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Sechsundzwanzigster Brief

Die Armen in England. – Die unterste Dienstbotenklasse. – Dienstboten auf dem Festlande. – Amerikanische Sklaven. – Armuth in England. – Menschliches Glück. – Gewinnsucht. – Unzufriedenheit. – Musik in England. – Straßenmusik.

 

An Herrn James Stevenson in Albany in N. Y.

Oftmals schon hat man die Frage aufgeworfen, worin die Armen von England übler daran seien, als die Armen anderer Länder? Ich bin nicht hinreichend mit den Einzelnheiten vertraut, um über diesen Gegenstand ein entscheidendes Urtheil fällen zu können; doch die Resultate meiner Beobachtungen kann ich ihnen mittheilen.

Wenn man das Elend in England mit dem des europäischen Festlandes vergleichen will, so muß man den großen Unterschied des Klima's in Anschlag bringen. Ein Mann steht ohne Rock und ohne Feuerung, mit drei »Grani« zum täglichen Unterhalt, weit weniger Elend in Neapel aus, als wenn er in England ein wollenes Unterkleid und zehn Grani täglich hat, um seine nothdürftigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Dieser Umstand macht einen großen moralischen Unterschied zu Gunsten Englands, wenn wir die Verdienste von Systemen untersuchen, obschon die physischen Folgerungen zum Nachtheil Englands ausfallen dürften.

Die Armen in diesem Lande erscheinen mir überarbeitet. Sie haben wenig oder gar keine Zeit zur Erholung übrig, und anstatt jene freimüthige, männliche Heiterkeit, jenes abgehärtete, getroste Vertrauen zu zeigen, das man den Engländern im Unglück nachgerühmt hat, so sieht man sie mürrisch, unzufrieden und verzweifelnd ihr Leben hinschleppen. Es besteht hier weit weniger gegenseitiges Vertrauen und Mitgefühl zwischen den verschiedenen Ständen, als ich hier zu finden erwartete; denn wenn auch zwischen dem großen Landeigenthümer und dem wohlhabenden Pachter, der ihm Renten zahlt und den Boden anbaut, ein recht gutes Einverständniß besteht, so scheint doch alle gesellig menschliche Beziehung zwischen denen, die unter letzteren und über denselben stehen, gänzlich aufgehoben zu sein. Ich sage damit nicht, der Reiche sei durchaus verhärtet gegen die Leiden der Armuth: aber ich meine, daß die künstlichen Staatsmaximen dieses Landes die gewöhnlichen Zugänge menschlichen Mitgefühls verrammelt haben, und daß der Reiche daher vom Armen entweder gar nichts weiß oder höchstens weiß, daß er arm ist. Die Armen erscheinen dem Reichen als Gegenstände, die sie an übernommene Pflichten mahnen, nicht als Mitgeschöpfe; sie bestehen nur durch die gespendeten Wohlthaten, wozu die der Landesgemeinschaft und der jeden Eingebornen zustehenden Rechte ebensowohl gehören, als die ihnen von Zeit zu Zeit gereichten Unterstützungen und Almosen.

Es gibt eine zahlreiche Klasse von Wesen in England, deren Zustand ich für weniger beneidenswerth halten möchte, als den der asiatischen Sclaverei. Ich meine die unterste Klasse von Mägden, die alle Art von Arbeit thun müssen, in den Häusern derer, die Fremde beherbergen, oder in den Haushaltungen von Handwerkern, Kleinkrämern oder andern nicht wohlhabenden Familien. Diese armen Geschöpfe haben ein abgelebtes, abgehärmtes, elendes Ansehen, wie ich es noch bei keiner Klasse menschlicher Wesen gefunden habe, selbst bei den Bettlern auf den Straßen nicht einmal. In unserm Kosthause in Southampton war ein solches Mädchen; ihre Hände ruhten niemals, ihre Füße schienen in beständiger Bewegung und ihr Benehmen drückte eine lebensmüde Unterwürfigkeit aus. Wir waren eben aus unserm Vaterlande gekommen; desto mehr fühlten wir uns von dem unaufhörlichen Abmühen, worin ihr Dasein sich verzehrte, schmerzlich angeregt. Redeten wir sie freundlich an, so blickte sie verwundert auf, und ihr Blick war argwöhnisch und scheu. Uebrigens hatte sie nichts Empfehlendes, um persönliches Mitgefühl zu wecken; sie war groß, plump und stark von Körper, fast männlich im Aeußern; aber selbst ihre eisernen Eigenschaften wurden über die Gebühr in Anspruch genommen.

