aber zurück, indem sie sagte: »Nein, nein, ich bedarf gar nichts, ich habe noch von meinen Reisevorräten.«
Und nun legte sie auf den Rand des Tisches zwei Feigen und eine Brotschnitte, die sie aus ihrem Korbe hervorgeholt hatte, und sagte dann während des Essens: »Nun, und dir, Kleiner, wie geht es denn mit deinen Geschäften? . . . Seit du zum letztenmal in unserm Dorfe warst, hast du dich nicht übel herausgeputzt. . . . Was für feine Wäsche und Kleider du trägst! . . . Was betreibst du denn?«
»Ich bin Professor der Massage,« erwiderte Aristides mit Würde.
»Du, Professor?« sagte die Alte mit ehrfurchtsvollem Staunen, aber sie wagte nicht, ihn zu fragen, worin er denn eigentlich unterrichte, und Cabassu, den diese Fragen ein wenig in Verlegenheit setzten, ging rasch zu einem andern Gesprächsthema über.
»Wie wäre es, wenn ich die Kinder holte. . . . Hat man ihnen denn nicht gesagt, daß ihre Großmutter da ist?«
»Ich habe es nicht gewollt, daß man sie bei ihrer Arbeit störe. . . . Aber ich glaube, ihre Stunde ist jetzt beendigt. Horch nur!«
Man hörte hinter der Thür die trippelnde Ungeduld von Schülern, deren Stunde zu Ende geht und die die Zeit nicht abwarten können, wo sie in die freie Luft hinauskommen. Und die Alte genoß mit Behagen diesen ungestümen Lärm, der ihre mütterliche Sehnsucht verdoppelte, und sie doch verhinderte, irgend etwas zu unternehmen, deren Befriedigung zu beschleunigen. Endlich that sich die Thür auf. Zuerst erschien der Lehrer, ein Abbé mit spitzer Nase und vorstehenden Backenknochen, derselbe, den wir bei den großen Dejeuners schon haben kennen lernen. Dieser ehrgeizige Vikar hatte sich mit seinem Bischof überworfen und seine Diözese, in der er bisher amtiert hatte, verlassen, und war nun in der prekären Stellung eines stellenlosen Theologen – auch der Klerus hat sein Zigeunertum – froh daran, die kürzlich aus dem Collège Bourdaloue entlassenen Jansouletschen Kinder unterrichten zu dürfen. Mit der feierlichen, anmaßenden, vom Bewußtsein der Verantwortlichkeit zeugenden Miene, wie sie den hohen Prälaten eigen gewesen sein muß, die mit der Erziehung der Dauphins von Frankreich betraut waren, schritt er den drei kleinen, wohlfrisierten und feinbehandschuhten Bürschchen voran, die mit ihren länglichen Hüten, kurzen Jäckchen, den Lederränzchen auf dem Rücken und den langen roten Strümpfchen, die bis über die Mitte ihrer kleinen, mageren Beine gingen, genau so aussahen, wie ein Velocipedist, der im Begriffe steht, in den Sattel zu steigen.
»Meine lieben Kinder,« sagte Cabassu, der Vertraute des Hauses, »dies ist Frau Jansoulet, eure Großmutter, die eigens nach Paris gekommen ist, um euch zu sehen.«
Die Kinder, die wie die Orgelpfeifen dastanden, waren sehr erstaunt und betrachteten das faltige alte Gesicht in der gelben Spitzenhaube, sowie den fremdartigen Anzug, der von einer ihnen unbekannten Einfachheit war. Und nicht minder groß war das Erstaunen ihrer Großmutter, ein Erstaunen, das nur dadurch noch einen bittern Beigeschmack erhielt, daß dieselbe gegenüber diesen kleinen verwöhnten und hochmütigen Bürschchen ein Unbehagen empfand, wie etwa gegenüber den Marquis, Grafen und Präfekten, die ihr Sohn auf dem bekannten Ausfluge nach Saint Romans ihr gebracht hatte. Auf die Aufforderung ihres Lehrers, »ihre ehrwürdige Großmutter« zu begrüßen, kamen die Knaben nacheinander heran, um ihr mit kurzem Arme ein zierliches Patschhändchen zu geben, wie sie es in den Dachkammern der Armen zu thun gewohnt gewesen, und in der That mochte ihnen diese gute Frau mit dem erdfahlen Gesichte und dem reinlichen aber mehr als einfachen Anzuge ihre Armenbesuche aus der Zeit ihres Aufenthaltes in dem Collège Bourdaloue ins Gedächtnis zurückrufen. Die Knaben fühlten zwischen sich und der alten Frau dasselbe unbekannte Etwas, dieselbe Kluft, die durch keine Erinnerung, kein Wort ihrer Eltern jemals ausgefüllt worden war. Der Abbé wurde dieser unbehaglichen Stimmung alsbald inne und gab, um dieselbe zu zerstreuen, eine in dem Brusttone und mit so salbungsvollen Gebärden vorgetragene Anrede zum besten, wie sie denjenigen eigen sind, die stets von einer Kanzel herab zu sprechen glauben.
»Wohlan, Madame, so ist denn nun der Tag gekommen, der große Tag, an welchem Herr Jansoulet seine Feinde niederschmettern wird. Confundantur hostes mei, quia injuste iniquitatem fecerunt in me, weil sie mich ungerecht verfolgt haben.«
Die Alte verneigte sich andächtig vor dem Kirchenlatein, das sie soeben vernommen hatte; aber ihre Gesichtszüge zeigten bei dem Gedanken an Feinde und Verfolgungen einen Ausdruck gespannter Unruhe.
»Die Feinde sind mächtig und zahlreich, hochverehrte Frau, aber wir fürchten uns nicht über die Maßen. Lassen Sie uns Vertrauen setzen in die Ratschlüsse des Himmels und in die Gerechtigkeit unsrer Sache. Gott, der Herr, ist mit uns, und unsre Sache wird nicht zuschanden werden. In medio ejus non commovebitur.«
Ein riesenhafter Neger in einer goldgestickten Livree unterbrach diese Rede durch die Meldung, daß die Velocipede für die tägliche Uebungsfahrt auf der Terrasse der Tuilerien bereit seien. Ehe sie fortgingen, schüttelten die Kinder noch in förmlicher Weise die faltige und schwielige Hand ihrer Großmutter, die ihnen verwundert und mit gepreßtem Herzen nachsah, als plötzlich, von einem unwillkürlichen und bewunderswerten Impulse getrieben, der jüngste Knabe, der schon bei der Thür stand, sich lebhaft umwandte und, den großen Neger zur Seite stoßend, sich mit dem Kopfe voraus, wie ein kleiner Büffel, in den Schoß der alten Mutter Jansoulet warf, sie umarmte und ihr seine glatte, von Locken umrahmte Stirn zum Kusse bot, mit der lieblichen Anmut eines Kindes, das seine Liebkosungen wie eine Blume anbietet. Es mochte wohl sein, daß dieser Jüngste, der dem warmen Neste und den Knieen, die ihn geschaukelt, und der Amme, die ihn mit ihren Liedern in den Schlaf gelullt, noch am nächsten stand, den wohlthuenden Eindruck mütterlicher Fürsorge empfunden hatte, deren die Levantinerin ihn ganz entwöhnt hatte. Die alte Großmutter erbebte bei dieser instinktiven herzlichen Liebkosung auf das freudigste und sagte, indem sie den kleinen seidenweichen Kopf, der sie so sehr an einen andern erinnerte, in ihre Hände nahm: »Ach, mein Kleiner . . . mein Kleiner . . .« und dabei umarmte sie das Kind nach Herzenslust. Der Knabe aber riß sich bald los und lief, ohne ein Wort zu sprechen, davon, die Haare von heißen Thränen benetzt.
