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Es ward an diesem Morgen eine tolle Partie im Ballspiel-Klub gespielt. Rings um die ungeheure Bahn herum, auf dem geebneten, wie eine Arena gestampften Boden umhüllte ein großes Netz mit seinen enggewebten Maschen die Evolutionen von sechs Spielern in weißen Jacken und Spielschuhen, die herumsprangen, herumtobten und mit ihren schweren Raketten hantierten.
Diese dämmerige, Renn- und andern solchen Bahnen eigentümliche Helligkeit, wie sie zu den hohen Scheiben hereinfiel, dieses gespannte Netz, die heiseren Rufe, die raschen Körperwendungen, das Schwenken dieser weißen Schoßjacken, die kaltblütige Korrektheit, mit welcher die Spielbahn-Wärter und Bediensteten, samt und sonders Engländer, die Umfassungslinien mit gemessenen Schritten abliefen dies alles legte einem die Meinung nahe, als befände man sich in der Arena eines Cirkusses zur Zeit, da die Akrobaten und Clowns ihre Probe halten. Unter diesen Clowns konnte man Seine königl. Hoheit den Prinzen von Axel, dem die Übung des Ballspiel-Sports als heilsam gegen seine Schlafsucht verordnet worden war, für einen der lautesten Schreier halten. Er war am Abend vorher aus Nizza zurückgekommen, wo er einen Monat zu Füßen der kleinen Colette verlebt hatte und die Spielpartie bildete den Wiedereintritt in das Pariser Leben. Mit »Hoh!«- und »Hüh!«-Schreien, wie sie kein Schlächtergeselle besser rufen konnte, mit Armspreizungen, die in einem Schlachthause Aufsehen erregt haben würden, schleuderte er den Ball als ihm mitten im schönsten Zuge die Meldung gebracht wird, daß ihn jemand zu sprechen wünschte.
»Pßt!« versetzte der Präsumptive, ohne auch nur den Kopf zu wenden.
Der Diener wich nicht von seinem Platze. Er flüsterte Königlicher Hoheit ein Wort ins Ohr, und Königliche Hoheit wurde sanfter gestimmt und zeigte einen geringen Grad von Erstaunen.
»Es ist gut . . . ich lasse bitten, sich zu gedulden... ich komme hinaus, sobald ich meinen Ball gespielt habe...«
In eine jener Kalt-Badezellen zurückgetreten, welche sich an der ganzen Galerie entlang befinden, die mit Bambusholz-Geräten ausgestattet und kokett mit japanischen Matten belegt sind, traf er seinen Freund Sumpfhuhn an, der gesenkten Hauptes, wie ein betrippter Pudel auf einem Divan hockte.
»O! mein Prinz! was für ein Abenteuer...« rief der Ex-König von Illyrien, indem er Königlicher Hoheit ein ganz bestürztes Gesicht zuwandte.
Er stockt in seiner Rede, als er des Dieners ansichtig wird, der, mit Handtüchern, mit Woll- und Roßhaar-Handschuhen beladen, um Königliche Hoheit abzureiben und zu striegeln, hinter ihm her in die Zelle tritt, denn Königliche Hoheit schwitzen und dampfen wie ein Mecklenburger Hengst, der eben eine Böschung hinauf galoppiert ist erst als dies Abkühlungswerk beendigt ist, fährt Christian mit bleichen, erbebenden Lippen fort:
»Lassen Sie sich erzählen, was mir passiert ist... Sie haben doch von der Familienhotel-Affäre dort unten reden hören?«
Königliche Hoheit wendet seinen trüben, toten Blick nach dem Ex-König.
»Erwischt? . . . gefaßt . . .?«
Der König nickte bejahend, während er mit seinen hübschen, unsicheren Augenhinwegsah; dann sagte er wieder nach einem Stillschweigen:
»Denken Sie sich, wie sich das abspielte!... Die Polizei kommt mitten in der Nacht... Das Mädel flennt, heult, wälzt sich am Boden, reißt den Polizisten die Kleider vom Leibe, klammert sich an meine Kniee: Königliche Hoheit!... Retten Sie mich! retten Sie mich.... Ich will sie zur Ruhe bringen... Zu spät... Als ich versuche, mir irgend einen Namen beizulegen schlägt der Kommissar eine helle Lache auf... Nutzt nichts! nutzt nichts.. Meine Leute haben Sie erkannt.. Sie sind der Prinz von Axel...«
»Schöne Geschichte das!« knurrte der Prinz in sein Waschdecken hinein... »Und weiter?«
»Meiner Treu! mein Lieber! ich war so verdutzt, so in die Enge gejagt... Andre Gründe auch noch, die ich Ihnen sagen werde... Kurz und gut: ich habe diesen Menschen bei dem Glauben gelassen, daß ich Sie wäre, zumal ich übrigens der steif und festen Meinung war, daß die Geschichte keine weitere Folgen haben würde... Aber keine Rede davon! Jetzt redet man wieder überall von ihr und da Sie zum Untersuchungs-Richter berufen werden können, so komme ich heute zu Ihnen mit der Bitte...«
»Statt Ihrer vor das Zuchtpolizei-Gericht zu wandern?«...