Ich würde übrigens keine solche Schilderung entwerfen, wenn dies das einzige Beispiel der Art gewesen wäre. Ich habe ihres Gleichen zu viele gesehen, so daß der erste Eindruck dieser Art sich öfter erneuern mußte, und ich zweifle keineswegs, daß der Fall in Southampton zur Regel gehört. Bei Gelegenheit eines Besuchs in England, als ich noch unverheiratet war, wohnte ich in einem Hause, wo ich ein noch weit peinlicheres Beispiel der Art antraf. Die Hausfrau war verheirathet und hatte Kinder, und während sie selbst ein träges nachlässiges Weib war, und noch drei Mietwohnungen im Hause sich befanden, überstieg ihre Tyrannei gegen die Magd Alles, was ich bisher sah. Sie müssen nämlich bedenken, daß das einzelne Dienstmädchen in solchen Häusern zu gleicher Zeit Köchin, Hausmagd und Aufwärterin sein muß. Wenn der Miethsmann keinen Bedienten hat, so muß sie kommen, wenn er schellt, auch ihm die Hausthüre öffnen und alle Gänge für ihn thun, die nicht zu weit entlegen sind. Das Mädchen war schön, es lag etwas Zartes in ihren Formen und in ihren Ausdrücken, und ihr Auge schien von Natur bestimmt, strahlend und geistvoll um sich zu schauen. Sie war höchstens zwei- bis dreiundzwanzig Jahre alt, aber Dienstbarkeit, Elend und Verzweiflung hatten sie mit der Flasche vertraut gemacht. Ich sah sie blos an der Hausthüre, und etwa zwei- oder dreimal geschah es, daß ich nach ihr schellte, weil mein Bedienter grade nicht da war. An der Hausthür stand sie mit gesenktem Blick, und wenn ich die Mühe anerkannte, die sie meinetwegen habe, erwiederte sie blos mit einer schnellen Verbeugung und dem gewöhnlichen: »Danke, Herr!« Kam sie in mein Zimmer, so that sie es mit einem eingeübten Trab, als sei ihr eine eigne Art von Gang anbefohlen, um Bereitwilligkeit und Eile auszudrücken. Nie wagte sie es, ihre Augen aufzuschlagen, sondern blieb mit gesenktem demüthigen Blick vor mir stehen, und jeden Auftrag empfing sie mit dem gewohnten Danksagen. Das Alles war arg genug mit anzusehen; aber ein paar Tage vorher, ehe ich das Haus verließ, fand ich sie weinend auf der Straße. Sie hatte ihre träge plaggeistige Herrschaft dadurch erzürnt, daß sie zehn Minuten länger ausgeblieben war, als sie einen Ausgang zu thun hatte, und deßhalb hatte sie ihren Dienst verloren. Ich nahm diese Gelegenheit wahr, ihr einige Shilling zu geben, als sei ich ihr solche für geleistete Dienste noch schuldig; aber ihre Betrübniß war so groß darüber, daß sie aus dem Dienst gejagt worden sei, ohne für den Augenblick ein anderes Unterkommen zu haben, daß selbst der Anblick des Geldes die gewöhnliche Wirkung verfehlte. Ich zweifle kaum daran, daß sie ihre Zuflucht zur Flasche nahm, diesem verderblichen Gift von Tausenden ihres Geschlechts auf dieser großen Bühne des Elends und des Lasters.

