Anna Croissant-Rust
Kaleidoskop
Anna Croissant-Rust

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Philemon und Baucis.

Unter die Felswand hingekauert liegt ein kleines Haus. Es sieht aus, als habe es einer jener Stürme, wie sie zu Frühjahrs- oder Herbstzeiten durchs Tal brausen, dort hingeweht, oder als sei es dem Puster eines jener fürchterlichen Riesen, die früher am Kofel, weit hinten unter den Geißlerspitzen hausten, in den Weg gekommen und in einem Hui durchs Villnößtal geflogen, in wildem Schrecken, und habe sich atemlos unter den Felsen geflüchtet, wo es jetzt noch furchtsam und verschüchtert liegt. Ja, wirklich bebt es noch über und über und möchte sich so klein und unbemerkt als nur möglich machen aus lauter Furcht. Schon dem Zaun ist der Schrecken in alle Glieder gefahren, er wankt ratlos hin und her, als wolle er nächstens nach allen Richtungen auseinanderlaufen. Das Türlein ist gleich gar verängstigt und weiß nicht, wo an und aus, 199 rechts oder links. Reißaus aber will es nehmen, man kann ihm das wohl ansehen. Von dem Türlein aus senkt sich ein ganz unschlüssiger Weg dem Hause zu, verschwindet, husch, in einem kleinen Kuhstall, kommt wieder und läuft noch über einen zagen Buckel zum Eingang. Den stellen ein paar Stufen dar, die sich demütig biegen, als ließen sie alles über sich ergehen, und die zu einer kleinen, völlig konfusen Holzaltane hinaufführen, die vor der eigentlichen Haustüre liegt. Die beiden sind noch außer Rand und Band von dem großen Schrecken; die Altane hängt erschöpft nach der linken Seite, während sich die Türe blöd und verängstigt nach rechts an die Mauer lehnt. Auch die Mauer hat sich noch nicht von der Panik erholt, sie drückt sich an den schirmenden Fels, als ob sie in ihn hineinkriechen möchte. Resolut ist nur das Dach. Es hält sich steif und aufrecht, als wollte es sagen: Seid nur endlich still, alle miteinander, es kann ja nichts passieren, wir sind in Sicherheit, und ich bin ja da und habe viele pfundschwere Steine auf mir liegen, die trage ich nicht gerade gern und leicht, die trage ich wegen euch, nun könnt ihr auch euer Getue aufstecken! Sonst werde ich verdrießlich! Die Vorderfront, die sich vor allem etwas auf ihre gerade und besonnene Ruhe 200 einbildet, wird nicht nur verdrießlich, sie ist es schon. Mit ganz bösartigen Augenluken schaut sie unwillig um sich.

