Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als ich nach Paris kam, es war ganz zu Anfang des Jahrhunderts, wurde noch, selbst im Quartier latin und auf dem Montmartre, für den Impressionismus in der bildenden Kunst gekämpft. Ich selbst konnte zuerst, als Ausländer, nur von Mensch zu Menschen wirkend, dabei mittun. Aber gerade die bildende Kunst reizte mich: schon vor Paris hatte ich mich mehr mit Bildhauerei, Malerei und Baukunst, als mit Literatur beschäftigt. An der Seine kam diese Neigung sofort voll zum Durchbruch! Ich kann wohl sagen: der Louvre, unser Weltmuseum, nicht die Schule des Louvres, wurde meine Hochschule. Oft versuchte ichs mit Lektionen im Collège de France, in der Sorbonne; immer wieder zog michs zurück in die königlichen Räume der Palästestadt zwischen dem Tuileriengarten und Saint Germain de l'Auxerrois. Was ich an Kenntnissen über Ägypten, Indien, das Zweistromland, Hellas, das Mittelalter erworben habe, verdanke ich größtenteils meinen vieljährigen Studien, Muße- und Sammelstunden im ewig neuen, unerschöpflichen, heißgeliebten Louvre.

Kein Museum der Welt gewährt eine vollständigere Übersicht: es wirkt da alles so frisch, wahrscheinlich, weil sich auch Säle, angefüllt mit moderner Kunst, zwischen der Riesenflucht von Räumen mit alter und uralter Kunst befinden. Man wandelt nirgends durch ein totes, erstickendes Museum. Der Louvre ist ein göttlicher Aufenthalt: unheimliche Quellen der Erfrischung und Erquickung birgt er. Erst nach Jahren, wenn man mit der Wünschelrute lange darin herumgewandelt ist, spürt man sie auf: die Quelle von Ingres ist bloß ein sichtbares Gleichnis. Die Revolution hat die Gemächer den Herrschern im Geiste eingeräumt: die eigentliche Schöpfung dieser allumfassenden Sammlungen bleibt aber eine Tat Napoleons. In Paris, nicht in irgendeiner kleinen Provinzstadt oder Residenz, können Unbemittelte aller Länder hohe Kunst genießen, lieben und verstehn lernen. Wenn wir heute sagen: der Stil des Empires wäre ohne des großen Korsen Feldzug in Ägypten unmöglich gewesen, so ist es genau ebenso wahr: ohne Napoleon keine moderne Kunst! Sogar der Impressionismus, der die Wände des Louvres sprengen sollte, wäre ohne ihn undenkbar. Hier studierte man die Holländer, dann Velasquez und Goya, die Primitiven; hier brach der Aufruhr gegen die Akademie, den Klassizismus aus. Der ärmste Bohème des Quartiers konnte sich im Louvre als König einer Landschaft fühlen, als Tyrannenmörder im Geiste, so etwa, wie der Student Sand, der es auch tatsächlich wurde, als er Kotzebue in Mannheim tötete. Ein ganzes großes Jahrhundert glühenden Wünschens und Wollens, heldischen Strebens und herrlichen Siegens ist aus dem Louvre hervorgegangen: es bleibt uns das einzig lebendige Museum, das es gibt!

Über den Pont des Arts gelangt man ins Quartier. Jedes Viertel von Paris hat seine Seele: es gibt Leute, besonders Frauen, die verlassen kaum jemals ihren Stadtteil. Das Quartier gehört den Studenten, Dichtern und Künstlern von ganz Frankreich; ja aus der ganzen Welt strömen sie herbei, um sich dort in einer Mansarde einzunisten. Wer wirklich im Quartier heimisch geworden ist, verläßt es nur höchst ungern, es sei denn, um über den Eisensteg des Pont des Arts zum Louvre hinüberzupilgern und dann wieder heimzukehren. Noch eine Gelegenheit bietet sich dazu, auch außerhalb seines Stadtteils, zu Hause zu sein, das ist, wenn weiter unten, an den Ufern der Seine, die Indépendants im jüngsten Frühjahr eröffnet werden. Das Luxembourg-Museum liegt im Park der geistig arbeitenden Jugend, bietet aber nicht viel. Bloß die Säle der Stiftung Cailebotte waren wichtig für jeden, den die moderne Kunst etwas anging.

Dann gibt es freilich noch die »butte Montmartre«, kurz die »butte« genannt: auch dort hausen »Musensöhne«, Franzosen ebenso wie Ausländer. Ich selbst wohnte einmal dort oben, aber zu Anfang des Jahrhunderts war der Montmartre eigentlich schon tot. Den Ulk der Cabarets, den eigentlichen Taumel gab es nicht mehr. Picasso wohnte allerdings auf dem Montmartre, 13 rue Ravignan: er hielt sich aber eigentlich von allem Treiben fern. Er stellte kaum jemals in den großen Salons oder selbst in den Indépendants aus. Damals, als ich noch in Paris lebte, überhaupt nicht; und trotzdem sollte er ungeheuer rasch mit Delaunay zum Schöpfer aller modernen Richtungen werden!

