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Der bis 1910 nur einem kleinen Kreise von Kennern bekannte Roman »Tyll Ulenspiegel« des Vlamen Charles de Coster (geb. in München 1827) ist durch meine Verdeutschung (bei E. Diederichs in Jena), der ein paar Konkurrenzausgaben nachgefolgt sind, zum Allgemeingut geworden und steht heute als klassisches Werk der Weltliteratur unter den nicht zahlreichen Schöpfungen, die das 19. Jahrhundert überdauern werden. Der Dichter hat diesen Weltruhm, den ihm Deutschland bescherte, nicht mehr erlebt; er ist 1879 in Brüssel im Elend gestorben. Literarische Pläne und Arbeiten beschäftigten ihn nach seinem großen Wurf (1867) zwar fortdauernd, zur Ausführung gelangten aber nur noch zwei Erzählungen, eine längere und eine kürzere, die in diesem Bande vereinigt sind: »Die Hochzeitsreise« und »Toulets Heirat«.
»Die Hochzeitsreise« erschien 1869 in Brüssel mit sieben Radierungen belgischer Künstler und 1870 in einer neuen Titelauflage ohne Bilder mit dem Untertitel »Eine Geschichte von Liebe und Krieg«. Beide Ausgaben sind heute auf dem Antiquariatsmarkte kaum mehr aufzutreiben. Die vorliegende Verdeutschung erfolgte nach dem Exemplar der 2. Ausgabe aus der Brüsseler Staatsbibliothek. Beiden Ausgaben blieb der ersehnte Erfolg versagt, und so gestaltete sich der Lebensabend des Dichters immer düsterer. Wer über de Costers Schicksal Näheres erfahren will, findet seinen Lebensabriß im Nachwort meiner Ulenspiegelausgabe. Nur auf eins möchte ich hier eingehen: das ist der schmerzvolle Aufschrei über die Not des verschämten Armen in Teil 2, Kap. 4, dieser Erzählung. Es ist ein ergreifendes Selbstbekenntnis dessen, der seinem Volke die »nationale Bibel« gespendet hatte und von diesem Volke ins Elend gestoßen ward.
»Arm sein, das heißt von jedermann und jederzeit ungestraft beschimpft, geschlagen, angegriffen, verunglimpft, geschmäht und verleumdet werden. Bleibt dem Armen etwas Stolz, und er sucht Arbeit, ohne sich zu erniedrigen, so macht man ihm ein Verbrechen aus dieser notwendigen Tugend, die man seinen Dünkel nennt. Liebt er weiße Wäsche und saubere Kleider, so sagt man von ihm, er solle lieber seinen Bäcker bezahlen, als so viel Geld für seine Wäsche ausgeben. Die Idioten, die über ihn herfallen, begreifen ja nicht, was dieser letzte Schein von Wohlstand bedeutet, der ihn noch von weitem mit der Welt der Glücklichen verbindet, aus der er so tief herabgesunken ist. Lebt er als Künstler oder Gelehrter von trockenem Brot und Wasser, um sein Werk zu vollenden, so sagen sie, er sollte sich lieber anwerben lassen und eine Flinte auf die Schulter nehmen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dumm und roh die Welt sich meist in das Leben derer mischt, die da leiden und nichts verlangen als Zeit, um sich aufzurichten. Sinken sie infolge von Mangel und fruchtlosen Kämpfen zu Boden wie Löwen, die vor Erschöpfung sterben und nicht mehr die Kraft zum Beißen haben, so kommen alle herbei und geben ihm den Eselsfußtritt.«
Obwohl in französischer Sprache geschrieben wie sein »Ulenspiegel«, ist auch dies Werk ganz unfranzösisch in seiner durchaus germanischen Liebesauffassung, ohne Süßlichkeit wie ohne Frivolität. De Coster selbst hatte eine ähnliche große Liebe durchlebt, nur mit traurigerem Schluß. Seine »Briefe an Elisa« sind das Bekenntnis dieser Liebe, über der noch der Schleier des Geheimnisses liegt. Wir wissen nur, daß ein »Opfer der Pflicht« den Herzensbund endgültig löste, nachdem er schon mehrfach zerrissen, aber immer wieder angeknüpft worden war. Diese Liebe hatte ihm die Dichterweihe gegeben, aber sie führte nicht zu dem Eheglück, das er in seiner Erzählung schildert. Erfüllung fand sein Liebestraum nur in seinem Werke. Was ihm selbst im Leben mißlungen, verwirklichte er an seinem jungen Paar. So leben seine Gestalten von seinem Herzblut.