In diesem altersbraunen Holzhause, das unter seinem entschlossenen Dache wie dunkler Samt aussieht, der die schönsten violetten, grünen und rötlichen Töne aufgesetzt hat, in diesem wackligen, vor Angst mißtrauischen und verschlossenen, in diesem merkwürdig scheuen, uralten Häuschen wohnen zwei ebenso scheue, ebenso mißtrauische und ebenso uralte Leute, das alte Peaterle mit seiner alten Warwe, Philemon und Baucis. Ganz verkrochen hausen sie in dem verschüchterten Hüttchen, vor dem ein Mandelbaum seine Blütenpracht heraushängt und ein Grasgarten sich hindrängt, der von einem so üppigen Wuchs ist wie sonst nirgends einer. Wenn im Frühjahr der mächtige Nußbaum neben dem Hüttchen die ersten grüngoldenen Blätter treibt, und später, wenn er seine königliche Krone wie einen Baldachin über den Grasgarten hält, kommt die alte Warwe sachte, sachte aus der windschiefen Tür gekrochen, meistens geführt von dem alten Peaterle, der sie, wenn es noch allzu frühjahrlich ist, in die Sonne, und wenn es heiß ist, unter den Nußbaum geleitet. Dort sitzt das alte Weiblein, legt 201 die Hände auf die schmerzende Brust und schaut über den Grasgarten weg und über den kleinen Weinberg, der noch zum Hüttchen gehört, ins blaue Tal, in den blauen Himmel, auf die Berge, ins Leere, wenn sie nicht mit denselben matten Augen, die gar nichts mehr wollen, nichts mehr begehren, stundenlang dem alten Peaterle zusieht. Von morgens früh bis spät am Abend, wenn die Sonne sinkt, ist Philemon an der Arbeit. Schnell geht nichts mehr vonstatten, er ist fünfundachtzig alt, aber die schwerste Arbeit packt er noch an, langsam, langsam. In aller Herrgottsfrühe kommt er schon auf seinen schwankenden, krummen Beinen aus dem Haus getorkelt, immer die Pfeife etwas schwermütig krumm im Maul, die schweren Holzschuhe an den Füßen, die Hose eine bunte Wirrnis von Flecken, eine rotundschwarzkarierte Joppe aus Kattun an, auf der auch Generationen von roten und schwarzen Flecken dick aufeinandersitzen, rotglühende, freche neue, verblichene graurote und alte düsterschmutzige. Ein Gesicht hat Philemon, so knochig wie ein Totenkopf, und geht's mit der Sense dahin, auf dem spärlichen weißen Haar den kleinen Filzhut mit der nickenden Hahnenfeder, so ist er der große, leibhaftige Sensenmann. Aber nicht allein die Sense trägt und schwingt er, auch 202 den großen Ruckkorb voll Gras für das muhende Kühlein trägt er bei, die hohe und schwere Bütte Wasser schleppt er von dem weit entfernten Brunnen seiner Baucis ins Haus. Er macht des braunen und weißen Kühleins Behausung wieder behaglich und sauber und verstaut das, was er von der kleinen Braunen als Gegengabe kriegt, nützlich, wenn auch nicht eben wohlriechend, in seinem umfangreichen Ruckkorb, den er schwankend die weite Strecke zu seinem Felde trägt. Unverdrossen schleppt er dahin, nie bleibt er stehen, das geht immer langsam, immer stetig, auf dem wackligen Untergestell balancierend, fort. Er schaut nicht rechts noch links, er redet nicht mit dem, der sich etwa in seine Einsamkeit draußen verirrt, und ist er wieder in seinem verängstigten Häuslein angelangt, beginnt er dort ebenso langsam, ebenso stetig zu schaffen. Entweder er hat sich einen Holzklotz vors Haus gezerrt und spaltet und hackt bedächtig darauf los, oder er bindet Reben auf und rückt dem erschreckten Zaun zu Leibe, der nach allen Seiten auseinanderlaufen will und sich auch von seiner Fürsorge nicht beschwichtigen läßt. Und da sieht ihm stets die alte Warwe, seine Baucis, zu, wie sie ihm drinnen in der Stube zusieht, wenn er für sie kocht. Recht kummervoll, wehmütig und krank 203 schaut Baucis aus; ihr langes Gesicht ist gelb und aufgedunsen, sie kann sich allein kaum von der Stube in die Sonne schleppen und schaut traurig dem Philemon nach, wenn er weg vom Haus und weg von ihr geht. In ihren dicksten Winterkleidern, ein wollenes Tuch um den Kopf gewickelt, so sitzt sie auch im Sommer da, wenn der Salbei vor ihr in der Sonne welkt und die Eidechsen an der Steinmauer regungslos in der Hitze braten. Sie sitzt da und schaut übers Tal ins Leere. Etwas Hoffnungsloses, Überwundenes ist in ihrem Blick. Geweint hat sie früher, jetzt weint sie nicht mehr, greint höchstens mit dem Peaterle, wenn es zu lange braucht. Sie kann es gar nicht begreifen, daß es jetzt bei ihm gar so langsam geht, er war doch stets so rasch, so ungestüm gewesen! Und Philemon schaut die Zusammengekauerte, Hustende an, die mit leerem Blick ins Leere schauen kann, und schüttelt den Kopf: sie ist schon lang die Alte nicht mehr!

Dann klemmt er die kleine Holzpfeife zwischen die Zähne – eine einzige Stelle hat er im Mund, wo sie fest hält –, sitzt sie da fest, so gibt er sie den ganzen Tag nicht mehr her. Windschief hängt sie in dem windschiefen Gesicht, das noch immer trotzig aussehen kann und in dem zwei große Blauaugen 204 ungebeugt der Sonne, dem Schnee und dem Wind entgegensehen.

Winter und Sommer, Herbst und Frühling gehen spurlos an Philemon und Baucis vorüber.

