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Eine wilde Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Wie? Wollte Charis wohl den Esel weiterlieben, nicht aber den jungen Mann, dessen Seele in jenem verzauberten Tierkörper gewohnt hatte? Schon wollte ich meine Hände falten und Charis beschwören, mich zu lieben, mich, der ich doch der gleiche war, der ihr Esel gewesen, und der nur jetzt in die einstige Mann- und Menschengestalt verwandelt, als der stattliche Oberpriester mild und weise mich mit einer einzigen Gebärde zurückhielt. Er entnahm dem silbernen Gesäß die zweite weit aufgeblühte Lotosblume, und während er sich Charis näherte, sprach er: »Charis! Du, die so treu den Bräutigam liebte, in dem du niemals einen Esel sehen wolltest, sondern nur einen Helden, der aus dem Kriege zurückgekehrt, empfange aus meiner Hand diese heilsame und heiligt Blume und iß sie, um zu klarem Verstande zu kommen!«
Zögernd nahm Charis die Blume, betrachtete sie, küßte sie sanft, weil sie so schön war, und fragte: »Soll ich eine so schöne Blume essen, Vater? Sieh, wie sie erstrahlt, als ob ein Licht in ihr wohnte! Sieh, wie silbern die Blumenblätter sich entfalten eines neben dem andern! Soll ich wirklich eine so schöne Blume essen?«
Der Oberpriester sprach nicht mehr. Er lächelte nur sein sanftes, weises Lächeln des Greises, der viele Dinge von Himmel und Erde ergründet hat. Doch rings um sie her ergriffen die Jungfrauen die Sistren und zupften mit den Stäben die Saiten. In rhythmischen Bewegungen bewegten sie sich rings um Charis, die noch immer zaudernd die Blume in der Hand hielt und um sich her und auf die singenden und tanzenden Jungfrauen schaute, während es schien, als ob dieser reine Rhythmus und diese silberne Musik etwas in ihrer halbunschuldigen Seele weckte und sie mit süßem Zwang dazu zwinge, etwas gegen ihren eigenen Willen zu tun. Denn noch immer sich umschauend, lächelnd – welch ein süßes Kinderlächeln! – hob sie die Blume höher und höher an ihre Lippen, drückte einem roten Falter gleich ihre Lippen auf den Kelch und aß die Lotosblume.
Mir war die Blume gleichsam geschmolzen auf meiner Zunge, die damals noch die eines Esels war. Auch Charis schien die Blume auf der Zunge zu schmelzen. Der lange Stengel fiel ihr aus der Hand. Gleichsam aus einem Schlafe erwachend, der Wochen, Monate gewährt hatte, blickte sie um sich, befremdet, erblich wie zu einem Schatten und fiel in Ohnmacht, so sanft und mählich, als schmölze ihr ganzer Körper und ihre zarte Seele in das Nichts des Todes hinweg. Ich stieß einen angstvollen Schrei aus, ebenso Davus, und die Schweine grunzten heftiger und drehten sich wie verzweifelt um sich selbst, gleichsam als fürchteten auch sie für die Jungfrau, die auf dem Rücken eines Esels vor ihnen her geeilt war bei der verzweiflungsvollen Flucht in der Regennacht aus Chersonesus grauenerregendem Palaste.
Aber die jungfräulichen Isispriesterinnen hatten Charis in ihren sorgsamen Armen aufgefangen und trugen sie auf einen Wink des Oberpriesters von dannen. Leise sprach der heilige Mann: »Charmides! Laß Charis erst erwachen aus ihrer Ohnmacht! Habe Geduld!«
Ich verneigte mich vor ihm, kniete nieder, küßte den Saum seines Gewandes.
Er näherte sich den drei Schweinen, während Davus und ich zur Seite wichen.
Sie tollten um ihn herum und grunzten. Er sprach: »Claudius Veturius!«
Eines der Schweine sprang auf die Vorderpfoten.
»Gaudentius Rufus!« sprach der Oberpriester.
Ein zweites Schwein nickte wie verzweifelt mit dem Kopf und grunzte heftig.
»Eusebius Silvanus!« Der Oberpriester nannte das dritte Schwein.
Heftig schlug es mit dem kurzen, geringelten Schweif, schüttelte seinen borstigen Körper und grunzte ehrfurchtsvoll zu des Priesters Füßen.
»Ihr seid alle drei genug gestraft für eure Missetaten,« sprach der Priester. »Ihr habt den Reichsschatz bestohlen, ihr habt ohne Grund Leute beschuldigt, deren Unglück euch zum Vorteil gereichen sollte. Witwen und Waisen habt ihr leiden lassen. Aber was immer ihr Böses getan, es ist gesühnt worden während der Zeit, da ihr selber littet. Ihr kamt vom Schicksal geführt nach Thessalien, Meroë ward euch zur Verführerin, und sobald ihr glaubtet, in ihren Armen selig zu sein, wurdet ihr in Schweine verwandelt. Ich aber weiß, daß ihr während eures tierischen Daseins Reue empfunden habt ob all eurer Missetaten, und folglich ...«
Der Oberpriester winkte. Aus dem Tempel trat ein Priester, der ein Gefäß mit drei Amaryllisblumen trug. Die waren so weiß wie die Lotosblumen.