»O! soweit wird es ja nicht kommen... Bloß die Zeitungen werden darüber reden... es werden Namen genannt werden... Und im gegenwärtigen Augenblicke, in Anbetracht dessen, was sich in Illyrien vorbereitet, wo sich eben eine königstreue Partei bildet und Propaganda macht, in Anbetracht unsrer nahe bevorstehender Restauration würde dieser Skandal von der traurigsten Wirkung sein....«
Was für eine Armesünder-Miene es schnitt, das unglückselige Sumpfhuhn, während es die Entscheidung seines Vetters von Axel abwartete, der stillschweigend seine drei gelben Haare vor dem Spiegel zurückstrich! Endlich geruhte der königliche Prinz sich zu der Rede zu entscheiden:
»Hm! Sie meinen also, daß die Journale...?« Und plötzlich setzte er mit seiner schlaffen, verschlafenen Bauchredner-Stimme hinzu: »Pyramidal... sehr pyramidal!... Das wird meinen Onkel in Harnisch bringen...«
Er war mit seiner Toilette fertig, nahm seinen Stock, stülpte den Hut aufs Ohr: »Gehen wir frühstücken!« Untergefaßt, begaben sie sich, über die Terrasse des Feuillants hin, zu Christians Phaeton, das am Tuilerieen-Gitter hielt, setzten sich beide hinein, dicht in ihre Pelze gemummt, denn es war ein schöner Wintertag mit rosigem, kaltem Licht, und die behende Karosse sauste wie der Wind davon, um unsere Unzertrennlichen nach dem Londoner Café zu führen, Sumpfhuhn erleichterten Herzens, vor Freude schier aus dem Häuschen, Hühnersterz weniger schlaftrunken als sonst, aufgerüttelt durch seine Ballspiel-Partie und durch den Gedanken an diesen Possenstreich, als dessen Helden ihn ganz Paris ansehen würde. Als sie über den Vendôme-Platz fuhren, der um diese Zeit ziemlich öde und leer war, stand eine Dame von vornehmer Haltung und jugendlicher Erscheinung am Rande des Bürgersteiges, ein Kind an der Hand haltend und nach den Hausnummern sehend. Königliche Hoheit, die von ihrem Sitze allen hübschen Gesichtchen mit der Gier eines Boulevard-Flaneurs in die Augen sah, der seit drei Wochen gefastet hat, bemerkte die Dame und zitterte leicht: »Sehen Sie doch nur, Christian! es sieht ja fast so aus, als ob...« Aber Christian hörte nicht; auch er mußte die Augen scharf auf sein an diesem Morgen ebenfalls sehr feuriges Tier halten; und als sie sich dann umdrehten, um sich nach dieser schönen Fußgängerin umzusehen, war sie mit ihrem Kinde eben unter das Gewölbe eines der Nachbarhäuser des Justizpalastes getreten.
Sie ging sehr rasch mit über die Augen gezogenem Schleier, ein bischen ängstlich und zögernd, als sei sie auf dem Wege zu einem ersten Stelldichein; wenn aber die düstere und allzu reiche Toilette, die geheimnisvolle Haltung und Weise, einen Augenblick noch Zweifel über diese Dame lassen konnten, so wiesen der Name, nach welchem sie den Thürsteher fragte, und der tieftraurige Ton, mit welchem dieser Name ausgesprochen wurde, der zu den berühmtesten der wissenschaftlichen Welt gehörte, jeden galanten Gedanken energisch von sich.
»Der Doktor Bouchereau?... Im ersten Stock, die Thüre auf der andern Seite... Sofern Sie keine Nummer haben, ist es unnütz, daß Sie sich hinaufbemühen...«
Sie gab keine Antwort, sondern ging eiligen Schrittes nach der Treppe und stieg hinauf, das Kind hinter sich herziehend, als hätte sie Furcht gehabt, man möchte sie zurückrufen... Im ersten Stock gab man ihr den nämlichen Bescheid: »Wenn sich die Dame nicht am Abend zuvor hätte einschreiben lassen...«
»Ich werde warten,« sagte sie.