Wie wenn sich das alte Paar nicht ändern könnte, wie wenn es vergessen in seinem versteckten Winkel lebte, vergessen und gemieden von den Dörflern, vergessen und gemieden von den eigenen Kindern. Die Kinder sind fort, vielleicht verdorben und gestorben. Einmal sind sie fort und haben das elende Haus verlassen, weit fort sind sie gewandert in die Ebene, über die Flüsse, ja bis übers Meer sind sie gezogen und haben nichts wieder von sich hören lassen. Es war, als müßten sie diesen kleinen Fleck fliehen, dies alte verfallende Haus, das ihnen Schande und Schmach dünkte, wie die alten Eltern, die in Lumpen gingen und blöde wie die Kinder lebten, die ihnen nichts mitgeben und nichts schenken konnten später, nichts als dies alte, zitternde Häuslein, in dem sie beieinander hockten, nichts als dies kleine Stück Feld, das, aufgeteilt, ein paar Körbe Erde für jeden gäbe. Denn sie sind zahlreich durch die verängstigte Haustüre, über die erschöpfte Altane und die demütigen Stufen hinunter zur Taufe getragen worden, mit dem Ranzen in die 205 Schule gesprungen und zuletzt mit dem Ranzen in die Welt hinausgewandert, fast geflohen, wie wenn sie froh wären, diese armseligen Mauern für immer verlassen zu dürfen. Großgewachsen waren sie alle, rotbackig und sonnverbrannt, mit den Blauaugen des Vaters, ein paar nur blaß und mit dem herben Zug der Mutter, alle jäh und herrisch von Temperament und voller Haß gegen den Alten, der sie knechtete.

Es traf sich, daß in den ersten Jahren die eine Dirne wiederkam mit schmalem Gesicht und schwerem Leib, und daß sie der Alte mit Schlägen aus der Türe jagte; es traf sich, daß ein Bursche, der die bösen Augen und die rasche Hand des Vaters hatte und der in seiner jähen Hitze einen gestochen, nach dem zerfallenen Haus heraufgekeucht kam, weil den Zuchthäusler niemand wollte. Ihm blieb die Türe verschlossen, so sehr die Mutter auch bat; mit Drohen und Schelten wandte sich der Bursche von der Heimat, mit Schelten und Fluchen eine zweite Dirn, die Lies, die ein kleines Mädchen auf dem Arm getragen, das sie unter Dach hatte bringen wollen. Die Schwarzhaarige war der Mutter Liebling und des Vaters Ebenbild, schroff und hart wie er. Sie bat nicht, sie hatte kein Wort der Klage, als der Alte das Haus vor ihr 206 verschloß, aber sie fluchte der Heimat und fluchte den Eltern. Es war, wie wenn ihr Fluchen und Schelten auseinanderränne, immer größere Kreise zöge, immer mehr der Kinder erreichte – wie, wenn man einen Stein ins Wasser wirft, die Ringe immer mehr und größer werden – nun wußten es alle Kinder, und sie schalten und fluchten mit ihr.

So wurde es still um die Alten, immer stiller, keines kam, keines schrieb.

Sie waren nicht von dem Schlag, der über einen Kummer redet; des Alten Lippen drückten sich fest zusammen, als eine Todesnachricht kam und wieder eine; der Warwe stilles Weinen sah er nicht. So wurden sie einsam und vergessen, lebten in sich und, soweit es ihr karger Sinn zuließ, miteinander und eines dem anderen zuliebe. Die Zeit hatte wohl Philemon-Peaterle mürbe gemacht, aber kein Wort kam über seine Lippen von dem, was gewesen war. Doch stand er oft allein und schaute den steinigen, schroffen Pfad hinab, der von unten, vom Tal, zu seinem zittrigen und zerbangten, scheuen Haus führte. Er stand da, als ob einer von dort heraufkommen müßte, zu ihm und der alten Warwe, die im Grasgarten kauerte und mit leerem Blick ins Leere sah.

207 Und eines Tages kam wirklich jemand. Eine kraushaarige, schwarze Dirn war's, des Alten Ebenbild. Sie trug, wie es einst ihre Mutter mit ihr getan, ein kleines Mädchen auf dem Arm. Verstört sah sie sich vor der Hütte um, und das Kind weinte, als sie mit ihm durch die wacklige, entsetzte Türe trat; mit ihrem abgetragenen Rock, mit den scheuen und trotzigen Bewegungen paßte sie ganz zu dem scheuen und trotzigen Haus. Wie im schweren, aufgewühlten Haß, der sich doch wieder verkroch und nur in ihren Augen sitzen blieb, stieß sie die Türe der Stube so heftig auf, daß die Alte laut aufschrie und die Hände in Abwehr ausstreckte gegen die, die nun fast furchtsam vor ihr stand. Doch ehe sich die Alte dessen versah, legte ihr die Dirn das Kind in den Schoß, und stockend kamen ein paar Worte: »Ich bin der Lies sein' Tochter, das is mein Kind, es hat keinen Vater nit, ich kann's nit ernähren, behaltet's« – und schon war sie wieder aus dem dämmerigen Zimmer mit seinen Blinzelfenstern, in dem die Alte wie versteinert saß und gelähmt vor Schrecken kein Wort hervorbringen, nicht einmal rufen konnte. Erst des elenden Wurmes Weinen rief den Alten herbei: »Der Lies sein Madel,« stöhnte sie, sah voll Furcht auf ihn und hielt schützend die alten müden und mageren Arme 208 vor. Er sah so anders aus – wollte er sie, wollte er das Kind schlagen, daß er so rasch und mit entsetzten Augen auf sie zukam?