Die Ordnung, die Methode und die Pünktlichkeit der englischen Dienstboten ist durchaus bewundrungswürdig. Ohne Zweifel tragen diese Eigenschaften nicht blos dazu viel bei, ihnen selbst ihren Dienst zu erleichtern, als sie auch der Bequemlichkeit ihrer Herrschaft entsprechen. Daher sieht man auch gebildete Leute gegen ihre Untergebenen selten unfreundlich sich benehmen, obschon sie bisweilen aus Unwissenheit, wie viel sie billiger Weise fordern können, von ihren Dienstboten gar zu viel verlangen. Tyrannisch verfahren Diejenigen am meisten, welche gleichsam einen Trieb in sich fühlen, ihr früher ausgestandenes eignes Elend an denen zu rächen, die unglücklich genug sind, zufällig ihrer Herrschaft sich unterwerfen zu müssen. Ich weiß nicht, daß Standespersonen in England gegen ihre Dienerschaft unfreundlich sich benehmen; wo dergleichen stattfindet, muß man vielmehr annehmen, daß es keine Standespersonen sind; aber es besteht demungeachtet ein Etwas entweder in dem System, das man unglücklicher Weise angenommen hat, oder es liegt in dem Charakter des Volks selbst, das eine stete Entfernung zwischen Herrn und Dienern bewirkt, welches dem Charakter derer, die dienen müssen, nachtheilig werden muß.

Auf dem europäischen Festlande dagegen scheint man die Kunst, Dienstboten zu behandeln, weit besser zu verstehen, als hier. Ein Leibdiener wird dort wie ein ärmerer Freund angesehen, man behandelt ihn zutraulich und freundlich, und demungeachtet kann ich nicht sagen, daß die Diener deßhalb ihren Herren mit weniger Achtung begegnet wären. Die alte Fürstin von – –, ein Muster von Huld und Anmuth des Benehmens, besuchte meine Frau niemals, ohne ihrem Stubenmädchen etwas Freundliches oder Artiges zu sagen, wenn diese sie empfing oder begleitete. Französische Dienstboten erwarten, daß man sie anrede, wenn man ihnen auf der Treppe, auf dem Hofe oder im Garten begegnet, und würden sich gekränkt fühlen, wenn ihnen nicht wenigstens bei'm Kommen ein »bon jour!« und ein »adieu!« bei'm Weggehen zugerufen wird. Ein französischer Herzog würde es ganz schicklich finden, seinen Hut abzunehmen, wenn er gelegentlich in das Portier-Zimmer oder in die Bedientenstube kommt: aber hier in England möchte, glaube ich, von diesen kleinen Aufmerksamkeiten kaum etwas zu finden sein. Unglücklicher Weise versuchen wir bei uns, den Engländern in diesen Stücken wie in andern nachzuahmen, und ich glaube, es bedarf gar keiner weitläufigen Untersuchung, warum wir so schlecht bedient werden, sondern es rührt dieß einzig davon her, weil wir sie nicht mit dem schicklichen Zutrauen, wie anhängliche Diener, zu behandeln verstehen.

Die Vergleichung des Zustandes der gewöhnlichen englischen Hausbedienten mit dem der Sklaven bei uns in Amerika fällt ebenfalls zum Vortheil der letzteren aus, wenn man das Drückende der gezwungenen Dienstbarkeit nicht mit in Betrachtung zieht. Der Neger wird, sei er leibeigen oder frei, mit weit mehr Schonung und freundschaftlicherem Zutrauen behandelt, als die meisten englischen Dienstboten; der Grund davon liegt in dem Unterschied der Farbe, und die Vorstellungen, unter denen sie aufgewachsen sind, entfernen alle Besorgnisse vor der Unannehmlichkeit, die aus einer vertraulichen Behandlung derselben entspringen könnten. Dies sage ich nicht in der Absicht, um einmal umgekehrt unsre englischen Vettern anzugreifen, da sie uns mit zahllosen Stichelreden und ungerechten Beschuldigungen anfallen; sondern aus der einfachen Ursache, weil es wirklich wahr ist. Vielleicht ist die Lage der Dienstboten in keinem Lande beneidenswerther, als die der amerikanischen Sklaven, sofern man blos auf die Behandlung und die ihnen zugemuthete Arbeit sieht.