Der Diener beharrte nicht auf seiner Meinung, sondern ließ sie in ein erstes Vorzimmer treten, wo Leute auf Holzkisten saßen dann noch in ein anderes, das nicht minder voll war dann öffnete er mit Feierlichkeit die Thür zu dem großen Saale, den er wieder verschloß, sobald die Mutter und ihr Kind herein getreten waren, mit einer Miene, als wenn er sagen wollte: »Sie haben ja warten wollen, also... warten Sie!«
Es war ein weites, geräumiges Zimmer von beträchtlicher Etagenhöhe wie alle Wohnungen ersten Stocks am Vendôme-Platze, prächtig und verschwenderisch geschmückt mit Deckenmalereien, Holzgetäfel und Paneelen. Dadrinnen spreizte sich, nicht zu dem ganzen passend, ein Mobiliar in granatrotem Sammet, provinziell in seiner Form und Weise, neben gleichen Vorhängen und Portièren, im Durcheinander mit Stühlen und Puffs in Handstick-Arbeit. Der Kronleuchter im Stile des sechszehnten Ludwig über einem Nipptisch aus der Zeit des Kaiserreichs, die Pendeluhr zwischen ihren beiden Armleuchtern, die Abwesenheit jeglichen Kunstgegenstandes verrieten den bescheidenen, arbeitsamen Charakter des Arztes, dem der Ruf, die Beliebtheit unversehens gekommen sind, und der keinerlei Kosten aufgewendet hat, um dieses Rufs, dieser Beliebtheit zu warten, noch um zu ihrem Empfange gerüstet zu sein. Und was für ein Ruf! Was für eine Beliebtheit! Wie allein Paris sie schaffen, sie bieten kann, wenn es sich dazu bequemt, wenn es sich damit befaßt ein Ruf, eine Beliebtheit, die sich erstrecken auf alle Gesellschaftsklassen, von den oberen bis nach den unteren Schichten hinunter, der hinüber sprudelt in die Provinz, nach dem Auslande, nach dem ganzen Europa! und zwar seit einem Jahrzehnt, ohne zu ermatten, ohne nachzulassen, mit der einstimmigen Gutheißung der Kollegenschaft, welche einbekennt, daß diesmal der Erfolg den Weg gefunden habe zu einem wahrhaftigen Gelehrten, nicht zu einem maskierten Marktschreiertum.
Was Bouchereau diesen Ruhm verleiht, was ihm diesen ganz außergewöhnlichen Zulauf von Patienten verschafft, das sind im geringeren Grade seine wunderbare Operateur-Faust, seine herrlichen anatomischen Vorlesungen, seine Kenntnis des menschlichen Wesens, als vielmehr die Erleuchtung, die göttliche Eingebung, die ihn leitet, die heller und kräftiger ist als der Stahl der Werkzeuge jenes geniale Auge der großen Denker und Dichter, das Zauberei treibt mit der Wissenschaft, das auf den Grund sieht und darüber hinaus. Man konsultiert ihn wie die Hexe von Endor, im blinden Glauben, ohne mit dem Verstande zu rechten. Wenn er sagt, »die Sache hat nichts auf sich,« dann laufen die Lahmen und die Todkranken gehen geheilt von dannen. Daher diese bedrängende, erstickende, tyrannisierende Volkstümlichkeit, die dem Manne nicht die Muße läßt zu leben, zu atmen. Er ist dirigierender Arzt in einem großen Krankenhause, und als solcher macht er allmorgendlich seinen sehr langen, sehr minutiösen Rundgang durch die Räume, gefolgt von einer mit Aufmerksamkeit an seinem Munde hängenden Jugend, die zu dem Lehrer aufsieht wie zu einem Gott, ihm das Geleit giebt, ihm die Werkzeuge reicht, denn Bouchereau hat niemals ein Besteck, leiht vom ersten besten, der neben ihm steht, das Werkzeug, dessen er gerade benötigt und das er regelmäßig zurück zu geben vergißt. Wenn er ausgeht, so macht er diesen oder jenen Besuch. Dann kommt er flugs zurück nach seinem Zimmer und fängt oft, ohne sich die Zeit zum Essen zu lassen, seine Konsultationen an, die sich bis zu sehr später Stunde am Abend in die Länge ziehen.