Als die alte Mutter, welcher dieser warme Gruß unsäglich wohlgethan hatte, mit Cabassu allein geblieben war, bat sie ihn um einige Aufklärungen in betreff der Worte des Geistlichen. Also ihr Sohn hatte viele Feinde.
»Ja,« sagte Cabassu, »in seiner Stellung darf das nicht wundernehmen.«
»Aber, was in aller Welt ist es denn mit diesem großen Tage, mit dieser Sitzung, von der alle Leute sprechen?«
»Je nun . . . heute soll es sich entscheiden, ob Bernard Abgeordneter sein wird oder nicht.«
»Wie? . . . Ist er es denn noch nicht? . . . Und ich, die ich das überall zu Hause erzählt und in Saint Romans schon vor einem halben Monate illuminiert habe. . . . Dann hat man mich somit zu einer Täuschung verleitet.«
Der Heilgymnastiker hatte viele Mühe, der Alten die parlamentarischen Formalitäten in betreff der Gültigerklärung einer Wahl auseinanderzusetzen. Sie hörte, indem sie das Leinenzimmer mit eiligen Schritten durchmaß, nur mit halbem Ohre zu.
»Also dort ist mein Bernard in diesem Augenblick?«
»Ja, Madame.«
»Dürfen denn auch Damen diesen Sitzungen beiwohnen? Warum ist denn seine Frau nicht dort? . . . Es handelt sich doch schließlich für ihn um eine wichtige Angelegenheit. Und an einem solchen Tage, wie heute, muß er das Bedürfnis fühlen, alle, die er liebt, um sich zu wissen. . . . Höre, mein Junge, du könntest mich dorthin geleiten. . . . Ist es weit von hier?«
»Nein, ganz nahebei. Nur wird die Sitzung schon ihren Anfang genommen haben, und dann,« fügte er mit etwas verlegener Stimme hinzu, »ist es jetzt gerade die Zeit, wo Madame Jansoulet meiner bedarf.«
»Ach so! Du unterrichtest sie in dieser Kunst, deren Professor du bist. Wie nanntest du sie doch?«
»Die Massage. . . . Das stammt noch aus dem Altertum. Aber, da klingelt es gerade. Es wird nach mir geschickt. Soll ich melden, daß Sie hier sind?«
»Nein, nein, ich möchte lieber gleich dorthin gehen.«
»Aber Sie haben ja keine Eintrittskarte.«
»Nun gut, dann werde ich sagen, daß ich die Mutter Jansoulets und daß ich gekommen bin, um das Urteil meines Sohnes zu vernehmen.«
Die arme Mutter, sie wußte nicht, wie wahr sie sprach.
»Aber, warten Sie doch einen Augenblick, Madame Françoise. Ich will Ihnen wenigstens jemand mitgeben, der Sie dorthin geleitet.«
»Ach, du weißt doch, mit dem Bedientenvolke habe ich mich nie verstanden. Ich habe ja meine Zunge, um zu sprechen. Es sind überall Leute auf den Straßen. Ich werde den Weg schon allein finden.«
Cabassu machte noch einen letzten Versuch, ohne indessen seine Gedanken völlig erraten zu lassen, und sagte: »Seien Sie auf Ihrer Hut. Seine Feinde in der Kammer werden gegen ihn donnern. Sie werden Dinge zu hören bekommen, die Ihnen peinlich sein müssen.«
O, welcher Mutterstolz, welches gläubige Vertrauen lag in ihrem Lächeln, als sie antwortete: »Weiß ich selbst denn nicht besser als die dort allesamt, was mein Kind wert ist? Gibt es wohl irgend etwas, wodurch meine Meinung über meinen Sohn irre geleitet werden könnte? Wahrhaftig, ich müßte ja von dem schwärzesten Undank beseelt sein. Sei's denn!«
Und ihre Haube fürchterlich schüttelnd, machte sie sich auf den Weg.
Aufrecht, mit erhobenem Haupte und entschlossenen Schritten ging die alte Frau davon, die Arkaden entlang, wie man es ihr bezeichnet hatte. Sie war anfangs durch das fortwährende Rollen der Wagen verwirrt, um so mehr als sie auf ihrem Gange ihre treue Begleiterin, die Spindel, vermißte, welche sie seit fünfzig Jahren nicht verlassen hatte. Der Gedanke an Feindschaften, Verfolgungen, an die geheimnisvollen Worte des Geistlichen und an das, was Cabassu ihr vorgehalten hatte, versetzten sie in Aufregung und Schrecken. Sie fand darin eine Bestätigung ihrer Vorahnungen, von denen sie erfüllt war, als sie sich ihren Gewohnheiten, ihren Pflichten, der Sorge für das Schloß und der Pflege ihres Kranken entzog, Uebrigens war es eine wunderbare Erscheinung, daß die alte Jansoulet, seit das Schicksal ihren Sohn und sie selbst mit Gold überschüttet, sich noch immer nicht daran gewöhnt hatte und stets darauf gefaßt war, diese Herrlichkeiten plötzlich verschwinden zu sehen. . . . Wer vermochte zu sagen, ob nicht der Zusammensturz jetzt gerade beginne? . . . Und plötzlich, unter diesen düsteren Ahnungen, umspielte bei der Erinnerung an die ihr soeben erwiesene kindliche Zärtlichkeit, bei dem Gedanken an den kleinen Knaben, der sein Gesicht in ihrem groben Zwillichrocke vergraben hatte, ein freundliches Lächeln ihre welken Lippen, und voll Entzücken murmelte sie in ihrer heimischen Mundart: »O, über diesen Kleinen, und doch . . .«
Und nun stand sie auf einem herrlichen weiten Platze, auf welchem zwei Springbrunnen ihre mächtigen Wasserstrahlen emporsandten, die in Silberstäubchen wieder herabfielen; dann gelangte sie an die große steinerne Brücke und am Ende derselben an ein viereckiges, vorn mit Statuen geschmücktes Gebäude. Vor dem Gitter desselben waren Wagen aufgefahren, Leute gingen ein und aus und Polizeidiener standen haufenweise in der Nähe desselben. Dorthin hatte man sie gewiesen.
Die Alte aber durchschritt getrost die Menge und gelangte bis zu einer hohen Glasthür.