Ein bemerkenswerther Umstand in Beziehung auf den Zustand der englischen Armen hängt von Ursachen ab, die nicht aus dem System der örtlichen Einrichtungen hervorgehen. Wenn ein Mann in einem Lande, wie Neapel, sich mit wenigen Trauben und einem Pfund schlechten Brods begnügen und dabei ohne Rock und ohne Feuer ausdauern kann, so folgt daraus nicht nothwendig, daß ein anderer Armer eben so gut in einem Lande durchkommen könne, wo es keine Trauben gibt, wo Feuerung nothwendig und ein Rock unentbehrlich ist. Die höhere Civilisation Englands trägt auch noch beträchtlich zur Vermehrung des Elends der Armen bei, indem diese Civilisation die Bedürfnisse vervielfältigt, während sie eben so sehr die Behaglichkeit Derer vermehrt, welche die Mittel besitzen, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Vergleicht man England mit Amerika, so kann man ohne Uebertreibung sagen, daß, vermöge der verschiedenen Verhältnisse in beiden Ländern, die Armen sich bei uns in einem unvergleichlich bessern Zustande befinden, als die Armen in England; doch wenn man die Vorzüge des südlichern Klimas mancher europäischen Länder abrechnet, und nicht die Zustände einzelner Armen, sondern mehr den Zustand der Armen überhaupt untersucht, so glaube ich nicht, daß es die Armen in England nicht eben so gut haben, als sonst irgendwo in christlichen Ländern. Doch kenne ich das Armenwesen nicht genauer, als solches einem Reisenden gewöhnlich in die Augen fällt; und wenn ich blos nach dem Augenschein urtheilen dürfte, so würde ich lieber ein Armer in England, als ein Bettler in Frankreich sein wollen. Hierbei nehme ich nämlich am meisten Rücksicht auf das physische Ungemach; denn sobald irgend ein Punkt, der das Gefühl näher in Anspruch nimmt, in Erwägung kommt, halte ich England unter allen mir bekannten Ländern für dasjenige Land, wo ich am allerwenigsten wünschen möchte, ein Armer zu sein.

Die in Amerika so allgemein verbreitete Meinung von der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Engländer, bewährt sich durchaus nicht in Beziehung auf die englischen Armen überhaupt, und selbst die untere Klasse der gewerbtreibenden Stände zeigt diese Eigenschaften im Allgemeinen in England weit weniger, als in Frankreich. Der Besitz der bürgerlichen »Freiheiten« derselben mag zu einer Zeit, wo solche Zugeständnisse noch etwas Seltenes waren, ihnen etwas Charakteristisches in Rücksicht der Zuversichtlichkeit ihres Benehmens mitgetheilt haben; doch, seit der Druck der socialen Verhältnisse immer schwerer und zermalmender einwirkte, seit das Hemmende der Mitbewerbung und die Verlegenheiten der Armuth eine Abhängigkeit anderer Art hervorbrachten, für welche ihre sogenannten politischen Freiheiten ihnen keine Abhülfe boten, und seit die gesetzliche Zwingherrschaft in andern europäischen Ländern weniger drückend geworden ist, so, denke ich, können vergleichende Betrachtungen wenig mehr zum Vortheil Englands darbieten. Ich kann vielmehr behaupten, daß hier zwischen den einzelnen Klassen der Bewohner weit weniger männlich freimüthiger Verkehr stattfindet, als in den meisten andern Ländern, die ich besucht habe.