Also wir kämpften noch für den Impressionismus! Auch die Jüngsten. Warum? Es gibt mehrere Gründe. Viele Gruppen, die eigentlich ganz verschieden waren, setzen sich für die gleichen Künstler, natürlicherweise mit persönlichen Bevorzugungen ein. Bei den meisten entsprach der Impressionismus ihrer Weltanschauung und diese lasen besonders gern Camille Mauclaires Kritiken, waren fanatische Anhänger Zolas: im Grunde Materialisten oder wenigstens überzeugte Verkünder des Heiles durch die Wissenschaft. Monet, Sisley, Pissarro blieben ihre Abgötter. Einige fanden, Manet wäre der Höhepunkt der Malerei vieler Jahrhunderte gewesen: sie wurden aber schon langsam weniger. Renoir verstanden damals fast ausnahmslos nur Stockfranzosen. Jedenfalls wollte man auf das Pathos verzichten: bürgerlich, schlicht, empfänglich werden. Nach der Ansicht der meisten begabten Künstler jener Jahre, sollte sich der Maler, bereit das Glück des Augenblicks zu empfangen, ehrfurchtsvoll vor die Natur setzen; dankbar sein mußte er und immer wieder hingebungsvoll, wenn es ihm gelang, eines ihrer greifbaren Wunder zu erlauschen, auf seine Leinwand zu bringen. Dieser Richtung recht nahe standen die Jünger Paul Signacs. Also der Neoimpressionismus hatte sofort seine eifrigen Verfechter: das Optische, die Wissenschaft in dieser Kunst, blendete viele. Schließlich haben Signac, Croß auch sehr bedeutende Werke geschaffen. Die Hinterlassenschaft von Georges Seurat wurde einmal ausgestellt. Sie fand leider nicht so viele Bewundrer, wie sies verdient hätte! Einige Künstler, Kritiker und Kunstfanatiker, großenteils waren es Ausländer, darunter auch ich, liebten vor allen Gauguin und Van Gogh. Wir hielten sie aber für Impressionisten, wie sie selbst sich als solche bezeichnet hatten. Freilich spricht Van Gogh in seinen Briefen viel von Expression: eine ganze Kunstrichtung, hat er jedoch keinesfalls davon abzuleiten gedacht. Der Impressionismus hatte ja noch immer nicht gesiegt, wer hätte vermuten wollen und können, daß er bereits überwunden war! Uns Gauguinschwärmer ließ allerdings bereits ein Monet ziemlich kühl; seinen spätern Londoner Zyklus lehnten wir sogar zumeist ab. Aber eines fesselte uns immer wieder bei den Impressionisten, hielt uns sogar vorerst noch fest an sie gebunden: ihre Aufrichtigkeit! Ferner die großen Reize, die ihren Werken innewohnen. Überhaupt, Qualität haben sie, das wird ihnen auch keine spätere Zeit absprechen können. Vor Cézanne hatten die meisten lange Zeit versagt. Er hatte wohl auch Bewundrer, sie waren aber, bis zur Gesamtschau seines Werks, wenn ich nicht irre, im Herbstsalon 1903, ziemlich vereinzelt geblieben. Diese Ausstellung wurde zu einem meiner allertiefsten Erlebnisse während des ganzen siebenjährigen Aufenthalts in Frankreich. Und so ging es auch meinen Freunden. Viele Jahre früher verstand ich einmal plötzlich Holbein den Jüngern. Es war in Wien, vor dem Bildnis eines jungen Mannes. Seit jenem Augenblick war ich ein Kunstbesessner. Aber erst vor Cézanne fühlte ich das Große in der modernen Kunst. Wir waren drei Freunde, ein polnischer, ein französischer Maler und ich, die das gleiche tiefste Ergriffensein bis in die Wurzeln ihres Wesens spürten. Von hier mußte etwas Neues, etwas ganz andres kommen: das stand für alle fest. Täglich begaben wir uns in aller Ehrfurcht in die Ausstellung des unvergleichlichen Meisters, der das Geheimnis unsrer Generation vorweggenommen hatte. Nachts, bis tief in den Morgen hinein, wandelten wir durch die Straßen von Paris, immer ganz Erschüttrung: voll von Anbetung vor Cézanne! Wir konnten überhaupt über nichts andres mehr sprechen. Dem Polen ging nun durch Cézanne großes Verständnis für Greco auf, des Franzosen Überzeugung wars, Cézanne sei die höchste Erfüllung Frankreichs: Fouquet habe ihn geahnt. Erst Cézanne nähme die alte, durch italienische Einflüsse unterbrochne, Überlieferung wieder auf. Cézanne bleibe sogar im Aquarell monumental, wie es Fouquet in der Miniatur gewesen. Bei beiden Meistern seien die Bildnisse rein menschlich, nicht renaissancehaft dekorativ oder malerisch äußerlich, wie bei allen andern Meistern in den dazwischenliegenden Jahrhunderten. Der eine Große, wie der andre Große wüßten, wie man selbstverständlich, ohne Stilentartung, ohne gewaltsames Manierieren seelisch und dabei monumental bleiben kann. Am Bleiben liege es! Andre Künstler werden wollen, wünschen: Fouquet und Cézanne erhalten, was ihnen von Natur aus gegeben: sie suchen keinen Geist, sie bewahren sich ihren Gott. Ich gesteh, daß mir diese Zusammenhänge, besonders nach einem zum Zweck unternommnen Ausflug nach Chantilly, wo ich Fouquets Miniaturen studieren konnte, nicht einleuchteten: auch als ich vor Fouquets Madonna in Antwerpen stand, verstand ich meinen französischen Freund noch nicht. Erst später, als die neue Kunst da war, wußte ich: die Mondscheinmadonna in Antwerpen, wie wir sie nannten, ist dasjenige Werk des Mittelalters, das unserm modernen, nun Expressionismus genannten Schauen am nächsten steht. Und die junge Kunst wurzelt im Humus von Aix, der Erde von Cézanne. Van Gogh bedeutet für unsrer Kunst Wesensart das Wachstum: die Kraft, wenn sie unter Sonnenbrand, Stamm, Ast, Zweig, Baumkrone verwirklicht. Das warme Gedeihen geschah in Arles, auch in der Provence. Paul Gauguin, der Lyriker, trieb dann das kräftig-gesunde Wachstum zur Blüte: die neue Kunst ging bei ihm, bereits voll von Unschuld und duftiger Holdheit, als hochpoetische seelische Offenbarung auf. Tropische Gewächse, Mädchen, wie gestaltgewordne Träume, blicken uns seitdem abermals aus einer südlichen Wildnis an: wiedererwachte Blumenparadiese! Von der Bretagne, über die Provence, bis nach der stillsten Insel Tahiti im Stillen Ozean hat der Dichter-Maler sein Füllhorn ausgeschüttet: Blumen, Blüten, heilsames Duften. Und die Frucht? Sie sollte bald kommen; damals war sie noch nicht in Erscheinung getreten. Wir sollten uns gedulden: ich wollte warten. Ich sah keine Ahnen von Cézanne; sie mußten ja vorhanden sein, aber was gingen sie mich an. Ich liebte Cézanne, den Greis, weil er Jugend über mich hinaus bedeuten mußte. Nur von ihm konnte das Neue kommen. Greco verstand der eine unter uns, Fouquet der andre: ich lebte im Glauben ans Kommende. Nun greife ich gleich weiter, sogar rasch etwas vor: Cézanne ist oft weich wie grünes Laub, wie südlicher Grauhimmel. Er ist aber auch herb: seine Frucht konnte hart werden. So kam es: der Kubismus ist aus seiner geheimen Architektonik hervorgereift. Greifbar schon bei Cézanne, nochmals überwältigt bei Van Gogh, sporadisch immer wieder verheißen bei Gauguin, sollte er kommen. Also die Frucht heißt Derain. Sie heißt aber auch: Picasso, Braque, Léger, Metzinger. Sie heißt allerdings auch: Delaunay. In andre Länder getragen: Kanold, Benes, Filla. Schon wieder in unsre Erde versenkt, nennen wir sie: Klee, Kokschka, Macke, Marc, Kandinsky. Eine junge Generation ist auch bei uns da. Die starre kubistische Frucht fängt abermals an zu keimen.

Kehren wir zurück in die ersten Jahre des Jahrhunderts. Es gab auch eine Reaktion. Menschen, oft Jünglinge, die keine Akademiker waren, verlangten zurückzukehren zur klassischen französischen Tradition. Meistens waren es allerdings Royalisten, Bonapartisten, Katholiken: im Grunde hätten es aber auch Sozialisten sein können. Kunst muß nichts mit Politik zu tun haben. Für diese Gruppe bedeutete Maurice Denis allerhand. Puvis de Chavannes wurde von ihr vergöttert. Man verteidigte Chenavard, Gustave Moreau und sehnte eine Zeit herbei, die wieder einen Ingres, Chassériau, David voll anerkennen wird. Sie haßten den Impressionismus, weil er für sie bloß Sinnenkult, Auflösung, Anarchie bedeutete. Sie nannten ihn den Untergang des Stils. Darin liegt etwas Richtiges: trotzdem möchte ich den Impressionismus in dieser Beziehung in Schutz nehmen. Große, aufopferungsfähige, wirklich von heiliger Glut erfaßte Künstler, Dichter lebten doch während der allergemeinsten Gründerjahre, oder kurz nachher, denn Gründerjahre gab es nicht bloß in Deutschland! Als sie bei uns, allerdings weitaus am liederlichsten, auftraten, waren sie in Frankreich soeben, in England etwas länger überwunden. Große Künstler sind nun nicht immer für die Kulturzerrüttung ihrer Zeit verantwortlich zu machen. Was können ein Manet, was Corot dafür, daß Tausende von Unberufnen, um sie herum, Kitsch verfertigten? In der Baukunst gab es keine großen Erscheinungen, aber in Frankreich wurde bis zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts anständig gebaut. Der Umbau von Paris, der freilich schwerste Opfer forderte, ist sogar unter Napoleon III. ausgezeichnet durchgeführt worden. Ja, wird man einwenden, aber das war traditionelles, wenn nicht leider schon oft historisches Bauen: der Impressionismus aber hat keinen organischen, ihm wirklich entsprechenden Baustil aufzuweisen. Nun, ich gebe zu, daß der Impressionismus eine Revolution bedeutet, daß er das Ende der überlieferten Stile, in der Architektur den allgemeinen Verfall gebracht hat: das heißt, dummes historisches Nachbeten nicht verhindern konnte! Ich möchte aber trachten, nachzuweisen, daß uns auch die Zeit des Impressionismus einen neuen Stil beschert hätte, wären wir nicht durch die Ungunst der Verhältnisse sofort darum gebracht worden. Nur verzerrte, erschreckende Wirrbilder, der Kitsch in diesem Stil, das, was ihn eigentlich umgebracht, sind uns geläufig: hier nennt man diesen Auswuchs: Jugendstil. In Frankreich auf amerikanisch: Stile Liberty. In Italien: Rinascimento Floreale. Und beide sind auch entsetzlich! Nun aber frage ich: Besteht keine Stilverwandtschaft zwischen Munch, Van Gogh, Gauguin, auch Toulouse de Lautrec und Beardsley, also zwischen den Spätimpressionisten oder Vorexpressionisten, wie immer wir diese bedeutenden Gestalter zu nennen belieben mögen? Sie nähern sich uns bereits, indem sie sich nicht mehr im Namen der Natur gegen die Kunst widerspenstig und aufrührerisch gehaben, sondern wieder das Wesen ihrer Seele in Kristallen festsetzen wollen. Und sogleich entsteht bei solchem künstlerischen Vorgehn Stil. Untereinander unterscheiden sie sich auch keineswegs, rein stilistisch aufgefaßt, mehr als etwa ein Massaccio von Paolo Uccello, oder später Antonio Pollajuolo von Verrocchio, ja sogar von Boticelli, Filippo Lippi, Filippino Lippi und noch andern manieriertem Künstlern, wie Mino da Fiesole oder Benedetto da Majano. Solche Künstler vertreten ihre Generation, unsre Großen tuns auch, aber leider nicht ausschließlich. Das Unkraut erstickt jetzt zu leicht die herrlichen Pflanzen: der Kitsch hat schon alles überwuchert, das Gedeihn des neuverkündeten Stiles aufgehalten. In der Architektur wars noch schlimmer. Wilhelm Hausenstein spricht einmal von unserm Rokoko vor dem Krieg. Nun warum hätte man da, beim Verfertigen von Möbeln, beim Cottagebau nicht aufs englische Chippendale zurückgreifen sollen? In der Linie leicht geschwungne und doch sachlich gefügte Häuser oder Gegenstände bleiben noch immer wohlberechtigt. Versuche eines Van de Velde sind teilweise durchaus nicht mißglückt. Aber auch da, und noch viel mehr als in der Malerei, haben Dutzendware oder das schablonenhafte Haus alles zerstört, im Keime vernichtet. Das Rokoko entstand unter chinesischem Einfluß. Hätte man einen Baustil des Impressionismus, der sporadisch vorhanden war, durchsetzen können, so wäre er japanesk ausgefallen. Eine Einheit im Schauen bei einigen guten Architekten und andern bedeutenden Künstlern, ich nehme dabei auch Rodin keineswegs aus, kann wohl nicht geleugnet werden. Es bleiben uns jedoch nur ein paar gute Kunstwerke aus der erstickten Kultur von damals, und darunter gibt es kaum ein großes Werk der Architektur. Aber Geist war dennoch unter uns. Die Menschen haben ihn nur nicht verstehn wollen, verstehn können, weil sie hoffährtiger, protzenhafter, ungebildeter waren als je zuvor.