»Fort is sie,« greinte die Alte furchtsam und hob den Arm, der ihr bald wieder lahm zurücksank, deutete hinaus. –

Da war er auch schon draußen, stolperte über den Weg, stolperte den Pfad hinunter und wollte weiter, den felsigen Steig hinab. Aber die Junge war schneller; sie entfloh in Furcht vor dem Nacheilenden. Wie gejagt sprang sie hinunter, als sei nicht ihr Großvater, sondern der leibhaftige Tod hinter ihr her.

Nun hielt der Alte inne. Ein seltsames Lachen, das wie ein zurückgepreßtes Weinen aussah, stieg in seinem Knochengesicht auf; er mußte sich setzen, denn seine alten Knie zitterten, und der Atem hatte kaum mehr Platz in der engen Brust; er mußte keuchen, keuchen wie seine Baucis. Dann sah er noch einmal den Pfad hinunter – ein seltsamer Blick war's, wie von einem, der zum letztenmal hinuntersieht – und rappelte sich schwer in die Höhe, denn noch immer wankten die Beine unter ihm, und torkelte auf die Hütte zu wie einer, den der Rausch gepackt hat.

Das war der Tag, an dem das Leben noch einmal 209 zu Philemon und Baucis gekommen war und den Alten und Vergessenen ein Pfand zurückgelassen hatte, und sie nahmen dieses Pfand und hüteten es.

Wenn Philemon nun das Kühlein molk, freute er sich des weißen Schaumes und dachte an die beiden kleinen Fäuste, die sich gierig um die Flasche legen würden; saß Baucis vor dem Hause im Grasgarten, so starrte sie nicht ins Leere, nicht in die Vergangenheit und Hoffnungslosigkeit, sondern sie sah nieder auf das kleine Bündel, das ihr im Schoße lag. Und ging Philemon mit der Sense, wie der alte Thanatos anzuschauen, so zog er einen kleinen Wagen mit sich, in dem das Menschenkind lag, das in ihr Haus und in ihr Leben geschleudert worden war. Die dumpfen Stuben leuchteten förmlich, alle Fenster standen jetzt offen für das Kind, denn die Sonne mußte ja herein zum Kind – Baucis blühte ganz auf; sie humpelte geschäftig auf dem kleinen Grasfleck hin und her und suchte das beste und sonnigste Plätzchen im Frühjahr, das kühlste im Sommer zu finden. Neben ihr arbeitete wie sonst Philemon, das alte Peaterle, aber er hielt die kleine Holzpfeife unternehmend zwischen die Zähne geklemmt und schielte nach dem winzigen Ding nebendran, wie wenn er ein junger Ehemann und Baucis, 210 die alte Warwe, sein junges Weib sei, das mit dem Erstling vor ihm sitze. Auch das alte Haus richtete sich heimlich in die Höhe, stellte sich auf die Zehen, um recht in die Kissen hineinsehen zu können; es war so wunderlich: der Mandelbaum hatte noch nie so reich geblüht, über und über voll roter Blütchen stand er und war von Hunderten von Bienen umsummt; wie um dem Kind zu gefallen, stand er in Pracht, das lallend nach seinen Zweigen griff. Bronzen und grüngolden leuchtend, streckte der Nußbaum seine königliche Krone über das konfuse Haus, das plötzlich aussah, als sei es vor Freude außer Rand und Band geraten, und über Philemon und Baucis, die, zwei ernsthaft lächelnde Hüter, im hohen Grase saßen, von Sonnenkringeln geneckt, die sie, selbst zwei alte Kinder, mit zittrigen Fingern dem Kinde zeigten. 211

 


 


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