»Ihre Karte, gute Frau?«
Aber die gute Frau hatte keine Karte, sondern sagte einem der Saaldiener mit den roten Aufschlägen, die den Eingang bewachten, ganz ruhig: »Ich bin die Mutter Bernard Jansoulets. . . . Ich wollte in die Sitzung meines Jungen.«
Und allerdings betraf diese Sitzung ihren Jungen, denn in der Menge, die die Thüren belagerte, die die Korridors, den Saal, die Tribünen, das ganze Gebäude erfüllte, war es immer dieser selbe Name, der unter Lächeln und unter allerlei kleinen Anekdoten geflüstert wurde. Man machte sich auf einen großen Skandal, auf furchtbare Enthüllungen des Berichterstatters gefaßt, die ohne Zweifel irgend einen gewaltthätigen Akt des in die Enge getriebenen Barbaren zur Folge haben würden, und man drängte sich herbei wie zu einer ersten Vorstellung oder zu der Verhandlung einer cause célèbre. Die alte Mutter hätte in diesem Menschengedränge sich nicht Geltung verschaffen können, wenn nicht der Goldregen, den der Nabob überall, wo er ging, hatte herabströmen lassen, und der seine Spuren kennzeichnete, ihr die Pfade geebnet hätte. Sie folgte daher in diesem Wirrsal von Korridoren, auf- und zugeschlagenen Thüren, leeren und hallenden Sälen einem dienstthuenden Saaldiener und erblickte beim Durchschreiten eines Ganges einen kleinen Mann mit gebräunter Gesichtsfarbe, der heftig herumfuchtelnd der Dienerschaft des Hauses zurief: »Sagen Sie Herrn Jansoulet, daß ich es bin, der Maire von Sarlazaccio, der seinetwegen zu fünf Monat Gefängnis verurteilt ist. Das verdiente wohl eine Eintrittskarte für die Sitzung, beim Teufel!«
Fünf Monate Gefängnis und für ihren Sohn. . . . Warum denn das? . . . Im höchsten Grade beunruhigt und mit summenden Ohren gelangte die Alte endlich auf einen Flur, wo verschiedene Überschriften: »Tribüne des Senats, des diplomatischen Corps, der Abgeordneten« über kleinen Thüren angebracht waren, ähnlich wie bei Fremdenzimmern eines Hotels oder Theaterlogen. Sie trat ein, ohne vorläufig mehr zu sehen, als vier oder fünf Reihen von Bänken, die mit Leuten dicht besetzt waren, sodann ihr gegenüber, ziemlich weit weg und jenseits eines großen hellen Raumes, andre ebenso angefüllte Tribünen, Dann lehnte sie sich in aufrechter Stellung an die Umfassungsmauer, noch ganz geblendet, betäubt und erstaunt über ihre eigne Anwesenheit in diesem Raume. Ein warmer Luftstrom, der ihr entgegenkam, ein Durcheinander von lauten Stimmen zog sie nach dem vorderen Teile der Tribüne, nach dem offnen Raume dort unten, wo sie ihren Sohn vermutete. Ach, wie gern hätte sie ihn gesehen. . . . Und indem sie sich noch dünner machte und die wie ihre Spindel spitzen, harten Ellbogen gebrauchte, drängte sie sich zwischen die Wand und die Bänke, ohne sich um das Aergernis, das sie erregte, und die verächtlichen Aeußerungen der geschmückten Damen zu kümmern, deren Spitzen und Frühlingsputz sie zerknitterte, denn die Versammlung war durchaus elegant und aus der besten Gesellschaft. Die alte Jansoulet erkannte sogar an seinem steifen Vorhemd, an seiner aristokratischen Nase den schönen Marquis, ihren Gast von St. Romans, der den Namen eines Luxusvogels so mit Recht trug; er freilich blickte sie nicht an. Nachdem sie so einige Reihen vorwärts gekommen war, wurde sie an dem Weiterdringen durch einen vor ihr sitzenden Mann gehindert, dessen enormer Rücken ein Weiterkommen unmöglich machte. Glücklicherweise konnte sie aber von hier aus, wenn sie sich etwas vornüber beugte, den ganzen Saal übersehen. Und die Stufen im Halbkreise, auf denen sich die Abgeordneten drängten, der grüne Anstrich der Wände, der erhöhte Sitz im Hintergrunde, welcher von einem kahlköpfigen Manne mit strenger Amtsmiene eingenommen war, machten auf sie, unter dem von oben einfallenden nüchternen und kalten Lichte, den Eindruck einer Klasse, in welcher der Unterricht beginnen soll, und dem das Geplauder und das Hin- und Herlaufen der Schüler, ehe sie ihren Platz einnehmen, vorangeht.
Ein Umstand war ihr auffällig: daß nämlich die Blicke sämtlich unverwandt nach der einen Seite gerichtet waren und denselben Anziehungspunkt suchten; und als sie nun diesem Strome der Neugier folgte, der die gesamte Versammlung, ebensowohl im Saale wie auf den Tribünen beherrschte, sah sie, was alle so unausgesetzt anblickten: es war ihr Sohn!
In der Heimat der Jansoulets findet man noch in einigen Kirchen im Hintergrunde des Chores zur Hälfte in die Krypta eingelassen einen kleinen steinernen Verschlag, wo es den Aussätzigen gestattet ist, der Messe beizuwohnen und in welchem die neugierige und furchtsame Menge die dunklen Umrisse der Unglücklichen sehen kann, die wie wilde Tiere an den in der Mauer angebrachten Oeffnungen kauern. Die alte Françoise erinnerte sich sehr gut, in ihrem Heimatsdorfe einen solchen Aussätzigen, den Schrecken ihrer Kindheit, gesehen zu haben, wie er von dem Hintergrunde seines Steinkäfigs aus, in Dunkelheit und Abscheu vergraben, der Messe beiwohnte. . . . Als sie ihren Sohn allein, fern von den andern, den Kopf in den Händen, dasitzen sah, kam ihr diese Erinnerung wieder in den Sinn. Man könnte ihn für den Aussätzigen halten, dachte die alte Bäuerin. Und in der That erschien dieser arme Nabob, auf dem seine vom Orient mitgebrachten Millionen in diesem Augenblicke gleich einer schrecklichen und fremdartigen Krankheit lasteten, wie ein solcher Aussätziger.
Zufälligerweise war die Bank, auf welcher Jansoulet seinen Platz gewählt hatte, infolge von Beurlaubungen oder kürzlich eingetretenen Todesfällen durch mehrfache Lücken gelichtet, und während die andern Abgeordneten miteinander sprachen, sich zulächelten und sich Zeichen machten, blieb er allein und schweigsam der Beobachtung der ganzen Kammer preisgegeben, einer, wie die Mutter Jansoulets leicht bemerkte und bitter empfand, übelwollenden und ironischen Aufmerksamkeit. Wie sollte sie ihn wissen lassen, daß sie da, daß sie ihm nahe sei, daß ein treues Herz nicht fern von dem seinigen schlage? Der Nabob vermied es, seinen Blick nach dieser Tribüne zu richten, man hätte glauben mögen, daß sie ihm feindlich gesinnt sei, daß er befürchte, dort Unerfreuliches wahrzunehmen. . . .
Plötzlich fuhr bei dem Klange einer Glocke, der von der Präsidententribüne ertönte, die ganze Versammlung zusammen, alle Köpfe beugten sich mit dem starren Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit vor. Ein hagerer Mann mit einer Brille stand plötzlich aufrecht unter all den sitzenden Personen, was allein ihm schon eine gewisse Autorität verlieh, und sagte, indem er ein Aktenbündel, das er in seiner Hand hielt, öffnete: »Meine Herren, im Namen Ihrer dritten Kommission habe ich bei Ihnen den Antrag zu stellen, die Wahl im zweiten Wahlkreise des Departements der Insel Korsika für ungültig zu erklären.«
In dem allgemeinen Stillschweigen, das diesen Worten folgte, welche die Mutter Jansoulet nicht verstanden hatte, begann der dicke Mann vor ihr sich heftig zu räuspern, und plötzlich kehrte sich in der ersten Reihe der Tribüne ein reizendes Frauengesicht zu ihm um und wechselte ein schnelles Zeichen des Einverständnisses und der Befriedigung mit ihm. Die bleiche Stirn, die schmalen Lippen, die zu schwarzen Augenbrauen in der hellen Umrahmung des Hutes machten auf die gute Alte, ohne daß sie wußte warum, den peinlichen Eindruck des ersten Blitzes beim Ausbruche eines Gewitters, nach welchem man ängstlich den Donner erwartet.