Verweilen wir einen Augenblick beim Absatz Bauwesen: er ist der wichtigste. Weniger kann es uns was angehn, wenn Privatleute schlechte Bilder an ihre Wände hängen, Klamotten oder syrupsüßes Marmorzeug in Salonwinkel stecken, als wenn alle Länder unsrer herrlichen alten Welt verkitscht, durch und durch verunstaltet werden. Die Bildung steht heute allerdings beinah ebenso tief wie in den Gründerjahren, der Geschmack wurde kaum seit jenen erst überstandnen Tagen gebessert: soll aber die hochstrebende Bewegung des Expressionismus vom Minderwertigen ebenso unterdrückt werden, wie unlängst die höchst reizvolle Kultur des Impressionismus? Was tun? In allen Ländern, die ich kenne, kams erst in den letzten zehn Jahren vor dem Krieg ganz schlimm: in Deutschland, Österreich hat sich manches gebessert. Freilich zu spät: Unsre Länder sind für mehr als hundert Jahre verschandelt. Aber trotzdem, wie fängt mans an, dem Übel zu steuern, besonders da ihm, selbst in Berlin, noch kaum entgegengetreten wird? Die Teile der Weltstadt, die seit Anfang des Jahrhunderts aus dem märkischen Boden hervorgewuchert sind, werden bis auf weitres die allerhäßlichsten, nicht nur Berlins, Deutschlands, nein, der ganzen Welt bleiben. Das ist persönliche, keiner gesetzlichen Richtschnur unterworfne Bauweise. Kein Privathaus darf prächtig sein. Wir haben kein Recht, uns dem Zwang einer herrschenden Demokratie zu entziehn: unsre Lebensweise möge durchaus schlicht werden. Die öffentlichen Bauten können dafür großartig sein, das hohe Streben unsrer Zeit versinnbildlichen. Man erteile die Aufträge nur wirklich modernen Architekten: Poelzig in Dresden vor allen: er könnte das Stadtbild dieser schönsten Großstadt Deutschlands retten, Dresdens neuere Teile dem herrlichen, bereits bestehenden Kern modern angliedern. Auch Peter Behrens ist ein bedeutender Architekt; Mebes, Martens und einigen andern war es gegeben, Berlin einheitlich, den neuen Anfordrungen entsprechend, auszugestalten. Vielleicht klettern bald einmal ein paar Wolkenkratzer, den Fliegern nach, in die Lüfte!

Kurz, es darf heute, wo der Impressionismus abblüht, sich nicht wiederholen, was dereinst seine Entfaltung lahmgelegt hat: die stärkre männliche Kultur, die wir hoffnungsvoll und mit Berechtigung erwarten, hat uns bereits die Pflicht auferlegt, dafür zu sorgen, daß sie auch wirklich sei! Wie bereits gesagt: ich habe noch für den Impressionismus, so wacker als ich konnte, gekämpft; es tut mir innig leid, daß er im Grunde scheitern mußte.

Verweilen wir noch ein wenig bei den frühen Erinnrungen an Paris. Es gab damals auch Schwärmer für die Indépendants. Menschen, die grundsätzlich jede Jury verurteilten und a priori bloß die ganz unabhängigen Künstler gelten lassen wollten. So mancher, der dann zur Anerkennung gelangte, hatte dort begonnen. Kaum war er aber auch in andern Ausstellungen, die irgendwie nach Offiziell rochen, zu sehn, so verlor er sofort einen, bis dahin durchaus zuverlässigen Anhang von ganz Unakademisierbaren. Plötzlich hatte man sich in ihm geirrt: er war eben doch bloß ein Epigone! Zu den absolut Unabhängigen gehörten auch einige Kunstbegeisterte, die weder malten, noch meißelten, noch schrieben. Für sie stand es aber fest: nur bei den Indépendants. Und sie hatten Glück: dort wuchs, gedieh, blühte das prachtvolle Genie von Henri Rousseau. Dort trug es Früchte. Zuerst verstanden ihn nur Franzosen, dann wurde er der Liebling von einigen Deutschen, Russen, Skandinaviern, ja sogar Italienern, wobei nicht gesagt sein kann, daß ihm nicht auch heute noch treueste Anhänger in Frankreich selbst geblieben sind. Rousseau ist eigentlich auch noch eine der allerreinsten Erfüllungen des Impressionismus: dadurch auch natürlichst einer seiner entschiednen Überwinder. Der Impressionist wollte den Pathetiker erschlagen. Bei Rousseau nahms die Natur einfacher: er war eben keiner. Schlichter, dem Schicksal treuherzig ergebner wie er, konnte selbst ein Franzose seiner Zeit gar nicht sein. In ihm begreift, entzückt sich unsre liebe Welt auf ihre einfältigste Weise. Er ist ein Kind. Aber niemals ein »enfant terrible«. Er schwätzt nicht, folglich auch niemals etwas aus. Rousseau kennt sein Märchen: Mexiko, das Land der Blätter. Der vielen. Der fettigen. Der glatten. Der glänzenden. Und noch der unnennbar andern Blätter. Wer hätte vor ihm das Geheimnis des tropischen, wie des heimischen Blattes, so genau geschaut. Er kennt aber auch sein Paris auswendig. Es ist ihm weder grausig, noch großartig. Durch ihn bleibt es schlicht: wird es noch lange gütig sein und einfach, und vor allem menschlich!

Es ist nicht richtig, wenn behauptet wird, Frankreich schließe sich hochmütig gegen das Ausland ab. Wahr bleibt nur, daß es seine gefestigte eigne Kultur wirksamst beherrscht, und daß sich Paris niemals wahllos fremden Einflüssen ergibt. Leider hat es allerdings, in letzter Zeit, teilweise die sogenannte moderne Bauweise aus Belgien übernommen: das ist ein Vorwurf, den man wohl gerecht machen kann! Aber sonst war Frankreich immer haushälterisch und freizügig zugleich. Welchen Einfluß besaßen doch Flandern und das Morgenland im herrlichen Frankreich des Mittelalters. Man denke nur an das Keimen und Blühen der Gotik auf französischer Erde! Dann kam Italien. Wieviel hat man damals im ganzen Königreich von Florenz übernommen, von Mailand herbeiströmen lassen. Später der Wagemut: chinesische Einflüsse sich ins Rokoko hineinschnörkeln zu lassen! China zu europäisieren! Unter Napoleon: Ägyptens Wiederkunft im Empire. Endlich romantische Einflüsse, rein geistiger Art, aus Deutschland und Spanien. Auch aus England. Noch später abermals Spanien und dann Japan! Als wir schon in Paris lebten, hielt man sich darüber auf, daß die Sorbonne zu stark von germanischen Wertungen beherrscht werde. In der bildenden Kunst stand Frankreich allerdings wieder einmal beinahe als einzige, nicht nur als unumschränkt führende Nation da. Daher konnte man sich auch damals dem Ausland gegenüber ziemlich kühl verhalten. Trotzdem wurde Künstlern, grade aus Deutschland, in Paris viel Verständnis zuteil. Besonders Wilhelm Leibl. Jedenfalls mehr als seinerzeit in München! Max Liebermann verstand man ebenfalls. Freilich, Ferdinand Hodler wurde leider nicht begriffen! Wenigstens hatte ich immer wieder diesen Eindruck. Auch für Edvard Munch hatte nur selten ein Franzose etwas übrig. Wie es Marées erging, konnte ich nicht einwandfrei feststellen: als seine große Ausstellung in Paris veranstaltet wurde, war ich bereits fort.