»Die Hochzeitsreise«, deren irreführender Titel besser mit »Eine junge Ehe« zu fassen wäre (eine Hochzeitsreise findet gar nicht statt), läßt sich naturgemäß mit seinem Lebenswerk, dem »Tyll Ulenspiegel«, nicht vergleichen. Ein solches Werk steht nicht nur im Schaffen eines Einzelnen, sondern auch im ganzen belgischen Schrifttum einzig da. Wohl aber läßt auch sie die besonderen Vorzüge des Ulenspiegeldichters hervortreten. Eine feine, bald schalkhafte, bald wehmütige Lebensphilosophie, eine scharfe Beobachtungsgabe und eine starke satirische Ader, die sich besonders an dem alten Scheusal von Schwiegermutter, aber auch an der treuherzigen Folie ihrer plumpen Magd ausläßt, verbinden sich mit prachtvollen Naturschilderungen und unheimlicher Dramatik, wie sie besonders der starke Anfang der Erzählung zeigt. Der Schluß (Teil 3) ist zwar gleich stark dramatisch bewegt, nähert sich aber in seiner Technik den Abenteuerromanen der französischen Spätromantik (Dumas, Sue u. a. m.), worauf schon Tony Kellen im »Lit. Echo« vom 15. 4. 17 hingewiesen hat. Dort auch die Feststellung, daß die Szene, wo das junge Paar die Vorübergehenden auf der Landstraße beobachtet (Teil 2, Kap. II) »lebhaft an Belauschungsszenen erinnert, wie sie z. B. in den ›Mystères de Bruxelles‹, einem 1845 erschienenen Roman von Suau de Varennes, vorkommen«. Solche Rückfälle in den Zeitgeschmack sind in der Literaturgeschichte auch bei starken Begabungen keine Seltenheit. Erinnert sei nur daran, daß z. B. Beyle-Stendhals berühmter Roman »Rot und Schwarz« (Le Rouge et le Noir) nach einem dauernden, seiner Zeit (1831) weit vorauseilenden Aufgebot zergliedernder Psychologie, haarscharfer Gesellschaftskritik und naturalistischer Beobachtung zuletzt ganz in die Romantik des zeitgenössischen Abenteuerromans hinabgleitet, ohne daß der Autor sich dieses Stilbruchs bewußt wird, wie in Victor Hugos Romanen, in Balzacs jugendfrischem Naturalismus oder in Zolas »experimentellen« Romanen sich oft sogar ein kolportagemäßiger Einschlag zeigt, der sich nicht über die Dutzendwerke ihrer Zeit erhebt. Ob in solchen Fällen Konzessionen an den Zeitgeschmack der Wirkung zuliebe vorliegen, ob den Künstlern bisweilen der Atem ausgeht, oder schließlich, ob sie doch so sehr Kinder ihrer Zeit bleiben, daß sie hin und wieder in die Horizonte des Zeitgeschmacks zurückfallen – wer wollte es ergründen? Vielleicht kommt alles dreies in Anschlag. Für den rückschauenden Kritiker ergeben sich solche Erdenreste eines unbesiegten Zeitgeschmacks aus der verfeinerten Technik des modernen Romans ohne Mühe; den Künstlern selbst werden sie oft gar nicht bewußt. Bei de Coster werden sie zudem voll aufgewogen durch alles, was den Dichter des »Ulenspiegel« auszeichnet und ihm sein unnachahmliches Gepräge gibt.
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Der Mißerfolg der »Hochzeitsreise« – trotz gelegentlicher Anpassung an den Zeitgeschmack – entwaffnete de Coster nicht: er rang weiter gegen sein unverdientes Schicksal an. Auf Reisen nach Holland sammelte er Eindrücke für eine Reisebeschreibung, die er für eine Zeitschrift schreiben sollte: der Anfang erschien 1878, der zweite Teil erst nach seinem Tode. Das gleiche Los traf seine letzte Erzählung »Toulets Heirat«. Ein junger belgischer Offizier, Edouard Meurant, schlug ihm vor, eine alte Legende mit ihm zu gestalten. Der Dichter nahm das Angebot gern an, und so entstand diese Novelle, die, noch bei seinen Lebzeiten gedruckt, erst nach seinem tragischen Tode (1879) veröffentlicht wurde. Auch diese Legende verfiel der Vergessenheit und ist heute nur sehr schwer aufzufinden. Diese Verdeutschung, ebenfalls nach dem Exemplar einer Brüsseler Bibliothek, ist die erste in Deutschland. Wie weit die Mitarbeit des jungen Offiziers sich erstreckt, ist unbekannt: die Hand des Ulenspiegeldichters und des Schöpfers der »Vlämischen Legenden« ist jedenfalls deutlich zu spüren: in der halb humorvollen, halb schwermütigen Lebensbetrachtung und dem schlichten Legendenstil, in den derbkomischen Einlagen, die an alte niederländische Maler gemahnen, wie in der satirischen Ausmalung eines gehässigen Charakters. Auch als Altersnovelle macht »Toulets Heirat« ihrem Schöpfer alle Ehre.