Le Merquier las seinen Bericht vor. Die langsame, näselnde, eintönige Stimme, der schleifende und weiche Lyoneser Accent bildeten einen eigentümlichen Gegensatz zu der vernichtenden Klarheit seines Referates, das er, der hagere Advokat, mit einer wiegenden Bewegung des Kopfes und der Schultern vortrug, die fast etwas Tierisches hatte. Voran ging eine kurze Uebersicht der Wahlunregelmäßigkeiten. Niemals sei das allgemeine Stimmrecht so barbarisch und rücksichtslos mit Füßen getreten worden. In Sarlazaccio, wo der Gegner Jansoulets ihn zu überflügeln gedroht habe, sei die Urne in der der Eröffnung vorangehenden Nacht zertrümmert worden. Dasselbe habe sich in Lévie, in Saint André, in Avabessa ereignet. Und die Maires selbst seien es gewesen, welche diese Schändlichkeit begangen haben; dieselben haben die Urnen in ihre Wohnungen mitgenommen, die Siegel erbrochen und unter dem Schutze ihrer Amtsgewalt die Stimmzettel zerrissen. Nirgends Achtung vor dem Gesetz, überall Betrug, Intrigue und selbst Gewaltthätigkeit. In Calcatoggio hat sich ein bewaffneter Mensch während der ganzen Wahlzeit am Fenster eines der Mairie gegenüberliegenden Wirtshauses mit der Flinte in der Hand aufgestellt, und so oft ein Parteigänger von Sélachini, dem Gegenkandidaten Jansoulets, auf dem Platze erschien, hat dieser Mensch das Gewehr angelegt und gedroht: »Wenn du hineingehst, schieße ich dich nieder!« Wenn man übrigens sehe, wie Polizeikommissare, Friedensrichter, beeidigte Messer und Wäger keinen Anstand genommen hätten, sich zu Wahlagenten herzugeben und die von den kleinen lokalen, oft so mächtigen Einflüssen abhängige Bevölkerung zu terrorisieren und mit sich fortzureißen, sei das nicht schon eine hinlängliche Probe einer unerhörten Zügellosigkeit? Ja, selbst Priester und ehrwürdige Pfarrer haben sich durch ihren Eifer für die Armenbüchse und für die Unterstützung ihrer notleidenden Kirche hinreißen lassen, förmliche Missionspredigten zu gunsten der Wahl Jansoulets zu halten. Aber ein noch mächtigerer, wenn auch nicht minder ehrwürdiger Einfluß sei für die gute Sache geltend gemacht worden, der Einfluß der Banditen. Ja, meine Herren, der Banditen, ich scherze nicht. Und nun verbreitete sich der Redner in großen Zügen über den korsischen Brigantaggio im allgemeinen und die Familie Piedigriggio insbesondre. . . .
Die Kammer hörte mit einer gewissen Besorgnis aufmerksam zu. Im Grunde war es doch ein offizieller Kandidat, dessen Handlungsweise so gebrandmarkt wurde, und dann waren diese eigentümlichen Wahlmanöver in jenem privilegierten Lande, der Wiege der kaiserlichen Familie, heimisch, einem Lande, das so eng mit den Geschicken der Dynastie verknüpft war, daß ein Angriff auf Korsika nichts weniger als einen Angriff auf den Souverän zu bedeuten schien. Aber als man sah, daß an dem Regierungstische der neue Staatsminister, der Nachfolger und Feind Moras, höchst erfreut über diese Niederlage zu sein schien, die einer Kreatur des Verstorbenen widerfuhr, als man ein wohlwollendes, freundliches Lächeln bei dem grausamen Spott Le Merquiers wahrzunehmen glaubte, da verschwand sofort alles Unbehagen, und das Lächeln von der Ministerbank, das sich auf dreihundert Gesichtern widerspiegelte, steigerte sich alsbald zu einem kaum verhaltenen Lachen, zu dem Lachen einer Menge, die unter der Herrschaft einer beliebigen Zuchtrute steht, und das auf den geringsten Wink des Meisters losbricht. Auf den Tribünen, die für gewöhnlich nicht mit so abenteuerlichen Schilderungen belustigt werden, und die diese Räubergeschichten wie ein wirklicher Roman amüsierten, herrschte allgemeine Freude; ein strahlendes Entzücken sprach aus den Gesichtern der Damen, die glücklich waren, hübsch erscheinen zu dürfen, ohne gegen die feierliche Würde des Ortes zu verstoßen. Man sah den Blumenschmuck heller Hütchen in zitternder Bewegung und rundliche Arme mit goldenen Spangen sich auf die Brüstung stützen, um besser zu hören.
Der ernste Le Merquier hatte die Sitzung durch dies Spektakelstück erheitert, wie man bei Wohlthätigkeitskonzerten ein komisches Lied einzustreuen sich erlaubt, um auch den Barbaren in der Musik eine kleine Freude zu machen.
Kaltblütig und ohne sich durch seinen Erfolg beirren zu lassen, fuhr er mit seiner Grabesstimme, die durchdringend war wie ein Lyoneser Regen, in seinem Berichte fort: »Nun, meine Herren, liegt natürlich die Frage nahe, wie es kommt, daß ein Fremder, ein Provençale, der aus dem Orient heimkehrt, der die Interessen und die Bedürfnisse dieser Insel nicht kennt, auf der man ihn vor der Wahl nie gesehen hat, ein Mann, welcher der wahre Typus dessen ist, was die Korsikaner in verächtlicher Weise einen Kontinentalen nennen, wie ein solcher Mann einen so großen Enthusiasmus, eine bis zum Verbrechen, ja selbst bis zur Schändung der heiligsten Güter gesteigerte Opferfreudigkeit hat erregen können. Wir haben dafür seinen Reichtum verantwortlich zu machen, sein elendes Gold, das er den Wählern vor die Füße geworfen, ja selbst mit Gewalt in die Taschen praktiziert hat, und zwar mit einem schamlosen Cynismus, von dem wir tausend Beispiele haben.« Und nun folgte eine unabsehbare Reihe von Denunziationen: »Ich, der Endesunterzeichnete, Croce (Anton) bescheinige, um der Wahrheit die Ehre zu geben, daß der Polizeikommissär in Nardi eines Abends zu uns gekommen ist und mir gesagt hat: ›Höre, Croce (Anton) – ich schwöre dir bei dem Lichte dieser Lampe, daß du morgen fünfzig Franken erhältst, wenn du für Jansoulet stimmst.‹« . . . Und ein andrer: »Ich Unterzeichneter Lavezzie (Jakob Alphonse) erkläre hierdurch, daß ich mit Verachtung siebzehn Franken zurückgewiesen habe, die mir der Maire von Pozzo-Negro anbot, falls ich gegen meinen Vetter Sebastian stimmen würde.«
Es ist anzunehmen, daß für drei Franken mehr Lavezzi (Jakob Alphonse) seinen Abscheu schweigend hinuntergewürgt haben würde. Aber die Kammer kümmerte sich um solche kleinliche Tüfteleien nicht. Die hohe Versammlung, diese unbestechliche Kammer, war von Entrüstung erfüllt. Sie murrte, sie bewegte sich unruhig auf den rotsamtnen weichen Kissen hin und her, sie stieß Ausrufe aus, man hörte Ohos der Entrüstung, man sah entsetzte Blicke, staunend hochgezogene Augenbrauen, heftiges Auffahren oder entmutigtes Zusammensinken, wie der Anblick menschlicher Entwürdigung es häufig zur Folge hat. Und dabei bemerke man wohl, daß die meisten der Abgeordneten sich derselben Wahlmanöver bedient hatten, daß sich unter ihnen Leute befanden, welche jene berüchtigten Schmausereien unter freiem Himmel veranstaltet hatten, bei denen wie bei einer Kirmes mit Fahnen und Bändern geschmückte Kälber im Triumphe herumgeführt wurden. Und gerade diese waren es, welche lauter schrieen, als die andern, die sich voller Wut nach der einsamen Bank wendeten, auf welcher der arme Aussätzige unbeweglich, den Kopf in beide Hände gestützt, zuhörte. Dennoch ließ sich inmitten des allgemeinen Getümmels eine Stimme zu seinen Gunsten vernehmen, aber es war eine dünne, ungeübte Stimme, es waren nicht sowohl Worte als ein teilnahmsvolles Stammeln, aus welchem man undeutlich heraushörte: »Große Dienste, die der korsischen Bevölkerung geleistet worden sind. . . . Bedeutende Unternehmungen. . . . Territorialkasse. . .«
Derjenige, der diese Worte stammelte, war ein ganz kleiner Mensch mit weißen Gamaschen, mit einem Albinokopf, auf welchem wenige Haare in einzelnen Büscheln sich emporsträubten. Aber die Unterbrechung dieses ungeschickten Freundes war nur dazu angethan, Herrn Le Merquier einen raschen und natürlichen Uebergang an die Hand zu geben. Ein widerwärtiges Lächeln verzerrte seinen schlaffen Mund. »Der ehrenwerte Herr Sarigue spricht uns von der Territorialkasse, wir werden ihm darauf Rede stehen.« Die Paganettische Höhle schien Herrn Le Merquier in der That sehr genau bekannt zu sein. In einigen scharfen und lebendigen Umrissen ließ er auf diesen Abgrund ein helles Licht fallen, zeigte alle Fallstricke, alle Untiefen und Fußangeln, wie es wohl ein Führer zu thun pflegt, der mit seiner Fackel in die Schrecknisse eines früheren geheimen Gefängnisses hineinleuchtet. Er sprach dann von den sogenannten Marmorbrüchen, von den auf dem Papiere stehenden Eisenbahnen, von den chimärischen Dampfschiffen, die in ihrem eignen Rauche aufgegangen waren.