Die Romantik hat uns die Gebirgswelt erschlossen: seit damals überwältigt uns nicht nur das Schauen des Gewaltigen; die Menschen fangen sogar an, das Großartige, polar Geschiedne, Gegensätzliche zu lieben, zu begreifen, aufzusuchen. Der Impressionismus aber schuf uns ein wundervolles Tiefland. Der Bruch, Flüsse, Niedrungen mit Nebel und bei heller Sonne, weite Gelände, die an Ebne stoßen, reizten und entzückten dieses unpathetische Geschlecht. Der Schweizer Hodler hat jedoch Rasse des Gebirgsmenschen in sich, allerdings ohne Romantiker zu sein. Vielleicht grade darum. Der Romantiker sehnt sich nach der Hochwelt. Aber im großen impressionistischen Tiefland fand sich plötzlich ein erratischer Block. Er wurde beachtet: man nannte ihn Kubismus. Von der Romantik ist er schon sehr weit weggekommen. Vielleicht will er als ihr Gegenpol angesehn sein. Hatte ihn die Sehnsucht vom wirklich Riesenhaften etwa fortgewälzt? Er sollte jedenfalls er selbst sein. Eine Steilheit, die Härte einer Seele mußte sich in ihm wieder offenbaren. Nietzsche sagt einmal: das siebzehnte Jahrhundert war männlich, das achtzehnte weiblich, das neunzehnte animalisch. Welcher Titan hat diesen Block mit männlichster Kraft zu uns, ins zwanzigste, hereingeschleudert! Bedeutet er einen Merkstein durch Trutzwurf rückschrittlicher, neuerstarkter Gewalten? Starre Vereinzlung in unsrer übervölkerten allzu fruchtbaren, impressionistisch verringelten Niederwelt? Jedenfalls, nunmehr kennen wir ihn. Somit befindet er sich in unserm Besitz. Soll aber bald etwas ganz Neues kommen? Liegt schon irgendwo ein Meteor? Der ungeheure Sendling eines andern Sterns!

Der Impressionist war der Feind des Bildes. Er hats auch für sich zerstört. Er verstand nicht mehr das Geheimnis der Form. Der Skeptiker glaubt nur an seine Empfindungen, das eigenmächtige Urteil, aber keineswegs ans Ich, als absolut gegeben. Drum verschmäht er jedes Pathos; auch die Komposition des Kunstwerks. Er, der Rebell, hat die spanische Grandezza, französische Manier, englische Überliefrung vernichtet. Auch die Rhetorik des Sozialisten hat der Impressionist meistens vermieden: vielleicht war er Demokrat, selten aber Sozialist. Das Flüssige, Entgleitende, was sich auflöst, mußte somit sein Element sein. Nun ist aber Leben vor allem Gestalten, Aufbauen: Anbruch zur Dauer. In solcher Lauge, in der sich alle alten Rezepte, Formeln aufgelöst befanden, bedurfte es bloß eines Anstoßes durch junges Zugreifen im Geiste, damit sich sofort ein Kristall bildete: der Kubismus.

Schon vorher sehnte man sich nach Gebundenheit, Geschlossensein des Bildwerks; außer Hodler brachte Munch bereits große Erfüllung dessen was kommen durfte. Selbstverständlicherweise ward auch durch ihn eine Überraschung, wie hätte er sonst genial geschöpft! Hat sich doch seine nordische Gespenstigkeit aufgetan über den Fluten. Es war dabei viel Frische darin. Aber man empfand vorläufig bloß den Eisschauer eines Fiebers. Wenigstens ereignete sich das an der Seine. Wenn man damals dort überhaupt schon auf Munch aufmerksam wurde.

Ein Freund von uns hatte eine moderne Zeitschrift übernommen. Mir vertraute er das Kunstreferat an. Das größte Erlebnis, in meiner Eigenschaft als Kritiker, war Picassos erste Ausstellung bei einem Kunsthändler auf dem Boulevard Hausmann. Hier gabs eine persönliche Verknüpfung der Schauweisen von Toulouse de Lautrec und Puvis de Chavannes. Picasso, noch blutjung, ist damals ganz unbekannt gewesen. Auch weit entfernt vom Kubismus, seiner schöpferischen Tat. Aber mir wurde es sofort klar: ein neuer Funke. Beglückung brachte ich allen, denen ichs sofort mitteilte. Meine Freunde, die in seine Ausstellung liefen, wurden seine Freunde. Wir besuchten dann Picasso einigemal in seinem Atelier: er hatte soeben die »Lessiveuse« fertiggemacht: unsre Hoffnungen, Bewundrungen stiegen bei jedem Besuch. Mehr als wirs ahnen mochten, war damit der Impressionismus noch viel weiter zurückgedrängt worden. Wir kämpften aber in seinem Zeichen gegen das Unverständnis des Publikums, fast der gesamten Kritik weiter: und zugleich auch, drinstehend in der Bewegung, für die Jüngsten, die eigentlich bereits seine Überwindung bedeuteten. Die nächsten Ereignisse waren Manguin und Marquet. Offen gestanden: ich konnte da nicht ganz mit. Die Geheimwelt von Cézanne offenbarte sich bei keinem andern Künstler: man hatte ihm nur mit viel Geschmack einiges Formale abgeguckt. Derain hat auch viel von Cézanne übernommen, aber auch immer sein eignes Rätsel zur Gestaltung gebracht. Ihn habe ich, seitdem ich sein Werk kenne, stets tief verehrt. Delaunay muß hier nochmals ganz entschieden hervorgehoben werden. Er ist einer der wenigen Künstler, die das moderne Problem wirklich anzupacken wußten. Er verstand das Neue. Eigentlich brauchte Frankreich keinen Futurismus: es hatte Delaunay. In der Gotik wurde trianguliert, seit ihm stellt man sozusagen im Geiste Linsen ein, um ein Bild festzuhalten. Diese kreisende, ineinandergerundete Perspektive hat Delaunay erkannt und gebracht. Seine Tat ist ebenfalls eine geometrische: ebenso wichtig wie die Picassos, den Kubismus anberaumt zu haben. Sollte das ein Meteor sein?

Marcs rotierendes Innenleben beim Pferde, das Springen in Kreissegmenten seiner Kühe und auch andrer Tiere, bleibt dem Schaun Delaunays verwandt. Auch Campendonk mit seinen trefflichen Überschneidungen ist ohne die Zusammengerafftheit oder das scheinbare (nur scheinbare) Schwanken der Kirchen und Häuser beim entscheidenden Franzosen undenkbar. Hier steht Kanold, als Kubist, Delaunay, dem dahinwellenden Dynamiker oder Emporkegler gegenüber. Auch George Grosz mit seiner, von der Schnellbahn gesehnen Großstadtperspektive führt uns raschest zum gleichen Ursprung zurück. Letzte Möglichkeit eines Rotierens wäre Stuckenberg. Was der große Georges Seurat als das Zylindrische, dem sich auch Cézanne tiefwitternd näherte, festgesetzt hatte, brachte Delaunay in Schwung, indem er es akrobatisch auseinanderrenkte. Das Wort Kubismus soll von Henri Matisse zuerst gebraucht worden sein. Wer es also zuerst ausgesprochen hat, war auch ein durchaus moderner Künstler, aber gerade kein Kubist! Mit Delaunay ist er vielleicht etwas verwandt, auch er meistert seine rotierende Rhythmik, aber man kann dennoch sagen: Matisse bleibt eine ganz eigenartige Erscheinung, Gebundner als Toulouse de Lautrec, modern schweifender als Degas. Beides in einem stilbildenden Sinn: ungefähr so, wie man nicht Sträuße, wohl aber Stilleben bindet. Bisher haben wir bloß vom Kubismus gesprochen, vom »Novum«, das den Impressionisten unerwartet kam. Es gibt aber selbstverständlicherweise bloß Kubisten. Picasso ist wohl der erste und auch der vielfachste. Oft herb, kräftig und düster, nach spanischer Art zusammenfügend; dann zusammenbrechend, zur Mandoline oder Gitarre klagend. Oder lautlos. Dann wieder melodiös. Zierlich: aus Grau, Lila, Gelblich Sehnsuchtsgebilde zusammenwürfelnd. Oder vor Seelenkristallen erschauernd: tieferschüttert. Dann auf einmal sogar ganz zart. Braque tat oft einen sehr männlichen Griff; häufig ist auch er hinschmelzend weich: seine Note bleibt aber immer sehr abweichend von der Picassos. Metzinger zwingt uns durch seine ungeheuer musikalische Wesensart, da er sehr konstruktiv schichtet, und mit den Nerven das Metallische zu erfassen weiß, man könnte sagen: er ist erfindrisch im Eisernen. Gleizes mosaikhaft schwingerisch: farbenlaunisch, neuharmonisierend: etwas exzentrisch. Seine Grau retten immer den besten Geschmack. Léger verflüchtigt den Kubismus: er schafft Duftgebilde, fast beschwingt; er hat die Voraussetzungen zu einer modernen Märchenwolke geschaut. Chagall setzt sich flugs darauf, damit er immer nach Paris und dann nach Rußland heimfliegen kann. Übrigens habe ich die Entwicklung des Kubismus in Paris nicht mehr miterlebt.

Wollte ich ausführlicher über den Expressionismus schreiben, so könnten das keine Erinnrungen mehr sein, sondern es würden Kampfartikel entstehn: der Expressionismus ist ein Gegenwärtiges: sein Sieg noch nicht endgültig erlangt. Erwähnt sei jedoch, daß das Wort Expressionismus wahrscheinlich auch zuerst von Matisse gebraucht wurde; de Vauxcelles, der Kritiker des Gil Blas, hat es aber zuerst öffentlich ausgesprochen. Vielleicht liegt seine Entstehung jedoch noch weiter zurück. Paul Cassirer soll es nämlich einmal im Wortgefecht hingeworfen haben. Es heißt, man habe bei einer Jurysitzung der Berliner Sezession, wahrscheinlich vor einem Bild von Pechstein, gefragt: Ist das noch Impressionismus? worauf die Antwort: Nein, aber Expressionismus! (Nun lese ich jedoch, während diese Schrift im Druck ist, im »Kunstblatt«, daß nach Bericht des Herrn Dr. Julius Elias das Wort Expressionismus bereits im Jahre 1901 vom Maler Julien-Auguste Hervé für einen Zyklus seiner Bilder gebraucht wurde.)