»... soll euer Leiden ein Ende haben,« vollendete des Oberpriesters sanfte, wohlklingende Greisenstimme.
Er nahm die drei Blumen und sprach: »Esset sie, Eusebius, Gaudentius und Claudius! Denn nicht die rote, sondern nur die weiße Amaryllis heilt für immer von bösem Zauber.«
Der Oberpriester bot den Schweinen einem nach dem anderen die weiße Amaryllis dar. Sie verschlangen einer nach dem anderen die Blume mit ihren demütig vorgestreckten Schweineschnauzen. Und o Wunder! Einer nach dem anderen reckte sich sogleich etwas mühselig auf, und wir sahen vor uns drei Senatoren, Römer: Eusebius, vollkommen kahl, gedrungen, mit einem dicken Bauch; Gaudentius groß und hager, mit einem traurigen Munde, der in zwei Falten herabhing; Claudius, schielend und mit einer dicken Nase, darauf eine Warze saß. Sie trugen – o Wunder! – ihre Togen und zeigten in Gegenwart des Oberpriesters sogleich eine gewisse Würde angesehener Römer und Senatoren, allein demütig und reuevoll, wohl in dem Bewußtsein, daß wir alle sie als Schweine gekannt hatten. Sie knieten nieder, und ich kniete mit ihnen, und wir alle küßten dem heiligen Manne den Saum seines Mantels und begaben uns mit den Priestern in das Heiligtum, um der Göttin zu danken.
An jenem Abend war die Luft so weich, als umschwebe Götteratem den Tempel. Ich sah die drei Senatoren. Sie saßen auf einer marmornen Bank in dem Tempelgarten ruhig und auch freudig, denke ich, und besprachen – ich hörte ihnen flüchtig zu –, wie sie nach Rom zurückkehren sollten, wo Kaiser Hadrian und der Senat sich ihre lange Abwesenheit sicher nicht zu erklären vermocht hatten.
Der eine kratzte sich die kahle Stirn, der zweite schielte noch heftiger in mühseliger Überlegung, der dritte rieb sich den Magen nach dem menschlichen Mahl, das sie soeben genossen hatten.
Ich hörte Gaudentius sagen: »In Rom nie etwas sagen von dem, was uns widerfahren!«
»Niemand würde es glauben,« sagte Claudius.
»Ich glaube es selber nicht,« sagte Eusebius übermütig.
Ich verließ die drei Senatoren. Ich selber glaubte wohl, fromm der Isis ergeben, fromm gestimmt gegen die Göttinnen von Eleusis und zugleich voller Liebe, voller Liebe zu Charis, meiner süßen Braut, die ich als Mann jetzt besser empfand als früher als Esel. Da ich Davus in einem der kleinen Gemächer, die uns neben den Tempelgebäuden angewiesen waren, schlafen sah, todmüde wie er war, mein armer Sklave, von der mühseligen Reise, die er hatte zurücklegen müssen, irrte ich selber voller Verlangen nach Charis in den Gärten umher, und es schien, als umschwebe der Atem der Götter mich sanft und wohltuend. Ich fühlte mich in jenem Verlangen nach meiner Braut geläutert, voll frommer Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, und sicherlich anders, als ich mich gefühlt hatte, da ich einst noch der muntere Handelsreisende gewesen.
Dann sah ich zwei Priester. Allem Anschein nach suchten sie mich. Nun, da sie mich sahen, kamen sie auf mich zu. Der Mond ging sehr rein am Horizont auf über der fernen felsigen Ebene, die von den Isisgärten aus zu sehen war gleich einer endlosen weiß schimmernden Wüste.
»Charmides!« sagte einer der Priester zu mir.