Der abscheuliche wüste Fleck in Taverna wurde so wenig übergangen, wie das alte genuesische Turmgemäuer, das der Dampfschifffahrtslinie als Bureau diente. Was aber die Kammer am meisten erheiterte, war die Erzählung von einer Feierlichkeit, die von dem Direktor aus Anlaß des ersten Spatenstiches zu einem Tunnel durch den Monte Rotondo veranstaltet worden war, einer Riesenarbeit, die stets Projekt geblieben und von Jahr zu Jahr vertagt worden war, die Millionen an Geld und Tausende von Händen beanspruchte und die mit großem Pompe acht Tage vor der Wahl in Angriff genommen worden war. Der Bericht schilderte die Sache in einer äußerst komischen Weise, wie der erste Spatenstich von dem Wahlkandidaten in den mit hundertjährigen Wäldern bedeckten Berg gethan worden, sodann die Einweihungsrede des Präfekten, die feierliche Einsegnung unter Entfaltung der Reichspaniere und unter Hochrufen auf Bernard Jansoulet, wie sich dann zweihundert Arbeiter sofort ans Werk gemacht und während einer Woche Tag und Nacht gearbeitet hatten, um, sobald die Wahl stattgefunden, die Trümmer des gesprengten Felsens rings um die wie zum Hohne ausgebrochene Höhlung liegen zu lassen, die auf diese Weise eine Zufluchtsstätte mehr für die Strolche der Umgegend bildete. . . . Der Streich war gelungen. Nachdem die Territorialkasse so lange Zeit den Aktionären das Geld abgeschwindelt hatte, wurde sie dieses Mal dazu gebraucht, um die Stimmen der Wähler zu fälschen.
»Nun, meine Herren, nur noch ein letztes Detail, mit dem ich füglich hätte beginnen können, um Ihnen die schmachvolle Beschreibung dieser Wahlposse zu ersparen. Ich habe vernommen, daß gerade eine gerichtliche Untersuchung gegen das korsikanische Unternehmen eingeleitet ist, und daß eine gründliche, sachverständige Prüfung der Bücher dieser Gesellschaft sehr wahrscheinlicherweise einen jener finanziellen Skandale zu Tage fördern wird, wie sie leider in unsrer Zeit nur zu häufig vorkommen, in den ein Mitglied der Kammer verwickelt zu sehen Sie aber im Interesse der Respektabilität dieses hohen Hauses nicht wünschen werden.«
Nach dieser unerwarteten Enthüllung hielt der Berichterstatter einen Augenblick inne, machte eine Kunstpause, wie ein routinierter Schauspieler, und in dem feierlichen Schweigen, das plötzlich sich der Versammlung bemächtigt hatte, hörte man eine Thür gehen. Es war der Gouverneur Paganetti, der bleichen Antlitzes, mit runden Augen und gespitztem Munde, wie Pierrot, wenn er einen derben Pritschenschlag gewärtigt, rasch die Tribüne verließ. Monpavon, der unbeweglich sitzen blieb, dehnte nur seinen Brustlatz, und der Dicke schnaubte heftig hinter den Blumen des weißen Hütchens seiner Frau.
Die Mutter Jansoulet blickte auf ihren Sohn.
»Ich habe von der Achtung gesprochen, die man der Kammer schuldet, meine Herren, lassen Sie mich dieses Thema weiter beleuchten. . .«
Jetzt las Le Merquier nicht mehr ab. Nach dem Berichterstatter kam nun der Redner oder vielmehr der strenge Richter an die Reihe. Die Gesichtszüge schienen erstorben, der Blick war verschleiert, nichts lebte und bewegte sich an seinem langen Körper, als sein rechter Arm, dieser lange, knochige Arm, der in zu kurzen Aermeln steckte und wie ein Richtschwert automatenartig niederfiel, indem er am Ende jeden Satzes die grausame und unerbittliche Bewegung des Köpfens nachahmte. Und in der That war es auch eine förmliche Hinrichtung, der man beiwohnte. Der Redner führte aus, er wolle gern die schlimmen Gerüchte über den dunklen Ursprung dieses kolossalen, in fremden Ländern, fern von jeder Kontrolle erworbenen Vermögens auf sich beruhen lassen; aber in dem Leben des Kandidaten seien gewisse zweifelhafte Punkte der Aufklärung bedürftig. . . . Er zauderte, schien seine Worte zu wägen, da es ihm aber nicht möglich war, eine direkte Anschuldigung zu erheben, sagte er: »Ich will unsre Verhandlung nicht herabwürdigen. . . . Sie wissen, was ich meine, und namentlich auch, auf welche schmachvollen Gerüchte – ich wollte, ich könnte sagen, Verleumdungen – ich anspiele; aber die Wahrheit zwingt mich, die Erklärung abzugeben, daß, als Herr Jansoulet vor Ihre dritte Kommission beschieden, als ihm Gelegenheit gegeben war, die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen niederzuschmettern, seine Aufklärungen so unbestimmt ausgefallen sind, daß, so sehr wir auch von seiner Unschuld überzeugt geblieben sind, unsre ängstliche Fürsorge für Ihre Ehre uns genötigt hat, eine Kandidatur zurückzuweisen, die mit einem solchen Verdachte behaftet war. Nein, dieser Mann darf nicht in Ihrer Mitte seinen Sitz einnehmen. Was hätte er übrigens auch auf diesem Platze zu thun?. . . Seit langer Zeit im Orient heimisch, hat er die Gesetze, die Sitten, die Gebräuche seiner Heimat verachten gelernt. Er bekennt sich zum Faustrecht, zu Züchtigungen auf offner Straße, er stützt sich auf die rohe Gewalt und, was noch weit schlimmer ist, er glaubt an die Käuflichkeit, an die Niedrigkeit und Verderbtheit der ganzen menschlichen Rasse. Er ist ein Handelsmann, der sich einbildet, alles kaufen zu können, wenn man nur den rechten Preis bietet; die Stimmen der Wähler, ja, selbst das Gewissen seiner Kollegen. . .«
Es war sehenswert, mit welch naiver Bewunderung die guten dicken, behäbigen Deputierten diesem Asketen zuhörten, diesem Manne aus einem andern Zeitalter, der wie ein heiliger Hieronymus in die gesetzgebende Versammlung des zweiten Kaiserreiches trat, um mit seiner von Entrüstung durchglühten Beredsamkeit den frechen Luxus pflichtvergessener Blutsauger niederzudonnern. Wie gut begriff man jetzt seinen Beinamen »Mein Gewissen«! Auf den Tribünen wuchs die Begeisterung mehr und mehr. Holde Frauenköpfe beugten sich vor, um seiner ansichtig zu werden, um jedes Wort von seinen Lippen zu trinken. Ein Beifallsgeflüster durchlief die Reihen, und die vielfarbigen Blumen neigten sich wie ein im Winde wogendes Kornfeld. Eine Frauenstimme rief sogar ganz laut mit etwas ausländischem Accent: »Bravo. . . bravo. . .«
Und die Mutter?