Gegen die impressionistische, sehr relative, bloß von Beleuchtung, Stimmung, Gegensätzen abhängige Farbe hatten junge Künstler längst allerhand einzuwenden. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum man von den Schönen eines Renoir hinüberschweifte zum Negerweib. Bei den farbigen Rassen kann das Licht nicht allein seine verführerischen Reize wirksam spielen lassen. Perlendes Leuchten von Haut, der Jugend Taugeglitzer, alles herrlich! Aber für ein entschlossnes Geschlecht ist eine Schwarze eben schwarz. Wenn man einem Kind sagt: Wangen sind rot, so versteht das kleine Gehirn so etwas ganz radikal. Begreift dann auch, daß Wangen von Äpfeln Wangen sind, eben weil rot. Dadurch nähern wir uns dem Absoluten, nicht bloß dem Primitiven. Primitiv ist gewissermaßen Van Dongen, wenn er grüne Strümpfe, rote Bäckchen, blaue Augen naiv-raffiniert hinmalt! Dem Absoluten noch viel näher steht bereits Jawlensky, bei dem rote Wangen schon nicht mehr Wangen, sondern Rot sind. Absolute Farbe im radikalsten Sinn finden wir bei Kandinsky. Bei diesem bedeutenden Künstler dient die Farbe keinem Gegenständlichen mehr. Rot selbst verstrahlt sich: kann sich eruptiv ausbreiten. Als Rosa melodisch zerzüngelnd oder purpurn werdend: kristallinisch gestalten. Orange in Ekstase geratend, sich mit Gelb zusammenbündeln. Wir sehn dabei, mehr als die Musik der Farbe, ihr Atmen: ein wesenhaftes Leben der Farbe selbst. Farbe kommt aus der Seele! Bei Kandinsky sind Blau, Rot, Violett durch ein episches Temperament entwickelt. Bei Paul Klee werden Gelb, Rot, Blau in eine lyrische Schauweise eingefügt. Kandinsky und Klee beherrschen die absolute Farbe am offenkundigsten.

Man halte jedoch eine solche Kunst nur nicht für dekorativ. Sie ist es nicht. Einem Kunstwerk von Kandinsky, nicht von Klee, können nebenbei auch rein dekorative Qualitäten innewohnen: das ist aber gleichgültig. Auch Grünewalds Bilder wirken höchst dekorativ: trotzdem ist es ein grober Unsinn, zu sagen, der Schöpfer des Isenheimer Altars wäre ein dekorativer Maler gewesen.

Zur Erläutrung: eine pompejanisch-rote Wand ist dekorativ. Die Farbe dient dort, weil leuchtend, aber innerlich leblos, nur durch strahlende Sonne lebendig gemacht, Zwecken des Dekorierens. Bei Kandinsky kann Pompejanischrot im Grunde niemals dekorativ sein, denn bei ihm wird Pompejanischrot absolut gesetzt: überhaupt erst in seiner fast animalischen Wesensart entdeckt!

Man behauptet vielfach, alles dies sei Literatur, Schriftsteller flüsterten Malern solche Dinge zu. Dies stimmt jedoch nicht. Schriftsteller haben zumeist, und wohl an den in Frage kommenden Stellen überhaupt, ihren Einfluß während der letzten fünfzig Jahre bei Malern höchstens in der Richtung geltend gemacht, daß keine Literatur mehr gemalt werde! Übrigens schlage ich ihre Wirkung in dieser Beziehung gering an. Tatsächlich bedeutende, begabte Künstler wissen von selbst, was sie sollen!

Graphik verträgt nebenbei eine bestimmte Literatur: bloß die Farbe ist absolut Königin, wenn man sie auch zeitweise relativistisch machen, in ihren Rechten verkürzen wird. In ihr liegt tiefes Menschentum: man kann mit Farbe keine andern Dinge beschreiben, umschreiben, illustrieren. Was Künstler heute aus der Farbe hervorleuchten lassen, ist wesentlichstes Schöpfertum. Es haben auch Dichter selbständig beim Wort, seinem ursprünglichen Sinn nachgespürt, ohne daß etwa Philologen dabei behilflich gewesen wären. Die absolute Farbe bei den echtesten modernen Malern ist Geist, Wesenhaftigkeit, Wille, ungetrübte Natur: niemals etwas Literarisches!

Geistige Kunst ist heute alles, was von schöpferischen jungen Künstlern geschaut wird. Niemand wird jedoch behaupten, unsre Kunst könne dabei nicht auch sinnlichst und dekorativ wirken. Im Gegensatz ist jedoch eine sinnliche Kunst, wie beispielsweise die von Manet nur selten geistig; behauptet wird nun aber nicht, daß sie deshalb in der Rangordnung unsrer Wertungen weniger hoch stehe, als die eines bedeutenden Malers von heute. Dazu ist ihre Qualität doch zu unerreicht!

Literarische Kunst nennen wir Gemälde, häufig sogar Graphik eines Böcklin, Klinger, leider oft Thoma, Rops, Moreau, um nur die Namen anzuführen, von denen man überhaupt noch reden muß. Sie gefallen dem Publikum besonders gut, weil sie einem leicht faßbaren, oft geistreichen Feuilleton ähneln. Grade so eine Kunst ist aber gefährlich, weil sie Kunst zugunsten der Literatur benachteiligt.

Heute gibt es wieder bodenständige und wirklich bedeutende Künstler in Deutschland. Schmidt-Rottluff ist wohl das stärkste Temperament unter ihnen. Pechsteins Begabung wird keineswegs erschöpfend festgestellt, wenn man sie vital und überaus dekorativ nennt. Immerhin kann man annehmen, daß er vielleicht sein Bestes leisten wird, wenn er, durch Aufträge für Glasmalerei oder Mosaikarbeiten, zu vollster Entwicklung gelangt. Kirchner ist einer der echtesten, spontansten Künstler. Heckel, ein sehr ernster Visionär, begreift sich am sinnfälligsten in gespenstischer Landschaft. Otto Müller, viel sanfter, tritt uns voll von schöner Überliefrung entgegen. Durch Emil Nolde wurde ein ganz neuer, eigentlich selbstverständlichster Weg zur Kunst erschlossen. Er steht in gewisser Art polar zu Matisse. Beide haben das natürlich Malerische in der modernen Kunst entdeckt: die Entstehung eines Bildes rein und selbstverständlich aus der Farbe. Nolde ist das viel kräftigere, sogar rauhe Temprament: Matisse der unvergleichlich feine und höchst kulturvolle Künstler. Aber er beweist, wie sehr ineinander verschlungen Natürlichkeit und Kultur sein müssen. Ludwig Meidner kann nicht übergangen werden. Seine Explosivkraft, sein rebellisches Temprament haben es vermocht, echte, durchaus persönliche Kunstwerke zu schaffen. George Grosz sei auch nochmals erwähnt: ihm, wie keinem zweiten, gelingt es, die Großstadt in farbigen Auseinanderschichtungen zu bringen. Eigentümlich ists, wie ers vermag, Karikaturen in Farben, unter Gespenstern oder normalen Menschenkindern, herumwandeln zu lassen. Eigentlich eine moderne Hieronymus Bosch-Phantasie.

Eigentümliche Gespenstigkeit findet sich auch in Bildvisionen von Albert-Bloch. Eine feinfingerige, silberne Bauweise wohnt dem Kubisten Lyonel Feininger inne. Besonders, wo ers weiß, merkwürdigst rokokohafte Persönchen kokett innerhalb der musischen Leichtbeschwingtheit seiner Flächengebilde unterzubringen. Ganz abstrakt ist Muche geworden, ebenfalls eine sehr innerliche Begabung in der bildenden Kunst. Ganz persönlich gespenstisch sieht Otto Fleischmann, ein hervorragender Zeichner, die gegenwärtige Welt.

Unter den Bildhauern muß vor allem Archipenko, der sehr bedeutende Russe, genannt werden. Die Bekanntschaft mit seinen Werken war für mich gleich ein erschütterndes Erlebnis. Kaum ein Künstler erfüllt das Nötige im Expressionismus so spannend zusammengefaßt wie er. Alle Gemütszustände beim Schaffen eines Werkes rafft er zu seiner bestimmten Unumstößlichkeit empor. Keine Figuren, sondern Begebenheiten in der menschlichen Seele, nehmen unter seinen Pulsen Gestalt an. Des Künstlers Entschluß zum Kunstwerk, Hoffnung, Mut, Begeistrung, innerster Einklang, weitherüberschweifende Zusammenklänge werden nicht symbolhaft, sondern einzigartig bloßgelegt, aus des Schöpfers Erleben der Seele, in endliche Form gebracht, sinnlichem Empfinden begreifbar gemacht. Er erinnert nur an einen andern bedeutenden Künstler: August Stramm. Auch diesem Dichter gelingt unmittelbarst überzeugende Eindringlichkeit unterirdischen Erlebens in erfaßbarer, wenigstens zu erhaschender Formung.