Es ist ein gewöhnliches Resultat vorübergehender Vortheile und allmähligen Fortschreitens in der Civilisation, und vielleicht muß man es auch zum Theil den herrschenden Vorstellungen zuschreiben, daß sehr wenig zur Förderung der menschlichen Glückseligkeit geschieht, welche doch der einzige Zweck ist, auf den alle Bestrebungen der Civilisation gerichtet sind. Ich glaube weder, daß die Engländer, noch daß die Amerikaner ein glückliches Volk sind. Die Aneignung eines vergleichungsweise civilisirten Zustandes wird uns bald zum unerläßlichen Bedürfniß, aber wir vermissen solchen weit eher, als daß wir dessen genießen, wenn wir in den Besitz desselben gelangt sind. In dieser Beziehung hat die Vorsehung das Schicksal der Menschen auf eigene Weise ausgeglichen; denn da die Menschen meistens Geschöpfe der Gewöhnung sind, so gleichen sich Vortheile dieser Art immer wieder auf irgend eine Weise aus. Diejenige Glückseligkeit, die hauptsächlich auf moralischen Grundsätzen beruht, ist ganz relativ, sobald die ersten Bedürfnisse einigermaßen befriedigt sind, und diese Glückseligkeit richtet sich mehr nach unseren Vorstellungen, als nach irgend etwas, das in der Natur als allgemeines Vorbild vorhanden sein könnte. Derjenige, welcher seinen Hunger durch Brod, und seinen Durst durch Wasser gestillt hat, befindet sich, was das natürliche Bedürfniß betrifft, eben so wohl, wie Derjenige, welcher ein Ragout und dazu eine Flasche Johannisberger genossen hat. Doch dies kann blos in Beziehung auf Hunger und Durst gelten; denn sonst zweifle ich gar nicht, daß die Lebensweise einen merklichen Einfluß auf den menschlichen Charakter hat, und daß die Kunst der Zubereitung dessen, was der Mensch bedarf, den Genuß erhöht, und daß dieser erhöhte Genuß auf das erhöhte Selbstbewußtsein und die gesteigerte Thatkraft der Menschen mächtig einwirkt.

Die menschliche Glückseligkeit scheint hauptsächlich von drei wesentlichen Dingen abzuhängen: von unserer Bildung, von unsern Neigungen und von den physischen Bedürfnissen. Ein gewisses Maß von allen Dreien mit der gewohnten Mischung von Leid ist ohne Frage das allgemeine Loos der Menschen, wiewohl es sehr ungleich ausgetheilt ist. Doch, wenn wir auch einräumen müssen, daß in den menschlichen Bedürfnissen Etwas, das Allen gemeinschaftlich ist, nicht verkannt werden könne, so dürfen wir doch die verschiedenen Verhältnisse, die daraus für die besondern Zustände des menschlichen Zusammenlebens hervorgehen, nicht übersehen. Das größte Hinderniß unserer Genüsse liegt in den weltlichen Sorgen, und je mehr wir dasjenige zu fördern suchen, was wir unsere Civilisation nennen, desto mehr vervielfältigen wir die Sorgen um ihren Besitz und um die Bewahrung desselben. Es gibt freilich hierin wie in allen Dingen einen Mittelweg, doch da die Wenigsten ihn betreten können, so können wir diesen so ziemlich als etwas Praktisch-Unerreichbares betrachten. Ich glaube, daß weit mehr Leute deßhalb unglücklich sind, weil sie manche Wünsche nicht befriedigen können, oder weil sie ihren Besitz viel zu theuer erkaufen mußten, als sie es gewesen sein würden, wenn sie solche Wünsche nie gekannt hätten.