»Wir suchen Euch,« sagte der andere, »um Euch auf Geheiß unseres heiligen Vaters zu Charis zu führen. Sie erwartet Euch!«
Mein Herz hüpfte in meiner Kehle, und vor Glück wären mir beinahe die Sinne geschwunden. Die Priester führten mich in ihrer Mitte durch die Gärten hinter dem Tempel herum. An der langen Reihe der Tempelgebäude vorüber, vor denen die Myrtenhecken zu grünen Schirmen gestutzt waren, führten die Priester mich, bis ich plötzlich mich in einer Laube befand, die so zauberhaft schön war, daß ich an Wirklichkeit nicht zu glauben wagte. Auf einem Weiher in der Mitte erblühten in dem Schimmer des aufgehenden Mondes die heiligen Lotosblumen, die auf allzeit den entzauberten, dessen Reue die Götter angenommen. Doch die Blumen lagen nicht alle auf dem Wasser. Die größten, die schimmerndsten erhoben sich auf längeren Stengeln und blitzten wie Sterne der Erde der Nacht entgegen. Ringsum erhoben sich hoch die weißen Amarylliskelche wie blanke Vögel aus Alabaster. Alle diese Blumen schienen die beginnende Mondhelle mit ihrer tiefen Empfänglichkeit aufzufangen und strahlten gleich heiligen Tempelgefäßen. In diese geweihte Laube trat Charis mir aus einem vielsäuligen Gange entgegen. Zwei Jungfrauen führten sie. Ich sah sie in der sanften, weißen, nächtlichen Helle näher kommen gleich einem zarten Schatten. Sie war bleich und ernst, doch so lieblich, wie ich sie noch niemals glaubte gesehen zu haben. Etwas weniger Kind, etwas mehr Weib schritt sie mir langsam entgegen. Ihr blondes Haar umgab lieblich keusch ihre zarten Schläfen und ihr zartes bleiches Antlitz. Ein weißer Peplos fiel fast mit Lotosweiße von ihren schmalen Schultern herab und über ihre schlanken Hüften, und gleich blauem Lotos blühten ihre Augen auf in dem Blick, mit dem sie mich suchte. Die beiden Jungfrauen und die beiden Priester traten zur Seite.
»Charis!« rief ich leise.
»Charmides!« antwortete sie ebenso leise.
Ich trat zu ihr, unsere Arme hoben sich, wir umarmten uns innig.
»Charis!« sagte ich, »aus Liebe zu dir wurde ich verzaubert in die Gestalt, die du, selber verzaubert, lieb gewannest.«
»Ich weiß es,« sagte sie. »Ich weiß alles, und es ist alles gut gewesen. Charmides! Ich habe dich während eines einzigen Augenblicks, jetzt glaube ich, während eines winzigen Teils eines Augenblicks, so gesehen, wie ich dich jetzt erkenne. Es war vor den Toren von Hypata. Ich folgte in meinem Tragstuhl dem Zuge meines Vaters. Du erschienest einen Augenblick an meiner Seite. Du sahst mich an, ich sah dich an, mehr war da nicht. Dann ging ein Esel neben mir her. Nur einen Augenblick. Dann, dann – ich entsinne mich – trabte Davus – ich habe ihn erkannt – auf einem Esel ...«
»Auf mir.«
»Unserem Zuge entgegen, und dein Name erklang. Charmides!«
»Und es erklang dein Name, Charis!«
»Seither liebe ich dich, Charmides. Chersonesus verzauberte mich, weil ich ihn nicht lieben wollte. Ich schmachtete nach dir, und als du erschienst in Gestalt eines Esels ...«
»An Zaun und Gitter der Wiese voller Maßliebchen ...«
»Erkannte ich dich an deinen Augen und wußte, daß du Charmides seist, und liebte dich als Esel.«
»Da verlobte Menedemus Charmides seiner Tochter Charis.«
Wir umarmten einander innig.
»Vater lebt,« sagte sie. »Sie leben alle. Was wir sahen, war Spuk.«
»Spuk,« wiederholte ich.
»Charmides!« sagte Charis. »Wann kehren wir zu ihnen zurück?«
»Morgen, versprach mir der Oberpriester, Charis. Doch wird Menedemus sein Prinzeßchen, seine Tochter Charis wohl einem Kaufmannssohne geben wollen?«
»Er wird Charis dem Charmides geben, der sie liebte und sie aus vielerlei Gefahren errettete, Charmides!«
»Charis!«
Unsere Namen erklangen aus unserem Munde wie ein Ruf der Liebe. Unser rufender Mund fand sich im ersten Kusse, den wir, jetzt Mann und Jungfrau, einander gaben. Der Mond stieg höher, strahlte gleich der heiligen Isis höher in dem himmlischen Garten, wo die Sterne gleich Lotosblumen erblühten auf den azurnen Wellen des Himmelsmeeres. Um uns her ertönten rein und silbern, von den dünnen Stäben gezupft, die melodischen Sistren in den Händen der vielen unsichtbaren Jungfrauen des Tempels, und erklangen die etwas helleren Glöckchen und ließen ihre Töne herabfallen wie Tautropfen zartester Musik, während die entschwebenden Stimmen zu Ehren der großen Göttin sangen.
»Göttinnen von Eleusis!« beteten wir beide in unserer Umarmung. »Ihr habt Charis und Charmides behütet, und wir werden uns zu Eleusis, ihr Göttinnen, in eure heiligen Mysterien einweihen lassen.«
Lieber Leser! Also ist es geschehen. Ich war ein Esel und bin es nicht mehr. Wir wurden beide nach unserer Trauung in die Mysterien von Eleusis eingeweiht. Ich bin aufgenommen in die Brüderschaft der Isis. In meinem seligen Glück an der Seite der Charis brauche ich, da ich in so vielen Schicksalswandlungen die Treue gelernt habe, nicht mehr zu fürchten, daß ich jemals wieder in einen Esel verwandelt werden könnte.