Auch dem Wirken und künstlerischen Schaffen von Wilhelm Lehmbruck steh ich seit seinem Auftauchen sehr nah. Archipenko kann nicht gespenstisch sein, denn was er ins Gebilde hervortürmt, gehört beinah mehr als in die Kreise der Seele, ins Reich des Geistes. Bloß Unterweltlichstes entsenden seine Revenants. Denn dort ist man erst knapp daran, überpersönlich zu werden; Lehmbruck hingegen beherrscht sich und damit Visionen in weiten Bezirken der Seele. Und da kann man bereits traurig sein, auch einem Schicksal ergeben, denn man fühlt die Sterne. Man trägt sie. Sie sind schwer zu ertragen. Man bäumt sich aber auch gegen sie auf. Übrigens leiden die Gestalten Lehmbrucks mit dem Mond: und da erwacht bereits Pathos. Ganz modernes. Der Mond steckt so nah bei uns, daß man ein Ringen gegen ihn oder sogar für ihn aufnehmen könnte. Oft führt der Mond in komische Konflikte: und wären sie auch nur seelischer Art, ganz innerlich. Wie bei Lehmbruck. Eine Halbfigur von ihm, in Gußstein, nenn ich »Madame la Lune«. Ich beobachtete sie einmal, wie sie von einem Schrank, vor blauem Samthintergrund, so wohlbekannt und doch rätselhaft zu mir herabsah, wie das nur der liebe Mond, in schöner Sommernacht, oft auch kann: zwei Tage nach seinem Vollsein. Also seit Lehmbruck gibt es ein Weib im Monde. O ja, sehr verwandt blickt sie uns vom silbernen Himmelsbalkon da oben an.

Vieljährige Freundschaft verbindet mich mit Ernst Barlach. Er mußte nur einen Schritt vom Gewohnten ins Übergewöhnliche, nach Rußland, tun, um auf der Erde ganz heimisch zu werden. Barlach bleibt unter uns. Auch seine Träume werden immer zum Alp: und dem verlangts zur Erde herab. Er hat ausgesprochenstes Bildhauertemprament: immer bringt er die Gestalt. Gern sogar schwanger das Weib. Das Weib, das abermals gestalten soll. Nie genug Gestalt nehmen für ihn die Dinge an. Aber wir sind ja da, damit wir uns geben, aussprechen können, ganz den Becher bis zur Neige leeren. Gestalt ist volle Wahrheit. Leid ist Wahrheit. Wahrheit will Wirklichkeit. Gesetz wirkt Gerechtigkeit. Wir brauchen aber auch große Niederlagen. Daher unsre Schöpfung: ihre Menschwerdung. Daher im Menschen der Bildhauer. Seine Aufgabe ist hierophantisch. Sie kann nur durch tatsächlichste Auswirkung gelingen. Barlachs Traumwelt bleibt erdenschwer, Menschen suchend, weltgebärend: sie findet ihr Gegenüber im Traumspiel von Strindberg. Das ist ihr Gegensatz zur Romantik. Für Barlach Dahierbleiben. Kein Davondürfen!

###

Der Futurismus hat eigentlich bloß eine große Bedeutung für Italien. In diesem Bericht über eigne Erlebnisse, beim Emporkommen der jüngsten Kunst, können jedoch ein paar Seiten über den Futurismus nicht fehlen, denn ich stand, etwa ein Jahr lang, der Bewegung recht nah. Ein Futurist bin ich niemals gewesen. Erstens, weil ich aus rein geistigen Gründen keiner sein konnte: das Programm der Futuristen gefiel mir in vielen Punkten, ich selbst fühlte jedoch in mir bloß futuristische Elemente. Zweitens ist der Futurismus eine rein italienische Angelegenheit. Sechsundzwanzig Mitglieder: Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Musiker bildeten, vor Ausbruch des Krieges, die Gruppe. Sie waren alle, bis auf die französische Dichterin Valentine de Saint-Point, Italiener. Selbst Guillaume Appollinaire, der den Futuristen noch näher stand als ich, zählte nicht eigentlich zu ihnen. Allerdings waren wir wohl damals, Apollinaire und ich, die zwei Menschen, die, ohne dazuzugehören, mit Futuristen am engsten freundschaftlich verbunden waren.

Italien, das Land der großen Vergangenheit, wollte sich selbständig und vollkommen verjüngen. Nicht mehr als Erde der Träumer, Beträumten und Umträumten durfte es leben: der Halbinsel starke Jugend verlangte, ohne sich amerikanisieren zu sollen, eine moderne, den andern Völkern gewachsne Ebenbürtigkeit im Geistigen und auch für die materiellen Dinge! Marinetti verstand wohl die große Sehnsucht der italienischen Jugend und schuf ihr den Futurismus, eine Art von neuem Männerbund, der sich die persönliche Entwicklung aller Beteiligten, in bestimmt moderner Richtung, und dann die Auswirkung der Idee im ganzen Land und drüber hinaus, zur Aufgabe machte. Italien droht nämlich immer wieder einer zu starren Überliefrung, seiner Akademie zu verfallen. Die herrliche Vergangenheit kann zum Alp, einem wahren Verhängnis werden. Die Mittel dagegen müssen infolgedessen immer ganz radikal sein. Italien hat die Geburt der Renaissance gesehn. Es soll auch durch deren Entwurzlung, in der Heimaterde selbst, sich und die andern Völker beglücken, denn Werte dieser großen Vergangenheit gibt es für unsre Gegenwart kaum mehr. Drum weg damit: Luft für eine Kunst, die den Fortschritten der Technik entspricht, Freiheit fürs Schrifttum, das ohne klassizistisch-humanistische Voraussetzungen schaffen kann, umschafft, auch zerstört. Daß der Futurismus, gleichzeitig mit der Abkehr von den Anschauungen der vergangnen Jahrhunderte, auch deren letzte Erfüllung, und zwar grade im Sinn des 15. und 16. Jahrhunderts bedeutet, wird einem, wenn man sich eingehend mit der Angelegenheit des Futurismus befaßt, klar. Aber die Wandlung, die immerhin voll Entschiedenheit hervortritt, mag man als maßgebend hinnehmen; den Ballast, den die Futuristen gewiß noch mitschleppen, beachte man weniger. Nur die Ablehnung des Individualismus, unsers wissenschaftlichen Geistes, dafür Neigung zu transzendenten Vorstellungen, frommes Hervorholen des innersten Seelenkerns kann einmal die vollständige Überwindung der Renaissance bedeuten. Auf diesem Wege waren Romantiker, war ein Ruskin schon viel weiter als des Futurismus führende Geister: Marinetti, Papini, Boccioni, Soffici, Buzzi. Sie lassen zwar auch den Individualismus nur innerhalb einer festgesetzten Richtung gelten, beanspruchen aber grade für das individuell und willkürlich festgesetzte Programm ihrer Gruppe die einzige Daseinsberechtigung. Sie glauben fast, in höchster Not, einen deus ex machina darzustellen. Ernst sind sie jedoch durchaus zu nehmen. Erstens weil alle wirklich begabten jugendlichen Italiener damals tatsächlich Futuristen wurden. Zweitens weil sie ihr Land innig liebten. Schließlich auch, weil sich ihr Erfolg, bei allem Widerspruch und Haß gegen sie, nur aus einer Notwendigkeit, etwas wie den Futurismus zu haben, erklären läßt.

Künstlerisch steht der Futurismus dem Impressionismus in manchem noch gar nicht allzu fern. Er gibt sich oft als Paroxismus des Impressionismus: er will Bewegung, plötzlichstes Erlebnis, dargestellte Eile schaffen. Kein Plein air, aber dafür häufig elektrisches Licht. Impressionisten waren oft und vielfach Tyrannen, wie alle Revolutionären: sie verlangten, in höchst beschränkter Weise, das Aufgeben jeder Literatur, was allerdings vielfach richtig ist, benörgelten aber auch argwöhnisch, wenn nicht grade das Geistige, so doch das visionäre Traumhafte, Kosmische, wenn es sich irgendwie gegenständlich äußerte. Nun unterscheidet sich der Futurist vom Impressionisten darin, daß er das alles wieder erlaubt. Er bestimmt aber, den Akt, bloß weil er von der Akademie mißbraucht wurde, durchaus zu vermeiden: die Anekdote, alles Historische, und eigentlich auch die Landschaft, verpönt er ebenfalls. Kurz, ein tyrannischer Verschwörer, wie sichs übrigens gehört! Es kann keine Gruppe von Genies geben und nur der Genius bleibt ganz unabhängig von allen Geboten einer Partei.