Aufrecht und unbeweglich saß sie da, gespannt, etwas von dieser Tribünenberedsamkeit, von diesen geheimnisvollen Anspielungen zu verstehen; sie war in der Lage der Taubstummen, die nur aus der Bewegung der Lippen, aus dem Gesichtsausdruck erraten, was vor ihnen gesprochen wird. Freilich brauchte sie nur ihren Sohn und Le Merquier anzusehen, um zu wissen, wie übel dieser jenem mitspielte, welche perfiden und gehässigen Anschuldigungen aus dieser langen Rede auf den Unglücklichen herabhagelten, den man für eingeschlafen hätte halten können, hätte man nicht gesehen, wie seine breiten Schultern erbebten und wie er mit den vor das Gesicht gepreßten Händen sein Haar zerwühlte. Ach, hätte sie von ihrem Platze aus ihm zurufen können: »Sei ohne Furcht, mein Sohn. Wenn sie auch alle dich verachten, deine Mutter liebt dich. Komm nur zu mir. . . . Was brauchen wir diese Menschen. . . ?« Und einen Augenblick hätte sie wirklich glauben können, daß das, was sie im Grunde ihres Herzens ihm zurief, durch ein wunderbares Fluidum bis zu ihm gedrungen sei. Er erhob sich und schüttelte seinen kraushaarigen Kopf, sein Gesicht war dunkelrot und seine kindliche dicke Unterlippe zitterte von verhaltenem Weinen. Aber, statt seinen Platz zu verlassen, klammerte er sich im Gegenteil daran fest, indem seine dicken Finger sich in das Holz seines Pultes krallten. Der andre hatte geendigt, und nun war an ihm die Reihe zu antworten.
»Hohes Haus,« sagte er. . . .
Aber alsbald hielt er inne, durch den heiseren, dumpfen und ordinären Klang seiner Stimme, die er selbst zum erstenmal öffentlich hörte, in Schrecken gesetzt. Während dieser Pause rang er, mit zuckendem Gesicht vergeblich nach Worten suchend, von neuem um Kraft zu seiner Verteidigung. Und war die Angst des armen Mannes schon ergreifend, so spiegelte die Mutter dort oben, wie sie sich atemlos vorbeugte und in nervöser Erregung die Lippen bewegte, um ihm die Worte suchen zu helfen, den Ausdruck seiner eignen Qual nur allzu deutlich wider. Obgleich er sie nicht sehen konnte, weil er dieser Tribüne, die er absichtlich vermied, den Rücken gedreht hatte, so gaben doch schließlich der mütterliche Atem, der feurige Magnetismus ihrer schwarzen Augen ihm das Leben zurück, und plötzlich waren seine Zunge und seine Glieder aus der Erstarrung gelöst,
»Vor allem erkläre ich, daß ich nicht beabsichtige, meine Wahl zu verteidigen. . . . Wenn Sie glauben, daß die Wahlgebräuche in Korsika nicht stets dieselben gewesen sind, wenn Sie dafürhalten, daß alle die begangenen Unregelmäßigkeiten dem bestechlichen Einflusse meines Goldes und nicht dem ungesitteten und leidenschaftlichen Temperamente der Bevölkerung zuzuschreiben sind, nun wohl, dann kassieren Sie meine Wahl, dann wird Gerechtigkeit geübt sein und ich werde nicht murren. Aber es handelt sich hier um etwas ganz andres als meine Wahl, hier liegen Anschuldigungen vor, die meine Ehre angreifen, ja, sie geradezu aufs Spiel setzen, und hierauf allein werde ich antworten,«
Seine Stimme, obwohl noch immer etwas gebrochen und verschleiert, wurde allmählich fester und ließ den rührenden Ton vernehmen, wie er solchen Organen zur Verfügung steht, deren ursprüngliche Sprödigkeit sich mit der Zeit verloren hat. Rasch erzählte er sein Leben, seit dem Beginn seiner Laufbahn, seiner Abreise nach dem Orient. Man hätte dabei an eine dieser alten Erzählungen aus dem achtzehnten Jahrhundert denken können, in denen von Korsaren die Rede ist, die die Meere durchkreuzen, von Beys und verwegenen gebräunten Provençalen, die schließlich immer dazu gelangen, eine Sultanin zu heiraten und »den Turban zu nehmen«, wie der alte Marseiller Ausdruck lautet.
»Ich,« sagte der Nabob mit seinem Kinderlächeln, »ich habe, um reich zu werden, nicht nötig gehabt, den Turban zu nehmen, ich habe mich begnügt, in diese Länder der Trägheit und der Gleichgültigkeit den Thätigkeitstrieb und die Gewandtheit eines Südfranzosen mitzubringen, und ich bin in einigen Jahren dahin gelangt, eins jener Vermögen aufzuhäufen, wie man sie nur in diesen heißen Ländern erwirbt, wo alles gigantisch, unverhältnismäßig ist und rasch der Blüte entgegenreift, wo Blumen in einer Nacht erblühen und aus einem Baume ein ganzer Wald wird. Die Entschuldigung für solche Reichtümer liegt in der Art ihrer Anwendung und ich glaube behaupten zu dürfen, daß niemals ein Günstling des Glückes im höheren Grade bemüht gewesen ist, Verzeihung für seinen Reichtum zu erlangen. Nur ist mir dies nicht geglückt.« Nein, allerdings, das war ihm nicht geglückt. . . . Für so viel unsinnig hinausgeworfenes Geld hatte er nur Verachtung oder Haß geerntet. . . . Haß! Wer durfte sich rühmen, mehr Haß aufgewühlt zu haben, als er, den man mit einem Baggerschiff vergleichen könnte, dessen Körbe den morastigen Boden aufrühren. . . . Er war zu reich und das genügte, um ihm alle Laster, alle Verbrechen anzudichten, um ihn zum Zielpunkte anonymer Drohbriefe, grausamer und unermüdlicher Feindschaft zu machen.