Es hat mich schon längere Zeit bewegt und angeregt, daß der Ausdruck: »glückliches Land,« wenn er auf Amerika insbesondere angewendet wird, nicht recht passe, und er paßt ebenso wenig auf England. Zwar hat dieser Ausdruck eine conventionelle Bedeutung, und in dieser Hinsicht mag er gelten; doch wenn man das Volk von Frankreich oder Italien mit dem von England oder der Vereinstaaten vergleicht, so müssen entweder alle Aeußerlichkeiten den Beobachter täuschen, oder man wird geneigt, den erstern den Vorzug zu geben. Indem wir immer neu von Dingen angeregt werden, welche zu erreichen wir uns bestreben, so liegt das Eldorado unserer Wünsche noch immer in weiter Ferne, und so bringen wir hier unser Leben zu, indem wir ein Irrlicht unablässig verfolgen, das immer weiter entflieht, je mehr wir uns ihm zu nähern suchen. Sie werden mir einwerfen, dies sei der alte aufgewärmte Satz der Moralisten und beweise nicht mehr gegen das Treiben des einen Volks als gegen das jeden andern Volks. Ich gebe Ihnen aber die letztere Behauptung nicht zu. Das Abmühen der Nacheiferung kann so weit ausgedehnt werden, daß alle Vortheile derselben verloren gehen, indem sie Neid und Kampf hervorbringen. In Amerika zum Beispiel wird alle örtliche Anhänglichkeit der Gewinnsucht aufgeopfert. Der Mann, welcher das Obdach seiner Väter gegen die Einfälle der Speculanten vertheidigen wollte, würde sich unfehlbar Feindschaften und Verfolgungen zuziehen. So wird er aus dem Kreis eines glücklichen Zustandes herausgerissen, der auf der Anhänglichkeit an das Längstgewohnte beruht; denn, wenn auch das Gesetz ihn schützt, so ist doch die öffentliche Stimme stärker als das Gesetz, und diese öffentliche Stimmung wird ihn später oder früher zwingen, seinen väterlichen Herd aufzugeben. Ich weiß zwar wohl, daß dies ein Zustand ist, der dadurch bedingt wird, daß unsere geselligen Verhältnisse noch in fortwährender Entwicklung begriffen und noch wenig zu einer bleibenden Gestaltung gelangt sind, aber er zeigt doch, welche verwundbare Stellen unser Glück hat.

Doch, alle Theorien bei Seite gesetzt, weder die Engländer noch die Amerikaner haben das Ansehen, als ob sie glückliche Menschen wären, wie die Franzosen und Italiener. Die beiden ersten sehen mürrisch und nachdenkend vor sich hin, als ob ihre Zukunft sie mit Unruhe erfülle; sie sehen aus, als ob sie jeden Genuß des Lebens einem günstigeren Augenblick aufsparen wollten; dagegen die letzten beiden scheinen ganz in der Gegenwart zu leben. Vieles davon läßt sich auf Rechnung des Temperaments schreiben, während das Temperament selbst zum Theil auf moralischen Anregungen beruht. Was die Amerikaner insbesondere betrifft, so lassen sich manche Ursachen andeuten, welche sie unglücklich sein läßt. Die Urbarmachung großer Landstriche und Ansiedlungen in weitläufigen Gegenden löst das Band der Familien und die immer wiederholten Auswanderungen bringen eine Vermischung aller mit einander hervor. Die Tendenz aller Dinge geht bei uns überhaupt darauf hinaus, alle Individualität des Charakters zu zerstören, und alles Einzelne in einem gemeinsamen Einerlei zu verschlingen. Derjenige, welcher sich auf eine von seinen Nachbarn unabhängige Weise vergnügen wollte, würde bald als Aristokrat verschrieen werden. Es ist wahr, daß, so weit Geldgewinn in Betracht kommt, hiervon eine Ausnahme statt findet, sofern die Abwesenheit von allem Hemmenden die freie Ausübung aller persönlichen Unternehmungen erleichtert; doch so bald durch irgend eine einzelne Unternehmung wirklich Geld erworben worden ist, dann wird verlangt, daß man sich weit mehr als gewöhnlich nach den allgemein üblichen Vorstellungen richte, wenn man das Erworbene zu seinem Vergnügen verwenden will. Wer grade aufgelegt wäre, über unsre Institutionen zu spotten, möchte vielleicht behaupten, bei uns betrachte die Gesammtheit Jeden mit Eifersucht, welcher Verwandte und Freunde besitzt, die nicht in dem gemeinschaftlichen Haufen sich verlieren. Aber diese Erschlaffung aller Familienbande in Amerika rührt aus andern Ursachen her, unter welchen diese unaufhörlichen Wanderungen, wie ich schon sagte, eine der einflußreichsten gewesen ist. Welcher Art aber diese Ursachen sein mögen, die diese Entfremdung der einzelnen Familien hervorbrachten, ihre Wirkung bleibt dieselbe, daß sie uns eines großen Theils der Glückseligkeit beraubt, die aus den natürlichsten Neigungen der Menschen und aus der Anhänglichkeit an das Gewohnte entspringt.