Der eigentlich Schöpferische hinterm Futurismus ist Picasso, in zweiter Linie Delaunay. Vom ersten haben die Futuristen die zertrümmerte Gestalt übernommen, teilweise auch den seelischen Aufbau ihres Bildes. Mit dem zweiten verbindet sie ihre Begeistrung für modernes Großstadtleben. Der Hauptwert der ganzen Bewegung lag jedoch im Enthusiasmus, der opferwilligen Oberzeugung jedes einzelnen. Eine der hervortretenden Eigenschaften des Italieners von heute ist Skepsis. Zwei durchaus skeptische Geister waren auch immer Papini und Soffici, trotzdem traten grade diese beiden der häufig lähmenden Grundstimmung in ihrem Charakter entgegen. An eine sakrale Kunst konnte der Futurist nicht glauben, wohl aber sah er sich auserlesen, eine politische zu schaffen. Eine patriotische!

Der erste große Futuristenabend fand im Polytheama Rosetti in Triest statt. Es soll damals hoch hergegangen sein. Ein Wunder, daß niemand erschlagen oder in Haft zurückbehalten wurde. Seitdem breitete sich die Bewegung immer mehr aus, gewann an Bedeutung, über die Grenzen des Landes hinaus, wurde schließlich, während des Krieges, zu einer Macht.

Ich selbst verkehrte, im letzten Jahr vor dem Krieg, mit den meisten Futuristen, habe auch ihren großen Abend in Florenz, dann einen privatem in Prato mitgemacht. Nachahmungen solcher Futuristenveranstaltungen wurden überall, besonders gern in Universitätsstädten, veranstaltet. Studenten und Schauspieler verkleideten sich als Marinetti, Papini, Carrà, Boccioni, Tavolato und lockten eine große Menge Publikum ins Theater oder in den Saal, wo dann ein Höllenlärm losging. Meistens brachte so ein gefälschter Futuristenabend ein nettes Taschengeld ein. Die Beteiligung der Bevölkerung, besonders der Jugend, war bei echten und unechten Veranstaltungen recht groß. Kinder führten überhaupt in jener Zeit, anstatt Indianerschlachten Futuristenkämpfe auf. Die meisten Jungen wollten dabei lieber Futuristen als Antifuturisten sein.

Im Bürgertum war die Entrüstung natürlicherweise groß! Auch bei den Herren Professoren und offiziellen Künstlern. In breitern Massen hielt man die Futuristen vielfach für Schlauköpfe, die, ohne etwas Tüchtiges gelernt zu haben, es unternahmen, ihren Lebensunterhalt durch Ulk und Unfug zu verdienen.

Es gab drei Hauptgruppen: Mailand, Florenz, Rom. Ich tat in Florenz mit. Alle Futuristen, besonders die Mailänder, reisten Sehr viel. Zwischen Mitternacht und ein Uhr begegnen die beiden Schnellzüge, von Mailand nach Rom und von Rom nach Mailand, einander in Florenz. Wir brachten daher unsre Nächte meistens im Bahnhof, im Wartesaal I. Klasse, zu. Erstens weil er gut geheizt und immer offen war, zweitens weil wir immer für durchreisende Freunde zu treffen sein wollten. Die vielen Nächte, die wir da durchlebten, waren voll von Abenteuern: schöne Erinnrungen knüpfen sich daran. Als wir uns meistens gegen Morgen entschlossen aufzubrechen, mußte fast jeder in einer andern Richtung heimgehn. Mein Weg war ziemlich lang; er führte an berüchtigten Stellen vorbei. Jede Nacht erwartete mich, und an verschiednen Stellen auch andre Freunde, irgendein starker Bursch aus dem Volk: der war aber für jeden immer der gleiche, der dann, ohne übrigens einen von uns jemals anzusprechen, jeden, selbst aber in einiger Entfernung bleibend, nach Hause begleitete, damit keinem etwas geschähe. Wer mögen die Menschen gewesen sein? Wahrscheinlich fanatische Anhänger der Futuristen aus den tiefsten Schichten des Volkes! In der Sylvesternacht 1913 bis 14 wurden auch einige der Unsern in Florenz tatsächlich von einer viel größren Schar einfacher Leute angegriffen; sehr bald sammelten sich jedoch andre Gruppen volkstümlicher Gestalten, eilten den Angefallnen zu Hilfe und trieben die Angreifer in alle Winde.

Nun möchte ich noch etwas über die zwei Futuristenabende, denen ich beiwohnte, erzählen. Das Teatro Verdi in Florenz, es faßt gut viele tausend Personen, wurde gemietet. Als wir uns, eine halbe Stunde vor den angekündigten Vorträgen, in die große Loge der Futuristenfreunde, für etwa 10 Personen (es befanden sich schließlich bei 30 drin), begaben, hörte man schon in den Gängen Geschrei, Gebrüll und Huppengestöne. Als wir eingetreten waren, wurde vor unsrer Logenbrüstung ein Plakat »Futuristi« ausgehängt, worauf sofort Bohnen und Kastanien auf uns herabzuhageln begannen. Auch wurde unsre aufreizende Inschrift, vielfach sofort, teilweise aber erst langsam, von andern Logen, aus, durch Behänge ihrer Brüstungen, die immer die Aufschrift »Passatisti« trugen, beantwortet. Endlich, mit ziemlicher Verspätung (Marinetti verspätet sich grundsätzlich, vielleicht um den Namen Futuristen gleich im Gefühl des Publikums, das alles Versprochne immer von der Zukunft zu erwarten hat, einzuführen) ging der eigentliche Hexensabbat los. Marinetti, Papini, Carrà, Boccioni, Soffici, ein Freund der Futuristen aus Neapel und der Herausgeber eines in Rom erscheinenden humoristischen Blattes, der gar nicht dazugehörte, der eben erst in Florenz aufgetaucht war, und mit auftreten wollte, erschienen im Rahmen der Riesenbühne. In den Bohnen- und Kastanienhagel mengten sich Schleuderwürfe von Kartoffeln, gesottnen Makkaroni, Tomaten und faulen Äpfeln. Marinetti wurde sofort getroffen, bekam eine geschwollne Backe; Soffici erhielt ein Kartoffelgeschoß aufs linke Bein und mußte von nun an hinken. Die übrigen blieben vorläufig unverletzt. Carrà sollte anfangen. Man hörte bloß seine ersten Worte. Er forderte eine Kleinigkeit: die Todesstrafe für unberufne Kritiker. Er nannte zwei Herrn: Diego d'Angeli und Ügo Ojetti; sie sollten sofort auf der Piazza Santa Croce hingerichtet werden. Noch entsetzlicheres Gelärm ging los; die Vorräte an Gemüse waren, wie sich zeigte, noch lange nicht erschöpft. Carrà traf ein stinkendes Ei auf den Schädel: er wankte zurück, blieb für den Abend kampfunfähig. Als zweiter: Giovanni Papini, ein Florentiner. Er hatte schon, kurz vorher, in Rom Ausbrüche der Wut durch seinen Vortrag im Teatro Costanzi erregt, wo er einen bösen »Insult gegen Rom« vorlas. Die Logen waren auch teilweise von Römern besetzt, die nach Florenz gekommen waren, um ganz besonders Papini aufs Korn zu nehmen. Er erlaubte sich nun auch in seiner Vaterstadt einen »Insult gegen Florenz« und begann: »Florentiner, Söhne von Lakaien, die Ihr von schimpflicher Fremdenindustrie lebt!« Kaum waren diese Worte gesagt, als. ein Sturm auf die Bühne versucht wurde. Nur schwer konnten die Vordrängenden von Anhängern der Futuristen, die fanatisch: »Pfui, Mumien!« brüllten, zurückgehalten werden. Papini blieb noch zwischen Würfen von allerhand stehn, konnte aber nicht mehr weitersprechen. Sogar die elektrischen Glühbirnen schraubte das wildbrausende Publikum ab und schleuderte sie, als Säcke mit Kartoffeln und Grünzeug und Obst leer zu werden begannen, auf die Vortragenden. Nunmehr wäre wohl auch ein Einschreiten der Polizei unmöglich gewesen: Schlimmstes hätte sie selbst zu befürchten gehabt. Papini wurde nicht getroffen. Unglaublich! Schließlich trat er ab, ohne verstanden worden zu sein. Marinetti trat vor; er wollte Stellen aus seinem Epos »Der Eindecker des Papstes« vorlesen. Keine Möglichkeit: es erscholl im Haus ringsum der Ruf: »Evviva la Gioconda!« Wir verstanden zuerst nicht worum es sich handelte. Im »Polytheama Nazionale« wurde d'Annunzios »Gioconda« aufgeführt. Sollte es eine Kundgebung der »d'Annunzianer« sein? Endlich erfuhr man, daß Leonardo da Vincis »Gioconda« soeben in einem ganz winzigen Hôtel neben dem Bahnhof, in Florenz selbst, aufgetaucht war. Das Toben ging diesmal so weit, daß der schon leicht beschädigte, immer wieder von Geschossen getroffne Marinetti kaum ein Wort, das irgend jemand hätte verstehn können, auszusprechen imstande war. Schließlich verließ man das Theater. Ein römischer Fürst im Abendanzug bekam beim Weggehn noch einen mit Stinkpulver durchsetzten braunen Kastanienquark, von gut einem Meter Breite, umgehängt. Er sah furchtbar grotesk aus. Auf der Treppe wurden wir vor der Straße gewarnt. Niemand machte sich jedoch etwas draus. Alle traten miteinander ins Freie: die Verwundeten; die heil Davongekommnen! Vor dem Theater ereignete sich das Gegenteil von dem, was man angekündigt hatte: das Publikum empfing die Futuristen mit Jubel, begleitete Carrà, Soffici und Marinetti in die nächste Apotheke, wo sie verbunden und gelabt wurden. Den ganzen Abend staute sich das Publikum vor allen Cafés, in denen man Futuristen vermuten konnte und brachte, wo einer erspäht wurde, regelrechte Ovationen dar. Marinetti verlangte mehrmals in kleinen Ansprachen den Boykott des Hôtels, in dem der alte »Passatista« mit der Urgroßmutter »Monna Lisa« aufgetaucht war.