»Ach,« rief der arme Nabob, indem er die Hände rang, »ich habe das Elend kennen gelernt, ich habe Leib an Leib mit ihm gerungen, und wahrlich, es ist ein harter Kampf, ich schwöre es Ihnen. Aber gegen den Reichtum zu kämpfen, sein Glück, seine Ehre, seine Ruhe hinter Goldhaufen zu verteidigen, die über einen zusammenstürzen, einen unter sich begraben, das, meine Herren, ist noch schrecklicher und widerwärtiger. Niemals, selbst nicht in den trübsten Tagen meiner Armut, habe ich den Kummer, die Sorgen und die schlaflosen Nächte gehabt, durch die der Reichtum mich gemartert hat, dieser furchtbare Reichtum, den ich hasse und der mich ums Leben bringt. Man nennt mich in Paris den Nabob. . . . Man sollte mich nicht Nabob nennen, sondern Paria, einen Paria der Gesellschaft, der seine Arme weit, weit ausstreckt nach einer Gesellschaft, die nichts von ihm wissen will. . . .«
So, trocken wiedergegeben, mögen diese Worte kalt erscheinen, aber dort, vor dieser Versammlung trug die Verteidigung dieses Mannes den Stempel einer beredten und ergreifenden Wahrheit, einer Aufrichtigkeit, die, aus dem Munde dieses bäuerischen Gesellen, dieses Emporkömmlings ohne Schliff und Bildung, mit seiner Matrosenstimme und den Manieren eines Packträgers, anfangs in Erstaunen setzte, dann aber gerade durch das, was in diesen Worten Ungeschliffenes, Wildes und allem parlamentarischen Herkommen Widersprechendes lag, die Zuhörer in seltsamer Weise rührte. Schon waren auf den Bänken, die sonst nur den eintönigen und langweiligen Platzregen ministerieller Ergüsse zu vernehmen gewohnt waren, einzelne Beifallsbezeigungen laut geworden. – Aber bei diesem Aufschrei der Wut und Verzweiflung, die der Unglückliche gegen den Reichtum schleuderte, der ihn in dem Strome seines Geldes fortriß und zu ertränken drohte, mit dem er hilferufend rang, erhob sich die Kammer unter lauten Beifallsbezeigungen, Hände wurden ausgestreckt, wie um dem unglücklichen Nabob die Beweise von Hochachtung darzubringen, nach denen ihn so dringend verlangte, und um ihn gleichzeitig aus seinem Schiffbruche zu erretten.
Jansoulet wurde dieser Stimmung alsbald inne, und durch diese Zeichen von Teilnahme ermuntert, nahm er erhobenen Hauptes und festen Blickes von neuem das Wort: »Man hat Ihnen gesagt, meine Herren, daß ich nicht würdig sei, in Ihrer Mitte meinen Platz einzunehmen. Und derjenige, der dies ausgesprochen hat, war in der That der letzte, von dem ich auf diese Aeußerung gefaßt sein durfte, denn er allem kennt das schmerzliche Geheimnis meines Lebens; er allein konnte für mich eintreten, mich rechtfertigen, Sie überzeugen. Er hat es nicht thun wollen. Nun wohl! Ich, ich werde es versuchen, so viel Ueberwindung es mich auch kostet. Auf das schmählichste vor dem ganzen Lande angeschwärzt, bin ich diese öffentliche Rechtfertigung mir selbst, bin sie meinen Kindern schuldig und ich bin entschlossen, sie zu unternehmen.«
Infolge einer lebhaften Bewegung wendete der Nabob zufällig seinen Blick nach der Tribüne, wo er sich von seinen Feinden beobachtet wußte, und plötzlich hielt er entsetzt inne. Eben dort, gerade ihm gegenüber, hinter dem kleinen, boshaften, blassen Gesichte der Baronin war seine Mutter, seine Mutter, die er zweihundert Meilen von diesem furchtbaren Schauspiel entfernt wähnte, sie sah, an die Wand gelehnt, ihn an, wendete ihm ihr in Thränen schwimmendes, aber nichtsdestoweniger strahlendes Gesicht zu. Denn es war in der That ein wahrer und wirklicher Erfolg und es bedurfte nur weniger Worte, um ihn in einen Triumph umzuwandeln.
»Sprechen Sie . . . sprechen Sie . . .« rief man ihm von allen Seiten zu, um ihn zu beruhigen und aufzumuntern.
Aber Jansoulet sprach nicht. Und er hätte doch nur wenig zu seiner Verteidigung zu sagen nötig gehabt: »Die Verleumdung hat absichtlich zwei Namen miteinander verwechselt. Ich heiße Bernard Jansoulet. Der andre nannte sich Louis Jansoulet.« Mehr wäre nicht nötig gewesen.
Aber auch dies war zu viel in Gegenwart seiner Mutter, die die Entehrung des ältesten Sohnes nicht kannte. Es war zu viel für den Respekt und die Solidarität der Familie.
Er meinte, die Stimme seines alten Vaters zu vernehmen: »Ich sterbe vor Scham, mein Sohn.« Würde sie, die Mutter, nicht auch sterben, wenn er spräche? . . . Er erwiderte das mütterliche Lächeln mit einem hehren Blick der Entsagung und sagte dann mit dumpfer Stimme und mit einem Ausdrucke der Verzweiflung: »Verzeihen Sie, meine Herren, diese Aufklärung geht wahrlich über meine Kräfte. . . . Befehlen Sie eine Untersuchung über meinen ganzen Lebenslauf, der für alle offen zu Tage liegt, damit ein jeder sich selbst über meine Handlungsweise vergewissern kann. . . . Und ich schwöre Ihnen, daß Sie nichts finden werden, was mich verhindern könnte, inmitten der Vertreter dieses Landes meinen Platz einzunehmen.«
Das Erstaunen und die Enttäuschung über diese Niederlage, die allen als der plötzliche Zusammenbruch einer in die Enge getriebenen Frechheit erschien, waren ungeheuer. Dann entstand auf den Bänken einen Augenblick eine Bewegung, das Geräusch einer Abstimmung durch Aufstehen und Sitzenbleiben, ein Vorgang, den der Nabob bei dem Zwielicht, das durch das Glasdach fiel, nur undeutlich wahrnahm, wie etwa der Verurteilte oben vom Schaffot die unruhige Menschenmenge erblickt. Dann verkündete nach einer Pause, die in der Erwartung der wichtigen Minute wie ein Jahrhundert erschien, der Präsident unter allgemeinem Schweigen und als ob es sich um die gleichgültigste Sache der Welt handle: »Die Wahl des Herrn Bernard Jansoulet ist ungültig,«
Niemals wurde über das Leben eines Menschen mit weniger Feierlichkeit und Geräusch der Stab gebrochen.
Die Mutter Jansoulet, hoch oben auf ihrer Tribüne, verstand von allen diesen Vorgängen nichts, sie sah nur, daß die Bänke sich allmählich leerten, daß die Leute sich erhoben und fortgingen. Bald blieben neben ihr nur der dicke Mann und die Dame im weißen Hute, die sich über die Brüstung beugten und nach der Seite, wo Jansoulet saß, hinstarrten, der gleichfalls aufzubrechen schien, denn er packte mit gefaßter Miene dicke Aktenbündel in eine große Mappe. Nachdem er seine Papiere geordnet, erhob er sich und verließ seinen Platz. Ach! Das Leben in der Oeffentlichkeit legt oft recht grausame Prüfungen auf. Langsam und schwerfällig, inmitten der auf ihn von der ganzen Versammlung gerichteten Blicke mußte er nunmehr diese Stufen herabsteigen, die er mit Aufwendung von so vieler Mühe und so vielem Gelde erklommen hatte und von denen ihn nun ein unerbittliches Geschick hinabstürzte. Das war es, worauf die Hemerlingues warteten, die mit ihren Blicken bis zur letzten Staffel diesen herzzerreißenden und entwürdigenden Ausgang verfolgten, welcher dem Abgeordneten, dessen Wahl für ungültig erklärt worden, immerhin ein wenig von der Schmach und dem Aufsehen einer Ausstoßung anhängt. Sobald dann der Nabob verschwunden war, sahen sie sich mit einem verständnisvollen Lächeln an und verließen die Tribüne, ohne daß die alte Frau, die durch ein unbewußtes Gefühl vor der stummen Feindseligkeit dieser beiden Geschöpfe gewarnt sein mochte, gewagt hätte, sie um Aufklärung zu bitten. Allein geblieben, widmete sie alle ihre Aufmerksamkeit einer neuen Verhandlung, in die man nun eingetreten war, völlig überzeugt, daß es sich noch immer um ihren Sohn handle. Man sprach von Wahlen, von Abstimmungen, und die arme Mutter würde mit gespannter Aufmerksamkeit bis zum letzten Augenblicke dem Berichte über die Wahl des Herrn Sarigue zugehört haben, wenn der dienstthuende Saaldiener, der sie eingelassen hatte, ihr nicht mitgeteilt hätte, daß die Angelegenheit nun beendigt sei und daß sie gut daran thun würde, sich nun zu entfernen. Sie schien sehr erstaunt zu sein.