An diesem Tage war der Saal, obgleich es noch nicht Mittag war, schon voller düsterer, unruhiger Gestalten, die rings auf den Bänken herum in Reih und Glied, oder um den Tisch gruppiert saßen, über Bücher, illustrierte Zeitungen gebeugt, sich kaum beiseite wendend, um sich die Leute anzusehen, die nach ihnen hereintraten; denn jeder war mit sich selbst beschäftigt, war ganz von seinem Übel eingenommen, war ganz von der Angst und Unruhe erfüllt darüber, was der Seher verkünden wird. Unheimlich, dies Schweigen dieser Kranken mit den von Schmerzensfalten gehöhlten Zügen, mit den starren und matten, zuweilen von einem grausamen Feuer entflammten Augen. Die Frauen bewahrten noch ein gewisses kokettes Wesen; einige zogen eine stolze Maske über ihr Leiden und ihren Schmerz, während die aus ihrer Arbeit, aus der physischen Lebensthätigkeit gerissenen Männer ernster davon getroffen zu sein, sich mehr ihren Leiden und Schmerzen zu überlassen schienen. Unter diesem selbstständigen Drangsal, dieser selbstischen höchsten Not bildeten die Mutter und ihr Söhnchen eine rührende Gruppe; er so schwächlich und gebrechlich, so blaß, mit diesem Gesichtchen, in welchem aller Ausdruck, alle Farbe erloschen war, wo nur ein einziges Auge noch Leben hatte und sie starr und unbeweglich, wie geronnen und vereist in einer entsetzlichen Unruhe und Folter. In einem Augenblick, des Wartens müde, stand das Kind auf, um sich Bilder von einem Tische zu holen, linkisch und schüchtern, in der Weise eines Gebrechlichen und Siechen. Als er den Arm ausstreckte, stieß er an einen von den Kranken an und bekam einen so knurrigen, mürrischen Blick, daß er mit leeren Händen auf seinen Platz zurückkehrte und dort, ohne sich zu bewegen, den Kopf auf die Seite geneigt, mit jener ängstlichen Haltung verweilte, die dem flügellahmen Vogel eigen ist und die junge Blinde auch zeigen.
Eine richtige Unterbrechung des Lebens, diese Sitzungen an der Thür des großen Arztes! ein hypnotischer Schlaf, der bloß durch einen Seufzer, einen Husten, durch das Raffen eines Kleides, eine erstickte Klage oder das Läuten der Klingel unterbrochen wird, die aller Augenblicke einen neuen Kranken meldet. Manchmal schließt ein solcher, wenn er die Thüre aufmacht und alles voll sieht, sie mit Schrecken rasch wieder; dann kommt er schließlich, nach einer kurzen Unterredung, einem kurzen Wortwechsel wieder herein. Er hat sich darein gefunden, zu warten. Das kommt daher, weil bei Bouchereau von Begünstigungen oder Bevorzugungen nicht die Rede ist. Er läßt Ausnahmen zu bloß für diejenigen von seinen Kollegen aus Paris oder aus der Provinz, die ihm einen ihrer Kranken persönlich zuführen. Diese Patienten allein haben das Recht, ihre Karte hereingeben zu lassen, außer der Reihe und vor den andern in das Sprechzimmer geführt zu werden. Sie unterscheiden sich von den andern durch ein ungezwungenes, selbstständig auftretendes Wesen, gehen mit nervösen Schritten in dem Salon umher, ziehen ihre Uhr, wundern sich darüber, daß es schon Mittag ist, und daß sich noch nichts in dem Sprechzimmer rührt. Leute, noch immer Leute, und von jeder Art, vom schwerfälligen reichen Bankier an, der vom Morgen an seinen Platz auf zwei Sesseln durch einen Diener belegen läßt, bis zu dem kleinen Beamten, der sich gesagt hat: »Koste es, was es wolle... wir wollen doch auch noch Bouchereau konsultieren...« Alle möglichen Toiletten, alle möglichen Anzüge, Kapotthütchen und wollene Hauben, dürftige, abgetragene, schwarze Kleider neben glänzenden Seidenstoffen; aber was die Leute einander hier gleich macht, das ist der Ausdruck, der in den von Thränen geröteten Augen ruht, auf den sorgenbeladenen Stirnen, in den bangen, angsterfüllten und traurigen Zügen, die in dem Salon eines großen Pariser Arztes herumspuken.