 

Sodann entbehrt die ganze Angelsachsen-Race aller Genüsse, die aus dem Sinn für das Schöne, Anmuthige und Geschmackvolle hervorgeht. Obschon einzelne Ausnahmen ungewöhnlich höhern poetischen Aufschwungs nicht fehlen, als vergnüge sich die Natur an dem Hervorbringen von Extremen, so hat die große Masse der Nation doch wenig Hang zum Poetischen; kaum hat sie Sinn für bessere Musik, und scheint aller der Empfindungen beraubt zu sein, welche über die ländlichen Ergötzungen anderer Länder so vielen Anmuth verbreiten. Bei uns Amerikanern könnte der Grund davon in den fanatischen Gesinnungen der ersten Ansiedler und in den besondern physischen Verhältnissen unseres geselligen Zustandes gesucht werden; aber diese Eigenheit besteht eben sowohl bei den Engländern als bei den Amerikanern. Die Deutschen und andere nördliche Völkerschaften, die unserer Abstammung näher stehen, haben eine wild-romantische Poesie in ihren abergläubigen Ueberlieferungen, von welcher man hier Nichts findet. Sie beschäftigen sich eifrig mit der Musik und zeigen tiefen Sinn für dieselbe, als eine Kunst, die das Leben verschönert. Doch hat dieser einzige Umstand uns einen der höchsten Lebensgenüsse bereitet, dessen wir uns bis jetzt zu erfreuen haben. Die amerikanische Musik ist selbst des Tadels nicht werth. Wir stehen hierin einigermaßen auf weit tieferer Stufe, als jedes andere civilisirte Volk, doch wir bessern uns darin allmählig. Die Engländer, die in der Musik weit über uns stehen, sind darin gleichwohl hinter allen europäischen Nationen, die ich kenne, zurückgeblieben. In der englischen Musik liegt ein Anklang von Gemeinheit, wie in der unsrigen, welche von selbst den Mangel an Sinn für das Anmuthige, an Schönheitsgefühl, an Kunstgeschmack verräth. Selbst die Franzosen, keineswegs ein anmuthiges Volk, sind ihnen im Fach der Musik weit überlegen. Sogar unter der dortigen niedrigen Volksklasse wird man selten einen gemeinen Singsang hören. Uebrigens zweifle ich gar nicht, daß wir in einiger Zeit die Engländer in dieser Kunst weit überflügeln werden.

Solche Eigenthümlichkeiten vermindern die Genüsse des Lebens bei den Engländern; doch bin ich der Meinung, daß die Hauptursache, weßhalb die Engländer und die Amerikaner weniger glücklich sind, als sie es sein könnten, darin liegt, daß mit dem Streben nach Civilisation die Sorgen sich vermehren, deren quälender und verstimmender Einfluß nicht gehoben werden kann, als bis eine gewisse Höhe der Bildung erstrebt ist, die sich beträchtlich über alles Mittelmäßige erhebt. Ohne Zweifel ist gar manches physische Elend über ganz Europa verbreitet, das uns in der That völlig unbekannt ist; aber meine Behauptungen finden ihre vorzügliche Anwendung aus diejenigen, welche des physischen Elends überhoben sind. Sowohl Amerika als England sind Länder, worin mehr Thätigkeit als Gefühl sich bemerklich macht. Wir sind ein durchaus thätiges Volk, und die Engländer haben etwa das vor uns voraus, daß sie für das Idealische empfänglich sind, sofern es auf Gedanken, aber nur nicht auf Neigungen und Gefühle bezogen werden kann. Unsre Jugend als Volk trägt viel zu unserer Gefühllosigkeit bei.