»Wirklich . . . ist es zu Ende? . . .« sagte die alte Frau, indem sie sich, wie es schien, mit Bedauern erhob, und dann fragte sie ganz schüchtern: »Hat er . . . hat er gesiegt?«
Diese Frage war so naiv, so rührend, daß selbst die Saaldiener keine Neigung verspürten, darüber zu lachen.
»Leider nein, Madame. Herr Jansoulet hat nicht gesiegt. Warum hat er auch, als er im besten Zuge war, innegehalten? Wenn es wahr ist, daß er niemals vorher nach Paris gekommen ist und daß ein andrer Jansoulet das gethan hat, dessen man ihn beschuldigt, warum hat er es nicht ausgesprochen?«
Die alte Mutter war sehr bleich geworden und stützte sich auf das Treppengeländer. Sie hatte alles verstanden.
Die plötzliche Pause Bernards, als er sie gesehen, das Opfer, das er ihr in seinem Blicke dargebracht hatte, als er sie ansah wie ein Tier, das man zur Schlachtbank führt, das alles kam ihr wieder in den Sinn. Gleichzeitig gedachte sie der Schande, die der älteste Sohn, der Liebling, über sie gebracht, und des Unglückes ihres jüngsten Sohnes, ein zweischneidiger Schmerz, der ihr Mutterherz durchbohrte, nach welcher Seite sie sich auch wendete. Ja, ja, ihretwegen hatte er nicht sprechen wollen. Aber ein solches Opfer würde sie nie annehmen. Er mußte sofort zurückkehren und den Abgeordneten die nötige Aufklärung geben.
»Mein Sohn? Wo ist mein Sohn?«
»Unten, in seinem Wagen. Er hat mich gerade geschickt, Sie zu holen.«
Sie stürzte dem Saaldiener voraus, ging raschen Schrittes, indem sie laut sprach und auf ihrem Wege gegen kleine, schwarze und bärtige Männer anstieß, die in den Korridoren gestikulierten. Nachdem sie das Vorzimmer durchschritten, kam sie in einen großen runden Saal, wo ehrerbietig herumstehende Lakaien eine lebende, von Gold strotzende Wanddekoration bildeten. Von dort aus sah man durch die Glasthüren das Umfassungsgitter, eine Menschenmenge und unter andern Wagen auch die wartende Karosse des Nabob. Die Bäuerin erkannte beim Durchschreiten der Menge ihren korpulenten Nachbar auf der Tribüne in Gesellschaft des erdfahlen Mannes mit der Brille, der gegen ihren Sohn gedonnert hatte und nun von allen Seiten Glückwünsche und Händedrücke für seine Rede empfing. Bei dem Namen Jansoulet, der unter spöttischem und höhnischem, selbstzufriedenem Lachen ausgesprochen wurde, mäßigte sie ihre raschen Schritte.
Ein hübscher, weibisch aussehender Bursche sagte: »Nun, er hat doch in keiner Beziehung nachweisen können, in welchem Punkte unsre Anschuldigungen falsch seien,«
Als die Alte dies hörte, brach sie sich gewaltsam durch die Menge Bahn und sagte, indem sie sich Moëssard gegenüber hinstellte: »Was er nicht gesagt hat, das will ich Ihnen sagen. Ich bin seine Mutter und es ist meine Pflicht, zu reden.«
Sie unterbrach sich, um Le Merquier, der Miene machte, sich davonzuschleichen, beim Aermel festzuhalten.
»Vor allen Dingen Sie, Sie böser Mann, Sie sollen mich hören. . . . Was haben Sie gegen meinen Sohn? Sie scheinen nicht zu wissen, wer er ist? Warten Sie einen Augenblick, ich werde es Ihnen sagen.«
Darauf wendete sie sich wieder zu dem Journalisten: »Ich hatte zwei Söhne, mein Herr. . . .«
Aber Moëssard war schon fort. Sie kehrte dann wieder zu Le Merquier zurück.
»Zwei Söhne, mein Herr.«
Auch Le Merquier war verschwunden.
»O! Hören Sie mich an, nur einer möge mich anhören, bitte,« sagte die alte Mutter, indem sie ihre Hände rang und fortwährend sprach, um Zuhörer um sich zu sammeln und zurückzuhalten. Aber alle flohen, zerstreuten sich und verschwanden, Abgeordnete, Reporter, unbekannte und spöttische Gesichter, denen sie durchaus ihre Geschichte erzählen wollte, ohne sich um die Gleichgültigkeit zu kümmern, auf die ihr Kummer und ihre Freude, ihr Stolz und ihre mütterliche Liebe stieß, der sie begeisterte Worte verlieh. Und während sie sich so abmühte, der Verzweiflung nahe, mit verschobener Haube, komisch und erhaben zugleich wie alle Naturmenschen im vollen bewegten Leben der Civilisation, und für die Ehrenhaftigkeit ihres Sohnes und die Ungerechtigkeit der Menschen selbst die Livreebedienten zu Zeugen aufrief, deren verächtliche Gleichgültigkeit sie schmerzlicher empfand als alles andre, erschien plötzlich Jansoulet, der über ihr Ausbleiben unruhig geworden war, an ihrer Seite.
»Nimm meinen Arm, Mutter. . . . Hier ist deines Bleibens nicht.« Er sagte das sehr laut, in einem so ruhigen und bestimmten Tone, daß alles Lachen aufhörte und daß die alte Frau, der durch diese Begegnung plötzlich ihre ganze Zornesaufwallung geschwunden war, zwischen zwei in achtungsvollem Schweigen verharrenden Menschenreihen das Palais verlassen konnte. Ein herrliches Paar, bei welchem die Millionen des Sohnes die ländliche Erscheinung der Mutter verklärten, wie die Lumpen einer Heiligen, die in einem goldnen Schrein ruhen. Beide verschwanden in dem herrlichen Sonnenlichte, das draußen erglänzte, in dem Schimmer der von Gold strotzenden Karosse, eine schauerliche Ironie gegenüber dem furchtbaren Unglück, eine ergreifende Verkörperung des schrecklichen Elendes der Reichen.
Beide saßen auf dem Rücksitze, denn sie fürchteten, gesehen zu werden, und sprachen anfangs nicht miteinander. Sobald sich aber der Wagen in Bewegung gesetzt hatte und hinter ihnen die traurige Schädelstätte entschwand, auf welcher der Nabob seine Ehre am Galgen zurückgelassen hatte, da lehnte er, im Gefühl seiner völligen Erschöpfung, seinen Kopf gegen die Schulter der Mutter, verbarg ihn in den Falten ihres grünen Shawls, und nun, während heiße Thränen seinen Augen entströmten und sein ganzer Körper von konvulsivischem Schluchzen erbebte, fand er den Notschrei seiner Kindheit, den Klageruf der Zeit, da er noch ganz klein war, wieder: »Mama. . . . Mama. . . .«