Unter den letztgekommenen Gästen befindet sich ein blonder, sonnverbrannter Bauer mit breitem Gesicht und von vierschrötigem Bau. Er hat ein kleines rhachitisches Wesen bei sich, das sich mit der einen Seite auf ihn, mit der andern auf eine Krücke stützt. Der Vater ergreift rührende Vorsichtsmaßregeln, beugt unter seiner neuen Bluse seinen durch die Arbeit gewölbten Rücken, spreizt seine derben Finger auseinander, um das Kind niederzusetzen. »Ist's Dir wohl? mach'! setz' Dich! Warte! ich will Dir das Kissen unterlegen..« Er spricht mit lauter Stimme, ohne sich beirren zu lassen, stört die ganze Gesellschaft, um Stühle, ein Sesselchen zu erhalten. Das verschüchterte, durch das Leiden in seinem Empfinden verschärfte Kind verhält sich schweigend mit windschiefem Körper, und hält seine Krücken zwischen den Beinen. Nachdem sie endlich ihre Plätze inne haben, fängt der Bauer an zu lachen, während ihm die Thränen in den Augen stehen. »Na! nun sind wir ja da! Es ist ein gar berühmter Herr! Laß nur gut sein! Er wird Dich schon ganz gesund wieder machen!«
Dann blickt er mit einem Lächeln hinüber über die ganze Versammlung, mit einem Lächeln, das auf allen Gesichtern harter Kälte begegnet... Bloß die Dame in Schwarz, die auch von einem Kinde begleitet ist, sieht ihn mit Liebe an, und obgleich sie ein etwas stolzes Wesen an sich hat, spricht er doch mit ihr, erzählt ihr seine Geschichte, daß er Raizou heiße, Gemüsegärtner in Valenton sei, daß seine Frau fast immer krank sei, und daß ihre Kinder unglücklicherweise mehr nach ihr als nach ihm schlügen, der er doch ein starker und kräftiger Mann sei. Die drei ältesten seien an einer Krankheit gestorben, die sie im Knochenmark zu sitzen gehabt hätten... Der letzte hätte so ausgesehen, als ob er sich gut aufziehen lassen wolle; seit einigen Wochen aber säße es ihm ebenso in der Hüfte, wie es bei den andern der Fall gewesen wäre. Da habe man auf die Bänke des Karrens eine Matratze geworfen, und sie seien hergekommen nach Paris, um bei Bouchereau vorzusprechen...
Er sagte das alles in gesetztem Tone mit der zaudernden Art, wie sie Landleuten eigentümlich ist; und während seine Nachbarin ihm gerührt zuhört, mustern sich die beiden kleinen Invaliden mit neugierigen Blicken; denn die Krankheit rückt sie einander näher, giebt ihnen beiden, dem Kleinen in der Bluse und im wollenen Halstuch, wie dem mit seinem Pelz bekleideten Knaben eine melancholische Ähnlichkeit... Aber ein kurzes Leben durchschauert den Saal... Röte steigt auf die bleichen Gesichter... aller Köpfe wenden sich nach einer hohen Thüre, hinter welcher sich ein Geräusch von Schritten, von gerückten Stühlen vernehmlich macht... Er ist da... ist eben gekommen.. Die Schritte kommen näher. In dem Spalte der jäh geöffneten Thüre erscheint ein Mann von mittelgroßer Statur, untersetzt, breitschulterig, mit kahler Stirn und harten Zügen. Mit einem einzigen Blicke, der sich mit so vielen anderen ängstlichen, unruhigen Blicken kreuzt, hat er den Saal überflogen, hat diese Schmerzen alten oder jungen Datums erforscht. Es tritt ein Patient herein; die Thür schließt sich wieder. »Er muß wohl nicht sehr angenehm sein,« sagt Raizou; und um sich Beruhigung zu schaffen, faßt er alle diese Leute ins Auge, die vor ihm zur ärztlichen Beratung gelangt sind.. Eine richtige Menschenflut! und lange Stunden des Wartens verstreichen, die durch den lang gezogenen schallenden Schlag der alten, von einer Polyhymnia überragten Uhr und durch die spärlichen male, in denen der Arzt sich sehen läßt, markiert werden. Mit jedem male wird ein Platz gewonnen; es tritt eine Bewegung im Saale ein; es regt sich etwas Leben, dann wird alles wieder düster und unbeweglich.
Seitdem die Mutter in den Saal getreten ist, hat sie kein einziges Wort gesprochen, hat ihren Schleier nicht gelüftet und es löst sich von ihrem Stillschweigen, vielleicht auch von ihrem im Geiste gesprochenen Gebet, ein Etwas, das so kräftigen, so außerordentlichen Eindrucks ist, daß der Bauer sich nicht mehr getraut, das Wort an sie zu richten, daß er stumm verweilt wie sie und tiefe Seufzer ausstößt. Einmal sieht man, wie er aus seiner Tasche, aus einer Menge von Taschen ein kleines Fläschchen hervorlangt, dann einen Becher, dann einen in Papier gewickelten Zwieback, den er langsam, behutsam auswickelt, um seinem Jungen »etwas Nasses« mundrecht zu machen.