Wir wollen lieber davon abbrechen. Doch da einmal von Musik die Rede war, glauben Sie nur nicht, daß man in England gar keine gute Musik habe. Das Gold der Reichen des Landes zieht die vollendetesten Künstler von Europa, wie gewöhnlich, an; doch selbst die gebildeten Engländer haben für die Musik, als solche, nicht mehr Empfänglichkeit, als wir ebenfalls. Da sie mehr reisen, so ist ihr Geschmack etwas mehr ausgebildet, als der unsrige. Doch diese ganz auffallend verschiedene Empfänglichkeit für Musik wird man nicht besser gewahr, als bei der Vergleichung der Zuhörer bei einer Oper in England und auf dem europäischen Festlande.

Und doch ist die Straßenmusik in England gewiß die beste in ihrer Art. Die Fortschritte wahrend den letzten wenigen Jahren sind gar nicht zu verkennen. Achtungswerthe Künstler, die wir mit großer Bereitwilligkeit in unsern Orchestern aufnehmen würden, ziehen hier durch die Straßen und führen Sachen von Rossini, Mozart, Beethoven, Meyerbeer, Weber u. s. w. unter den Fenstern der Leute auf mit großer Präcision und Gewandtheit. London ist für diese Art von Genuß nicht so gut eingerichtet, wie die Städte auf dem Festlande; denn hier sind keine Höfe, wohin sich diese kunstgeübten Leute aus dem Straßenlärm flüchten könnten; aber ungefähr um acht Uhr hört das Wagengetümmel fast ganz auf, und die abgelegenen Plätze sind alsdann meist ruhig und still. Seit das Wetter angefangen hat, gelinder zu werden, bin ich öfter auf meinen Spaziergängen stehen geblieben, um den Tönen der Harfen, Geigen und Schalmeien zu lauschen, und sah mich träumend nach Venedig oder nach Neapel versetzt, während mich hier die schmutzfarbenen Londoner Backsteine umgaben. Eine französische Gesellschaft hat uns ausgespäht und kommt regelmäßig zweimal wöchentlich, um uns mit alt-französischen Stücken unter unsern Fenstern zu unterhalten; eine Vergünstigung, die Privatwohnungen selten widerfährt, da blos die öffentlichen Gasthäuser ihre gewöhnlichen Standplätze sind. Die geheime Ursache dieses ungewöhnlichen Zugs in London liegt darin, daß wo ein Italiener oder Franzose ganz voll Enthusiasmus nur wenige Sous ausgibt, der Engländer ohne eine Miene zu verziehen, eine halbe Krone hinwirft. Als ich vor einiger Zeit Abends zu einem Essen gehen wollte, hörte ich die Klänge eines Flügels, auf welchem jemand eine Ouvertüre von Rossini mit Flageolettbegleitung spielte; ich wich ein wenig vom Wege ab, um mich von der Wahrheit zu überzeugen, und fand den Pianisten auf der Straße vor dem offenen Fenster eines Gasthauses sitzen. Er transportirte sein Instrument auf eine Art Räderkarren, und sein Spiel kam in Fertigkeit ganz dem gleich, was man gewöhnlich in Gesellschaften hört.

Ich kann Ihnen nicht beschreiben, welche Wirkung diese lieblichen Töne, vorzüglich wenn sie sehnsüchtige Erinnerungen an andere schönere Länder wecken, auf das menschliche Gemüth hervorbringen. Dies sind Augenblicke, in welchen man wahrhaft lebt, und eine halbe Stunde in solchem Hochgenuß hinzuschwelgen, wiegt jahrelanges Hinhorchen aus das Steigen und Fallen der Preise und vortheilhafte und zweifelhafte Spekulationen auf. Musik ist gewiß ein guter »Artikel.«


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