Nun werde ich den Inhalt des Epos von Marinetti, das zum Vortrag hätte kommen sollen, kurz wiedergeben. Er, Marinetti, fliegt in einem Eindecker über Rom, dabei faßt er den Entschluß, alles dranzusetzen, daß der Mittelpunkt Italiens von der ewigen Stadt auf den Ätna verlegt werden soll! Denn wir haben eine Zeit der Zerstörungen zu erwarten. Er hält auch mit dem feuerspeienden Berg ein ziemlich langes Gespräch über Tagesfragen. Unterdessen zeigt es sich, daß Italiens Grenzen tatsächlich, in Tripolitanien, soweit nach Süden vorgeschoben worden sind, daß man nunmehr von Sizilien wirklich wie von einer Mitte des Reiches sprechen kann. Marinetti fliegt wieder auf. Als er in die Gegend von Neapel kommt, merkt er, daß etwas Besondres los sein muß. Er läßt sich nieder, um Nähres zu erfahren. Seine Vermutungen haben sich erfüllt: Italien befindet sich mit dem verhaßten Österreich in Krieg. Höchst beglückt darüber, fliegt er abermals auf, um, aus der Vogelschau hinunterspähend, seinem Lande Dienste leisten zu können. Über Rom angelangt, bemerkt er den Papst Pius X., der in den vatikanischen Gärten lustwandelt. Rasch entschließt sich Marinetti zum Abstieg durch Gleitflug. Der Heilige Vater scheint etwas Arges zu wittern und schwubbs! springt er in einen Teich in seiner Näh. Das Wasser ist sofort schwarz geworden! Marinetti gelingt es aber trotzdem mit einer Art Anker, der an seinem Eindecker befestigt ist, den sichtbaren Urheber dieser, so wie aller andern Verdunklungen aufzufischen. Kaum ist ihm das geglückt, so bindet er Pius X. sorgsamst, damit ihm nichts geschehn könne, unter sein Flugzeug, bringt noch eine päpstliche Fahne an des Baumelnden Bauch an und sucht, frech wie Oskar, mit seiner klerikalen Fracht, das Schlachtfeld von Monfalcone vor Triest zu erreichen. Denn dort ists bereits losgegangen. Die Östreicher müssen wissen, daß Marinetti den Heiligen Vater mitschleppt, damit sie nicht auf ihn schießen. Er sorgt dafür: und tatsächlich, er, Marinetti, kann alles auskundschaften, ohne daß die Östreicher es wagen könnten, auch nur versuchsweise, so etwas zu verhindern. Man denke der Papst! Dann folgt eine kühne Beschreibung der Schlacht: sie fällt natürlicherweise, nicht ganz wenig dank Marinettis kühnen Späherdienst im Eindecker des Papstes, zugunsten der Italiener aus. Die bereits weichenden Feinde bedenkt der Flieger noch mit Flugzetteln, auf denen den Östreichern, für fünf verlorne Provinzen, der Papst und zwar sein unbestrittner Besitz als Geschenk versprochen wird. Nach voller Entscheidung des Krieges entschließt sich Marinetti doch anders: im Golf des erlösten Triest, vor dem Schloß Miramare, läßt er seine noch lebendig zappelnde Last ins Meer fallen, und Pius X. wird von vier herbeischwimmenden Haifischen zerrissen.

Zum Schluß noch den zweiten Futuristenabend, dem ich beiwohnte: einige Futuristen in Florenz befanden sich, während Papini, Marinetti, alle Großhäupter der Bewegung überhaupt, im Ausland reisten, in ziemlicher Geldverlegenheit. Da meinte einer: veranstalten so viele Studenten Futuristenabende, zwecks Aufbesserung ihrer Finanzen, warum sollten wir, die wir wirkliche Futuristen sind, nicht das gleiche tun? Der Vorschlag schien billig und einleuchtend. Man wählte die kleine Nachbarstadt Prato. Ich sagte für keine Beteiligung zu, versprach jedoch, den abenteuerlichen Ausflug mitzumachen. Prato hat ein kleines, nettes Theater. Dort also fand der Futuristenabend statt. Wie in Florenz! Schon gleich nach Eröffnung der Galerien schleppte das Publikum unter Gejohle Säcke Kartoffeln und allerhand Gemüse ins Haus. Das Theater war gesteckt voll. Ein Rechtsanwalt aus Prato, Freund der Futuristen, sprach ein paar einleitende Worte. Vor allem stellte er Italo Tavolato, den Hauptredner, als Triestiner, der bereits oft dem barbarischen Toben teutonischer Horden in Innsbruck, Graz und Wien, als die italienischen Studenten, gezwungen dort zu studieren, von ihren Kamraden, den deutschen Studenten, überfallen wurden, standgehalten hatte, vor! Das wirkte wenigstens für den Augenblick: Tavolato wurde sogar mit einer Ovation empfangen. Er begann: »Bürger von Prato, ich hoffe, Ihr werdet nicht zu Nachäffern der Florentiner werden. Was ich Euch vorlesen will, heißt: »Insult gegen die Demokratie!« »Insult gegen den Journalismus!« »Insult des Pazifismus!« »Lob des Cafés!« Prato ist seit jeher, seit dem Mittelalter, florenzfeindlich: die Anrede war daher gewagt und klug zugleich. Da aber heute Prato ein Sozialistennest geworden, so mußte es während des Vortrags zu Ausschreitungen kommen. Und das geschah reichlich: es war ein Wunder, daß Tavolato bis zu Ende sprechen konnte. Seine Rede war sehr witzig, daher gings wahrscheinlich, daß er ziemlich lang sprechen durfte. Zum Schluß verlangte er ein »Neustes Italien«. Das »Neue« wäre mißglückt, meinte er, weil aus der Apotheke hervorgegangen. »Das Neuste«, unsers, sollte im Café geboren werden, kein Königreich bleiben, sondern als Kaisertum auftauchen! Diese letzten Worte waren ein Trumpf. Der Wunsch, daß nun der Abend wegen Getobe und Gepolter zu Ende sein müßte, hatte ihn eingegeben, denn sonst wärs uns unmöglich geworden, den letzten Zug nach Florenz zu erreichen. Und ein Übernachten in Prato empfand jeder als eine sehr unratsame Sache. So kam es auch: Das Sozialistennest war höchst empört! Einer der Futuristen hatte, in Voraussicht des Kommenden, die Kasse bereits in Sicherheit gebracht: er befand sich, als das Publikum sie stürmen wollte, schon längst mit ihr unterm Arm auf dem Weg zum Bahnhof; vorsichtshalber hatte er sich sogar, gleich nach Ankunft, eine Bahnsteigkarte gelöst, um etwa Nachstürmenden leichter entwischen zu können. Desto wutschnaubender war man gegen uns. Halb Prato auf den Beinen! Männer, Frauen verfolgten uns, fluchend und drohend. Vor dem Dom, dort, wo von Donatellos Kanzel dem Volke der Gürtel der Heiligen Jungfrau gezeigt wird, mußten wir alle dran glauben … nochmals Züchtigung über uns ergehen zu lassen. Aber niemandem wurde ein Bein, nicht einmal eine Rippe gebrochen oder zerquetscht. Nur lange aufgehalten wurden wir; glücklicherweise hatte der Zug Verspätung, und so gelangte man doch noch rechtzeitig bis zum Bahnhof. Der mußte hinter uns geschlossen werden, denn als wir in Sicherheit waren, das Publikum uns auch geborgen wußte, ließ es erst recht, weil solches nunmehr gefahrlos war, seinem Zorn die Zügel schießen. Sämtliche Carabinieri genügten nicht mehr: es wurde nach Militär telephoniert. Als die Truppe eintraf, fuhr auch der Zug in die Halle. Drohungen mit Pest, Teufel, Verfolgung bis über den Tod hinaus und bis ins Florenz des Diesseits hinein, wurden uns nachgerufen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, winkte einer der Unsern mit der geretteten Kasse, zeigte sie somit hämisch den Pratesern, die nun wie toll den Zug anhalten wollten. Umsonst. Der Inhalt der Kasse betrug 472 Fr. 60 cent.

 

Berlin, Oktober 1918.

 


 << zurück