Das Kind netzt sich die Lippen, dann stößt es das Glas und den Zwieback wieder von sich: »Nein... nein... ich mag nicht... ich habe keinen Hunger«... Und als er dies arme, abgespannte Gesicht ansieht, gedenkt Raizou seiner drei Ältesten, die auch keinen Hunger mehr hatten. Seine Augen weiten sich; es zittern ihm die Wangen bei diesem Gedanken; und plötzlich sagt er: »Rühr' Dich nicht vom Flecke, mein lieber Junge... ich will bloß 'mal nachsehen, ob der Wagen auch noch unten hält.«
Gar viele male steigt er so hinunter, um sich zu vergewissern, daß der Wagen noch immer am Rande des Bürgersteigs auf seinem Flecke halte. Und wenn er dann, lächelnd und vor Freude strahlend, wieder herauf kommt, bildet er sich ein, man sehe seine roten Augen nicht und seine violetten Wangen nicht Farben, die ihren Ursprung haben im vielen Reiben und Wischen und in derben Faustschlägen, mit denen Augen und Wangen traktiert worden sind, um Thränen zurück zu dämmen.
Langsam und traurig verstreichen die Stunden. In dem Salon lagert sich die Dunkelheit dichter und dichter. Die Gesichter werden bleicher, nervöser; sie wenden sich mit flehentlichem Ausdruck nach dem unerbittlichen Bouchereau hin, der sich in regelmäßigen Zwischenräumen zeigt. Der Mann aus Valenton ist untröstlich in dem Gedanken, daß sie mitten in der Nacht heimkehren werden, daß seine Frau sich ängstigen wird, daß es den Kleinen frieren wird. Sein Kummer ist so lebhaft, schafft sich mit so rührender Harmlosigkeit ganz lauten Ausdruck, daß die Mutter mit ihrem Kinde, als sie nach fünf tödlich langen Stunden die Reihe an sich kommen sieht, ihren Platz dem wackeren Raizou abtritt. Sein Dankeserguß findet keine Zeit, sich lästig zu machen, denn eben öffnet sich schon die Thüre... Rasch nimmt er seinen Sohn, hebt ihn in die Höhe, giebt ihm seine Krücke, mit solcher Verwirrung, solcher Ergriffenheit, daß er nicht sieht, was die Dame dem armen verkrüppelten Knaben mit den Worten: »Für Dich... für Dich...« in die Hand schiebt.
O! wie lange der Mutter und dem Kinde dieses letzte Warten währt und verstärkt wird die Empfindung durch den Hereinbruch der Nacht, durch die Furcht, die ihr Blut zu Eis gerinnen macht! Endlich kommt die Reihe an sie. Sie treten in ein sehr geräumiges Kabinett ein, das in seiner vollen Länge durch ein breites und helles Fenster erhellt wird. Dieses Fenster sieht nach dem Platze hinaus und gestattet dem Tageslichte trotz der vorgerückten Zeit noch Zugang. Bouchereau's Tisch steht vor diesem Fenster. Es ist ein sehr schlichter Schreibtisch, so wie man ihn bei den Landärzten oder Steuerkontrolleuren antrifft. Er setzt sich vor ihm hin, mit dem Rücken nach dem Lichte hin gewendet, das voll auf die neueingetretenen Patienten fällt auf jene Dame, deren zurückgeschlagener Schleier ein energisches und jugendliches Angesicht zeigt mit blendendem Teint, mit Augen, die von Schmerzenswachen erschöpft und müde sind auf jenen Kleinen, der den Kopf sinken läßt, als wenn ihm das ins Gesicht scheinende Tageslicht weh thäte.
»Was fehlt ihm denn?« sagt Bouchereau, der ihn mit herzensgutem Tone, mit väterlicher Gebärde zu sich zieht, denn unter der Härte seines Gesichts verbirgt sich eine auserlesene Feinfühligkeit, welche selbst vierzig Jahre der Praxis nicht auszurotten vermocht haben. Die Mutter winkt dem Kinde, ehe sie auf die Frage des Arztes Antwort giebt, beiseite zu treten. Dann erzählt sie mit schöner und ernster Stimme, daß ihr Sohn im letzten Jahre durch einen Unglücksfall das rechte Auge eingebüßt habe. Jetzt stellten sich Beschwernisse und Störungen auch auf der linken Seite ein, das Kind klage über Nebel, der sich ihm über das noch sehende Auge lagere, über Schimmern und Flimmern vor dem Auge kurz, über eine empfindliche Verschlechterung des Sehvermögens. Um die gänzliche Erblindung zu vermeiden, rate man zur Herausnahme des abgestorbenen Auges. Sei das auch möglich? Sei das Kind auch imstande, es zu überstehen?
Bouchereau hört mit Aufmerksamkeit zu; er sitzt da, über die Lehne seines Sessels gebeugt, während seine beiden Tourainer Aus Tours oder der alten Provinz Touraine, deren Hauptstadt Tours war, stammend. Augen auf diesen geringschätzigen Mund geheftet sind mit den roten Lippen aus reinem Blute, welche die Schminke niemals berührt hat. Und als die Mutter dann zu Ende mit Reden ist, sagt er:
»Die Enukleation, die man Ihnen anrät, gnädige Frau, wird täglich gemacht und verläuft durchaus gefahrlos, wenn nicht ganz besondere Ausnahmeverhältnisse vorwalten... Einmal, ein einziges mal in zwanzig Jahren, habe ich in meiner Praxis in Lariboisière einen armen Teufel unter dem Messer gehabt, der die Operation nicht hat ertragen können. Allerdings war dies ein Greis, ein armer, elender Lumpensammler, ein verschnapstes, schlecht genährtes Subjekt... Hier ist der Fall nicht derselbe... Ihr Sohn hat kein sehr kräftiges Aussehen; er stammt aber von einer schönen und kräftigen Mama, die ihm gesunde Adern gegeben hat... Wir wollen das übrigens sehen...«
Er ruft das Kind heran, stellt es sich zwischen die Beine und fragt es, um es während seines Examens abzulenken, zu beschäftigen, mit gütigem Lächeln:
»Wie heißest Du?«
»Leopold, mein Herr!«
»Leopold wer?«
Der Kleine sieht seine Mutter an, ohne zu antworten.
»Nun, Leopold! Du mußt Deine Jacke, Deine Weste ausziehen... damit ich überall nachsehen, überall hören kann.«
Das Kind zieht sich die Kleider aus – es braucht lange Zeit dazu, verfährt ungeschickt dabei... Seine Mutter ist ihm behilflich dabei mit zitternden Händen... auch der gütige Vater Bouchereau, der geschickter dabei ist als sie beide. O! des armen, schwächlichen, mit der englischen Krankheit behafteten Körperchens! dessen Schultern nach der schmalen Brust zu hereinragen, wie ein paar vorm Ausflug zusammengefaltete Vogelflügel, dessen Fleisch so fahl, so welk ist, daß sich das Skapulier, die geringsten Münzen in dem dämmerigen Tageslicht von ihm abheben, wie der Gips von einem Weihbilde. Die Mutter senkt das Haupt sie schämt sich fast ihres Werkes während der Arzt horcht und klopft, seine Thätigkeit dann und wann unterbrechend, um ein paar Fragen zu stellen.
»Der Vater ist alt; nicht wahr?«
»O nein, mein Herr . . . Kaum fünfunddreißig Jahre.«
»Häufig krank?«
»Nein fast nie.«
»Es ist gut zieh Deine Kleider wieder an, mein Männchen!«
Er setzt sich, tief in Sinnen versunken, wieder in die Tiefe seines großen Sessels, während das Kind, ohne daß man es ihm sagt, sich wieder auf seinen Platz im Hintergrunde des Zimmers zurück begiebt, sobald es seinen blauen Samt und seine Pelzsachen wieder angezogen hat... Es ist seit Jahresfrist in solchem Grade gewöhnt an diese Geheimnisthuereien, an dieses Gewisper und Geflüster um sein Unglück, sein Leid herum, daß es sich gar nicht einmal mehr darüber beunruhigt oder ängstigt, gar keinen Versuch macht, Verständnis dafür zu fassen, sich in alles fügt, alles über sich ergehen läßt... Aber die Mutter!... welche Angst, welche Unruhe liegt in dem Blicke, mit welchem ihr Auge an dem Arzte hängt!...
»Nun?«
»Gnädige Frau,« sagt Bouchereau ganz leise, jedes Wort abmessend »Ihr Kind ist wirklich davon bedroht, des Augenlichts verlustig zu gehen... Und doch... wenn es mein eigener Sohn wäre, so würde ich ihn nicht operieren., Ohne daß ich mir noch dieses schwache Wesen ganz zu erklären vermöchte, konstatiere ich doch in ihm seltsame Störungen, eine Erschütterung des ganzen Seins, vornehmlich das verdorbenste, erschöpfteste, allerärmste Blut...«
»Königs-Blut!« stöhnt Friederike, die im Ausbruch des Unwillens in die Höhe geschnellt ist. Es ist ihr plötzlich das bleiche Angesicht ihres Erstgeborenen in seinem von Rosen überdeckten Sarge vor die Augen getreten. Bouchereau, der ebenfalls aufgestanden ist, hat durch dieses einzige Wort, plötzlich und mit einem male, Aufklärung bekommen er erkennt die Königin von Illyrien, die er niemals gesehen hat, da sie nirgendswohin den Fuß setzt, deren Bildnisse aber überall aushängen.
»O! meine Gnädige . . . Wenn ich gewußt hätte..«
»Machen Sie keine Entschuldigungen!« sagt Friederike, die schon wieder ruhiger geworden ist »ich bin hierher gekommen, die Wahrheit zu vernehmen jene Wahrheit, die uns niemals zu teil wird, uns andren Menschen, selbst im Exil nicht... Ach, Herr Bouchereau! wie sind die Königinnen doch unglücklich! Owenn ich denke, wie sie mich alle damit verfolgen, daß ich mein Kind operieren lasse! sie wissen doch ganz gut, daß sein Leben dabei auf dem Spiele steht.. Aber die Staats-Raison!... In vier Wochen, vierzehn Tagen, vielleicht früher, wird der Reichstag von Illyrien zu uns senden... Man will einen König haben, den man ihnen zeigen könne... So wie er ist, ließe sich's ja noch ertragen; aber blind! Kein Mensch würde davon etwas hören wollen... Also die Operation! auf die Gefahr hin, ihn zu töten!... Regiere, oder stirb... Und ich... ich war im Begriff, mich zur Helfershelferin an diesem Verbrechen zu machen... Armer kleiner Zara!... Was ist an seinem Regieren gelegen? Du mein Gott im Himmel! Er soll leben! Er soll leben!«
Fünf Uhr. Abend senkt sich nieder. In der Rue de Rivoli, auf welcher sich zur Dinerstunde die auf der Heimfahrt befindlichen Gefährte stauen, gehen die Pferde nun im Schritt am Tuilerieen-Gitter entlang, das sich, von dem frühzeitigen Sonnen-Untergange getroffen, über die Passanten in langen Schattenstreifen hinzudehnen scheint. Die ganze Seite des Triumph-Bogens ist noch von einem roten Nordlicht übergossen; die andre schon von einem Trauer-Violett, das nach den Rändern hin vom Schatten noch tiefere Töne erhält...
Diesen Weg entlang rollt die schwere, vornehme Karosse mit dem Staatswappen von Illyrien. Dort, wo sich die Rue de Castiglione abzweigt, findet die Königin plötzlich den Balkon des Pyramiden-Hotels wieder, findet die Illusionen wieder, die ihr bei ihrer Ankunft in Paris vor die Seele traten, singend und schwebend im All wie die Blechmusik, die an diesem nämlichen Tage in den Laubdickichten erschallte. Wieviel Enttäuschungen seitdem. Jetzt ist es zu Ende! zu Ende! Das Geschlecht ist erloschen... Eine Todeskälte fällt ihr auf die Schultern nieder, während der Landauer vorwärts fährt nach dem Schatten hin, immer fort nach dem Schatten drüben hin.
Darum sieht sie auch den weichen, bittenden, schüchternen Blick nicht, den das Kind nach der Seite hin wendet, wo sie sitzt.
»Mama! wenn ich nun nicht mehr König bin, wirst Du mich trotzdem lieb haben?«
»O Du mein Herzensjunge!«
Sie drückt voll Inbrunst und Leidenschaft die kleine Hand, die sich ihren Händen entgegenstreckt... Vorwärts nun! das Opfer ist vollbracht!
Neu erwärmt, neu gestärkt, neu gekräftigt durch diesen Händedruck, ist Friederike nun nur Mutter noch... Und als sich das Schloß der Tuilerieen, vergoldet auf seinem festen, soliden Aschenhaufen durch einen Strahl der hinter dem Horizont verschwindenden Sonne, sich plötzlich vor ihr in die Höhe richtet, um ihr die Vergangenheit in die Erinnerung zu rufen, da richtet sie den Blick auf das Schloß ohne Ergriffenheit, ohne Erinnerung sie meint, eine alte Ruine Assyriens oder Ägyptens zu schauen, einen Zeugen verschwundener Sitten und Völker ein großes, ein altes Ding ein totes Ding.
Ende.